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Full text of "Aufsätze, Reden und Briefe"

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University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/h10h11aufstzere05adle 


I 


Victor  Adlers 
Aufsätze,  Reden  und  Briefe 


Herausgegeben    vom    Parteivorstand    der    Sozial- 
demokratischen Arbeiterpartei  Deutschösterreichs 


Der  Kampf  um  das  Wahlrecht 

X.  Heft 

der  Reden   und   Aufsätze    von 

Victor  Adler 

gesammelt    und    zusammengestellt    von    Dr.    Gustav    Pollatschek 


Wien   1929 


Verlag  der  Wiener  Volksbuchhandlung,  Wien  VI 


VICTOR  ADLER 
DER  PARTEIMANN 


Reden  und  Aufsätze  von 

Victor  Adler 

gesammelt  und  zusammengestellt  von 
Dr.  Gustav  Pollatschek 


5.  Der \  Kampf  um  das  Wahlrecht 


Wien   1929 


Verlag  der  Wiener  Volksbuchhandlung,  Wien  VI 


'4X 

31-5 


Ed.  5, 
f-r      -ii 

Alle  Rechte  vorbehalten 

Copyright    1929    by   Wiener    Volksbuchhandlung 

F.   Skaret-Dr.   R.   Danneberg 

Wien  VI,  Gumpendorferstraße   18 


936701 


Druck-  und  Verlagsanstalt  „Vorwärts",  Wien  V,  Rechte   Wienzeile  97 


-  or1  des  Herausgebers. 


Vorwort. 

Wie  im  Vorwort  zu  dem  ersten  Band  über  VietorAdlerden 
Parteimann  angekündigt  war,  erscheint  nun  der  Band  über 
den  Kampf  um  das  Wahlrecht.  Es  handelt  sich  dabei  um 
zwei  Epochen  des  Kampfes:  Die  erste  Epoche  umfaßt  den  Kampf, 
den  das  vom  Wahlrecht  vollkommen  ausgeschlossene  Proletariat 
von  den  ersten  Anfängen  der  Bewegung  an  für  dieses  wichtigste 
proletarische  Recht  führte;  ein  Kampf,  der  in  der  Taaffeschen 
Wahlreform  einen  Erfolg  zu  erreichen  schien,  bis  sich  zeigte,  daß 
die  privilegierten  Klassen  ihre  Privilegien  nicht  so  ohne  weiteres 
preiszugeben  bereit  seien  und  durch  die  Koalition  aller  feinde  des 
gleichen  Wahlrechtes  den  Grafen  Taaffe,  der  im  Besitz  der  kaiser- 
lichen Huld  unerschütterlich  festzustehen  schien,  zu  Fall  brachten. 
Man  kann  jetzt  auch  schon  ruhig  zugeben,  daß  die  Art,  wie  Graf 
Taaffe  das  Wahlrecht  erweitern  wollte,  indem  er  die  Bourgeoisie 
—  und  das  war  damals  vornehmlich  die  deutsche  Bourgeoisie  — 
zwischen  zwei  Mühlsteine  zwängen  und  sich  damit  Ruhe  von  der 
deutschliberalen  Opposition  verschaffen  wolte,  eben  wegen  ihrer 
Unehrlichkeit  nicht  zum  Ziele  führen  konnte,  und  man  wird  die 
Haltung  der  Sozialdemokratie,  die  dem  Ministerpräsidenten  des 
Ausnahmszustandes  nicht  die  ehrliche  Absicht  zutraute,  wirklich 
das  gleiche  Wahlrecht  zu  geben,  und  die  darum  auch  zögerte,  ihre 
ganze  Kraft  für  die  Taaffesche  Wahlreform  einzusetzen,  leichter 
verstehen,  als  es  damals  von  vielen  Genossen  geschah.  Diese  erste 
Epoche  endete  mit  der  Badenischen  Wahlreform,  die,  wie  sie  der 
Arbeiterschaft  das  gleiche  Wahlrecht  schuldig  blieb,  dem  Staate 
statt  der  Klammer,  die  die  auseinanderstrebenden  Teile  zusammen- 
hielte —  wie  sie  Bismarck  dem  deutschen  Volke  durch  das  allgemeine 
Wahlrecht  verschafft  hatte  —  ein  Sprengmittel  in  das  Parlament 
brachte,  das  mit  dem  Parlament  schließlich  auch  den  Staat  in  die 
Luft  sprengte.  Wenn  wir  jetzt  rückschauend  fragen,  warum  es  dem 
Staate  nicht  gelungen  ist,  den  nationalen  Frieden  zwischen  den 
Völkern  oder  wenigstens  einen  Modus  für  ihr  Zusammenleben  zu 
schaffen,  warum  dem  allgemeinen  gleichen  Wahlrecht,  das  ja  dann 
doch  geschaffen  wurde,  die  national  ausgleichende  Wirkung,  die 
man  von  ihm  mit  Recht  erwarten  konnte,  versagt  blieb,  so  müssen 
wir  erkennen,  daß  die  vornehmlichste  Ursache  —  gewiß  nicht  die 
einzige,  denn  eine  zweite  liegt  in  der  ungelösten  ungarischen  Frage, 
die  wieder  mit  der  südslawischen  Frage  eng  zusammenhängt  —  in 
der  fünften  Kurie  Badenis  liegt,  die  die  bürgerlichen  Parteien 
hinderte,  miteinander  den  nationalen  Frieden  zu  schließen,  weil  sie 


Vorwort  des  Herausgebers. 


Sie  zwang,  sich  für  den  Kampf  gegen  die  Sozialdemokraten  in  der 
fünften  Kurie  eigene  demagogische  Schwindelparteien  zu  gründen, 
die  sich  sowohl  in  nationalen  wie  in  sozialen  Fragen  überradikal 
gebärden  mußten.  Selbstverständlich  konnte  die  fünfte  Kurie,  die 
der  Arbeiterschaft  nur  ein  so  schmähliches  Stückchen  Wahl- 
rechtes gab,  den  Kampf  um  das  Wahlrecht  nur  für  eine  kurze 
Zeit  unterbrechen.  Und  so  brach  ein  Jahrzehnt  nach  dem  Höhe- 
punkt des  ersten  Wahlrechtskampfes  der  zweite  Wahlrechtskampf 
aus,  der  dann  mit  der  Erringung  des  gleichen  Rechtes  endete. 
Es  mögen  wohlmeinende  Politiker  und  Gelehrte  den  „Volkskaiser" 
Franz  Josef  als  den  Schöpfer  oder  gar  als  den  Spender  des 
allgemeinen  Wahlrechtes  preisen.  Wer  diese  Zeit  miterlebt  hat, 
oder  wer  unvoreingenommen  auch  nur  die  Blätter  dieses  Buches 
lesen  wird,  wird  wissen  oder  erkennen,  daß  dieser  Kampf  um 
das  Wahlrecht  ein  wahrhaft  revolutionärer  Kampf  war, 
und  daß  ohne  die  Entschlossenheit  der  Arbeiterschaft,  zum 
äußersten  Mittel,  das  ist  vor  allem  zum  Massenstreik,  dann  aber 
auch  zu  weiteren  Mitteln  zu  greifen,  der  Volkskaiser  seinen  Frieden 
mit  den  österreichischen  Grafen  und  mit  den  österreichischen 
Kapitalisten  geschlossen  hätte,  wie  er  ihn  mit  den  ungarischen 
Grafen  und  den  ungarischen  Nationalisten  geschlossen  hat.  Das 
allgemeine  gleiche  Wahlrecht  ist  der  österreichischen  Arbeiterschaft 
nicht  geschenkt,  sondern  von  ihr  erobert  worden. 

Freilich  konnte  die  Arbeiterschaft,  wenn  sie  einen  Erfolg 
haben  wollte,  weder  ständig  auf  der  Straße  stehen,  noch  ständig 
mit  der  Straße  drohen.  Selbstverständlich  mußte  sie  den 
bestehenden  Machtverhältnissen,  vor  allem  auch  den 
parlamentarischen,  ganz  besonders  neben  den  Machtverhältnissen 
der  Klassen  auch  den  Machtverhältnissen  der 
Nationen,  ja.  sogar  der  Parteien  Rechnung  tragen.  So  ist  jenes 
Wahlgesetz  zustande  gekommen,  das  wohl  in  seinem  Prinzip 
das  allgemeine  Wahlrecht  statuiert,  aber  dieses  sofort  durch 
die  Seßhaftigkeit  zuungunsten  der  Arbeiterschaft  verkürzt;  das 
allerdings  in  seinem  Prinzip  das  gleiche  Wahlrecht  festlegt,  aber 
dabei  doch  in  dem  Verhältnis  nicht  nur  zwischen  den  Klassen, 
sondern  mehr  noch  zwischen  den  Nationen  die  Gleichheit  des 
Wahlrechtes  stark  einschränkt.  So  wurden  die  besitzenden  Klassen 
schon  durch  die  Verschiedenheit  der  Wahlkreise  wesentlich  gegen- 
über dem  Proletariat  begünstigt.  Aber  das  Proletariat,  das  bisher  nur 
das  klägliche  Badenische  Wahlrecht  hatte,  konnte  da  um  des  Prinzips 
willen  leicht  der  Mandatsgier  der  bürgerlichen  Parteien,  ja  der 
einzelnen  bürgerlichen  Parteiführer  entgegenkommen.  Schwieriger 
war  es  schon  in  den  Machtverhältnissen  der  Nationen  einen 
Ausgleich  zu  schaffen:  einen  Modus  zu  finden,  der  die  deutsche 
Bourgeoisie  vor  nationaler  Überstimmung  sicherte,  indem  er  den 
anderen,  bisher  benachteiligten  Nationen  wohl  eine  Annäherung 
an  das  gleiche  Recht  brachte,  aber  nicht  das  volle  Recht,  weil  das 
die  jetzt  an  der  Macht  befindliche  deutsche  Bourgeoisie  mit  ihren 
Verbündeten  zu  verhindern  stark  genug  war.  Hier  hat  Friedrich 


Vorwort  des  Herausgebt  i  s 


A  u  s  t  c  r  1  i  t  z,  der  Chefredakteur  der  „Arbeiter-Zeitung",  unter 
dem    Pseudonym    A.  Friedrich    in    Pernerstorfers  „Deutschen 

Worten"  die  Lösung  gefunden,  daß  man  /war  das  gleiche  Wahlrecht 
für  die  einzelnen  Bürger  einführen,  aber  im  Verhältnis  zwischen 
{\c\\  Nationen,  was  sich  technisch  im  Verhältnis  der  Wahlkreise 
ausdrückt,  die  Steuerkraft  berücksichtigen  solle.  Diesem  Gedanken 
konnten  auch  die  Tschechen  zustimmen.  So  erst  war  es  möglich, 
über  die  theoretische  Anerkennung  des  gleichen  Wahlrechtes 
hinaus,  den  praktischen  Weg  zu  einem  Kompro  m  i  ß  z  w  Ischen 
den  Nationen  zu  finden. 

liier  haben  wir  auch  die  (irenze  zu  ziehen,  die  wir  für  die 
Tätigkeit  Adlers  als  Taktiker  und  als  Politiker  ziehen  müssen. 
Während  in  der  ersten  Epoche  die  Wahlrechtsbewegung  zum 
größten  Teil  das  taktische  Werk  Adlers  ist  —  bis  zur  Taaffeschen 
Wahlreform  und  auch  noch  bis  zur  Koalition  ausschließlich,  nach- 
her vornehmlich  — ,  kann  man  in  der  zweiten  Epoche  ihm  dieses 
Verdienst  nur  zum  Teil  zusprechen.  Dagegen  ist  der  pari  a- 
m  entarische  Teil  des  Kampfes  von  dem  Zeitpunkt  an,  da  er 
in  das  Parlament  gewählt  wurde,  ausschließlich  sein  Werk. 

Bei  der  Sammlung  des  Materials  hat  sich  nun  die  Schwierigkeit 
ergeben,  daß  gerade  für  die  erste  Epoche  das  Material  sehr 
spärlich  vorliegt,  da  die  „Arbeiter-Zeitung"  ja  erst  vom  1.  Jänner 
1895  an  täglich  erschien  und  vorher  für  Versammlungsberichte 
nur  sehr  wenig  Raum  bot,  auch  bei  den  Artikeln  der  Autor  nur 
sehr  selten  verläßlich  festzustellen  ist.  So  kommt  es,  daß  wir 
für  die  erste  Epoche  nur  sehr  wenig  sicheres  Material  haben,  für 
die  zweite  Epoche  aber  ziemlich  viel.  Eine  andere  Schwierigkeit 
ergab  sich  für  diesen  Band  auch  dadurch,  daß  die  Frage  des 
Generalstreikes,  die  ja  mit  der  Taktik  im  Wahlrechtskampf 
eng  zusammenhängt,  hier  nicht  mehr  behandelt  werden  konnte, 
weil  sie  schon  im  siebenten  Band  im  Rahmen  der  internationalen 
Taktik  behandelt  wurde. 

Wenn  man  sich  diese  Schwierigkeiten,  mit  denen  der  Heraus- 
geber, der  diesen  Band  zusammenstellte,  zu  kämpfen  hatte,  vor 
Augen  hält,  wird  man  den  Fehlern,  die  er  etwa  beging,  etwas 
mehr  Nachsicht  angedeihen  lassen  und  seine  Arbeit  vielleicht  besser 
zu  würdigen  vermögen. 

Was  etwa  in  diesem  Bande  noch  übersehen  wurde,  soll  in 
einem  weiteren  Bande  nachgetragen  werden,  der  vielleicht  auch  in 
absehbarer  Zeit  erscheinen  wird,  und  der  Ergänzungen  und  Nach- 
träge auch  zu  den  früheren  Bänden  bringen  soll. 

Wenn  der  Herausgeber  also  für  den  vorliegenden  wie  für  die 
früheren  Bände  um  etwas  Nachsicht  bitten  muß,  so  bittet  er  für 
jenen  angekündigten  folgenden  Band  um  eifrige  Mitarbeit,  damit 
jeder,  dem  etwas  in  diesen  Bänden  fehlt,  ihm  ermögliche,  es  dann 
nachzutragen  oder  richtigzustellen. 

Wie  bei  den  früheren  Bänden,  so  muß  auch  bei  diesem  Band 
besonders    auf    die    Fußnoten    aufmerksam    gemacht    werden.      Die 


8  Vorwort  des  Herausgebers. 


Einzelheiten  des  Wahlrechtskampfes  sind  auch  dem,  der  die  letzten 
Jahrzehnte  Österreichs  miterlebt  hat,  schon  zu  wenig  mehr  gegen- 
wärtig, als  daß  er  ohne  Erklärungen  diese  Reden  und  Aufsätze 
Adlers  vollkommen  und  in  jeder  Anspielung  verstehen  könnte. 
Aber  auch  darüber  hinaus  sollen  die  Fußnoten  in  groben  Umrissen 
eine  Geschichte  der  österreichischen  Wahlrechtsbewegung  bieten 
und  damit  der  jungen  Generation  von  heute  ein  Bild  jener  heroi- 
schen Kämpfe  des  österreichischen  Proletariats  um  seine  Rechte 
geben.  Zugleich  soll  damit  eine  Vorarbeit  für  die  (i  e  s  c  h  i  c  h  t  e 
der  Wahlrechtsbewegung  geliefert  sein,  die  erst  noch 
von  einem  Berufeneren  zu  schreiben  wäre,  von  einem,  der  selbst 
aktiv  und  bestimmend  in  diese  großen  Kämpfe  eingegriffen  hat. 

Wien,  anfangs  Mai   1929. 

Dr.  Gustav   Pollatsche  k. 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht.  '* 


Von  Taaffe  bis  Badeni. 

Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahl- 
recht und  das  Wahlunrecht  in  Oesterreich*). 

Vorwort. 

Die  vorliegende  Broschüre  soll  Material  für  die  Wahlrechts- 
agitation liefern.  Die  Lücken  und  Mängel  des  Schriftchens  erkennt 
niemand  mehr,  als  der  Verfasser.  Wenn  aber  auf  Vollständigkeit  kein 
Anspruch  gemacht  werden  kann,  die  schon  durch  die  Notwendigkeit, 
den  Umfang  zu  beschränken,  ausgeschlossen  war,  so  ist  die  Richtig- 
keit der  angeführten  Tatsachen,  insbesondere  der  Ziffern,  dadurch  ge- 
währleistet, daß  sie  sämtlich  der  amtlichen  Statistik  entnommen 
oder  aus  derselben  berechnet  sind.  Eine  genaue  Darstellung  aber 
des  in  Österreich  geltenden  Wahlunrechtes  würde  ein  umfang- 
reiches Buch  erfordern. 

Am  16.  März  1893  brachte  der  Abgeordnete  S  1  a  v  i  k  namens  der 
Jungtschechen  einen  Antrag  auf  Einführung  des  allgemeinen, 
gleichen  und  direkten  Wahlrechts  ein,  und  zwar  in 
einer  Form,  welche  nicht  nur  das  Prinzip,  sondern  auch  die  Einzel- 
bestimmungen soweit  feststellt,  daß  die  Grundlage  für  ernste  Dis- 
kussion gegeben  ist.  Der  Antrag  wurde  wenig  beachtet. 

In  der  zweiten  Woche  des  April  erkämpfte  das  Proletariat  Bel- 
giens das  allgemeine  Wahlrecht. 

Am  1.  Mai  zeigte  eine  gewaltige  Demonstration  der  öster- 
reichischen Arbeiterschaft,  daß  sie  entschlossen  ist,  für  das  allge- 
meine Wahlrecht  zu  kämpfen.  Der  Wahlsieg  der  deutschen  Sozial- 
demokratie am  15.  Juni  wurde  am  18.  Juni  von  Hunderttausenden 
ihrer  Genossen  in  Österreich  in    öffentlichen  Versammlungen    ge- 

*)  Am  1.  August  1893  erschien  als  viertes  Heft  der  von  L.  A.  B  r  e  t- 
sch  n  eider  herausgegebenen  „Wiener  Politischen  Volksbibliothek"  diese 
Broschüre  (Preis  20  Kreuzer).  Der  Staatsanwalt  fand  zunächst  nichts 
zu  beanständen.  Erst  als  sie  bei  der  großen  Wahlrechtsversammlung, 
die  am  20.  August  im  Prater  stattfand,  stark  verbreitet  wurde,  wurde  sie 
konfisziert,  und  zwar  zuerst  zur  Gänze,  dann  an  32  Stellen.  Gegen  die 
Konfiskation  erhob  Adler  Einspruch.  Über  die  Einspruchsverhandlung  ist 
im  zweiten  Heft  dieser  Schriften  (Seite  305)  berichtet.  Selbstverständlich 
wurde  der  Einspruch  abgewiesen.  Die  weiteren  Hefte  der  „Wiener  Politi- 
schen Volksbibliothek"  enthielten  folgende  Abhandlungen:  1.  Nutzen  und 
Bedeutung  der  Gewerkschaften,  von  Emil  Kralik  (1891);  2.  Der  Para- 
raph  23  des  österreichischen  PreBgesetzes.  von  Dr.  Viktor  Adler  ( 1«S91 ) 


10  Vom  Taaffe  bis  Badeai. 

feiert.  In  Prag  und  Brunn  floli  Blut;  Blut,  das  freilieh  nicht  für  die 
Erringung  des  Wahlrechts,  sondern  zur  Verteidigung  des  Versamm- 
lungsrechtes vergossen  wurde. 

Am  9.  Juli  standen  mehr  als  50.000  Männer  und  Frauen  in  und  vor 
dem  Rathaus  zu  Wien  und  verlangten  das  allgemeine  Wahlrecht. 
An  diesem  Tage  hörten  die  Tauben  den  Ruf  des  Volkes,  sahen  die 
Blinden  ein,  daß  die  Wahlreform  von  der  Tagesordnung  nicht  mehr 
verschwinden  werde,  bis  Österreich  statt  seiner  ständischen  Ver- 
fassung ein  modernes,  europäisches  Wahlrecht  hat,  bis  wenigstens 
dieses  eine  politische  Privilegium  der  Besitzenden  verschwunden  ist. 

Statt  jeder  weiteren  Vorrede  wiederholen  wir  hier  die 

Resolution  vom  9.  Juli: 

Die  erste  Vorbedingung  jeden  politischen  und  wirtschaftlichen  Fort- 
schrittes in  Österreich  ist  die  Beseitigung  der  heutigen,  auf  das 
Monopol  der  Besitzenden  gegründeten  Verfassung.  Großgrundbesitz 
und  Großkapital  sind  nicht  nur  im  alleinigen  Besitz  des  Herrenhauses, 
sondern  sie  sind  durch  ihre  Wahlprivilegien  auch  die  eigentlichen  Be- 
herrscher des  Abgeordnetenhauses.  Die  gesamte  Gesetzgebungs- 
maschine steht  im  Dienste  einer  kleinen  Gruppe  von  Meistbesitzenden, 
welche  das  arbeitende  Volk  nicht  nur  als  einzelne  Unternehmer  wirt- 
schaftlich . .  .*),  sondern  es  auch  als  Klasse  politisch  knechten. 

3.  Die  Lebensmittelteuerung,  von  Karl  Höger  (1892):  5.  Herr  Alfred  Eben- 
hoch  auf  der  Bauernjagd,  von  Dr.  Wilhelm  Ellenbogen  (1894). 

Um  schon  hier  einen  Überblick    über    den    Inhalt    der  Broschüre  zu 

geben,  sei  das  Inhaltsverzeichnis,  das  im  Text  nicht  mitabgedruckt  ist, 
hier  mitgeteilt:                                                                                                     Seite 

Vorwort 9 

Allgemeines 12 

Einiges  über  Geschichte  und  Wesen  der  Verfassung      18 

Die  Ausdehnung  des  Wahlrechtes      21 

Die  Verteilung  des  Wahlrechtes ...  2t 

Statistik  der  Reichsratswahlen  1891 32 

Die  indirekten  Wahlen  in  den  Landgemeinden 34 

Die  Altersgrenze  für  die  Wahlfähigkeit 37 

Das  Stimmrecht  der  Frauen 

Dauer  der  Legislaturperiode 39 

Das  Gemeindewahlrecht 40 

Die  Wiener  Gemeinderatswahlen  im  Jahre  1890      41 

Die  „Gefahren"   des  allgemeinen  Wahlrechtes  für  die  Sozialdemo- 
kratie      42 

Konservative  Einwände 45 

Liberale  Einwände       ...       46 

Das  „nationale  Interesse"      48 

Die  „Steuerträger"       50 

Bisherige  Versuche  einer  Wahlreform         .    ...  52 

Der  „^ildungszensus" CO 

Arbeiterkammern      61 

Schlußwort     62 

*)  In  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  14.  Juli  1893,  in  der  über  die  Ver- 
sammlung vom  9.  Juli  berichtet  wird,  steht  folgende  Glosse,  aus  der  man 
auch  erfährt,  was  in  der  Resolution  fehlt: 


Das  allgemeine,  Bleiche  und  direkte  Wahlrecht.  H 

Die  Versammlung  erkennt  das  rückständige  und  )  Wahlsystem 

Österreichs  als  Grundursache  der  politischen  Versumpfung  des  Reiches 
und  als  Wurzel  des  sinnlosen,  maßlosen  und  fruchtlosen  Nationalitäten- 
haders und  der  kläglichen  staatsrechtlichen  Wirren. 

Die  heutige  Versammlung  protestiert  gegen  jenes  Wahlsystem, 
welches  Österreich  zu  einer  traurigen  Ausnahmestellung  in  Europa  ver- 
urteilt. Sie  protestiert  gegen  die  Ausschließung  von  mehr  als 
zwei  Dritteln  des  Volkes  vom  Wahlrecht  in  Stadt  und  Land 
und  Gemeinde,  und  verlangt  als  Grundlage  und  Vorbedingung  einer 
ernsten  Geltendmachung  der  Volksinteressen  die  Aufhebung  der  politi- 
schen Vorrechte  aller  privilegierten  Interessengruppen  und  das  all- 
gemeine, gleiche  und  direkte  Wahlrecht  für  alle  Staatsangehörigen 
ohne    Unterschied    des   Geschlechtes    vom    21.    Lebensjahr    an. 

Die  heutige  Versammlung  protestiert  auch  aufs  entschiedenste 
gegen  jene **)  und  verhängnisvollen  Einschränkungen  des  Ver- 
sammlungsrechtes, die  in  Brunn  und  Prag  zum  Blutvergießen 
führten,  durch  welche  aber  der  Kampf  um  das  Volksrecht  wohl  ver- 
bittert, niemals  aber   verhindert   werden   kann. 

Die  große  Masse  der  Besitzlosen  hat  es  satt,  sich 
von  einer  verschwindenden  Minderheit  gängeln  und  übervorteilen  zu 
lassen.  Die  sozialdemokratische  Arbeiterschaft  insbesondere  verlangt 
das  politische  Wahlrecht  als  Grundlage  der  Organisation  des  Prole- 
tariats,  als  das   vornehmste   Mittel   politischer   Bildung,   als   wichtigste 


Konfisziert  hat  der  Polizeikommissär  im  Arkadenhof  die  Ver- 
rottung, die  Ungesetzlichkeit  und  die  Ausbeutung.  (Die  Unterstreichung 
ist  von  uns.)  Wir  fürchten,  daß  diese  Konfiskation  so  wenig  helfen 
wird  als  alle  anderen  und  daß  diese  drei  Mächte  weiter  bestehen  wie 
bisher.  Amüsant  ist,  daß,  was  in  deutscher  Sprache  konfiskabel  er- 
schien, in  tschechischer  Sprache  erlaubt  wurde.  In  der  Volkshalle 
wurde  über  unsere  Resolution  samt  den  drei  Worten  ohne  Anstand 
abgestimmt.  Standen  denn  wirklich  so  wenige  Detektivs  zum  Verkehr 
zwischen  Rathaus  und  Polizeipräsidium  zu  Gebote,  daß  man  nicht 
wenigstens  eine  Gleichmäßigkeit  des  Vorgehens  erzielen  konnte?  Aus 
Rücksicht  auf  die  Aufrechterhaltung  des  Verkehrs  wurde  die  Ver- 
sammlung auf  dem  Rathausplatz  bekanntlich  untersagt.  Die  Möglichkeit 
des  Verkehrs  wurde  durch  unsere  Ordner  aufrechterhalten,  zugleich 
aber  kontrolliert,  wie  stark  dieser  Verkehr  war.  Nun  denn,  es  fuhren 
über  den  Rathausplatz  in  der  Zeit  von  X»9  Uhr  vormittags  zwei  Ein- 
spänner, ein  Sodawasserwagen,  ein  Postwagen  und  ein  Radfahrer. 
Diesen  fünf  Vehikeln  zuliebe  wurde  das  Versammlungsrecht  von 
tausenden  Personen  eingeschränkt. 

Man  erfuhr  also  schon  aus  der  Zeitung,  wenn  man  sich  nur  etwas  an- 
strengte, daß  man  in  der  Resolution  nicht  sagen  durfte,  daß  die  Besitzen- 
den das  arbeitende  Volk  als  Unternehmer  wirtschaftlich  ausbeuten,  daß 
das  Wahlsystem  nicht  nur  rückständig,  sondern  auch  verrottet  war  und 
daß  die  Einschränkungen  des  Versammlungsrechtes,  die  in  Brunn  und 
Prag  zu  Blutvergießen  führten,  nicht  nur  verhängnisvoll,  sondern  auch 
ungesetzlich  waren.  So  waren  damals  die  Polizeikommissäre!  Und  so  geist- 
reich war  der  Staatsanwalt! 

Das  fehlende  Wort  hier  soll  also  heißen  ausbeuten. 
Siehe  übrigens  später  Adlers  Rede  in  der  Versammlung  am  9.  Juli,  unter 
dem  Titel :  „Das  erste  Wahlrechtsmeetin  g." 

*)  verrottete. 
)  ungesetzlichen. 


12  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


Waffe  im  Kampfe  gegen  Ausbeutung«  Rechtlosigkeit  und  Bevor- 
mundung. 

Die  beutige  Versammlung  erklärt  es  als  Pflicht  jedes  Rechtdenken- 
den, mit  aller  Kraft  dahin  zu  wirken,  daß  endlich  die  Verfassung  den 
Grundsatz:  „Gleiches  Recht  für  alle"  auch  wirklich  zur  Wahrheit 
mache, 

sie  erklärt,  nicht  ruhen  und  vor  keinem  Opfer,  das  dem  Volke  auf- 
erlegt wird,  zurückschrecken  zu  wollen,  bis  das  allgemeine, 
gleiche    und    direkte    Wahlrecht    erkämpft    ist. 

Allgemeines. 

Die  politischen  Zustände  Österreichs  waren  immer  unleidliche; 
sie  sind  nunmehr  unmögliche  geworden.  Das  arbeitende  Volk, 
wie  überall,  wo  der  Kapitalismus  herrscht,  steht  unter  einem  un- 
erträglichen wirtschaftlichen  Druck,  preisgegeben  der  Ausbeutung 
durch  Grundbesitz  und  Kapital.  Und  das  Bewußtsein  dieses  Zu- 
standes  wird  täglich  deutlicher,  und  täglich  stärker  der  Wille,  ihn 
zu  ändern.  Aber  während  in  allen  modernen  Staaten  Europas  die 
Bestrebungen  des  Proletariats  wie  der  untersinkenden  Schichten  des 
Kleinbürgertums  und  der  Bauernschaft  einen  politischen  Ausdruck 
gefunden  haben,  weiß  die  offizielle  Politik  in  Österreich  von  diesen 
Klassen  nichts.  Zwei  Drittel  des  Volkes  sind  im  Parlament 
ohne  Vertretung.  Der  Groll,  die  Unzufriedenheit,  ja  die  Verzweiflung 
wächst.  Sie  wird  gefördert  durch  eine  Klassengesetzgebung  im  ein- 
seitigen Interesse  der  Besitzenden.  Sie  wird  verbittert  dadurch,  daß 
sie  nicht  jenen  Ausdruck  finden  kann,  den  die  heutige  Auffassung 
vom  „Rechtsstaat"  jedem  Staatsbürger  als  heiliges,  unantastbares 
und  unveräußerliches  Recht  zugesteht  :die  Teilnahme  an  Ge- 
setzgebung und  Verwaltung  durch  die  Wahl  von 
Volksvertretern. 

Die  wirtschaftliche  Ausbeutung  ist  allen  vom  Kapitalismus  er- 
griffenen Staaten  gemeinsam;  die  politische  Unterdrückung  ist  eine 
notwendige  Folge  davon  und  geht  überall  mit  der  Ausbeutung  Hand 
in  Hand.  Das  einzige  Gegengewicht,  die  einzige  Waffe  gegen  poli- 
tischen und  ökonomischen  Druck  ist  das  politische  Recht. 
In  Österreich,  und  in  Österreich  allein  unter  allen  modernen 
Staaten,  fehlt  den  Besitzlosen  auch  dieses.  Die  Besitzlosen 
sind  rechtlos  in  Österreich.  Dadurch  aber  entsteht  jener 
unmögliche  Zustand,  daß  in  den  unteren  Klassen  ein  politisches 
Leben  voll  Energie  und  Zielsicherheit  anwächst,  das  stumm 
bleiben  muß,  während  eine  Minorität  der  Bevölkerung  höchst  ge- 
räuschvoll Politik  macht,  die  aber  unfruchtbar  bleiben  muß,  und 
fortwährend  ins  Stocken  gerät.  Jetzt  eben  steckt  infolge  der  böh- 
mischen Wirren*)  der  Staatskarren  wieder  im  Sumpfe  und  alle  Klein- 

*)  Am  17.  Mai  1893  brach  im  böhmischen  Landtag  die  Obstruktion  der 
Jungtschechen  aus.  Die  Session  wurde  geschlossen.  Am  nächsten  Tag 
folgten  tschechischnationale  Straßendemonstrationen  in  Prag.  Am  13.  Sep- 
tember wurde  der  Ausnahmezustand  über  Prag  und  Umgebung  verhängt. 
Dann  folgten  große  Demonstrationen  und  Zusammenstöße  mit  der  Polizei, 
später,  im  Jänner  und  Februar  1894,  der  „Omladina-Prozeß",  der  mit  der 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht.  I  ■ 


künstc  der  Fortwurstelei  und  des  Fortfrettens*)  dürften  ihn  nicht  so 
leicht  freimachen;  Und  wenn  es  gelingt,  dann  bleibt  er  beim  nächsten 
Schritt  unrettbar  wieder  stecken.  Der  Nationalitätenstreit  der  oberen 
Zehntausend,  der  angefacht  und  geschürt  wird  vom  Großgrundbesitz, 
welcher  sich  an  demselben  Feuer,  das  Österreichs  Völkern  unheil- 
bare Wunden  brennt,  seine  Suppe  kocht;  der  Hader  der  einzelnen 
Cliquen,  in  die  sich  die  Besitzenden  teilen,  und  der  Vorwände 
nimmt,  wo  er  sie  findet  — ,  das  gibt  sich  in  Österreich  für  Politik  aus, 
während  es  tatsächlich  das  Hindernis  aller  ernstlichen  politischen 
Betätigung  ist. 

Aber  nicht  nur  unfruchtbar  ist  der  österreichische  Parlamentaris- 
mus, er  ist  auch,  und  vor  allem,  unwahr.  Die  Völker  Österreichs 
haben  ganz  andere  Schmerzen,  als  den  Kampf  ums  böhmische 
Staatsrecht,  den  lächerlichen  Zank  um  die  Einteilung  der  Gerichts- 
bezirke  in  Böhmen,  die  Amtssprache  in  Unter-Steiermark  und  Krain, 
und  was  der  „großen"  Angelpunkte  der  österreichischen  Politik 
mehr  sind.  Wenn  unser  Parlament  der  Ausdruck  der  berechtigten 
Masseninteressen  sein  wird,  wie  es  heute  nur  das  Sprachrohr  der 
unberechtigten  Cliqueninteressen  ist,  dann  wird  es  sich  zeigen,  daß 
unter  der  täuschenden  Oberfläche  des  elenden  Gezänkes  von  heute 
ganz  andere  Gegensätze  sich  entwickelt  haben.  Der  Klassen- 
kampf wird  an  Stelle  der  nationalen  Quälereien  treten,  die  ihn 
heute  verhüllen  und  fälschen.  Der  Klassenkampf  aber  ver- 
einigt, was  zusammengehört;  er  macht  den  partikularistischen 
Lächerlichkeiten  ein  Ende,  er  macht  ein  Ende  der  tragikomischen 
Maskerade  und  den  unnatürlichen  Bündnissen. 

Als  Bismarck  im  Jahre  1867  den  norddeutschen  Reichstag  schuf, 
das  erste  deutsche  Parlament,  da  oktroyierte  er  das  allgemeine, 
gleiche  und  direkte  Wahlrecht.  Aber  nicht  aus  Liebe  zum  Volke,  aus 
Neigung  für  demokratische  Einrichtungen  tat  er  es,  er  m  u  ß  t  e  zum 
allgemeinen  Wahlrecht  greifen,  um  den  Partikularismus  zu  über- 
winden, um  ein  gewaltiges  Gegengewicht  zu  scharfen  gegen  die 
egoistischen  und  kleinlichen  Interessengruppen  in  den  Einzelstaaten 
und  Stätchen.  Dieses  Gegengewicht  sollte  freilich  die  Dynastie 
bilden.  Bismarck  wußte,  daß  sie  das  nicht  kann,  und  vielleicht  hat  er 
es  in  Österreich  gelernt,  wie  wenig  die  „Loyalität  gegen  die  Dy- 

Verurteilung  von  dreizehn  der  sechzig  Angeklagten  zu  je  acht  Jahren 
schweren  Kerkers  endete.  (Siehe  Bd.  VII,  Seite  95,  Note.) 

*)  Mit  diesen  beiden  wienerischen  Worten  —  Fortwursteln  und  Fort- 
f retten  —  bezeichnete  Graf  Taaffe  selbst  die  Art  seines  Regierens.  Als 
man  ihm  das  im  Parlament  einmal  vorwarf,  sagte  Graf  Taaffe  —  am 
9.  März  1889  — ,  wenn  er  sich  frage,  was  er  mit  dem  geringen  Betrag  des 
Dispositionsfonds,  den  man  ihm  bewillige,  anfangen  solle,  so  sage  er  mit 
einem  Ausdruck  des  Wiener  Lokalwitzes:  „Ich  werde  trachten,  mich  in 
dieser  Beziehung  durchzufretten."  Und  er  fügte  hinzu:  „Das  ist  ein  Aus- 
druck, auf  den  man  sich  berufen  kann,  nicht  aber  auf  einen  anderen  Aus- 
druck, den  man  mir  nur  in  den  Mund  gelegt  hat,  jenen  vom  Fortwursteln." 
—  Nichtsdestoweniger  sind  diese  beiden  Ausdrücke  für  die  Regierungs- 
methoden Taaffes  so  bezeichnend,  daß  sie  trotz  seines  Fiuspruches  auch 
weiter  im  Gebrauch  geblieben  sind. 


14  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


oastie"  genügt,  um  ein  Reich  zu  bauen.  Alle  triefen  sie  förmlich  von 
„Loyalität"  und  „dynastischer  Treue",  während  sie  einander  in  die 
Haare  fahren,  die  Vertreter  der  Kronlandsinteresseii,  die  Grafen,  die 
Pfaffen  und  die  Advokaten  der  Bourgeoisie.  Ein  wirksames  Gegen- 
gewicht gegen  die  kleinen  aber  mächtigen  Gruppen  der  Privilegier- 
ten liegt  nur  in  der  Q  e  m  einsamkeit  der  Interessen  der 
Massen  des  Volkes,  freilich  damit  auch  der  Klassen.  An 
Stelle  des  kleinlichen  Gezänkes  von  nebeneinander  stehenden 
und  sich  reibenden  Volkssplittern  mußte  zum  Bewußtsein  kommen 
die  Schichtung  der  übereinander  gelagerten  Klassen;  der  iso- 
lierende Landlpatriotismus  mußte  überwunden  werden  durch  das 
vereinigende  Klasseninteresse.  Die  „Vaterlandsliebe"  der  Baiern, 
Sachsen,  Hannoveraner  bis  hinab  zu  dem  Nationalstolz  der  Reuß- 
Greiz-Schleiz-Lobensteiner*)  konnte  nur  überwunden  werden  durch 
die  gemeinsamen  Interessen  der  deutschen  Bourgeoisie  und  die  Soli- 
darität der  deutschen  Arbeiterklasse.  Freilich  konnte  Bismarck  das 
einigende  Band  der  Klasseninteressen  nicht  zum  Aufbau  des 
Deutschen  Reiches  verwenden,  ohne  zugleich  den  Klassenkampf  zu 
entfesseln.  Die  deutsche  Sozialdemokratie,  obwohl  oder  vielmehr 
gerade  weil  sie  eine  internationale  Partei  ist,  wurde  die  erste 
„Reichspartei"  in  Deutschland;  gerade  sie,  die  so  bald  „reichs- 
feindlich"  heißen  sollte.  Kurz,  den  gemeinsamen  Interessen  der 
Deutschen  konnte  nur  ein  Volkshaus  auf  Grund  des  allgemeinen 
Wahlrechtes  Ausdruck  verschaffen.  Darum  mußte  Bismarck  dem 
deutschen  Parlament  diese  Grundlage  geben,  wollte  er  ein  Deutsches 
Reich  schaffen.  Hätte  Österreich  Staatsmänner,  statt  Wurstler  und 
Fretter,  so  hätten  sie  längst  begriffen,  daß  es  für  Österreich  aus  den 
nationalen  und  staatsrechtlichen  Wirren  nur  einen  Ausweg  gibt: 
das  allgemeine,  gleiche  und   direkte  Wahlrecht. 

Aber  überlassen  wir  den  Stützen  des  Staates  die  Sorge  um  ihren 
Staat.  Wäre  die  heutige  Wahlordnung  Österreichs  nur  die  Wurzel 
der  staatlichen  Misere  —  was  hätte  das  die  Arbeiterklasse  zu  be- 
kümmern, was  ihre  politische  Vertretung,  die  Sozialdemokratie! 
Denn  das  allgemeine  Wahlrecht  ist  keine  sozialdemokratische  For- 
derung, es  ist  eine  Forderung  des  bürgerlichen  Liberalismus,  eines 
seiner  Grundprinzipien,  das  er  in  Österreich  schmählich  verriet,  wie 

*)  Die  beiden  Fürstentümer  Reuß  ältere  Linie  oder  Reuß-Greiz  und 
Reuß  jüngere  Linie  oder  Reuß-Schleiz-Lobenstein  waren  bis  zum  Umsturz 
selbständige  Fürstentümer  und  Bundesstaaten  des  Deutschen  Reiches.  Sie 
waren  unter  die  zwei  Zweige  des  fürstlichen  Hauses  Reuß  geteilt.  Reuß- 
Greiz  war  316,  Reuß-Schleiz  827  Quadratkilometer  groß.  Durch  einige  Jahr- 
hunderte war  Reuß  j.  L.  in  vier  Teile  geteilt,  die  erst  1848  vereinigt 
wurden.  Die  Reuße  mußten,  weil  ihr  Ahnherr  von  Heinrich  VI.  belehnt 
wurde,  alle  Heinrich  heißen,  und  die  Numerierung  ging  bei  einzelnen  Neben- 
linien sogar  bis  zum  42.  ja  bis  zum  74.  Der  letzte  Reuß  ä.  L.,  Heinrich  XXIV., 
war  unheilbar  geisteskrank  und  für  ihn  führte  Heinrich  XXVII.  von  der 
jüngeren  Linie  die  Regentschaft.  Obwohl  das  Bestehen  und  die  Trennung 
der  beiden  Länder  nur  dynastischen  Interessen  entsprang,  waren  die  beider- 
seitigen Untertanen  der  „Zaunkönige"  von  überquellendem  Landespatriotis- 
mus erfüllt.  Jetzt  sind  beide  Länder  Teile  des  Freistaates  Thüringen. 


D;is  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht.  I  ' 


er  das  Recht  der  freien  Meinungsäußerung  feige  im  Stiche  ließ. 
Aber  wenn  das  allgemeine  Wahlrecht  keine  sozialdemokratische 
Eorderung  ist,  SO  ist  es  doch  ein  Lebensbedürfnis  der 
Sozialdemokratie,  der  politisch  e  n  C  n  t  w  i ck  1  u n g 
der  Arbeite  r  k  1  a  S  S  e.  Es  ist  eine  Waffe  für  den  Klassenkampf, 
die  sie  braucht  und  darum  muß  und  wird  sie  sie  erobern;  darum  auch 
verlangt  unser  Hainfelder  Programm: 

„die  Aufhebung  des  Monopols  der  Besitzenden  auf  das  politische  Wahl- 
recht durch  die  Einführung  des  allgemeinen,  gleichen,  direkten  und 
geheimen  Wahlrechtes  (und  zwar  ohne  Unterschied  des  Geschlechtes  und 
vom  20.  Lebensjahr  an,  wo  für  die  Männer  die  Verpflichtung  zur  Blut- 
Steuer  beginnt)  als  eines  wichtigen  Mittels  der  Agitation  und  Organisation." 

Wenn  wir  darangehen,  für  das  allgemeine  Wahlrecht  einzu- 
treten, ergreift  uns  Beschämung.  Wir  sollen  mit  vielen  Argumenten 
beweisen,  was  sonnenklar;  wir  sollen  mit  Eifer  verfechten,  was  kein 
Vernünftiger,  kein  Ehrlicher  bestreitet.  Das  unveräußerliche  Recht 
jedes  erwachsenen  Staatsangehörigen,  und  zwar  sowohl  jedes 
Mannes  als  jeder  Frau  —  an  der  Gesetzgebung  teilzunehmen,  ist 
selbstverständlich  und  nicht  weiter  zu  beweisen.  Die  Last  des  Be- 
weises hat,  wer  dieses  Recht  einem  Staatsbürger  nehmen  will. 
Die  Gewährung  des  Wahlrechtes  ist  keine  Wohltat;  die  Entziehung 
desselben  ist  ein  Verbrechen,  für  das  es  keine  Entschuldigung, 
höchstens  eine  geschichtliche  Erklärung  gibt.  In  Österreich  aber  ist 
wie  die  Freiheit  der  Staatsbürger,  so  ihre  „Gleichheit  vor  dem  Ge- 
setz" ein  leeres  Wort. 

Das  wichtigste  für  den  Staatsbürger  ist  das  Wahlgesetz.  Ja,  in 
Wahrheit  macht  erst  das  Wahlrecht,  das  Recht,  in  irgendeiner  Form 
an  der  Gesetzgebung  und  der  Kontrolle,  der  Verwaltung  in  Reich, 
Land  und  Gemeinde  teilzunehmen,  aus  dem  „Untertanen"  einen 
Staatsbürger. 

Wir  wollen  hier  einem  Manne  das  Wort  geben,  der  keineswegs 
Sozialdemokrat,  sondern  ein  Vertreter  des  bürgerlichen  Liberalis- 
mus ist,  dem  Engländer  John  Stuart  M  i  1 1.  In  seinen  „Betrachtungen 
über  Repräsentativ-Regierung"  findet  sich  folgende  Darlegung: 

„Der  Taglöhner,  dessen  Beschäftigung  ein  eintöniges  Einerlei  ist,  die 
seine  Lebensweise  mit  keiner  reichen  Mannigfaltigkeit  der  Ideen,  Verhält- 
nisse und  Eindrücke  in  Berührung  bringt,  erfährt  durch  die  politische 
Erörterung,  daß  tiefer  liegende  Ursachen  und  Ereignisse,  die  in  weiter 
Ferne  stattfinden,  eine  sehr  fühlbare  Wirkung  selbst  auf  seine  persönlichen 
Interessen  äußern,  und  durch  die  politische  Erörterung  sowie  durch  gemein- 
sames Handeln  lernen  alle  diejenigen,  deren  Tagewerk  sonst  ihre  Inter- 
essen ausschließlich  auf  den  nächsten  Kreis  ihrer  Umgebung  konzentrieren 
würde,  mit  ihren  Mitbürgern  und  für  ihre  Mitbürger  fühlen  und  werden 
bewußte  Mitglieder  des  Gemeinwesens.  Aber  politische  Erörterungen 
werden  wirkungslos  an  dem  Ohre  derjenigen  vorbeischwirren,  die  kein 
Stimmrecht  haben  und  nicht  darnach  streben,  es  zu  erwerben.  Ihre  Lage 
im  Vergleich  zu  den  Wählern  ist  dieselbe  wie  die  der  Zuhörerschaft  in 
einem  Gerichtshof  im  Vergleich  zu  der  der  zwölf  Männer  in  der  Loge  der 
Qeschwornen.  Sie  sind  es  nicht,  von  denen  man  die  Entscheidung  erwartet, 
es  ist  nicht  ihre  Meinung,  die  mau  zu  beeinflussen  sucht;  die  sie  hören, 
die    Gründe,    die    geltend    gemacht    werden,    sind    an     andere    Personen 


16  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


gerichtet  als  an  sie,  nichts  hängt  von  dem  Urteil  ab,  das  sie  sich  bilden, 
und  es  liegt  gar  keine  Notwendigkeit  und  sehr  wenig  Veranlassung  für  sie 

vor,  sieh  überhaupt  eins  zu  bilden.  Jeder,  der  unter  einer  sonst  volks- 
tümlichen Regierung  des  Stimmrechtes  entbehrt  und  keine  Aussicht  hat, 
es  zu  erhalten,  wird  entweder  zu  den  ständigen  Malkontenten  gehören, 
oder  wird  sich  als  ein  Mensch  fühlen,  dem  die  allgemeinen  Angelegenheiten 
der  Gesellschaft  gleichgültig  sind,  der  sie  durch  andere  für  sich  besorgen 
läßt,  der  „mit  dem  Gesetz  nichts  zu  schaffen  hat,  als  ihm  zu  gehorchen'" 
und  der  da,  wo  es  sich  um  öffentliche  Interessen  und  Geschäfte  handelt, 
die  Rolle  eines  Zuschauers  spielt.  Was  er  von  diesem  Standpunkt  aus  von 
ihnen  wissen  und  beachten  wird,  kann  man  ungefähr  nach  dem  bemessen,  was 
eine  Durchschnittsfrau  der  mittleren  Klassen  im  Vergleich  mit  ihrem  Mann 
oder  ihren  Brüdern  von  der  Politik  versteht  oder  daran  interessant  findet. 

Ganz  abgesehen  von  all  diesen  Erwägungen  ist  es  eine  persön- 
liche Ungerechtigkeit,  irgend  jemand,  sofern  es  nicht  die  Ver- 
hütung größerer  Übel  gilt,  das  gewöhnliche  Recht  vorzuenthalten,  bei  der 
Entscheidung  von  Angelegenheiten  mitzusprechen,  die  ihn  ebensosehr 
interessieren  wie  andere  Leute.  Wenn  er  genötigt  wird  zu  zahlen,  viel- 
leicht genötigt  wird  zu  kämpfen,  wenn  man  von  ihm  unbedingten  Gehorsam 
verlangt,  so  sollte  er  gesetzlich  berechtigt  sein  zu  erfahren,  welchem  Zwecke 
er  damit  dient,  sollte  um  seine  Meinung  gefragt  werden  und  versichert 
sein  können,  daß  sie  bei  der  Entscheidung  für  gerade  so  viel  als  sie  wrert 
ist,  obgleich  nicht  für  mehr  mitgezählt  werden  wird.  In  einem  voll- 
entwickelten und  zivilisierten  Gemeinwesen  sollte  es  keine  Parias  geben, 
keine  Personen,  die  ohne  ihr  Verschulden  die  politischen  Rechte  entbehren 
müssen.  Jedermann  wird  herabgewürdigt,  mag  er  selbst  es  fühlen  oder 
nicht,  wenn  andere  Leute,  ohne  ihn  zu  fragen,  mit  unbeschränkter  Macht- 
vollkommenheit über  sein  Geschick  entscheiden.  Und  selbst  in  einem  weit 
fortgeschritteneren  Zustande,  als  ihn  der  menschliche  Geist  bis  jetzt 
irgendwo  erreicht  hat,  würde  es  nicht  in  der  Natur  der  Dinge  liegen,  daß 
derjenige,  über  den  man  in  dieser  Weise  verfügt,  dieselbe  unparteiische 
Gerechtigkeit  zu  erwarten  hätte  wie  der,  welcher  mitzusprechen  berechtigt 
ist.  Herrscher  und  herrschende  Klassen  sind  genötigt,  die  Interessen  und 
Wünsche  derjenigen  zu  berücksichtigen,  die  stimmberechtigt  sind:  ob  sie 
aber  die  der  Ausgeschlossenen  berücksichtigen  wollen  oder  nicht,  steht 
ganz  bei  ihnen,  und  mögen  sie  auch  noch  so  wohlmeinend  sein,  so  sind  sie 
doch  meistenteils  durch  das,  was  sie  notwendig  beachten  müssen,  zu  sehr 
in  Anspruch  genommen,  um  viel  an  das  zu  denken,  was  sie  ungestraft 
außer  acht  lassen  können.  Keine  Anordnung  des  Stimmrechtes 
kann  deshalb  dauernd  befriedigen,  bei  der  irgend- 
welche Personen  oder  Klassen  ein  für  allemal  ausge- 
schlossen sind,  und  bei  welcher  das  Wahlrecht  nicht 
allen  erwachsenen  Personen  zugänglich  ist,  die  es  zu 
erhalten  wünsche  n." 

Wir  können  es  uns  nicht  versagen,  hier  festzustellen,  daß  das 
eben  zitierte  Buch  desselben  J.  St.  M  i  1 1  in  einer  Parlamentsdebatte 
gegen  das  allgemeine  Wahlrecht  und  für  die  österreichische 
Ständeverfassung  ins  Feld  geführt  wurde.  Diese  freche  Fälschung 
wurde  von  niemand  geringerem  begangen,  als  vom  Abgeordneten 
Rud.  A  u  s  p  i  t  z*)  in  der  Sitzung  am  28.  Jänner  1881,  welche  S  c  h  ö- 

*)  Dr.  Rudolf  A  u  s  p  i  t  z  war  liberaler  Abgeordneter  von  Nikolsburg. 
Seine  Wahl  war  bereits  einmal,  am  27.  März  1890,  wegen  krasser  Wahl- 


bestechungen annulliert  worden. 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht.  17 


11  er  eis')  Antrag  auf  allgemeines  Wahlrecht  zu  Grabe  trug.  Herr 
Auspitz  begnügte  sich  nicht  damit,  zu  sagen:  „Die  Besitzenden 
haben  die  Macht  und  wollen  sie  behalten!  Basta!"  I;r  gehört  zu  den 
„gelehrten"  Klopffechtern  des  Liberalismus  und  verlangte  mehr  von 
sich.  Er  mußte  beweisen,  dal.»,  wie  die  kapitalistische  Wirtsehafts- 
welt  die  beste  aller  Welten,  so  die  österreichische  Verfassung  die 
beste  aller  möglichen  Verfassungen  sei.  Um  das  zu  beweisen,  zitierte 
er  Mill,  welcher  wünscht,  dal.»  das  Wahlrecht  an  die  Kenntnis  des 
Lesens  und  Schreibens  gebunden  sei;  Mill  meint,  daß  eine  solche 
Einrichtung  sehr  bald  die  Analphabeten  verschwinden  machen  würde 
und  hat  für  ringland  recht.  Er  hat  (ializien  nicht  gekannt,  wo  bei 
Einführung  des  Bildungszensus  die  Stanczyken  einen  (irund  mehr 
hätten,  die  Verbreitung  der  Volksbildung  zu  hindern. 

Was  folgt  aber  aus  Mills  Forderung?  Doch  natürlich:  —  Allge- 
meines Stimmrecht  mit  Bildungszensus!  —  o  nein,  Herr  Auspitz 
sagt  daraus  folgt  die  Notwendigkeit  der  Ausschließung  von  zwei 
Drittejn  des  Volkes  vom  Wahlrecht.  Mill  meint,  höhere  Einsicht  in 
die  Staatswirtschaft  sollte  ein  „mehrfaches"  Wahlrecht  bedingen. 
Er  schlägt  vor,  daß  das  Ablegen  gewisser  Prüfungen  das  Recht 
geben  soll,  zwei  oder  selbst  drei  Stimmen  abzugeben;  begreiflicher- 
weise ein  reines  Ehrenrecht.  Denn  Mill  erklärt  es  für  „d  u  r  c  h- 
a  u  s  u  n  z  u  1  ä  s  s  i  g,  die  Überlegenheit  des  Einflusses  von  der  Rück- 
sicht auf  das  Vermögen  abhängig  zu  machen" ;  aber  auch  in 
bezug  auf  das  von  ihm  vorgeschlagene  Pluralvotum  für  höher  Ge- 
bildete sagt  er:  „die  an  sich  ganz  gerechte  Unterscheidung  zugunsten 
der  Bildung  darf  nicht  so  weit  gehen,  daß  sie  dem  Gebildeten  möglich 
macht,  eine  Klassengesetzgebung  zu  üben";  ja  er  betont  ausdrücklich, 
daß  dieses  Pluralvotum  „jedem,  auch  dem  ärmsten  Indi- 
viduum offenstehen  müßte,  sobald  es  nachzuweisen  ver- 
möchte, daß  es  sich  trotz  aller  Schwierigkeiten  und  Hindernisse  den 
Bildungsgrad  angeeignet  hat,  der  dafür  vorausgesetzt  wird".  Und 
dieser  Mann  muß  es  sich  gefallen  lassen,  von  dem  liberalen  Fälscher 
Auspitz  für  das  österreichische  Wahlsystem  als  Autorität  ins 
Feld  geführt  zu  werden;  denn,  so  meint  dieser  Herr,  in  Österreich 
sei  das  Wahlrecht  —  ganz  wie  Mill  es  wünsche  —  „nach  der 
Intelligenz  abgestuft!"  Mögen  sich  die  Millionen  von  Rechtlosen  bei 
dem  liberalen  Parlamentarier  für  das  Kompliment  bedanken  und 
ebenso  die  Millionen  von  Wählern  in  den  Städten  und  Landgemein- 
den. Er  schätzte  die  Intelligenz  der  städtischen  Wähler  dreißig- 
mal, die  der  ländlichen  hundert  achtundvierzigmal 
geringer  als  die  der  Großgrundbesittzer,  jener  Klasse,  bei  welcher 
das  nicht  allzu  seltene  Vorkommen  von  erblichem  „standesgemäßen 
Schwachsinn"  der  Prozeß  W  a  1  d  s  t  e  i  n  gerichtsordnungsmäßig 
festgestellt  hat. 


*)  Die  Alldeutschen,  die  später  das  allgemeine  Wahlrecht  so  fanatisch  be- 
kämpften, hatten  in  den  achtziger  Jahren  selbst  wiederholt  Anträge  für  das 
allgemeine  Wahlrecht  eingebracht;  so  auch  Schönerer  selbst,  wie 
weiter  unten  in  der  Broschüre  noch  dargelegt  werden  wird. 

Adler,  Briefe.   X.   Bd.  2 


18  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


Einiges  über  Geschichte  und  Wesen  der  Verfassung. 

Es  kann  nicht  unsere  Absicht  sein,  hier  auch  nur  im  gedrängtesten 
Abriß  eine  Geschichte  der  österreichischen  Verfassung  zu  geben. 
Aber  es  muß  gesagt  werden,  weil  es  immer  vergessen  wird:  Die 
heutige  Verfassung  Österreichs  knüpft  an  vormärzliche  stän- 
dische Formen  an.  Was  1848  mit  dem  Blute  der  Arbeiter 
und  Studenten  erobert  wurde,  blieb  preisgegeben  und  hat  die  Ver- 
fassung Schmerlings  nicht  zurückerobert.  Die  am  25.  April  1848 
erlassene  „Verfassungsurkunde  des  österreichi- 
schen Kaiserstaates"  verwies  den  Großgrundbesitz  in  die 
erste  Kammer,  den  Senat.  Die  zweite  Kammer  sollte  auf  Grund  des 
gleichen,  freilich  nicht  des  allgemeinen  Wahlrechtes  gewählt 
werden.  Der  anfänglich  geplante  Steuerzensus  wurde  aufgegeben, 
aber  noch  sollten  alle  vomTag-oderWochenlohnLeben- 
d  e  n  und  die  Dienstleute  vom  Wahlrecht  ausgeschlossen  bleiben. 
Aber  am  15.  Mai  rückte  die  akademische  Legion  auf  den  Burgplatz, 
und  Tausende  von  Arbeitern  zogen  aus  den  Vorstädten  herein.  Die 
in  dieser  Form  überreichte  „Petition"  wurde  sehr  rasch  erledigt.  Die 
Beseitigung  des  Senats  und  der  Beschränkungen  des  Wahlrechts 
wurden  sofort  bewilligt.  Die  Wahlen  zum  konstituierenden 
Reichstag  wurden  auf  Grund  eines  nahezu  allgemeinen 
Wahlrechts  (nur  die  Dienstleute  blieben  noch  immer  rechtlos) 
durchgeführt.  Kaum  war  aber  dies  Bürgertum  zur  Konstituante 
versammelt,  als  es  sein  Werk  mit  der  Ausschließung  der  Besitzlosen 
vom  Wahlrecht  begann.  Der  Verfassungsentwurf  des 
Kremsierer  Reichstages  nahm  wieder  den  Zensus  auf;  das  Wahlrecht 
für  das  „V  o  1  k  s  h  a  u  s"  sollte  nur  jener  24jährige  Staatsbürger 
erhalten,  der  eine  direkte  Steuer  in  einem  vom  Wahlgesetz  (aber 
nicht  höher  als  5  fl.  C.  M.*)  zu  bestimmenden  Minimum  entrichtet 
oder  einen  Pacht-  oder  Mietzins  zahlt,  von  dem  eine  direkte  Steuer 
gleichen  Betrages  entfällt.  Zudem  sollte  neben  der  Volkskammer 
eine  von  den  Landtagen  und  Kreistagen  zu  wählende  Länder- 
kammer stehen. 

Während  die  Wiener  Proletarier  den  Kanonen  des  W'indisch- 
grätz  gegenüberstanden,  wurden  sie  ihres  Bürgerrechtes  beraubt. 
Der  Kremsierer  Reichstag  vernichtete,  was  der  Maisturm  erobert 
hatte ;  er  fühlte  sich  als  die  Vertretung  der  Bourgeoisie,  er  wollte, 
wie  Violand**)  sich  ausdrückt,  „den  Besitz  zum  Regulator  aller  Ver- 
hältnisse, zur  alleinigen  Herrschaft  erheben".  Aber  immerhin,  er  war 


)  5  fl.  C.  M.  heißt  5  Gulden  Konventionsmünze.  Der  Gulden  war  damals 
in  sechzig  Kreuzer  geteilt.  Er  war  etwa  1  Gulden  5  Kreuzer  (1  fl.  5  kr.) 
österreichischer  Währung  wert,  die  bekanntlich  später  eingeführt  wurde 
und  bis  zur  Einführung  der  Kronenwährung  in  Österreich  bestand. 

**)  Ernst  v.  Violand,  der  bekannte  Abgeordnete  des  österreichischen 
Reichstages  im  Jahre  1848,  der  dann  von  der  Reaktion  aus  Österreich 
vertrieben  und  gleich  Kudlich,  Goldmark  und  Fuster  steckbrieflich  verfolgt 
wurde.  Er  schrieb  unter  anderem  das  Werk:  „Die  soziale  Geschichte  der 
Revolution  in  Österreich."  Er  ist  im  Jahre  1875  in  Amerika  gestorben. 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte    Wahlrecht.  1() 


konsequent;  das  g  I  c  i  c  li  e  Wahlrecht  wurde  nicht  angetastet;  die 
Stände- bliebe»  begraben.  Am  7.  März  L849  wurde  der 
Re Ic h s t a gig e s;p  ren gt  u n d  d i e  o  k t r <vy  i e  r  t e  „R  eich  s- 

v  e  r  f  a  s  s  u  n  g  f  ü  r  das  Kaiserin  in  ( )  s  t  e  r  r  e  i  c  h"  k  U  n  d- 
g  e  m  a  c  h  t,  w  e  1  c  li  e  das  W  a  h  I  r  e  c  h  t  f  ii  r  d  a  s  U  n  t  e  r  h  a  U  s 
noch  weiter  einschränkte  und  den  Zeus  u  s  a  u  i 
5  dulden,  in  den  Städten  über  1  0.0 00  Seelen  aber 
a  u  f  1  0  b  i  s  2  0  G  u  1  d  e  n  f  e  s  t  s  e  t  z  t  e.  Während  aber  die  ( Gleich- 
heit des  Wahlrechtes  für  das  Unterhaus  unangetastet  blieb,  wurde 
für  das  Oberhaus  die  „Interessenvertretung"  ein- 
geführt, das  heißt,  es  wurde  an  die  Höchstbesteuer- 
ten ausgeliefert,  die  130  Mandate  gegenüber  40 
von  den  Landtagen  zu  wählenden  Mitgliedern  erhalten  sollten. 
Diese  Reichsverfassung  trat  nie  ins  Leben.  Der 
Fall  der  Revolution  in  Ungarn  machte  bald  jede  Maske  überflüssig. 
Das  totgeborene  Kind  wurde  am  31.  Dezember  1851  mit  einem 
Patent  begraben,  welches  sie  zugleich  mit  den  Grundrechten 
außer  Kraft  setzte.  Der  Absolutismus  war  in  aller  Form 
wiederhergestellt. 

Als  die  Niederlage  von  Solferino  1859  den  Ruin 
des  Reiches  enthüllte  und  man  Geld  und  Kredit  brauchte, 
dachte   man  wieder  an  „zeitgemäße  Verbesserungen 
in  Gesetzgebung  und  Verwaltung"  (Manifest  vom 
15.  Juli  185  9).  Der  aus  ernannten  Mitgliedern  bestehende 
verstärkte  Reichsrat  wurde  einberufen  und  bald  erschien  das  O  k- 
toberdiplom  (2  0.  Oktober  186  0),  welches  eine  Ver- 
fassung ankündigte.  Das  Schwergewicht  der  Gesetzgebung 
sollte  in  die  Landtage  fallen,    welche   100  Delegierte  in  eine  aus 
einer  einzigenKammer  bestehende,  im  übrigen  zu  ernennende 
Reichsvertretung    zu    entsenden    hätten.    Aber  bevor  noch  dieses 
föderalistische  Experiment  versucht  werden  konnte,  fand  abermals 
ein  Systemwechsel  statt.  Schmerling  wurde  Minister  und  er- 
ließ   das    Februarpatent    (26.  Februar    1861),    die    eigent- 
liche Grundlage  der  heute  geltenden  Verfassung. 
Das    Februarpatent    zerlegte    die    vom    Oktoberdiplom    geplante 
Reichsvertretung    in    zwei    Kammern:     das    Herrenhaus,    in 
welchem    aber    nun    neben  den  vom  Kaiser  zu  ernennenden  Mit- 
gliedern  die   Vertreter   des   Großgrundbesitzes  als   erbliche   Pairs 
sitzen ;   und   das   „Haus   der   Abgeordnete  n",   dessen   Mit- 
glieder  von   den   Landtagen   nach   einem   bestimmten 
Verteilungsmodus  aus  den  einzelnen  Kurien  der- 
selben  zu   wählen    sind.   Das  Haus  sollte  aus  343  Mitgliedern  be- 
stehen,   wovon    223    den    „engeren    Reichsrat"    der    Länder    des 
späteren  Zisleithanien  bilden,    120  Mitglieder  auf  die  Länder  der 
ungarischen    Krone    entfallen    sollten.    Da    diese    Verfassung    von 
Ungarn    nie   anerkannt   wurde,   kam   nur    der    „engere    Reichsrat" 
zustande. 

2* 


20  Von  Taaffe  bis  Hadern. 


In  bezug  auf  unseren  Gegenstand  liegt  das  Schwergewicht  der 

Sc h me r  1  i  n  g  sehen  Verfassung  in  den  im  Anhang  an  das 
Februarpatent  erlassenen  Landesordnungen  und  Landtagswahl- 
ordnungen. In  diesen  wird  die  noch  heute  bestehende  Grundlage 
des  Wahlrechtes  geschaffen,  wird  weit  hinter  die  Verfassung  vom 
Jahre  1848,  ja  selbst  hinter  die  vom  Monarchen  oktroyierte  März- 
verfassung von  1849  zurückgegriffen;  die  Beschränkung  des  Wahl- 
rechtes durch  den  Zensus  wird  selbstverständlich  aufgenommen, 
aber  auch  die  Gleichheit  des  Wahlrechtes  wird  aufgehoben  und  die 
Privilegien  der  vormärzlichen  Stände  wieder  hergestellt.  Die 
Wahlen  in  die  Landtage  geschehen  in  den  Kurien  des  Großgrund- 
besitzes, der  Handelskammern,  der  Städte  und  der  Landgemeinden. 
Um  eine  „verfassungstreue"  Majorität  zu  schaffen,  werden  Wahl- 
kreise von  ganz  naturwidriger  Gestalt  herausgeschnitzelt  und  so 
für  das  „Deutschtum",  das  heißt  für  die  deutschliberale  Bürokratie 
und  Bourgeoisie,  eine  künstliche  Majorität  hergestellt. 

Der  Widerstand  der  Ungarn  gegen  die  zentralistische  Ver- 
fassung machte  die  feudalen  Kavaliere  stark  genug,  das  Werk 
Schmerlings  zu  beseitigen.  Im  Juli  1865  fiel  Schmerling  und  am 
20.  September  1865  wurde  von  Belcredi  die  Verfassung 
s  i  s  t  i  e  r  t.  Keine  Hand  rührte  sich  zu  ihrem  Schutz;  wer  hätte 
auch  für  diesen  Ausdruck  engherzigsten  Kastengeistes  sich  echauf- 
fieren sollen?  Die  „Verfassungstreuen"?  Die  Bourgeoisie  war 
längst  feige  geworden  und  das  Proletariat  hatte  wahrlich  keinen 
Grund  dazu. 

So  gab  es  wieder  einmal  keine  Reichsvertretung  in  Österreich, 
bis  die  Schlacht  bei  Königgrätz  die  Nützlichkeit  einer  solchen  Ein- 
richtung nahelegte.  Als  dann  der  Ausgleich  mit  Ungarn  zustande 
gekommen  war,  schuf  die  Dezemberverfassung  (Gesetz 
vom  21.  Dezember  1867)  den  österreichischen  Reichs- 
rat, welcher  zunächst  nichts  anderes  war  als  der  durch  den  Ver- 
lust der  italienischen  Provinzen  auf  203  Abgeordnete  zusammen- 
geschmolzene „engere  Reichsrat"  Schmerlings.  Der  Widerstand 
der  Föderalisten,  insbesondere  die  Abstinenz  der  Tschechen,  legte 
es  nahe,  den  Reichsrat  von  den  Landtagen  unabhängiger  zu  machen 
und  im  Jahre  1873  wurden  endlich  die  direkten  Reichsrats- 
wahlen eingeführt.  Die  Zahl  der  Abgeordneten  wurde  auf  353 
vermehrt,  aber  die  Kurienwahl,  das  Prinzip  der  „Interessen- 
vertretung", wurde  unverändert  aus  den  LandtagswTahlordnungen 
herübergenommen.  Unberührt  blieb  dieses  Prinzip  des  österreichi- 
schen Wahlunrechtes  auch  durch  die  Wahlreform  des  Jahres  1882, 
welches  für  die  Größten  der  Großen,  für  den  böhmischen  Fidei- 
kommißadel,  ein  neues  Monopol,  einen  besonderen  Wahlkörper 
schuf  und,  um  diesen  Vorgang  dem  größeren  Publikum  annehmbar 
zu  machen,  den  Zensus  auf  fünf  Gulden  herabsetzte. 

Die  „verfassungsmäßige  Ära"  in  Österreich  ist  also  in  ihrer 
Gesamtheit  nichts  anderes  als  eine  Periode  der  Reaktion,  welche 
die  Errungenschaften  des  Jahres   1848  preisgibt.  Das   verehrliche 


Das  allgemeine,  Bleiche  und  direkte  Wahlrecht. 


Bürgertum  macht  seinen  Frieden  mit  dem  hohen  Adel  zum  Schaden 

der  ungeheuren  Mehrheit  des  Volkes,  welches  rechtlos  bleibt. 

So  sehen  wir  denn,  wie  es  in  Österreich  mit  dem  wichtigsten 
Rechte  des  Staatsbürgers  aussieht.  Das  heutige  Wahlsystem  mit 
seinem  hohen  Zensus  und  mit  seinen  Gruppen  macht  ans  dem 
Wahlrecht  ein  höchst  Ungleich  verteiltes  Monopol 
der  besitzenden.  Es  beraubt  nicht  nur  zwei  Drittel  des 
Volkes  aller  politischen  Rechte,  es  liefert  auch  das  bevorrechtete 
Drittel  in  die  Hände  von  ein  paar  tausend  Großgrundbesitzern, 
welche  faktisch  die  Herrschenden  sind  in  Österreich.  Nicht  nur, 
daß  die  gesetzlich  gewährleistete  und  traditionell  geübte  Macht 
der  Krone  in  Österreich  eine  so  überwiegend  große  ist,  wie  in 
keinem  anderen  konstitutionellen  Lande,  muß  jedes  (iesetz  auch 
noch  das  Herrenhaus  passieren,  jenen  prompt  wirkenden 
Hemmungsapparat  für  jede  volkstümliche  oder  auch  nur  frei- 
sinnige Maßregel.  Es  genügt  zu  erwähnen,  wie  das  Herrenhaus 
zusammengesetzt  ist,  um  zu  wissen,  was  es  leistet.  Das  Herrenhaus 
besteht  derzeit  (nach  einer  Feststellung  von  1891)  aus  21  Erz- 
herzogen, 66  erblichen  Pairs  und  125  lebenslänglichen  Mitgliedern. 
Daß  die  erblichen  Mitglieder  ausschließlich  dem  Feudaladel  an- 
gehören, versteht  sich  von  selbst;  aber  auch  unter  den  lebens- 
länglichen, also  ernannten  Mitgliedern  des  Herrenhauses  befinden 
sich  4  Fürsten,  48  Grafen,  22  kirchliche  Würdenträger;  den  Rest 
bilden  51  Herren  geringeren  Ranges  (Barone,  Generale,  Bankiers, 
Professoren  usw.).  Da  überdies  die  Zahl  der  Herrenhausmitglieder 
unbeschränkt  ist,  kann  jede  Regierung  eine  beliebige  Anzahl  er- 
nennen und  jederzeit  die  Majorität  durch  einen  „Pairsschub"  in 
die  Minorität  verwandeln.  Das  Herrenhaus  bildet  also  nur  eine 
nochmalige  Umschreibung  der  Macht  der  Regierung  respektive 
der  Krone,  welche  ja  durch  Verweigerung  der  Sanktion  stets  in 
der  Lage  ist,  jedes  vom  Abgeordnetenhaus  beschlossene  Gesetz 
am  Inslebentreten  zu   hindern. 

Die  Gefährlichkeit  des  Herrenhauses  für  jeden  Fortschritt  tritt 
aber  in  Österreich  sehr  wenig  hervor,  und  zwar  aus  dem  höchst 
einfachen  Grunde,  weil  das  Abgeordnetenhaus  nicht  viel  besser  ist. 
In  Österreich  kann  das  Herrenhaus  das  Volkshaus  nicht  hemmen, 
weil  es  kein  Volkshaus  gibt.  Dieselben  Elemente,  vornehmlich  der 
Großgrundbesitz,  welche  im  Herrenhaus  herrschen,  haben  die 
Macht  im  Abgeordnetenhaus,  und  so  ist  das  angeblich  „konsti- 
tutionelle4' Österreich  tatsächlich  eine  Ständemonarchie 
mit  parlamentarischem  A  u  f  p  u  t  z. 

Die  Ausdehnung  des  Wahlrechtes. 

Will  man  sich  eine  deutliche  Vorstellung  von  der  Ausdehnung 
des  Wahlrechtes  in  Österreich  machen,  so  gibt  es  dazu  zwrei 
Wege.  Man  kann  das  Verhältnis  der  Zahl  der  Wahlberechtigten 
zur  Einwohnerzahl  vergleichen  mit  diesem  Verhältnis  in  jenen 
Ländern,  welche  das  allgemeine  Wahlrecht  oder  ein  diesem  nahe- 
kommendes Wahlsystem  besitzen.  Dieses  Verhältnis,  die  relative 
Wahlberechtigung,   zeigt   folgende    Tabelle: 


22  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


R 

.  e  1  a  t  i  v  e   \Y  a 

l  1  b  e  i 

*  e  c  h  t  i  g  u  ng. 

Aui  1000  Be- 

Staaten 

lk\  ölkemng 

Wähler 

wohner 

entfallen 

ähler 

Prankreich    .   .   . 

38,343.192  (1891) 

10,387.330  (1889) 

271 

Schweiz  (Kanton 

Zürich*)    .   .   . 

337.183  (1888) 

83.586  (1893) 

24N 

Griechenland   .   . 

1,979.433   (1879) 

460.163  (1881) 

232 

Deutschland      .    . 

49,428.470  (1890) 

10,145.877  (1890) 

217 

Belgien   bisher 

6,147.041   (1890) 

135.236  (1891) 

22 

Belgien  nach  dem 

neuen  Gesetz   . 

6,147.041    (1890) 

zirka 

1,300.000 

zirka 

210 

Großbritannien 

und  Irland    .    . 

37,888.153  (1891) 

6,173.668  (1891) 

163 

Dänemark     .    .    . 

2,185.335  (1890) 

304.585  (1880) 

139 

Italien 

30,158.408  (1891) 

2,826.055  (1890) 

97 

Norwegen      .   .    . 

1,526.871   (1891) 

139.690  (1891) 

91 

Österreich    .   .   . 

23,608.062  (1890) 

1,732.057  (1892) 

72 

Ungarn      .   .    .   . 

17,349.398  (1890) 

zirka" 

**)  840.000  (1890) 

zirka 

48 

Dieser  Vergleich  wird  natürlich  dadurch  erschwert,  daß  die  Be- 
dingungen der  Wahlfähigkeit  in  verschiedenen  Ländern  ver- 
schieden sind,  wobei  am  meisten  ins  Gewicht  fällt,  daß  das  Lebens- 
alter, mit  welchem  die  Wahlfähigkeit  beginnt,  ein  verschiedenes 
ist.  Während  in  Österreich  das  24.  Lebensjahr  der  Beginn  der 
Wahlberechtigung  ist,  ist  es  in  Deutschland  das  25.,  in  Frankreich 
das  21.,  in  der  Schweiz  das  20.  Auf  100  Einwohner  entfallen  in 
Frankreich  27'1  Wahlberechtigte,  in  Deutschland  217,  in  England 
mit  seinem  noch  immer  beschränkten  Wahlsystem  163,  in  Öster- 
reich aber  nur  7*2  Wahlberechtigte.  Das  wahlfähige  Alter  kommt 
in  Deutschland  dem  Österreichs  am  nächsten,  und  wenn  man  an- 
nimmt, daß  der  Aufbau  der  Altersklassen  in  Österreich  und 
Deutschland  annähernd  derselbe  ist,  so  kommt  man  zum  Schluß, 
daß  sich  die  Ausdehnung  des  Wahlrechtes  in  Österreich  zu  der 
in  Deutschland  verhält  wie  7*2  :  217,  also  ungefähr  wie  1  :  3, 
daß  somit  bei  Einführung  derselben  Wahlgesetzgebung  wie  in 
Deutschland  sich  die  Zahl  der  Wähler  in  Österreich  verdrei- 
fachen würde. 

Aber  es  gibt  einen  viel  direkteren  Weg.  Aus  den  bisher  ver- 
öffentlichten vorläufigen  Ergebnissen  der  Volkszählung  des  Jahres 
1890  läßt  sich  die  Zahl  der  Männer  über  24  Jahren  mit  annähernder 
Genauigkeit  auf  5,716.000  berechnen.  Die  Zahl  der  Wahlberechtigten 
bei  den  letzten  Wahlen,  im  Frühjahr  1891,  war  1,732.057.  Hieraus 
ergibt  sich,  daß  von  je  1000  Männern  über  24  Jahren 
das  Wahlrecht  in  Österreich  nur  3  03  hatten,  also 
erheblich  weniger  als  ein  Drittel. 

Es    ist    somit    ziffermäßig    erwiesen,    daß    mehr 

*)  Die  Ziffern  für  die  Gesamtsehweiz  konnten  wir  leider  nicht  erlangen: 
die  Ausdehnung  des  Wahlrechtes  ist  aber  wesentlich  dieselbe  in  allen 
Kantonen  und  die  für  Zürich  geltende  Verhältniszahl  darum  auch  für  die 
Eidgenossenschaft  anzunehmen,   (v.  a.) 

Wir   konnten   die   genaue   Ziffer   nicht  in   Erfahrung  bringen,   (v.   a.) 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht, 


a  1  s  zwei  Drittel  der  B e  v  ö  Ikcr  u  n  g,  69  7  M  ä  n  n  e  r  v  o  n  i  e 
1ÜOU,  in   Österreich  politisch  rechtlos  sind. 

Aber  dieses  an  und  für  sich  schon  im  höchsten  Grade  unge- 
rechte Verhältnis  wird  von  Jahr  zu  Jahr  ungünstiger,  und 
zwar  nach  zwei  Richtungen.  Erstens  wird  die  Zahl  der 
Rechtlosen  größer  mit  der  fortschreitenden  Volksver- 
mehrung, weil  die  besitzlosen  Volksklassen  erfahrungsgemäß  sich 
schneller  vermehren  als  die  Besitzenden.  Zweitens  aber,  und  dieser 
Umstand  gibt  erst  die  rechte  Beleuchtung  für  unser  Wahlsystem, 
das  Wahlrecht  ist  ein  Monopol  und  die  Zahl  der  Monopo- 
listen wird  immer  geringer,  weil  das  Monopol  an  den 
Besitz  geknüpft  ist,  der  Besitz  sicli  aber  immer  mehr  in  den 
Händen  von  immer  weniger  Leuten  konzentriert.  Der  Kreis  der 
Bevorrechteten  im  Verhältnis  zur  Zahl  der  Bevölkerung  wird  ein 
immer  kleinerer,  die  Zahl  der  Rechtlosen  eine  immer  größere.  Wir 
haben  seit  dem  Jahre  1873  in  Österreich  direkte  Wahlen;  bis  zu 
jener  Zeit  wurden  die  Reichsratsabgeordneten  aus  den  Landtagen 
gewählt,  und  die  Ziffern  sind  schwer  zu  erheben.  Im  Jahre  1873 
und  1879  fanden  Wahlen  nach  den  alten  Bestimmungen  des  Zehn- 
gulden- beziehungsweise  Zwranzigguldenzensus  statt.  Bei  den 
Wahlen  im  Jahre  1885  und  1891  wählten  die  Fünfguldenmänner  mit. 
Vergleicht  man  die  ersten  beiden  Wahlen  miteinander,  so  findet 
man,  daß  auf  1000  Einwohner  entfielen  im  Jahre  1873  63  Wahl- 
berechtigte, im  Jahre  1879  nur  mehr  59.  Vier  früher  Wahl- 
berechtigte auf  je  1000  Einwohner  waren  verschwunden.  Im 
Jahre  1885  entfielen  auf  1000  Einwohner  noch  73  Wahlberechtigte, 
im  Jahre  1891  nur  mehr  72,  wieder  ist  in  sechs  Jahren  ein  Wahl- 
berechtigter auf  je  1000  Einwohner  verschwunden,  und  wir  werden 
diese  Ziffern  noch  genauer  würdigen  können,  wenn  wir  sie  nach 
den  Wahlkörpern  unterscheiden.  Wir  erfahren  dann  (auch  diese 
Ziffern  beruhen  durchweg  auf  offiziellen  Angaben),  daß  in  den 
Städtewahlbezirken  auf  1000  Einwohner  im  Jahre  1885  70  Wahl- 
berechtigte kamen,  im  Jahre  1891  nur  mehr  61;  also  9  Wähler, 
nicht  weniger  als  12*8  Prozent  sind  verschwunden;  in  den  Land- 
gemeinden ist  das  Verhältnis  ein  weniger  ausgeprägtes,  aber  noch 
immer  deutliches.  Die  Wählerzahl  auf  1000  Einwohner  fällt  von  77 
im  Jahre  1885  auf  75  im  Jahre  1891,  mehr  als  2*5  Prozent  der 
Wähler  sind  verschwunden. 

Auf  10  0  0  Einwohner  kommen  Wähler: 

In  den  Städtewahlbezirken  Landgemeinden 

1873 48  71 

1879 461  61*3 

1885 70  77 

1891 61  75 

Auf    1000    Ein  w  ohner    kamen    Wähler    überhaupt: 

1873  63 

1879  59 

1885  73 

1X91  72 


24 


Von  Taafie  bis  liadcni. 


1  n  dem  kurzen  Zeitraum  v  o  n  nur  s  e  e  h  S  J  a  h  r  e  n 
li  a  b  e  n  von  hundert  Wählern  in  den  Landbezirke  n 
mehr  als  zwei,  i.n  den  Stadtbezirken  mehr  als 
z  \v  ö  1  f  auf  kr  e  li  (")  r  t.  \V  ä  h  1  e  r  zu  sei  n.  sie  sind  ins  Pro- 
i  e  t  a  r  i  a  t   li  i  n  a  b  g  e  s  u  n  k  e  n. 

Es  gibt  wohl  nicht  leicht  eine  Ziffer,  die  gleich  klar  und 
handgreiflich  zeigt,  wie  die  Mittelstände  im  Zugrundegehen  be- 
griffen sind.  Der  Abfall  in  den  Wählerzahlen  vom  Jahre  1873 
bis  1879  wird  von  den  offiziellen  Statistiken  auf  die  Folgen 
des  Krachs  zurückgeführt.  Aber  der  weitere  Verlauf  zeigt  sehr 
klar,  daß  es  sich  nicht  um  die  Folgen  eines  einmaligen,  ein- 
schneidenden Ereignisses,  sondern  um  einen  chronischen,  an- 
dauernden Prozeß  handelt,  und  dieser  Prozeß  ist  kein  anderer 
als  der  der  zunehmenden  Proletarisierung,  der  Expropriation  der 
Mittelklassen.  Das  ist  jedoch  ein  Gegenstand,  der  uns  hier  nicht 
beschäftigt,  wohl  aber  haben  wir  hervorzuheben,  daß  mit  der  Ent- 
eignung durch  die  ökonomische  Entwicklung  auch  die  Ent- 
rechtung durch  unsere  politische  Gesetzgebung  erfolgt.  Der 
Kreis  derer,  die  noch  soweit  ihre  wirtschaftliche  Selbständigkeit 
haben,  daß  sie  auch  nur  5  Gulden  direkte  Abgaben  zahlen,  wird 
ein  immer  kleinerer  und  mit  der  wirtschaftlichen  Selbständigkeit  geht 
das  politische  Recht  verloren.  Wie  sich  dieser  Prozeß  in  den  ein- 
zelnen Kronländern  äußert,  zeigt  folgende  Tabelle: 

Auf  1000  Einwohner  entfielen  Wähler: 

Stadtbezirke  Landbezirke 

111  1873        1879        1885       1891  1873        1879         1886  1891 

Niederösterreich      ...  48  46  69  60")  78  77  78  84") 

Oberösterreich     ....  44  44  63  62  48  42  101  99 

Salzburg 56  55  70  68  87  80  90  89 

Steiermark 40  44  65  52  59  56  80  82 

Kärnten 31  34  68  45  48  40  63  64 

Krain       44  39  63  53  64  58  92  88 

Triester   Gebiet       ...  50  58  50  47 

Görz  und  Gradiska    .    .  44  53  45  52  40  38  66  65 

Istrien 53  55  68  76  54  55  78  77 

Tirol       46  48  55  59  69  65  68  67 

Vorarlberg 105  109  102  85  80  79  97  106 

Böhmen      47  49  74  68  42  38  57  59 

Mähren      42  44  74  72  64  63  63  60 

Schlesien       47  49  64  63  3S  43  54  51 

Galizien      67  68  70  68  89  92  92  85 

Bukowina      65  76  79  72  95  103  109  86 

Dalmatien      —  119  101  91  97  110  104 

In  ganz  Österreich    .    .  48  46  70  61  71  61  77  75 

*)  Bei  der  Wahl  1S85  wählten  die  beiden  Bezirke  Sechshaus  und 
H  e  r  n  a  1  s  noch  mit  den  Landgemeinden,  1891  aber  bereits  mit  den 
Städten.  Da  in  Sechshaus  auf  1000  Einwohner  nur  42,  im  Bezirk  Hernals 
gar  nur  40  Wähler  kommen,  mußte  diese  Änderung  die  Verhältniszahl  der 
Einwohner  zu  den  Wählern  für  die  Städte  Niederösterreichs  stark  herab- 
drücken, für  die  Landgemeinden  stark  hinaufschnellen,  (v.  a.)  Inzwischen 
war  nämlich  die  Eingemeindung  der  Vororte  erfolgt. 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht. 

Das  Wahlrecht  ist  also  in  Österreich  das  Monopol  eines  i  in  ine  r 
kleiner  werdenden,  ein  Drittel  nicht  erreiche  n- 
den  Bruchteiles  der  Bevölkerung?. 

Das  Reichsratswahlrecht  schließt  sich  an  das  Wahlrecht  zum 
Landtag  beziehungsweise  das  Qemeindewahlrecht  an  und  seine 
Ausdehnung  zeigt  deshalb  in  den  verschiedenen  Kronländern  ge- 
wisse nicht  unbedeutende  Verschiedenheiten,  die  durch  den  ein- 
heitlichen Zensus  von  5  Gulden  keineswegs  gänzlich  aufgehoben 
werden,  auf  welche  einzugehen  aber  hier  ganz  unmöglich  ist*). 

Seit  dem  Bestehen  des  gegenwärtigen  Wahlsystems,  seit  1862, 
hat  nur  eine  einzige  und  höchst  bescheidene  Erweiterung  des 
Wählerkreises  stattgefunden.  Die  Einbeziehung  der  Eünfgulden- 
männer  1882  hat  die  Zahl  der  Wähler  auf  je  1000  Einwohner  nur 
v  o  n  6  3  a  u  f  7  6  v  e  r  m  ehrt.  Die  absoluten  Zahlen  sind  folgende: 

Zahl  der  Wähler  bei  den  Wahlen: 

1873*  )  1879  1885  1891 

Großgrundbesitzer      4.931  4.768  5.119  5.402 

Handelskammern 499  515  593  583 

Städte,  Märkte  usw 186.323  196.993  298.793  338.500 

Landgemeinden    ....   .    .    .    .  1,062.259  1,088.457  1,369.536  1.387.572 

Zusammen  .    .    .  1,254.012       1,290.733       1,674.041       1,732.057 

Vergleichen  wir  mit  diesem  Schneckengang  die  Entwicklung 
des  Wahlrechtes  in  zwei  Ländern,  die  auch  ihrerseits  noch  heute 
nicht  beim  allgemeinen  Wahlrecht  angelangt  sind.  In  England 
verdoppelte  die  Reformbill  von  1867  die  Zahl  der  Wähler: 
aber  schon  15  Jahre  später  führte  die  Wahlreform  von  1884 
(P  e  o  p  1  e  Act)  eine  abermalige  Verdoppelung  der  Wählerzahl 
herbei.  Bis  zur  Reformbill  kamen  nur  etwa  40  Wähler  auf  100U 
Einwohner,  heute  162;  das  Wahlrecht  hat  in  25  Jahren  den  vier- 
fachen Umfang  gewonnen. 

Wahlberechtigte    in    Großbritannien    und    Irland. 

England  Schottland  Irland  Venjljg.  ^^ 

1846 845.000  93.000  129.000  1,067.000  38 

1871 2,066.000  260.000  227.000  2,553.000  78 

1881 2,538.000  310.000  229.000  3,077.000  87 

1889 4,502.000  572.000  763.000  5,837.000  157 

1891 4,838.080  593.877  741.711  6,173.668  162 

)  Es  sei  nur  angeführt,  daß  beispielsweise  in  Qalizien  die  Wahlkörper 
sowohl  in  dtn  Städten  als  in  den  Landgemeinden  auf  folgende  Art  gebildet 
werden:  die  zur  Wahl  des  Oemeinderates  Berechtigten  werden  nach  der 
Hohe  der  von  ihnen  gezahlten  direkten  Steuern,  angefangen  vom  Höchst- 
besteuerten, aneinandergereiht;  die  ersten  zwei  Dritteile  dieser  Liste  haben 
dann  das  Wahlrecht  für  Landtag  und  Reichsrat,  gleichgültig,  ob  sie  das 
Minimum  von  fünf  Gulden  zahlen  oder  weniger.  Die  Erteilung  des  Wahl- 
rechtes an  die  Fünfguldenmänner  bewirkt  darum  in  den  galizischen 
Landgemeinden  keine  Vermehrung  der  Wähler;  im  Jahre  1885  entfielen 
wie   1879  auf    1000   Linwohncr  92  Wähler,   (v.   a.) 

)  Ohne  Dalmatien,  wofür  die  Angaben  fehlen,  (v.  a.) 


2f>  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


Und  in  Italien,  das  noch  immer  ein  sehr  beschränktes  Wahl- 
recht hat,  ist  die  Wählerzahl  seit  1870  beinahe  verfünffacht 
\\  o  r  d  e  n.  Die  Wahlreform  von  1882  allein  hat  sie  verdreifacht. 
So  engherzig  der  italienische  Zensus  ist,  wenigstens  hat  das 
Wahlrecht  dort  jeder  Mann,  der  zwei  Jahre  unter  der 
Fahne  gestanden  ist.  Man  empfindet  es  dort  als  schreiendes 
Unrecht,  dem  Manne,  dessen  Blut  man  fordert,  sein  Bürgerrecht 
zu  versagen. 

Italien. 

Jahr  Zahl  der  Wahler     Am"  1000  Einwohner  Wühler 

1870  530.018  19*8 

1874  571.939  213 

1876  605.007  20'9 

1879  621.896  21*5 

Gesetz  vom  24.  September  1882. 

Jahr  Zahl  der  Wähler  Auf  1000  Einwohner  Wähler 

1882 2,144.159  741 

1883 2,428.980  83"9 

1885 2,480.897  87'5 

1889 2,756.347  95'2 

1890 2,826.055  97'6 

Nur  in  Österreich  rührt  sich  nichts.  Aber  das  Beispiel 
Belgiens  hat  jüngst  gezeigt,  daß  die  Völker  mitunter  in  einer 
Woche  nachzuholen  wissen,  was  die  Herrschenden  durch  Jahr- 
zehnte versäumten. 

Die  Verteilung  des  Wahlrechtes. 

Das  Wahlrecht  soll  das  gleiche  sein. 

Diese  Forderung  bedeutet,  daß  jeder  einzelne  Wahlberechtigte 
das  gleiche  Maß  von  Einfluß  auf  die  Zusammensetzung  des  gesetz- 
gebenden Körpers  haben  soll.  Vollständig  wird  diese  Forderung 
nie,  auch  bei  gesetzlicher  Fixierung  des  gleichen  und  allgemeinen 
Wahlrechtes  nicht,  erreicht  werden.  Die  verschiedene  Ausdehnung 
der  Wahlkreise  bewirkt,  daß  in  dem  einen  weit  mehr  Wahl- 
berechtigte einen  Abgeordneten  wählen,  wie  in  einem  anderen. 
Und  nur  eine  jedesmalige  Richtigstellung  der  Wahlkreise  würde 
diesem  Übel  insoweit  abhelfen,  daß  wenigstens  kein  ein- 
schneidender Unterschied  bestünde.  In  Deutschland  hat  dieser 
Umstand  im  Gefolge,  daß  das  Maß  des  Wahlrechtes  sich 
immer  mehr  zuungunsten  des  Proletariats  verschiebt.  Die  großen 
städtischen  Wahlbezirke,  die  schneller  wachsen  und  in  welchen 
die  Zahl  der  Wahlberechtigten  rapid  zunimmt,  verlieren  von 
Jahr  zu  Jahr  an  dem  Maße  des  Wahlrechtes  für  jeden  einzelnen 
Wähler.  Immer  mehr  Wähler  haben  nach  wie  vor  einen  Ab- 
geordneten zu  wählen;  im  Gegensatz  zu  den  ländlichen  Be- 
zirken, deren  Bevölkerung  abnimmt  oder  doch  in  geringerem 
Grade  wächst. 

Was  wir  aber  in  Österreich  an  Ungleichheit  des  Wahlrechtes 
sehen,  ist  mit  diesen  Mißständen,  die  alle  Länder  mehr  oder  weniger 
aufweisen,  nicht  zu  vergleichen.  Die  Ungleichheit  und  Ungerechtig- 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht.  ^ 


kcit  des  Wahlrechtes  ist  das  eigentliche  Grundgesetz  des  Staates,  sie 

ist  seine  Verfassung:.  Viel  mehr  noch  als  die  Ausdehnung  des 
Wahlrechtes  auf  jene  zwei  Drittel  der  Bevölkerung,  die  heute 
rechtlos  sind,  wird  die  Beseitigung  der  Ungleichheit  des 
Wahlrechtes  eine  politische  Umwälzung  in  Österreich  bedeuten. 
Das  gleiche  Wahlrecht  fürchten  die  Privilegierten  noch 
weit   mehr  als  das  allgemeine. 

Das  Abgeordnetenhaus  zählt  353  Abgeordnete;  davon  entfallen 
Abgeordnete: 

auf  die  Wählerklasse  des   Großgrundbesitzes 85 

der    Handelskammer 21 

der  Städte,  Märkte  und  Industrialorte     1  IS 
der    Landgemeinden      12^ 

Die  Wählerklasse  des  Großgrundbesitzes  umfaßt  in  den  meisten 

Kronländern  den  land-  oder  lehentäflichen  Grundbesitz,  in  Dal- 
matien  die  Höchstbesteuerten,  in  Tirol  den  adeligen  Großgrund- 
besitz, in  Vorarlberg  und  Triest  existiert  diese  Gruppe  überhaupt 
nicht. 

Auch  für  die  Einreibung  in  diese  Wählerklasse  gibt  es  in  den 
verschiedenen  Kronländern  verschiedene  Bedingungen. 

Während  in  Böhmen  nur  Besitzer  landtäflicher  Güter,  die  min- 
destens 250  Gulden  Realsteuern  (davon  200  Gulden  Grundsteuer) 
zahlen,  genügt  in  Galizien  eine  Realsteuer  von  100  Gulden,  in 
Görz  und  Gradiska  gar  von  nur  50  Gulden.  Dafür  wird  der 
böhmische  Grundadel  aber  auch  anders  behandelt  und  schon  auf 
je  19  dieser  Fürsten  und  Grafen  entfällt  ein  Abge- 
ordneter, während  sich  die  444  Angehörigen  des  Görzer  Groß- 
grundbesitzerpöbels alle  zusammen  mit  einem  einzigen  Ab- 
geordneten begnügen  müssen.  Zudem  aber  hat  das  Gesetz 
Zeithammer*)  1882  bestimmt,  daß  von  den  452  berufenen  Groß- 


*)  Da  auf  die  Wahlreform  vom  Jahre  1883  immer  wieder  Bezug  ge- 
nommen wird,  sei  hier  kurz  ihre  Geschichte  erzählt:  Am  lü.  Dezember  1880 
brachten  die  Deutschnationalen  (nachmaligen  Alldeutschen)  Schönerer 
und  Fürnkranz  sowie  die  Demokraten  Kronawetter  und  S  t.eu  d  e  1 
einen  Antrag  ein,  der  das  Wahlrecht  für  jeden  24  Jahre  alten  Staatsbürger 
verlangte.  Der  Antrag  war  zunächst  nicht  einmal  genügend  unterstützt  und 
fand  erst  auf  die  Anfrage  des  Präsidenten  die  genügende  Unterstützung. 
Ende  Jänner  1881  lehnte  es  das  Abgeordnetenhaus  ab,  den  Antrag  an  einen 
Ausschuß  zu  verweisen.  Darauf  brachte  Kronawetter  den  Antrag  ein. 
jedem  Steuerzahler  —  also  auch  denen  unter  zehn  Gulden  Steuer  -  -  das 
Wahlrecht  zu  geben  und  die  indirekten  Wahlen  in  den  Landgemeinden 
abzuschaffen.  Zum  Verständnis  sei  bemerkt,  daß  die  Wiener  Vororte  damals 
noch  nicht  mit  Wien  vereinigt,  sondern  gesonderte  Landgemeinden  waren. 
(Die  Vereinigung  Wiens  mit  den  Vororten  erfolgte  erst  Ende  1890  gegen  den 
Widerstand  der  Christlichsozialen  und  namentlich  Luegers.)  Zur  Leopold- 
stadt (dem  zweiten  Dezirk)  gehörte  damals  und  noch  lauge  nachher  auch 
der  heutige  zwanzigste  Bezirk,  die  Brigittenaii.  (Siehe  darüber  die  Be- 
merkungen beim  Artikel  „Die  Liberalen  und  das  allgemeine 
Wahlrecht"  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  31.  Oktober  1890.)  Zu 
gleicher    Zeit    beantragte    auch    der    Klerikale    Hofrat    Lieubacher    das 


28  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


crtmdbesitzern  Böhmens  eine  kleine  Gruppe  der  allergrößten  aus? 

erwählt  wurde:  der  f  i  d  e  i  k  o  m  m  i  s  s  a  r  i  s  c  h  e  G  r  o  B  Grund- 
besitz mit  seinen  jetzt  4  5  Mitgliedern  wählt  für  sich 
allein  5  Abgeordnete;  auf  9  F  i  d  e  i  k  o  m  m  i  s  s  a  r  e 
entfällt  schon  ein  Abgeordneter.  Als  dieser  Antrag 
im  Abgeordnetenhaus  verhandelt  wurde,  jammerte  der  Minoritäts- 
berichterstatter Dr.  Herbst")  von  den  damals  38  Fideikommiß- 
besitzern  Böhmens  säßen  25  als  erbliche  Mitglieder  im  Herren- 
haus, eine  weitere  Anzahl  seien  ernannte  Herrenhausmitglieder 
und  nun  wolle  man  ihnen  noch  so  eine  starke  Vertretung  im  Abge- 
ordnetenhaus geben!  Mit  Fug  und  Recht  wurde  seine  Theorie  ver- 
lacht, welche  den  Großgrundbesitz  nur  als  „ungeteilte  K  o  r  p  o- 
ratio  n"  als  „historisch  berechtigt"  anerkennen  wollte.  Das 
Privilegium  des  Großgrundbesitzes  beruht  nicht  auf  „historischem 
Rechte",  sondern  auf  historischem  Unrecht  und  auf  gehäuftem 
dazu.  Das  aber  anzuerkennen  ist  die  liberale  Bourgeoisie  zu  feig; 
sie  ist  „verfassungstreu",  das  heißt  untreu  den  Prinzipien 
der  Gleichheit,  untreu  den  Interessen  des  Volkes,  ja  untreu  aus 
Feigheit  den  Interessen  ihrer  eigenen  Klasse. 

Der  Großgrundbesitz  nimmt  also  volle  24  Prozent,  fast  e  i  n 
Viertel  des  Abgeordnetenhauses    in  Anspruch  und  dadurch  ent- 


Wahlrecht allen  Bürgern  zu  Beben]  die  entweder  fünf  Gulden  direkte 
Steuer  zahlen  oder  nach  der  Gemeindewahlordnung  auch  bei  geringerer 
Steuerzahlung  wahlberechtigt  sind.  Am  10.  Mai  beantragte  der  Alttscheche 
Zeithammer,  um  dem  sogenannten  verfassungstreuen,  das  ist  zentra- 
listisch  gesinnten  mit  den  Deutschen  gehenden  Adel  in  der  Großgrund- 
besitzerkurie im  konservativen,  mit  den  Tschechen  gehenden  Adel  ein 
Gegengewicht  zu  schaffen,  die  Großgrundbesitzerkurie  in  Böhmen  in  eine 
Gruppe  der  Fideikommißbesitzer  und  in  eine  der  Nichtfideikornmißbesitzer 
zu  teilen.  Die  Nichtfideikornmißbesitzer  sollten  überdies  noch  in  fünf  Wahl- 
kreise geteilt  werden.  Alle  Anträge  blieben  im  Ausschuß  liegen,  bis  die 
Ergänzungswahlen  für  den  böhmischen  Großgrundbesitz  nahten.  Nun  er- 
klärte der  Ministerpräsident  Graf  Taaffe,  daß  er  den  Antrag  Zeithammer 
akzeptiere,  während  er  sich  über  den  Antrag  Licnbacher  sehr  unbestimmt 
äußerte.  Der  Ausschuß  beschloß  nun  die  Wahlreform,  die  den  böhmischen 
Großgrundbesitz  teilte  und  den  Fünfguldenmännern  das  Wahlrecht  gab, 
womit  der  Einfluß  der  Konservativen  sowohl  in  der  Großgrundbesitzer- 
kurie wie  in  der  Städtekurie  gesteigert  wurde.  Erst  dadurch  konnten  auch 
die  Kleingewerbetreibenden  auf  die  Gesetzgebung  Einfluß  gewinnen.  Die 
Neuwahlen  des  .lahres  1885,  die  zum  erstenmal  unter  dem  Fiinfguldenzensus 
stattfanden,  brachten  den  Liberalen  einen  Verlust  von  fünfzehn  Mandaten. 
In  Wien  siegten  die  Demokraten  und  auch  ein  Antisemit.  In  der  Provinz 
drangen  neben  klerikalen  auch  einige  radikale  Männer  durch,  so  auch 
P  e  r  n  e  r  s  t  o  r  f  e  r,  Steinwender  sowie  mehrere  Jungtschechen. 
Auch  L  u  e  g  e  r  wurde  damals  zum  erstenmal  —  allerdings  noch  als  Demo- 
krat —  gewählt.  Herbst  unterlag  in  zwei  deutschböhmischen  Wahl- 
bezirken  und  mußte  eine  Wahl  im  ersten  Wiener  Bezirk  annehmen. 

Über  die  Anträge  auf  allgemeines  Wahlrecht  siehe  weiter  unten  in  der 
Broschüre  selbst. 

*)   Dr.  Eduard   Herbst,   der  Führer   der   Deutschliberalen,  ehemaliger 
Justizminister  im  „Bürgerministerium". 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht.  29 

Scheidet  eine  kleine  Anzahl  von  leielit  beeinflußbaren  Herren  über 
die  Majorität  des  Parlaments.  Bald  bewerkstelligt,  wie  I87.i  eine 
Finanzclique,  ein  „Gh a b r u s*)",  durch  einige  Güterkäufe  die  Ver- 
schiebung der  Majorität;  bald  ist  es,  wie  1889,  das  Machtwort  der 
Krone,  das  die  paar  Dutzend  Grundherren  veranlaßt,  die  von  oben 
gewünschte  Politik  durch  die  Wahlen  zu  ermöglichen.  „Das 
Ministerium  T  aa  f  f  e  verdankt  seine  Majorität 
einer  schwachen  Stunde  de  s  b  ö  h  mischen  ( i  r  o  1.1- 
grundbesitze  sk\  erklärte  der  Abgeordnete  v.  Plener  in  der 
Sitzung  vom  14.  Dezember  1880.  Und  trotz  der  so  bezeugten 
klaren  Erkenntnis  der  Schmach  für  das  Volk  Österreichs,  ja  sogar 
für  die  österreichische  Bourgeoisie,  die  er  vertritt,  ist  der  Mann 
noch  heute  „verfassungstreu"  und  zieht  es  vor,  dal.»  die  Gesetz- 
gebung und  Verwaltung  abhänge  von  der  Laune  von  ein  paar 
Dutzend  böhmischer  Landlords,  als  von  dem  Willen  der  Mehrheil 
des  Volkes. 

In  der  zweiten  Kurie  der  Handels-  und  Gewerbekammern  be- 
steht wieder  der  Unterschied,  daß  die  meisten  von  ihnen  ihre  Ab- 
geordneten allein  wählen,  die  von  Wien,  Prag,  Reichenberg,  Brunn 
sogar  je  zwei;  die  Mitglieder  anderer  Handelskammern,  zum  Bei- 
spiel Troppau,  Laibach,  Rovereto,  Salzburg,  Innsbruck  usw.. 
wählen  mit  den  städtischen  Wählern,  haben  also  auch  ein  doppeltes 
Wahlrecht,  welches  aber  natürlich  noch  lange  nicht  so  ausschlag- 
gebend ist,  wie  das  der  Mitglieder  der  erstgenannten  Handels- 
kammern. Wie  wichtig  es  aber  noch  immer  ist,  ergibt  sich  daraus, 
daß  zum  Beispiel  bei  der  letzten  Nachwahl  in  Troppau  der  ge- 
wählte Kandidat  nur  eine  Minorität  von  den  städtischen  Wählern 
bekam,  durch  die  Mitglieder  der  Handelskammer  aber,  welche  ihr 
zweites  Wahlrecht  ausübten,  zur  Majorität  kam.  Auch  eine  Sorte 
von  Pluralvotum! 

Die  Vertretung  der  Handels-  und  Gewerbekammern  ist  ein 
besonderes  Privilegium  für  die  Großindustrie  und  das  große  Geld- 
kapital. Denn  diese  beherrschen  alle  Kammern  absolut,  trotz  der 
Masse  der  Kleingewerbetreibenden    und     Kleinkaufleute,     welche 

'"')  Vor  den  Wahlen  zum  böhmischen  Landtag  im  Jahre  1872  (bis  zum 
Jahre  1873  wurde  der  Reichsrat  aus  den  Landtagen  gewählt)  hatten  sich 
Gesellschaften  gebildet,  um  landtäfliche  Güter  aufzukaufen,  um  so  Stimmen 
für  die  Regierungspartei  —  damals  regierte  das  „liberale"  Ministerium 
Adolf  Auersperg  —  zu  gewinnen.  Diese  Gesellschaften  nannte  man  mit 
einem  jüdischen  Worte  „Chabrus".  Übrigens  gab  es  neben  den  liberalen 
„Chabrus"  auch  konservative,  die  wieder  Güter  für  die  Konservativen  auf- 
kauften. 

Bei  den  Wahlen  zum  böhmischen  Landtag  im  Jahre  1889  und  bei  den 
weiteren  Nachwahlen  erlitten  die  Alttschecheu  eine  große  Niederlage,  so 
daß  die  Jungtschechen,  die  früher  nur  wenige  Mandate  hatten,  nun  die 
Mehrheit  der  tschechischen  Abgeordneten  bildeten.  Die  (iroßgruudbcsitzer- 
kuric   hatte   nur  Feudale   gewählt. 

Die  Liberalen  nannten  sieh  „verfassungstreu",  weil  sie  für  die  Ver- 
fassung vom  Jahre  1867  und  gegen  das  böhmische  Staatsrecht  waren. 


30  Von    I  aaffe  bis  Badeni. 


ihre  Wählerschaft  bilden.  Als  Abgeordnete  der  Handelskammern 
werden  auch  häufig  nicht  Fabrikanten  oder  Kaufleute,  sondern  die 
berufsmäßigen  Politiker  des  Liberalismus,  die  Verfechter  der 
Kapitalistenklasse  gewählt.  (Plener,  Neuwirth,  Dumreicher  usw.) 
Es  ist  also  auch  ganz  unrichtig,  wenn  die  21  Mandate  der  Handels- 
kammern, wie  das  gewöhnlich  geschieht,  der  Vertretung  der 
städtischen  Bevölkerung  zugerechnet  werden.  Sie  vertreten  viel- 
mehr nur  die  oberste,  reichste  Schicht  der  Bourgeoisie  und  ver- 
halten sich  zur  städtischen  Bevölkerung  ungefähr  wie  die  Vertreter 
des  Großgrundbesitzes  zur  bäuerlichen  Bevölkerung  oder,  wenn 
man  lieber  will,  wie  der  Hecht  zum  Weißfisch. 

Die  Wählerschaft  der  Städte,  Märkte  und  Industrialorte  ist 
heute  überall,  mit  Ausnahme  von  Triest,  abgegrenzt  durch  die  Zu- 
gehörigkeit zum  ersten  oder  zweiten  Gemeindewahlkörper  oder 
den  Steuersatz  von  wenigstens  5  Gulden.  In  Triest  wählte  der 
erste  Wahlkörper,  dann  der  zweite  und  dritte  Wahlkörper  und 
schließlich  der  vierte  Wahlkörper  samt  den  Wahlberechtigten  des 
Gebietes  von  Triest  je  einen  Abgeordneten. 

Daß  auch  hier  große  Verschiedenheiten  bestehen,  ist  klar. 
Neben  Riesenbezirken  (wie  Hernais  mit  268.445  Einwohnern  und 
10.890  Wählern)  finden  sich  Zwergbezirke  (zum  Beispiel  innere 
Stadt  Graz  mit  15.604  Einwohnern  und  917  Wählern);  aber  außer- 
dem gibt  es  eine  Anzahl  von  Wahlbezirken,  die  das  Privilegium 
haben,  nicht  einen,  sondern  mehrere  Abgeordnete  in  einem  Wahl- 
gang zu  wählen.  Die  Innere  Stadt  Wien  wählt  4,  Linz,  Brunn, 
Krakau  und  Lemberg  je  2  Abgeordnete.  Diese  Auszeichnung  ver- 
danken jene  Wählerschaften  aber  nicht  etwa  der  Zahl  ihrer 
Einwohner  oder  Wähler  (der  I.  Bezirk  Wien  rangiert  mit  67.029 
Einwohnern  erst  an  siebenter  Stelle,  wenn  man  die  neun 
alten  Bezirke  nach  der  Volkszahl  ordnet,  und  auch  die  Wählerzahl 
8019  wird  nicht  nur  von  Hernais,  Sechshaus,  sondern  auch  vom 
II.  Bezirk  übertroffen),  sondern  ausschließlich  der  Qualität 
ihrer  Wähler.  Es  ist  die  wohlhabende  Bourgeoisie,  die  hier  zu  dem 
bereits  in  Form  der  Handelskammermandate  erhaltenen  Über- 
gewicht noch  ein  separates  Präsent  erhält. 

In  den  Landgemeinden  wird  das  Wahlrecht,  welches  bekannt- 
lich ein  indirektes  ist,  ebenso  durch  die  5  Gulden  direkter 
Steuern  bestimmt.  Auf  je  500  Einwohner  einer  Gemeinde  entfällt 
ein  Wahlmann.  Eine  Ausnahme  bildet  unter  anderem  Galizien. 
und  zwar  nach  zwei  Richtungen.  Erstens  werden  die  Wahlmänner 
von  einem  Wahlkörper  gewählt,  welcher  ganz  anders  zusammen- 
gesetzt ist,  und  zwar  so:  Es  werden  sämtliche  Gemeindewähler 
nach  der  Höhe  ihrer  in  der  Gemeinde  gezahlten  direkten  Steuern, 
angefangen  vom  Höchstbesteuerten,  aneinandergereiht,  und  jene 
Gemeindewähler,  welche  in  die  ersten  zwei  Drittel  der  gesamten 
Liste  hineinfallen,  bilden  den  Wahlkörper  für  die  Wahlmänner. 
(In  anderen  Kronländern  gilt  diese  Bestimmung  nur  für  Gemeinden, 
die  weniger  als  drei  Wahlkörper  besitzen.)  Zweitens  aber  haben 
in   Galizien,  wie   an  anderer  Stelle   ausgeführt  wird,   die   Besitzer 


Das  allgemeine,  gleiche  und  duckte  Wahlrecht.  3! 


selbständiger  Qutsgebiete,  die  nicht  so  hoch  besteuert  sind,  um 
in  die  (iruppe  der  Großgrundbesitzer  zu  gehören,  das  Recht,  gleich 
als  W  a  1)  1  m  ä  n  ii  e  r  zu  fungieren. 

Das  indirekte  Wahlsystem  wollen  wir  an  anderer  Stelle 
näher  besprechen;  seine  Verwerflichkeit  ist  bereits  ziemlich  ein- 
stimmig anerkannt;  nur  die  „edlen  Polen"  weigern  sich  noch  hart- 
näckig, die  Bauern  aus  ihrer  Vormundschaft  zu  entlassen  und  die 
liberale  Linke  scheint  geneigt  ihnen  die  Möglichkeit  der  Walil- 
beeinflussung  auch  weiterhin  garantieren  und  erhalten  zu  wollen. 

Die  Größe  der  Landeswahlbezirke  variiert  zwischen 
Karoline  nthal  mit  263.930  Einwohnern  und  1 1 .759  Wählern. 
St  anislau  mit  gar  300.685  Einwohnern  und  26.929  Wählern  auf 
der  einen  Seite  und  C  a  1 1  a  r  o  mit  33.358  Einwohnern  und  3856 
Wählern,  Gradiska  mit  51.395  Einwohnern  und  nur  1386 
Wählern  auf  der  anderen  Seite. 

Dieser  in  sehr  allgemeinen  Zügen  gehaltenen  Darstellung  wird 
man  schon  zur  Genüge  entnehmen,  wie  verwickelt  der  Weichsel- 
zopf der  Wahlrechtsbestimmungen  Österreichs  ist.  Und  die  Zahl 
der  Ausnahmen  und  Abstrusitäten  ließe  sich  noch  bedeutend  ver- 
mehren, wenn  wir  auf  die  künstlichen  Abzirkelungen,  die  soge- 
nannte Wahlkreisgeometrie,  eingingen,  welche  die  Schmer- 
ling sehe  Verfassung  erfand,  um  den  „Deutschen",  das  heißt  der 
deutsch-liberalen  Clique,  die  Majorität  in  den  Landtagen  und  dann 
später  im  Reichsrat  zu  verschaffen. 

Wichtiger  als  die  einzelnen  Bestimmungen  sind  für  uns  die 
Folgen  derselben  für  das  Ausmaß  des  Wahlrechtes  für  die  ein- 
zelnen Gruppen  der  Wählerschaft.  Die  Intensität  des  Wahl- 
rechtes, das  Maß  des  politischen  Einflusses,  den  der  einzelne 
Wähler  faktisch  ausübt,  wird  bestimmt  durch  die  Zahl  der 
Wähler,  auf  welche  ein  Abgeordneter  entfällt. 
Versuchen  wir  uns  hier  zunächst  einen  Gesamtüberblick  über  die 
Verhältnisse  bei  den  letzten  Wahlen  zu  verschaffen,  so  ergibt  sich 
die  Tabelle  auf  nächster  Seite,  welche  für  jedes  einzelne  Kronland 
zeigt,  sowohl  wie  viele  Einwohner  als  auch  wie  viele  Wähler  auf 
einen  Abgeordneten  entfallen. 

Diese  interessante  Tafel  verdient  von  den  glücklichen  Be- 
wohnern der  einzelnen  Kronländer  genau  studiert  zu  werden;  sie 
ist  unerschöpflich  an  den  interessantesten  Einzelheiten.  Wir 
wollen  aber  nur  die  Hauptzahlen  für  das  Reich  zusammenstellen 
und  dabei  die  vier  bisher  vollzogenen  direkten  Reichsratswahlen 
ins  Auge  fassen; 

Ein  Abgeordneter  entfiel  auf  Wähler; 

1868  1S79  1885  1891 

Großgrundbesitz 58  56  60  63 

Handelskammern      23  25  28  27 

Landwahlbezirk 1606  1698  2.574  2.592 

Stadtwahlbezirk Ö108  8309  10.454  10.918 


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Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht.  33 

Hiebet  )  ergibt  sich  also,  daß  £3  üroliKrundbesitzer  denselben 
politischen  1  int  In  L»  haben,  wie  29  IS  städtische  Wähler  und  wie 
10.592  Wähler  in  den  Landgemeinden,  oder  mit  anderen  Worten: 
168  wahlberechtigte  Bauern  haben  so  viel  politischen  I  intlnli  wie 
46  wahlberechtigte  Städter  oder  wie  ein  einziger  Großgrund- 
besitzer. 

In  Österreich  beherrschen  durch  diesen  YVahlmodtis  die  500') 
Familien  der  Großgrundbesitzer  nicht  nur  das  Parlament,  sondern 
durch  das  Parlament  die  Verwaltung.  Zwei  Drittel  der  Bevölkerung 
sind  vollständig  ausgeschlossen,  von  dem  privilegierten  dritten 
Drittel  aber  muß  die  ungeheure  Mehrzahl  den  Löwenanteil  des 
politischen  Einflusses  an  die  Großgrundbesitzer  abtreten.  Hieraus 
allein  schon  kann  man  ermessen,  mit  welchem  Recht  sich  die 
Großgrundbesitzer  heutzutage  als  die  Vertreter  des  kleinen 
Mannes,  als  die  Vertreter  der  Bauernschaft  aufspielen. 

Noch  ein  Anderes  aber  ergibt  sich  aus  den  beiden  letzt- 
angeführten Tabellen,  wenn  man  sie  daraufhin  betrachtet,  wie  sich 
die  beiden  Gruppen  von  Wählern  vor  der  Erweiterung  des  Wahl- 
rechtes auf  die  Fünfguldenmänner  und  nach  derselben  zueinander 
verhalten,  Als  im  Jahre  1883  von  Lienbacher  namens  der 
Klerikalen  und  der  feudalen  Großgrundbesitzer  der  Antrag  auf 
Erweiterung  des  Wahlrechtes,  auf  Herabsetzung  des  Zensus  bis 
auf  fünf  Gulden  gestellt  wurde,  da  schlugen  sich  die  Antragsteller 
und  Befürworter  als  Vertreter  des  Volkes,  als  Demokraten  an  die 
Brust,  und  noch  heute  wollen  sie  mit  jener  Großtat  renommieren. 
Es  ist  eine  der  Hauptanklagen  gegen  die  liberale  Partei,  daß  sie 
diese  Maßregel  durch  allerlei  Ränke  zu  hintertreiben  suchte,  und 
die  Feudalen  rechnen  sich  ihre  Befürwortung  als  hohes  Verdienst  zu. 

Wenn  nun  auch  der  Vorwurf  der  Engherzigkeit  gegen  die  Libe- 
ralen vollständig  mit  Recht  erhoben  wird  und  sie  sich  bei  dieser 
Gelegenheit,  wie  stets,  als  ganz  bornierte  Politiker  gezeigt  haben, 
so  besteht  anderseits  keinerlei  Verdienst  auf  seiten  jener,  welche 
die  Erweiterung  des  Wahlrechtes  durchsetzten.  Denn  die  feudale 
Gruppe  der  Großgrundbesitzer  hat  bei  dieser  Erweiterung  des 
Wahlrechtes  absolut  nichts  verloren;  es  war  ein  Präsent,  welches 
sie  selbst  nichts  kostete,  dagegen  alle  Aussichten  bot,  ihnen  zu 
nützen.  Die  Zahl  der  Wahlberechtigten  hat  durch  diese  Maßregel 
in  den  Städten  um  zirka  100.000.  in  den  Landbezirken  um  zirka 
300.000  Wähler  zugenommen.  Die  Zahl  der  Abgeordneten 
der  Städte  sowie  der  Landgemeinden  wurde  aber 
nicht  vermehrt.  Der  überwiegende  Einfluß  des  Großgrund- 
besitzes in  unserem  Parlament  ist  also  dadurch  in  gar  nichts  ver- 
mindert worden,  sondern  — -  es  hat  sich   sein   Ausdruck  erheblich 


)  Die  Gruppe  der  Handelskammer  wollen  wir  aus  dieser  Betrachtung 

vollständig  ausscheiden,  und  zwar  darum,  weil  sie  einfach  eine  Form  des 
indirekten  Wahlrechtes  ist:  die  zu  einer  Handelskammer  Wahlberechtigten 
haben  ein  doppeltes  Wahlrecht  für  den  Reichsrat:  eines,  welches  sie 
direkt,  und  eines,  welches  sie  indirekt,  auf  dem  Wege  über  die  Handels- 
kammer  ausüben,   (v.  a.) 

Adler.  Briefe.  X.  Bd.  3 


34  Von  Taaffe  bis  Badcni. 


verschärft.  Während  bei  der  Wahl  im  Jahre  1879  200  Städter  und 
500  Bauern  so  viel  Wahlrecht  hatten  wie  ein  Großgrundbesitzer, 
hatten  bei  der  Wahl  im  Jahre  1885  300  Städter  und  800  Bauern 
so  viel  Wahlrecht  als  ein  Großgrundbesitzer.  Die  Intensität 
des  Wahlrechtes  hat  sich  durch  diese  Maßregel  zugunsten  der 
Großgrundbesitzer  verändert.  Zu  gewinnen  aber  war  für  sie,  daß 
in  einzelnen  städtischen  Wahlbezirken  —  und  ihre  Berechnung  hat 
sie  nicht  getäuscht  —  die  unteren  Schichten  des  Kleinbürgertums 
gegen  die  Großbourgeoisie  ausgespielt  werden  konnten.  Will  man 
aber  vollständig  klar  werden  über  die  wirklichen  Motive  jener 
großherzigen  feudalen  Reform,  dann  braucht  man  nur  zu  prüfen, 
wie  sich  diese  Parteien  dem  Gegenantrag,  welchen  der  Abgeordnete 
Georg  Ritter  v.  Schönerer  einbrachte  und  der  auf  das 
allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht  abzielte,  gegenüber  ver- 
hielten. Sie  stimmten  ihn  nieder,  ohne  auch  nur  den 
Mund  a  u  f  z  u  t  u  n.  Und  auch  der  bescheidene  Antrag  Doktor 
Kronawe'tters,  das  Wahlrecht  wenigstens  auf  alle  direkt 
Steuer  zahlenden  auszudehnen,  wurde  von  Liberalen  und 
Feudalen 'in  holdem  Verein  niedergestimmt. 

So  haben  wir  denn  in  Österreich  eine  „Gleichheit  vor  dem 
Gesetz",  welche  nicht  nur  zwei  Drittel  des  Volkes  vom  Wahlrecht 
ausschließt,  sondern  die  im  Durchschnitt  63  Großgrund- 
besitzern dasselbe  Maß  von  politischem  Recht  verleiht,  das 
eine  s  t  ä  d  t  i  s  che  Bevölkerung  von  44.854  Einwohnern  oder  eine 
ländliche  Bevölkerung  von  142.754  Einwohnern  besitzt.  Die 
45  Fideikommißbesitzer  Böhmens  aber  wählen  fünf  Abgeordnete 
und  üben  dadurch  einen  politischen  Einfluß  aus,  der  gleich  schwer 
in  die  Wagschale  fällt,  wie  der,  den  die  Bewohner  von  fünf 
böhmischen  Landbezirken  zusammen,  die,  wie  zum  Beispiel 
K  a  r  o  1  i  n  e  n  t  a  1,  S  m  i  c  h  o  w,  R  a  u  d  n  i  t  z,  J  i  c  i  n  und  Pilsen, 
mit  einer  Gesamtbevölkerung  von  923.814  Bewohnern  und  mit 
50.201  Wählern  haben.  Mit  dieser  Tatsache,  die  zeigt,  daß  e  i  n 
einziger  hochgeborener  Fideikommissar  unserer  „Verfassung" 
so  viel  gilt,  wie  1115  schwer  arbeitende  und  mit  dem  Wahlrecht 
begnadete  Bauern,  wollen  wir  unsere  Betrachtung  über  das 
gleiche  Wahlrecht  schließen. 

Die  indirekten  Wahlen  in  den  Landgemeinden. 

Unserem  famosen  Wahlsystem  genügt  es  nicht,  den  Bauern  in 
den  Landgemeinden  ein  so  verdünntes  Wahlrecht  zu  erteilen,  daß 
dagegen  sogar  die  städtischen  Wähler  als  sehr  bevorzugt  er- 
scheinen, die  Landbevölkerung  wird  noch  durch  ein  ganz  be- 
sonderes Wahlverfahren  unter  eine  spezielle  Kuratel  gestellt.  Sie 
wählt  nicht  Abgeordnete,  sondern  Wahl  mann  er;  es  wird  ihr 
nicht  die  Klugheit  zugemutet,  zu  erkennen,  welcher  Mann  ihr 
Interesse  im  Reichsrat  vertreten  wird,  sondern  eine  doppelte 
Siebung  wird  als  notwendig  erachtet.  In  jeder  Gemeinde  wird  auf 
je  500  Einwohner  ein  Wahlmann  gewählt,  und  erst  die  Wahlmänner 
des  ganzen  Bezirkes  haben  so  viel  Grütze  zur  Verfügung,  daß  sie 
würdig   erachtet   werden,    den    richtigen    Abgeordneten    zu   finden. 


J 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht, 


Dieses  System  ist  anerkannt,  und  /war  von  allen  Seiten  anerkannt. 
Jas  schlechteste,  das  sieh  überhaupt  erdenken  läßt.  Es  wagt  ernst- 
lich niemand  mehr  dafür  etwas  vorzubringen.  Nur  die  polnischen 
Großgrundbesitzer  haben  noch  die  Stirne,  dafür  einzutreten,  unter 
dem  Vorwand,  daß  ihren  Bauern  bei  der  Größe  der  Wahlbezirke 
der  Weg  zum  Wahllokal  ZU  weit  sei.  Das  allgemeine  Wahlrecht 
würde  auch  diesem  Übelstand  abhelfen,  die  Wahlbezirke  würden 
bedeutend  kleiner  und  den  galizischen  Bauern  würde  es  möglich, 
die  Schlachzizen,  die  ihre  Interessen  zu  Tode  vertreten,  endlich 
abzuschütteln.  Ttraurig  aber  ist  es  und  bezeichnend  für  die  Kunze 
Borniertheit  und  Feigheit  der  deutsch-liberalen  Partei,  daß  sie  wohl 
nicht  mehr  wagt,  sich  der  Beseitigung  der  indirekten  Wahl  zu 
widersetzen,  ja  sie  vielfach  in  ihrem  eigenen  Interesse  rinden  muß, 
den  galizischen  Landlords  aber  die  Konzession  machen  to  ill,  dal.» 
für  Galizien  und  Bukowina  diese  niederträchtige  Institution  aufrecht 
bleibe. 

Die  indirekte  Wahl  hat  vor  allem  jenen  großen  Nachteil, 
wrelchem  bereits  vor  vielen  Jahren  John  Stuart  M  i  1 1  in  un- 
übertrefflicher Weise  Ausdruck  gegeben  hat.  „Durch  die  Zuteilung 
der  indirekten  Wahl  wird  für  die  Urwähler  einer  der  Hauptzwecke 
vereitelt,  um  deretwillen  sie  überhaupt  ein  Wahlrecht  besitzen.  Die 
politische  Verrichtung,  zu  der  sie  dann  noch  berufen  sind,  ist  nicht 
mehr  geeignet,  Geist  oder  politische  Einsicht  bei  ihnen  zu  ent- 
wickeln, ihr  Interesse  für  öffentliche  Angelegenheiten  zu  erwecken 
und  ihre  geistigen  Fähigkeiten  zu  üben."  In  der  Tat  gibt  es  kein 
geeigneteres  System  als  das  der  indirekten  Wahlen,  um  den 
Stumpfsinn  für  öffentliche  Fragen  aufrechtzuerhalten.  Und  gerade 
das  wird  gewollt.  Kein  System  ist  nämlich  besser  geeignet  zu  der 
bei  uns  beliebten  Methode  der  Wahlmache  durch  einige  Bezirks- 
größen und  Drahtzieher  in  den  Zentren.  Die  Gemeindevorsteher 
in  kleinen  Orten  sind  willfährige  Marionetten  in  den  Händen  der 
Großgrundbesitzer  und  Großindustriellen,  und  in  ihrer  Hand  liegt 
der  Ausfall  der  Wahlen.  Anstatt,  daß  die  großen  Interessen  des 
Volkes  bei  der  Entscheidung  in  den  Vordergrund  treten,  wird  die 
Wahl  zu  einem  Streit  um  lokale  und  persönliche  Fragen.  Machen- 
schaften aller  Art,  persönliche  Bekanntschaft,  Freundschaft  und 
erzwungene  Gefälligkeit  spielen  die  Hauptrolle.  Das  geht  so  weit, 
daß  es  selbst  in  hochentwickelten  Wahlbezirken,  wie  in  Böhmen, 
möglich  ist,  daß  die  Urwähler  in  ihrer  großen  Mehrzahl  gar 
nicht  wissen,  daß  sie  ein  Wahlrecht  besitzen,  daß  es  vor- 
kommt, daß  die  guten  Leute  glauben,  sie  seien  durch  das 
Gesetz  verpflichtet,  den  Gemeindevorsteher,  den  Sekretär  oder 
etwa  gar  den  Bezirkshauptmann,  wenn  einer  da  ist,  als  Wahl- 
männer  aufzustellen.  Man  kann  sich  vorstellen,  wie  erst  die  Dinge 
in  (ializien  aussehen.  Dort  besteht  noch  eine  ganz  besondere  Be- 
stimmung, die  Zeugnis  gibt  von  der  Unerschöpflichkeit  unserer 
Wahlordnung  an  Absurditäten.  In  den  Landbezirken  Galiziens 
haben  nämlich  die  Besitzer  selbständiger  Gutsgebiete  die  Be- 
günstigung, ihr  Wahlrecht,  insofern  die  Höhe  ihrer  Steuerleistung 
nicht  ausreicht,  um  sie  in  die  Wälllergruppe  des  Großgrundbesitzes 

3* 


36  Von  Taafie  bis  Badeni. 


einzureihen,  in  den  Landgemeinden  als  Wahl  mannet  auszu- 
üben; mit  anderen  Worten,  ein  solcher  mittlerer  Großgrund- 
besitzer übt  unmittelbar  dasselbe  Recht  aus.  welches  500  Ein- 
wohner mit  allen  möglichen  Beschränkungen  und  Erschwerungen 
auszuüben  haben.  Nun  meine  man  aber  nicht,  daß  die  Zahl  dieser 
Leute  klein  ist  und  daß  das  keinen  Einfluß  habe.  Bei  den  Wahlen 
des  Jahres  1885  zum  Beispiel  betrug  die  Zahl  solcher  Wahlmänner 
1570  und  machte  über  10  Prozent  der  sämtlichen  Wahlmänner 
(ializiens  aus.  Die  Betrachtung  der  einzelnen  Bezirke  zeigt,  wie 
einschneidend  die  Sache  ist.  Es  gibt  allerdings  Bezirke,  wo  nur 
5  Prozent  der  Wahlmänner  solche  „Gutsgebietsbesitzer"  sind,  wie 
Przemysl,  Jaroslau,  Kalusz  usw.,  aber  schon  im  Landbezirk  Lem- 
berg  bilden  sie  9  Prozent  der  Wahlmänner,  im  Landbezirk  Sandec 
über  12  Prozent,  im  Landbezirk  Krakau  13  Prozent,  im  Landbezirk 
Neu-Sandec  14  Prozent,  im  Landbezirk  Bochnia  26  Prozent  aller 
Wahlmänner.  Man  kann  sich  denken,  was  da  aus  dem  Wahlrecht 
wird.  Es  braucht  aber  gar  nicht  eines  so  hohen  Prozentsatzes  dieser 
eigentümlichen  Wahlmänner,  um  die  Tatsache  zu  erklären,  daß  in 
Galizien  jedes  Mandat  seinen  Preis  hat,  einen  Preis,  welcher 
durch  Einführung  der  direkten  Wahlen  allerdings  höher  werden 
würde.  Wir  meinen  zwar,  daß  die  galizischen  Abgeordneten  auch 
bei  Zahlung  eines  bedeutend  höheren  Preises  mit  ihren  Mandaten 
noch  immer  ein  gutes  Geschäft*)  machen  würden,  aber  sie  sind  so 
schmutzig,  ihn  nicht  zahlen  zu  wollen. 

Ein  weiterer  Nachteil  der  indirekten  Wahlen  ist,  daß  die  Wahl 
faktisch  keine  geheime,  sondern  eine  öffentliche  ist.  Sagt  ja  doch 
die  Reichsratswahlordnung  selbst,  daß  die  Wahl  in  den  Land- 
gemeinden mündlich  oder  mit  Stimmzetteln  stattfinden  soll,  je 
nachdem  die  Gesetze  des  betreffenden  Landes  für  die  Landtags- 
wahlen verfügen.  Es  gibt  also  auch  eine  Anzahl  Kronländer,  wo 
die  mündliche,  also  öffentliche  Wahl  im  Gesetz  vorgesehen  ist. 
zum  Beispiel  Kärnten,  Krain,  Galizien,  Bukowina,  Mähren,  Ober- 
österreich. 

Aber  auch  wo  die  Wahl,  wie  in  Böhmen,  Niederösterreich  usw.. 
gesetzlich  eine  schriftliche  sein  soll,  ist  sie  keine  geheime,  und 
zwar  darum  nicht,  weil  zunächst  selbst  in  Böhmen  die  Bestimmung 
der  schriftlichen  Wahl  vielfach  umgangen  wird  und  einfach  die  er- 
schienenen Wähler  von  dem  Herrn  Gemeindevorstand  mit  einer 
kleinen  Ansprache  begrüßt  werden,  welche  damit  endet:  „Ich 
glaube,  wir  wählen  halt  die  und  die",  worauf  mit  Akklamation  die 
bewährten  Großbauern,  welche  auch  sonst  die  Geschäfte  der  Ge- 
meinde in  Händen  haben,  zu  Wrahlmännern  gewählt  werden.  Aber 
auch  wo  die  Formalität  der  schriftlichen  Wahl  erfüllt  wird,  bleibt 
die  Wahl  nicht  geheim,  weil  die  Zahl  der  Wählenden  an  dem  be- 

*)  Die  politischen  Sitten  in  Galizien,  das  bekanntlich  bis  zu  den 
Friedensverträgen  zu  Österreich  gehörte,  waren  derart,  daß  die  Aus- 
nutzung des  Mandats  zu  persönlichen  und  geschäftlichen  Zwecken  bei 
den  galizischen  Abgeordneten  und.  nachdem  das  Wahlrecht  ausgedehnt 
wurde,  bei  den  bürgerlichen  und  adeligen  galizischen  Abgeordneten  ganz 
üblich   war  —  was   die   vielen   aufgedeckten   Korruptionsaffären   bewiesen. 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht,  ;7 


treffenden  Orte  eine  sein*  geringe  ist  und  sich  der  als  Wahlniann 
Kandidierende    die  Überzeugung   zu    verschaffen    weiß*   ob    seine 

freunde  ilnn  auch  Treue  gehalten  haben.  Die  Beeinflussung  der 
Wähler  bei  der  Wahl  der  Wahlmänncr  ist  eine  ganz  ungeheure. 
Das  Wichtigste  ist  aber,  wie  gesagt,  daß  der  Wert  der  Wahl 
als  politisches  Bildungsmittel  verlorengeht  und  das  Interesse  an 
der  Ausübung  des  Wahlrechtes  aufhört.  Beweis  dafür  ist  die  ge- 
ringe  Wahlbeteiligung,  welche  die  Landgemeinden  auf- 
weisen. 

V  o  n   1  l)  0  W  a  li  1  b  e  r  e  c  h  t  i  g  t  e  n  übten  ihr   S  t  i  m  m  recht 

a  u  s : 

im  Jahre  1873  1879  1885  1891 

Stadtbezirke       .   ...  60  57  635  66*8 

Landbezirke -      >  32  30'4  30*9 

Wir  sehen  also,  daß  im  Durchschnitt  des  ganzen  Reiches  n  i  c  h  t 
einmal  ein  Drittel  der  Urwähler  zur  Urne  geht,  während 
die  direkt  wählenden  Städtebezirke  immerhin  eine  fast  doppelt  so 
große  Wahlbeteiligung  aufweisen. 

Die  Altersgrenze  für  die  Wahlfähigkeit. 

In  Österreich  beginnt  das  wahlfähige  Alter  mit  dem  vollendeten 
24.    Jahre.    Hierin    ist    nur    die    deutsche    Gesetzgebung    und    die 
schwedische    noch    rückständiger    als  Österreich.    In  Deutschland 
bildet  das  25.,  in  Schweden   das  30.   Jahr  die  Vorbedingung   der 
Wahlfähigkeit.    Das   sozialdemokratische    Programm    verlangt   das 
Wahlrecht    vom    20.  Lebensjahr    an    und    hat    hiezu    seine    guten 
Gründe.  Vor  allem  sagen  wir  mit  Recht,  daß  der  Mann,  welcher 
klug  genug  dazu  ist,  um  die  Flinte  zu  tragen,  der  reif  genug  dazu 
ist,  sich  „für  das  Vaterland"  zum  Krüppel  schießen  zu  lassen,  auch 
reif  sein  muß,  sein  Bürgerrecht  auszuüben.  Zweitens  aber  ist  viel- 
leicht das  Bourgeoissöhnchen,  das  verwöhnt  und  verweichlicht  auf- 
wuchs und  den  Ernst  des  Lebens  nicht  kennenlernte,  mit  20  Jahren 
nicht  reif  und  wird  es  vielleicht  mit  24  ebensowenig  sein.  Der  Prole- 
tarier jedoch,  der  Arbeiter,  der  junge  Bauer,  der  von  Kindesbeinen 
mitten  im  harten  Kampfe  steht,  welcher  sich  von  Jugend  auf  seiner 
Haut    wehren    muß,    ist    tatsächlich    mit    zwanzig  Jahren    ein    er- 
wachsener  Mann.   Und    schließlich   konsumiert   die   Arbeiterklasse 
ihr  Leben  in  einer  viel  schnelleren  Zeit  als  die  Besitzenden.  Mit 
dem  20.  Jahr  ist  der  Arbeitende  erwachsen,  mit  dem  40.  ist  er  ein 
Greis.  Man  bedenke,  daß  alle  Staatswerkstätteu  und  die  meisten 
großen  Fabriken  im  Privatbesitz  Arbeiter  nicht  mehr  aufnehmen, 
die  36  Jahre    alt   sind;    sie  sind  ihnen   „zu   alt",   und   nicht   mehr 
leistungsfähig.  In  einer  jüngst  veröffentlichten  Broschüre  „Zur  Lage 
der    deutschen  Drechslerarbeiter",    welche    die  Verhältnisse    von 
2200  Arbeitern    umfaßt,    wird    festgestellt,    daß    von    ihnen    nicht 
weniger    als    73  Prozent   unter   30  Jahre    alt    sind,    daß   weitere 
18  Prozent  zwischen  30  und  40  Jahren  stehen,  und  nur  die  rest- 
lichen 9  Prozent  ein  höheres  Alter  erreichen.  Die  englische  Berufs- 
statistik  hat   festgestellt,   daß   das  durchschnittliche   Lebensalter  in 


)  Wurde  nicht  erhoben,  (v.  a.) 


38  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


den  höheren  Klassen  44  Jahre,  in  den  arbeitenden  Klassen  aber  nur 
22  Jahre  beträgt,  und  Caspar*)  hat  gezeigt,  daß  von  1000  zu 
gleicher  Zeit  geborenen  Menschen  695  das  40.  Jahr  erreichen,  wenn 
sie  wohlhabend  sind,  aber  nur  ,396  Arme;  das  50.  Jahr  557  Wohl- 
habende, aber  nur  28.^  Arme.  Das  Proletariat  muß  also  mit  der 
Ausübung  der  politischen  Rechte  zeitlich  beginnen,  denn  später 
fällt  sein  Leben  der  Ausbeutung  jener  zum  Opfer,  die  ihm  nicht 
nur  das  Leben,  sondern  auch  sein  Recht  verkürzen. 

Das  Stimmrecht  der  Frauen. 

Das  Programm  der  Sozialdemokratie  in  allen  Ländern  verlangt 
für  die  Frauen  dieselben  politischen  Rechte  wie  für  die  Männer. 
Line  Begründung  dieser  Forderung  ist  eigentlich  nicht  nötig,  eben- 
sowenig wie  für  die  Forderung  des  allgemeinen  Wahlrechtes  über- 
haupt. Zu  begründen  wäre  nur  das  Gegenteil,  der  heutige  Zustand, 
(legen  das  Stimmrecht  der  Frauen  werden  auch  dieselben  Schein- 
gründe und  Lügen  vorgebracht  wie  gegen  das  Stimmrecht  des 
Proletariats.  Die  Frau  sei  nicht  reif,  die  Frau  sei  nicht  selbständig 
und  überdies  gehöre  die  Frau  nicht  ins  politische  Leben,  sondern 
an  den  häuslichen  Herd.  Die  Entwicklung  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaft aber  hat  bewirkt,  daß  der  Frau  tatsächlich  größere  Lasten 
auferlegt  werden  als  den  Männern.  Millionen  von  Frauen  werden 
in  den  Fabriken  ausgebeutet  —  in  Österreich  zählt  man  dreiein- 
halb Millionen  erwerbstätige  Frauen  —  andere  Millionen  haben  bei 
der  bloßen  Führung  ihrer  engen  Wirtschaft  einen  Scharfsinn  auf- 
zuwenden, den  wir  manchem  Hofrat  wünschen  würden.  Wenn  die 
Frau  reif  ist  für  die  Ausbeutung,  wenn  die  Frau  reif  ist  für  die 
Fabrikarbeit,  wenn  sie  reif  ist  für  jede  Pflicht,  dann  muß  sie  auch 
reif  sein  für  jedes  Recht.  Und  wären  die  Frauen  politisch  unreif, 
so  müßten  sie  das  Wahlrecht  erhalten,  um  reif  zu  werden.  Es  wird 
einer  der  größten  Fortschritte  in  der  politischen  Erziehung  des 
Volkes  sein,  wenn  alle  Mütter  mit  dem  Wahlrecht  auch  die  Not- 
wendigkeit des  politischen  Urteils  und  der  Anteilnahme  an  poli- 
tischen Interessen  gewinnen. 

Schließlich  sagt  man,  die  Frauen  trügen  die  Blutsteuer  nicht, 
sie  würden  nicht  Soldaten.  Aber  die  Frauen  haben  eine  Pflicht  und 
eine  Last  zu  tragen,  die  mehr  blutige  Opfer  von  ihnen  fordert  als 
der  Krieg  von  den  Männern.  Wieviel  Schmerzen,  Krankheiten  und 
schließlich  wieviel  Leben  der  Qeburtsakt  kostet,  läßt  sich  kaum 
ermessen,  und  das  ist  eine  Bürde,  die  der  Frau  allein  zukommt. 

Wenn  wir  in  Österreich  heute  die  Forderung  des  Frauenstimm- 
rechtes tatsächlich  in  zweite  Linie  stellen,  so  tun  wir  es  nur  darum, 
weil  wir  eben  in  Österreich,  in  einem  rückständigen  Lande  leben. 
Nirgends  in  Europa  und  nur  in  einzelnen  Staaten  Nordamerikas 
ist  bis  heute  das  Frauenstimmrecht  durchgesetzt,  obwohl  eine  ganz 
bedeutende   Agitation   dafür,   insbesondere  in  England,  Frankreich 


*)   Diese   Statistik   zitiert   Adler   nach  G.  Fr.  Kolb,   „Statistik  der  Neu- 
zeit', Leipzig   1883,  Seite  403. 


D::s  allgemeine,  deiche  und  direkte  Wahlrecht.  39 


Und  Deutschland,  existiert.  Aber  wir  in  Österreich  müssen  genüg- 
sam sein;  weit  entfernt,  von  diesem  Staat  ZU  verlangen,  dal.»  er 
an  der  Spitze  der  Zivilisation  marschiere,  müssen  wir  zufrieden 
sein,  wenn  er  sich  nicht  im  Nachtrab  zu  sehr  verspätet.  Wie  oft 
das  der  Fall  ist,  zeigt  unsere  ganze  politische  Gesetzgebung.  Haben 
aber  die  Männer  das  Wahlrecht  erkämpft,  haben  die  Krauen 
redlich  mitgeholfen,  wie  sie  es  tun  werden,  dann  wird  der  nächste 
Schritt  die  Erlangung  des  Stimmrechtes  für  die  Frauen   sein. 

Dauer  der  Legislaturperiode. 

In  Österreich  werden  die  Abgeordneten  auf  sechs  Jahre  ge- 
wählt. Ihre  Mandatsdauer  ist  länger  als  in  irgendeinem  anderen 
Lande,  mit  Ausnahme  von  England.  In  England  aber,  wo  sie  sieben 
Jahre  dauert,  erreicht  sie  fast  niemals  ihr  gesetzliches  Ende, 
sondern  das  Haus  wird  aufgelöst  und  Neuwahlen  vorgenommen,, 
wenn  seine  Majorität  mit  der  Regierung,  die  am  Ruder  ist,  in 
irgendeinem  wichtigen  Punkte  in  Widerspruch  gerät.  Dieser  Fall 
ereignet  sich  in  Österreich  so  gut  wie  nie,  weil  erstens  jede  Regie- 
rung in  der  Lage  ist,  sich  ihr  Parlament  zusammenzusetzen,  wie 
sie  es  braucht,  hauptsächlich  durch  die  Einflußnahme  auf  die 
Wahlen  im  Großgrundbesitz,  zweitens  aber,  weil,  wenn  das  Un- 
mögliche geschieht,  daß  die  Majorität  des  Hauses  mit  dem  Mini- 
sterium in  Konflikt  gerät,  nicht  die  Regierung  zu  Kreuze  kriecht, 
sondern  das  Parlament.  Die  außerordentliche  Länge  der  Mandats- 
dauer hat  eine  Reihe  von  üblen  Wirkungen.  Erstens  verliert  das 
Wahlrecht  um  so  mehr  an  Wert,  je  seltener  es  ausgeübt  wird. 
Alle  reaktionären  Parteien  wünschen  allerdings  möglichste  Ruhe 
und  verabscheuen  nichts  so  sehr  als  die  Notwendigkeit,  an  die 
Urne  zu  treten.  Die  Sozialdemokratie  ist  hingegen  immer  prinzipiell 
für  höchstens  zweijährige  Wahlperioden  eingetreten,  weil  sie 
in  der  Ausübung  des  Wahlrechtes  in  erster  Linie  ein  erzieherisches 
Mittel  des  Volkes  sieht  und  weil  sie  ein  Interesse  daran  hat,  daß 
der  politische  Schlaf  der  großen  Masse  so  oft  als  möglich  gestört 
werde.  Aber  zweitens  ist  die  lange  Mandatsdauer  auch  eine  Be- 
einträchtigung des  Wahlrechtes,  welches  nichts  anderes  ist,  als 
ein  Ersatz  für  das  dem  Volke  direkt  zustehende  Recht,  Q  e- 
setze  zu  geben.  Abgeordneten  aber  auf  so  lange  Jahre  hinaus 
ein  unwiderrufbares  Mandat  zu  geben,  heißt  den  Volkswillen  an 
eine  kleine  Zahl  von  Leuten  abtreten  und  jedem  Mißbrauch  des 
Vertrauens  Tür  und  Tor  öffnen.  Die  Erfahrung  zeigt  auch,  daß  die 
Abgeordneten  am  Ende  ihrer  Mandatsdauer  immer  viel  gewissen- 
hafter ihre  Pflicht  zu  erfüllen  suchen  als  am  Anfang  derselben, 
wo  sie  sich  noch  für  lange  Zeit  ihrer  Stellung  sicher  fühlen. 
Bismarck  hat,  um  sich  einen  gefügigeren  Reichstag  zu  schaffen 
ohne  das  Wahlrecht  zu  ändern,  was  er  nicht  wagte,  sein  Ziel  er- 
reicht, indem  er  die  Mandatsdauer  für  die  Reichstagsmitglieder 
von  drei  auf  fünf  Jahre  verlängerte.  In  Österreich,  wo  die  Parla- 
mente ausleben  bis  zur  Altersschwäche,  ist  die  Forderung  nach 
einer  zweijährigen  Legislaturperiode  mit  allem  Nachdruck  zu  er- 
heben. 


40  Von  Taaffe  bis  Badciii. 


Das  Gemeindewahlrecht. 

Während  das  Wahlrecht  zu  den  Landtagen  annähernd 
ähnlich  gestartet  ist,  wie  das  zum  Reiehsrat,  zeigt  das  Gemeinde- 
\v  a hl r e c h t  mit  seinen  drei  Walilkörpern  ein  ganz  besonderes 
Bild,  welches  wohl  einer  eingehenden  Schilderung  wert  wäre,  zu 
dessen  liebevoller  Ausführung  aber  an  dieser  Stelle  Zeit  und  Raum 
fehlen.  Nur  einige  Ziffern  von  den  Wiener  Verhältnissen  wollen 
wir  beibringen,  um  zu  zeigen,  wie  liier  das  mit  dem  Besitz 
wachsende  Wahlprivilegium  der  Besitzenden  unverhüllt  von  allen 
„historischen"  Flausen,  die  das  Reichsratswahlrecht  umgeben, 
nackt  und  brutal  auftritt. 

Bei  den  0  e  m  e  i  n  d  e  r  a  t  s  w  a  h  1  e  n  im  Jahre  1890*)  be- 
saßen von  den  in  Wien  anwesenden  209.666  Männern  über  24  Jahre 
das  Wahlrecht  —  53.948,  also  25*84  Prozent.  Genau  ein  Viertel 
der  Männer  im  w- ahlfähigen  Alter  hatten  das  Wahlrecht;  drei 
Viertel  sind  rechtlos  in  der  Gemeinde,  wie  sie  recht- 
los im  Lande,  wie  sie  rechtlos  im  Reiche  sind. 

Das  Wahlrecht  ist  an  die  direkte  Steuer  gebunden  oder  —  was 
in  Wien  in  Betracht  kommt  —  an  die  „Intelligenz";  Geistliche. 
Beamte,  Lehrer,  Advokaten,  Ärzte  usw.  haben  ohne  Rücksicht  auf 
Steuerleistung  das  Wahlrecht.  In  der  allergrößten  Zahl  der  Fälle 
ist  aber  mit  der  „Intelligenz"  ein  Einkommen  verknüpft,  welches 
größer  ist  als  jenes  Minimum,  welches  zur  Zahlung  direkter  Steuern 
verpflichtet  und  zum  Wählen  berechtigt. 

Die  Zahl  der  Wähler,  die  ihr  Privilegium  nur  ihrer  Bildung 
oder  Stellung  verdanken,  ist  eine  verschwindend  geringe.  Man 
kann  also  auch  in  Wien  sagen,  daß  der  Besitz  respektive  das 
Einkommen,  das  Wahlrecht  bedinge. 

Nun  sehe  man  sich  die  letzte  Rubrik  der  folgenden  Tabelle  an. 
Man  wird  finden,  daß  die  Zahl  der  Wahlberechtigten  in  den  ein- 
zelnen Bezirken  in  geradem  Verhältnis  zur  Wohlhabenheit  seiner 
Bewohner  steht.  Während  im  ganzen  25'8  Prozent  der  Volljährigen 
Wähler  sind,  also  ein  Viertel  derselben,  finden  wir  im  I.  Bezirk, 
dem  Sitz  des  Reichtums,  daß  die  Wählerschaft  48*39  Prozent, 
also  fast  die  Hälfte  der  Volljährigen,  ausmacht.  Im  X.  Bezirk 
hingegen  gibt  es  unter  100  Volljährigen  nur  10*85  Wähler,  also 
nur  ein  Zehntel! 

Noch  ärger  erscheint  die  Sache,  wrenn  man  die  Zahl  der  Wähler 
in  den  Wahlkörpern  ins  Auge  faßt.  Bekanntlich  sind  die  Gemeinde- 
wähler nach  ihrer  Steuerleistung  in  drei  Wahlkörper  gruppiert, 
deren  jeder  nach  der  1890  geltenden  Wahlordnung  zusammen 
40  Gemeinderäte  zu  wählen  hatte.  Die  4350  Hausherren  und 
sonstigen  Standespersonen  des  I.  Wahlkörpers  verfügen  über  eben- 
soviel  Stimmen    im   Gemeinderat    wie    die    36.286  Kleingewerbe- 

*)  Diese  Ziffern  beziehen  sich  also  noch  auf  die  alten  zehn  Bezirke 
Wiens.  Ohne  Zweifel  sind  die  Gegensätze  im  vergrößerten  Stadtgebiet 
noch  krasser.  Aber  das  im  Jahre  1893  erschienene  Statistische  Jahrbuch 
der  Stadt  Wien  behandelt  das  Jahr  1890,  und  da  wir  prinzipiell  nur  offi- 
zielles Material  benützen,  mußten  wir  uns  mit  den  Daten  von  1890  be- 
gnügen, (v.  a.) 


Das  allgemeine,  gleiche  umi  direkte  Wahlrecht. 


41 


Die   Wiener   (iemeiiuleratswahlen  im  Jahre    I8WI. 


Bezirk 

Qesamtzahl  der 
bei  der  Volks- 
zählung 1890  ge- 
zählten  Männer 
über  24  Jahre 

Zahl  der  Wahlberechtigten  Im  Wahlkörper 

Am    Km  voll- 
|ähi  Ige  Mänm  i 
entfallen  Wahl- 
berechtl 

l 

ii 

in 

1     IM 

1 

II 
III 
IV 
V 
VI 
VII 
VIII 
IX 
X 

16.606 

40.805 
28.673 

14.98(1 
21.566 
16.076 
17.634 
12.686 
20.844 
19.606 

1318 

408 
423 
418 
193 
383 
515 
277 
323 
92 

279(; 

1320 

23  IS 

1266 

794 

830 

1139 

1196 

1236 

414 

383 1 
(»341 
4194 
3273 
3115 
3781 
4418 
2504 
3292 
1537 

7948 
8069 
6935 

4957 
4102 
4994 
6072 
3977 
4851 
2043 

4S'39 
19*72 
29*91) 
32*47 
19*28 
31*57 
34*13 
30*80 
24*22 
10*85 

I  bis  X 

209.666 

4350 

13312 

36186 

53948 

25*84 

treibenden  des  III.  Wahlkörpers;  der  reiche  Mann  hat  also  einen 
neun  m  a  1  so  großen  Einfluß  auf  die  Stadtverwaltung  als  der 
vielumworbene  „kleine  Mann",  der  ja  seinerseits  auch  schon  zu 
dem  privilegierten  obersten  Viertel  gehört.  Die  folgenden  Tabellen 
zeigen  das  im  einzelnen,  und  aus  der  letzten  ist  zu  ersehen,  daß, 
während  die  Gemeinderatsmandate  innerhalb  jedes  Wahlkörpers 
auf  die  zehn  Bezirke  nicht  allzu  ungleichmäßig  verteilt  sind,  die 
Abstufung  in  der  Intensität  des  Wahlrechtes  nach  den  Wahlkörpern 
in  allen  Bezirken  hervortritt.  Überall  und  für  ganz  Wien  ergibt 
sich  das  Verhältnis  1:3:9,  das  heißt,  der  Wähler  des  I.  Wahl- 
körpers hat  dreimal  so  viel  Wahlrecht  als  der  des  II.  Wahl- 
körpers und  neunmal  so  viel  als  der  des  III.  Wahlkörpers. 


Wahlkörper 

I 

II 
III 


Die  Zahl  der  Gemeinderäte  Wiens  189  0, 

im       Bezirke 
I  II  III         IV       V         VI        VII    VIII       IX       X 

...11  4  5  42  3  52  31 
...5  5  4  43  3  44  44 
...5        6        5        34        4        43        42 


Zusammen 

40 
40 
40 


i  bis  III,      ... 

?, 

15 

14 

11 

9 

10 

13       9 

n 

7        120 

E  s  e  n 

tf 

i  e 

1  e  n 

auf 

einen 

G 

e  m  e  i  n 

d 

e  r 

at: 

im  Bezirke 

w 

a  h  1 

b  e  r  e 
i  m 
1 

e  h 
W 

t  i  kr  t 
a  h  1  l 

II 

e 
ö 

(1  8  9  0) 

r  p  e  r 

III 

in  allen  drei 

Wahlkörpern 

zusammen 

I        . 

.  119 

559 

766 

378 

II         . 

.  102 

264 

1056 

537 

III        . 

.    84 

579 

838 

495 

IV       . 

.  104 

316 

1091 

450 

V       . 

.    96 

264 

778 

455 

VI      . 

.  127 

276 

945 

499 

VII       . 

.  103 

286 

1104 

467 

VIII       . 

.  138 

299 

834 

441 

IX       . 

.  107 

309 

823 

441 

X       . 

.    92 

103 

768 

291 

332 


907 


449 


42  \  011  Taaffe  bis  Hadern. 


Wien  —  und  das  gilt  von  allen  anderen  Gemeinden  Österreichs 
ebenso  —  hat  keine  Gemeindevertretung,  sowenig  Österreich  eine 
Volksvertretung  hat. 

Dort  wie  liier  läßt  sich  eine  kleine,  privilegierte  Minorität  das 
.loch  einer  noch  kleineren  Zahl  von  Protzen  gefallen,  nur  um  ihr 
Privilegium  nicht  aufgeben  zu  müssen. 

Die  Folgen  sind  in  der  Gemeindeverwaltung  dieselben  wie  im 
Staate:  gänzliche  Ohnmacht,  rettungslose  Versumpftheit,  bornier- 
testes Cliquenwesen,  brutalster  Egoismus. 

Die  „Gefahren"  des  allgemeinen  Wahlrechts  für  die  Sozial- 
demokratie. 

Fassen  wir  noch  kurz  die  Einwürfe  zusammen,  die  gegen  das 
allgemeine  Wahlrecht  gemacht  werden.  In  erster  Linie  müssen 
wir  uns  mit  einem  Standpunkt  abfinden,  der  von  Leuten  geltend 
gemacht  wird,  die  insofern  uns  nahestehen,  als  sie,  gleich  der 
Sozialdemokratie,  Gegner  der  heutigen  Wirtschaftsordnung  sind. 
die  Herbeiführung  einer  sozialistischen  Gesellschaftsordnung 
wünschen  und  sich  einbilden,  in  viel  mehr  revolutionärer  Weise 
dazu  beizutragen  als  wir.  Wir  schließen  hier  von  vornherein  die 
verschiedenen  Gruppen  der  Anarchisten  aus,  insofern  sie  mit  ihren 
Bestrebungen  die  Anwendung  terroristischer  Mittel  verbinden  oder 
solche  gutheißen.  Der  Terrorismus  ist  mit  Recht  aus  der  Mode 
gekommen;  er  beruhte  auf  einer  falschen  Schätzung  der  Macht- 
verhältnisse und  einer  falschen  Beurteilung  der  geistigen  Zustände 
der  Arbeiterklasse  in  Westeuropa.  Aber  außer  den  Anarchisten  gibt 
es  bekanntlich  Gruppen,  die,  auf  dem  Boden  der  Sozialdemokratie 
emporgewachsen,  sich  von  ihr  losgetrennt  haben  und  sich  „Junge". 
..unabhängige  Sozialisten"*)  und  dergleichen  nennen.  Ihre  Bedeutung 
für  die  proletarische  Bewegung  ist  eine  ziemlich  unerhebliche,  aber 
ihre  Stimme  ist  laut  und  wird  verstärkt  durch  die  Resonanz,  welche 
ihr  die  bürgerlichen  Parteien  und  deren  Presse  in  ihrem  wohl- 
verstandenen Interesse  an  einer  Zersplitterung  des  Proletariats  zu 
geben  lieben.  Hier  müssen  wir  aber  schon  wieder  unterscheiden. 
Die  „Unabhängigen"  in  Deutschland  erklären  sich  gegen  den  parla- 
mentarischen Kampf,  also  gegen  die  Teilnahme  an  den  Wahlen, 
insbesondere  gegen  die  Teilnahme  an  den  parlamentarischen  Ver- 
handlungen. Sie  halten  das  alles  für  korrumpierend  für  die  Partei, 
wie  es  ja  wohl  nicht  leicht  ein  Wort  gibt,  mit  welchem  ein  ärgerer 
Mißbrauch  getrieben  wird,  als  mit  dem  Wort  „Korruption".  Alles 
mögliche,  was  einem  oder  dem  anderen  unangenehm  oder  ihm 
nachteilig  ist,  wird  kurzweg  als  „Korruption"  bezeichnet.  Aber 
immerhin,  diese  deutschen  „Unabhängigen"  haben  unseres  Wissens 
stets  nur  die  Ausnützung  des  Wahlrechtes  verworfen,  niemals  aber 
das  Wahlrecht  selbst. 

Die  eigentümlichen  Verhältnisse  Österreichs  haben  aber  einer 
Richtung  Raum  gegeben,  welche   doktrinär  und  sonderbar  genug 

*)  Siehe  im  Band  VI  dieser  Schriften  (Aufbau  der  Sozialdemokratie) 
die  Kapitel  „Spaltungsversuche"  und  „Die  Unabhängigen  in  Deutschland" 
(Bd.  VI.  Seite   109  bis   175). 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht.  4'* 


ist,  nicht  nur  die  Teilnahme  an  den  parlamentarischen  Verhand- 
lungen und  die  Ausübung  des  Wahlrechtes,  sondern  das  Wahl- 
recht selbst  als  etwas  unserer  Bewegung  Schädliches  zu  erklären 
und  den  Kampf  für  das  Wahlrecht  als  ein  die  Sozialdemokratie 
schwächendes,  wie  der  hier  gebrauchte  Ausdruck  lautet,  „ver- 
flachendes" und  selbstverständlich  „korrumpierendes"  Moment  zu 
bezeichnen.  Wenn  wir  auch  die  Entstehung  dieser  Anschauung  ge- 
schichtlich zu  erklären  wissen,  ebenso  wie  ihr  Verschwinden,  so 
müssen  wir  doch  gestehen,  daß  von  allen  unklaren  Behauptungen 
diese  wohl  die  unklarste  ist.  Es  ist  schließlich  noch  begreiflich, 
wenn  einer  großen  und  mächtigen,  nach  Millionen  zählenden  Partei 
als  Mittel  der  Geltendmachung,  als  Protest  gegen  die  heutigen  Zu- 
stände die  Enthaltung  von  der  Wahl  empfohlen  wird.  Das  Mittel 
ist  unserer  Ansicht  nach  schlecht,  führt  nicht  zum  Ziel,  aber  man 
kann  sich  immerhin  vorstellen,  daß  es  halbwegs  vernünftige  Leute 
gibt,  die  auf  einen  solchen  Plan  verfallen.  Anders  liegt  aber  die  Sache, 
wenn  es  sich  um  die  Erlangung  des  Wahlrechtes  handelt.  Auch 
diejenigen,  welche  Wahlenthaltung  predigen,  suchen  in  der  Wahl- 
enthaltung nur  eine  besondere  Form  der  Ausnützung  des  Wahl- 
rechtes zur  Agitation.  Um  das  aber  zu  können,  muß  man  es  vor 
allem  haben.  Und  es  gehört  eine  äußerste  Begriffsverwirrung  dazu, 
das  Recht  zu  wählen  an  sich  als  schädlich  zu  erachten,  an  sich 
als  verflachend  anzusehen.  Ein  einziger  Standpunkt  ist  es,  der  etwa 
noch  dafür  spricht.  In  Österreich  und  in  allen  Ländern  mit  Zensus 
bildet  das  Wahlrecht  eine  scharfe  und  in  die  Augen  springende 
Scheidung  zwischen  dem  Proletariat  und  den  Besitzenden.  Der 
Gegensatz  in  der  ökonomischen  Lage  tritt  auch  für  jedes  Auge  klar 
in  dem  Ausmaß  der  politischen  Rechte  hervor.  Es  wurde  zwar  dieser 
Standpunkt  nie  geltend  gemacht,  aber  ein  vernünftiger  Verfechter 
jener  Theorie  könnte  sagen,  daß  nichts  den  Klassengegensatz  dem 
allgemeinen  Bewußtsein  schärfer  einpräge,  als  die  politische  Recht- 
losigkeit der  unteren  Schichten.  Auch  dieser  Einwand  aber  wäre 
falsch.  Denn  das  Fehlen  des  Wahlrechtes  ist  zugleich  die  Ursache, 
daß  dieser  Gegensatz  nie  ausdrücklich  zum  Bewußtsein  kommt  und 
noch  weniger  sich  zur  Äußerung  bringt;  es  läßt  die  Massen  stumpf 
und  dumpf  und  vor  allem  vollständig  verständnislos  allen  poli- 
tischen Konflikten  gegenüberstehen.  Wenn  wir  aber  in  irgendeinem 
Punkt  einig  sein  müßten  und  wenn  irgendein  Punkt  vollständig 
über  jeden  Zweifel  erhaben  ist,  so  ist  es  der,  daß  unsere  allererste 
und  wichtigste  Aufgabe  die  Aufrüttelung  der  Massen  überhaupt  ist, 
wobei  es  zunächst  in  zweiter  Reihe  steht,  nach  welcher  Richtung 
dies  geschieht.  Wir  gehen  darin  so  weit,  daß  auch  jede  Äußerung 
des  Klassenbewußtseins  bei  den  Besitzenden,  insbesondere  aber  bei 
den  Kleinbürgern  uns  erwünscht  ist,  vor  allem  darum,  weil  je 
offener,  ja,  je  brutaler  der  Klassenstandpunkt  von  unseren  Gegnern 
betont  wird,  um  so  rascher  um  so  energischer  das  Klassenbewußt- 
sein  des  Proletariats  erweckt  wird  und  zur  Wirkung  kommt. 

Den  guten  Leuten  und  schlechten  Musikanten  jedoch,  welche 
gar  so  ängstlich  besorgt  sind,  daß  durch  das  Wahlrecht  die  Sozial- 
demokratie   zugrunde    gerichtet    würde,    welche    meinen,    daß    das 


44  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


Wählen  von  Abgeordneten,  die  parlamentarische  Vertretung  einer 
Partei  schade,  denen  mochten  wir  einen  Vorschlag  machen:  Sie 
mögen  ihre  Theorie,  die  so  grau  ist  wie  keine,  nicht  uns  predigen, 
wo  sie  praktisch  gar  kein  Feld  haben  —  denn  wir  haben  ja  das 
Wahlrecht  nicht  .  sondern  sie  mögen  gefülligst  zu  den  Groß- 
grundbesitzern, zu  den  Liberalen,  zu  den  Klerikalen  gehen  und 
diese  aufmerksam  machen,  wie  sie  durch  ihr  Wahlrecht  sich 
schädigen,  und  sie  werden  dort  gewiß  —  ausgelacht  werden.  Das 
Wahlrecht  wird  der  Arbeiterklasse  in  Österreich  gerade  darum 
hartnäckig  vorenthalten,  und  es  wird  der  allergrößten  Energie  und 
einer  ganzen  Summe  von  begünstigenden  Umständen  bedürfen,  um 
es  zu  erlangen,  weil  die  bürgerlichen  Parteien  sehr  genau  wissen, 
welche  schneidige  und  ausgezeichnete  Waffe  dieses  Wahlrecht  in 
den  Händen  der  Arbeiterklasse  wäre.  Sehen  wir  doch  hinaus  nach 
Deutschland,  wo  Bismarck  durch  gewisse  politische  Motive  ge- 
zwungen war,  das  Wahlrecht  zu  oktroyieren.  Nach  zweiund- 
zwanzigjährigem  Bestand  des  allgemeinen  Wahlrechtes  zittern 
sämtliche  bürgerlichen  Parteien  vor  der  Sozialdemokratie  und  alle 
zerbrechen  sich  die  Köpfe,  wie  es  zu  machen  wäre,  der  Sozial- 
demokratie diese  Waffe  aus  der  Hand  zu  nehmen,  das  Wahlrecht 
einzuschränken.  Freilich  wagen  sie  das  nicht,  weil  es  seine 
Schwierigkeiten  hat,  einem  mit  scharfem  Schwert  ausgerüsteten 
Gegner  dieses  Schwert  wegzunehmen,  wenn  man  auch  noch  so 
sehr  einsieht,  daß  gerade  dieses  ihn  gefährlich  macht. 

Übrigens  halten  wir  es  für  ausgeschlossen,  daß  in  der  öster- 
reichischen Arbeiterschaft  noch  einmal  sich  ein  Streit  um  das 
Wahlrecht  erhebt,  wie  es  einst  der  Fall  war.  Die  Überschätzung 
des  allgemeinen  Wahlrechtes  liegt  nahe,  wie  man  das  Gut  immer 
überschätzt,  welches  man  entbehrt.  Aber  gerade  auch  die  Er- 
fahrung an  Deutschland  hat  uns  gelehrt,  das  Wahlrecht  weder  zu 
unterschätzen  noch  zu  überschätzen.  Und  weil  wir  wissen,  daß  wir 
an  dem  Wahlrecht  nichts  anderes  haben  als  das  beste  Mittel  der 
Agitation,  das  beste  Mittel,  unsere  Ansichten  zu  verbreiten,  das 
beste  Mittel  zur  Organisation,  das  beste  Mittel,  die  Genossen  an- 
einanderzufügen, aus  einer  dumpfen  Masse  eine  kampfbereite  und 
kampffähige  Armee  zu  machen,  werden  wir  es  mit  aller  Macht 
zu  erlangen  trachten.  Aber  niemals  werden  wir  uns  einbilden,  mit 
dem  Stimmzettel  in  der  Hand  den  Kapitalismus  aus  der  Welt 
hinauswählen  zu  können,  niemals  werden  wir  uns  einbilden,  daß 
eine  parlamentarische  Majorität  an  und  für  sich  eine  Macht 
sei,  der  sich  die  Besitzenden  fügen  werden.  Der  Parlamentarismus 
ist  eine  Form  der  Klassenherrschaft  und  wird  mißbraucht  zur 
Täuschung  des  arbeitenden  Volkes.  Wir  machen  aus  dem  Parla- 
mentarismus ein  Mittel  zur  Befreiung  und  gebrauchen  es  zur  Auf- 
klärung des  Proletariats.  In  klassischer  Weise  hat  Engels  das 
ausgedrückt:  „Und  endlich  herrscht  die  besitzende  Klasse  direkt 
mittels  des  allgemeinen  Stimmrechtes.  Solange  die  unterdrückte 
Klasse,  also  in  unserem  Falle  das  Proletariat,  noch  nicht  reif  ist 
zu  seiner  Selbstbefreiung,  solange  wird  sie,  der  Mehrzahl  nach, 
die   bestehende   Gesellschaftsordnung   als  die   einzig   mögliche   er- 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht. 


kennen  und  politisch  der  Schwanz  der  Kapitalistenklasse,  ihl 
äußerster  linker  Flügel  sein.  In  dem  Maße  aber,  worin  sie  ihrer 
Selbstemanxipation  entgegenreift,  in  dem  Maße  konstituiert  sie  sich 
als  eigene  Partei,  wählt  ihre  eigenen  Vertreter,  nicht  die  der  Kapi- 
talisten. Das  allgemeine  Stimmrecht  ist  so  der  Gradmesser  der 
Reife  der  Arbeiterklasse.  M  ehr  kann  undwird.es  nie  sein 
im  heutigen  Staate;  aber  das  g  e  n  ü  g  t  auch.  An  dem 
Tage,  wo  das  Thermometer  des  allgemeinen  Stimmrechtes  den 
Siedepunkt  bei  den  Arbeitern  anzeigt,  wissen  sie  sowohl  wie  die 
Kapitalisten,  woran  sie  sind." 

Konservative  Einwände. 

Hauptsächlich  von  konservativer  Seite  wird  das  Wahlrecht, 
wie  wir  es  wünschen,  bekämpft,  nicht  sowohl  weil  es  ein  all- 
gemeines, sondern  weil  es  ein  gleiches  Wahlrecht  sein  soll.  Die 
konservativen  und  reaktionären  Parteien  schelten  die  Zersetzung 
der  feudalen  Stände  in  moderne  Klassen  als  „Atomisierung"  der 
Gesellschaft,  und  sie  wollen  den  einzelnen  „Atomen",  den  Indi- 
viduen, nicht  das  Recht  einräumen,  ihren  Willen  politisch  zur 
Geltung  zu  bringen.  Hinter  dieser  Anschauung  verbirgt  sich  aber 
nichts  anderes  als  der  Ärger  darüber,  daß  die  Atome  eben  nicht 
vereinzelt  bleiben,  sondern,  vom  Klassengefühl  ergriffen,  als 
Klassen  politisch  handeln.  Jene  Theorie  will  den  einzelnen  Gruppen 
der  Gesellschaft,  dem  Großgrundbesitz,  der  Industrie,  der  Bauern- 
schaft, den  Handwerkern,  einen  abgezirkelten  politischen  Einfluß 
geben,  das  Proletariat  wird  natürlich  ignoriert.  Es  wird  aber 
weiters  die  Voraussetzung  gemacht,  daß  jede  dieser  Interessen- 
gruppen als  solche  ein  gleiches  Maß  politischen  Einflusses  ver- 
diene. Nicht  das  Individuum,  sondern  das  „Interesse"  soll  vertreten 
sein.  Auf  diese  Weise  wird  die  Brutalität  und  Ungerechtigkeit 
eines  Zustandes  verschleiert  und  aufgeschminkt,  in  welchem  der 
Mensch  als  solcher,  das  Individuum,  nichts  gilt  —  er  ist  ein  ver- 
ächtliches „Atom"  — ,  dagegen  alles  der  Besitz,  welchen  er  hat. 
ein  politischer  Zustand,  welcher  seine  ausschweifendsten  Orgien  im 
österreichischen  Wahlsystem  feiert,  wo  eine  Handvoll  Großgrund- 
besitzer mehr  politischen  Einfluß  hat  als  Zehntausende  von  Bauern 
und  als  Millionen  von  Arbeitern.  Es  wird  von  konservativer  Seite 
die  entsetzliche  Befürchtung  ausgesprochen,  die  große  Masse  der 
Individuen  würde  die  kleine  aber  edle  Gruppe  der  Großgrund- 
besitzer majorisieren,  und  es  wird  dabei  vorausgesetzt,  daß  der 
Großgrundbesitz  als  solcher,  daß  das  Großkapital  als  solches  das 
Recht  einer  politischen  Vertretung  hat.  Dem  ist  entgegenzuhalten, 
daß  das  Individuum  als  solches,  abgesehen  von  seinem  Besitz,  ein 
Interesse  hat  und  darum  auch  ein  Recht  haben  muß,  es  geltend  zu 
machen.  Und  wenn  man  dem  Standpunkt  der  Gerechtigkeit  über- 
haupt Rücksicht  gewähren  will,  dann  müßte  das  Wahlsystem  das 
geradezu  umgekehrte  sein,  als  es  heute  in  Österreich  ist.  Dem 
Proletarier  und  dem  Kleinbauer  müßte  ein  mehrfaches  Stimmrecht 
eingeräumt  werden  gegenüber  dem  Großgrundbesitz  und  Kapi- 
talisten;   denn    Großgrundbesitz    und    Kapital    repräsentieren    auch 


46  Von  Taaffe  bis  Badcni. 


ohne  Stimmzettel  eine  ganz  gewaltige  politische  Macht,  und  es 
bedarf  sehr  vieler  Stimmzettel  auf  Seiten  der  wirtschaftlich  Ohn- 
mächtigen, um  dieser  Übermacht  irgendwie  das  Gleichgewicht  zu 

halten.  Wenn  Herr  Rothschild  oder  Seh  w  a  rzenberg  von 
ihrem  Stimmrecht  niemals  Gebrauch  machten,  ja  wenn  die  Ver- 
fassung sie  ausdrücklich  des  aktiven  und  passiven  Wahlrechtes 
entkleidete,  würden  sie  immer  noch  durch  ihr  ökonomisches  Über- 
gewicht mehr  politische  Macht  haben  als  Zehntausende  von  Prole- 
tariern. Also  vom  Standpunkt  der  Gerechtigkeit  ist  zum  aller- 
wenigsten   zu    verlangen :    Jeder    Mann    eine    Stimme. 

Mitunter  tritt  der  feudale  .Junkeregoismus  auch  in  moderner 
Maske  auf  und  versteckt  sich  hinter  das  Schlagwort  des 
„Schutzes  der  M  i  n  o  r  i  t  ä  t  e  n".  Gewiß,  wir  haben  allen 
Respekt  vor  der  Gerechtigkeit,  welche  hindern  will,  daß  die 
Minderheit  von  der  Mehrheit  vergewaltigt  werde,  welche  ein  W7ahl- 
.system  verlangt,  welches  der  Minorität  gestattet,  im  Parlament  den 
ihrer  Zahl  entsprechenden  Ausdruck  zu  finden.  Ein  vernünftiges 
Proportionalwahlsystem  gehört  mit  zu  den  Forderungen 
unserer  Partei. 

Aber  man  darf  darüber  nicht  vergessen,  daß  wir  in  Österreich 
leben,  wo  es  sich  zunächst  nicht  um  diese  Feinheiten  handeln  kann. 
Vor  dem  Schutze  des  Rechtes  der  Minorität  kommt  noch  der 
Schutz  des  Rechtes  der  Majorität,  und  die  Majorität, 
die  überwiegende  Majorität,  ist  rechtlos  in  Österreich.  Den  zarten 
Seelen,  welche  in  den  konservativen  Zeitungen  über  die  „rohe 
Macht  der  Zahl"  Krokodilstränen  vergießen,  sind  wir  gebunden 
zu  erklären,  daß,  wenn  schon  die  Vergewaltigung  einer  Minderheit 
durch  die  Mehrheit  ein  Unrecht  ist,  ein  dreifach  ärgeres  Unrecht 
die  Vergewaltigung  der  Majorität  durch  eine 
kleine  Minorität  ist,  jenes  System,  auf  welchem  die  öster- 
reichische Verfassung  sich  aufbaut. 

Alle  jene  Vorschläge,  die  Erneuerung  einer  ständischen  Ver- 
fassung auf  „Berufsgenossenschaften"  zu  gründen,  sind  nichts  als 
Flausen,  welche  den  eigentlichen  Zweck,  die  Konservierung  der 
Privilegien  der  Krautjunker  und  Schlotbarone,  hinter  „sozial- 
politischer" Wichtigtuern  verbergen  sollen. 

Liberale  Einwände. 

Aber,  heißt  es,  die  heute  vom  Wahlrecht  ausgeschlossenen 
Klassen,  das  ländliche  und  das  städtische  Proletariat,  sind  nicht 
..reif".  Eigentlich  muß  man  zugeben,  daß  dieses  Schlagwort  ziem- 
lich verschwunden  ist.  So  unverschämt  unsere  Gegner  sind,  sie 
haben  doch  nicht  Lust,  sich  lächerlich  zu  machen,  und  angesichts 
der  rettungslosen  Versumpfung  unserer  bürgerlichen  Parteien,  an- 
gesichts der  unverkennbaren  und  allgemein  anerkannten  Klarheit 
der  proletarischen  Bewegung  wagt  man  nicht  mehr  von  Unreife 
zu  sprechen.  Übrigens  wäre  es  gar  nicht  übel,  sich  darüber  zu 
erkundigen,  was  eigentlich  politische  Reife  bedeute.  Unreif  werden 
diejenigen  Parteibestrebungen  genannt  und  diejenigen  Strömungen 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht.  47 


im  Volke,  die  den  Herren  unangenehm  sind.  Legt  man  aber  einen 
anderen  Maßstab  an.  \  erstellt  man  unter  politischer  Reife  das  klare 
Erkennen  des  Zieles,  das  unverbrüchliche  Festhalten  an  ihm  und 
seine  energische  Verfolgung,  dann  wird  man  zugeben  müssen,  daß 
die  Unreife  in  den  besitzlosen  Klassen  verschwunden  ist,  daß  aber 
die  Besitzenden  sieh  in  einem  Stadium  der  Überreife,  der  Fäulnis, 
befinden. 

Wenn  man  das  Wahlrecht  austeilen  sollte  nach  dem  Maße  der 
politischen  Reife  einer  Klasse,  dann  würden  gewiß  die  Arbeiter 
nicht  zu  kurz  dabei  kommen,  wohl  aber  würde  ein  sehr  beträcht- 
licher Teil  des  Bürgertums  das  Wahlrecht  verlieren   müssen. 

Übrigens  ist  es  selbstverständlich  eine  Heuchelei,  wenn  dieses 
Argument  angeführt  wird,  denn  nicht  nach  der  Reife,  sondern  nach 
der  Dicke  des  Geldsackes  ist  das  Wahlrecht  verteilt. 

Als  sich  Herr  v.  P  1  e  n  e  r  zuletzt  im  Parlament  über  den  jung- 
tschechischen Antrag  äußerte,  hat  er  auch  von  der  politischen 
Reife  nicht  mehr  offen  gesprochen,  hat  die  industrielle  Arbeiter- 
schaft außer  Spiel  gelassen  und  nur  der  Besorgnis  Ausdruck  ge- 
geben, daß  durch  das  allgemeine  Wahlrecht  ein  Überwiegen  der 
Vertreter  des  ..ländlichen  Taglöhners"  zustande  käme.  Man  muß 
sich  bei  Herrn  v.  P 1  e  n  e  r  immer  hüten,  vorauszusetzen,  daß 
hinter  seinen  Worten  konkrete  Vorstellungen  zu  suchen  seien.  Wir 
sind  überzeugt,  daß  es  sich  ihm  auch  diesmal  rein  um  ein  Schema- 
tisieren handelt,  daß  er  sich  die  Tatsachen,  von  denen  er  spricht, 
absolut  nicht  klargemacht  hat.  Vor  allem  könnte  Herr  v.  P  1  e  n  e  r 
von  Deutschland  lernen,  daß  das  Überwiegen  des  ländlichen 
Arbeiters  leider  durchaus  nicht  Wahlen  zuwege  bringt,  welche  ihm 
eine  Vertretung  sichern.  Die  Wahlbezirke  östlich  der  Elbe  schicken 
nicht  etwa  Taglöhner  in  den  Deutschen  Reichstag,  sondern  Kraut- 
junker, dieselben  Krautjunker,  die  wir  in  unserem  Reichsrat  sitzen 
haben  ohne  allgemeines  Wahlrecht.  Es  ist  vielmehr  zu  befürchten, 
daß  in  jenen  Bezirken,  wo  der  Großgrundbesitz  überwiegt,  auch  nach 
Einführung  des  allgemeinen  Wahlrechtes  noch  nach  geraumer  Zeit 
das  Resultat  der  Wahl  ganz  dasselbe  sein  werde  wie  heute.  In 
Galizien  wird  der  Schlachziz,  welcher  den  Ehrgeiz  hat,  Abgeord- 
neter zu  sein,  möglicherweise  anstatt  wie  jetzt  zehntausend  Gulden 
deren  zwanzigtausend  aufwenden  müssen,  aber  er  wird  einen 
großen  Teil  seiner  Wahlbezirke  behaupten.  Das  wirtschaftliche 
Übergewicht  ist  der  Macht  des  Stimmzettels  gewachsen.  Wie  man 
also  sieht,  hat  P 1  e  n  e  r  leider  unrecht.  Uns  wäre  der  ländliche 
Taglöhner  im  Reichsrat  entschieden  lieber  als  die  Schwarzen- 
berge  und  die  polnischen  Edelleute,  deren  ebenso  bornierter  wie 
brutaler  Kastenegoismus  das  größte  Hindernis  für  jeden  Fortschritt 
in  Österreich  ist.  Aus  dem  ländlichen  Taglöhner  kann  ein  tüchtiger 
Vertreter  der  Interessen  des  Proletariats  werden  durch  Aufklärung 
und  Aneignung  von  Wissen;  aus  dem  Fürsten  Schwarzen- 
berg  aber  und  aus  allen  den  Herren  auf  ski  wird  niemals  mehr 
etwas  Vernünftiges. 


48  Von  Taafie  bis  Badeni. 


Das  „nationale  Interesse". 

Herr  v.  P  1  e  n  e  r  hat  auch  gemeint,  das  allgemeine  Wahlrecht 
sei  in  Österreich  unmöglich  wegen  der  nationalen  Verschieden- 
heiten, und  er  hatte  die  Kühnheit,  zu  behaupten,  das  allgemeine 
Wahlrecht  würde  den  Nationalitätenzwist  verschärfen.  Die  Wahr- 
heit ist,  daß  nur  die  Ausschließung  der  großen 
Mehrheit  des  Volkes  von  den  politischen  Rechten 
den  Nationalitätenkampf  in  seiner  heutigen 
Form  und  Hitze  möglich  macht.  Die  bevorrechteten 
Klassen  haben  heute  ein  leichtes  Spiel,  sie  provozieren  einen 
Streit  um  Dinge,  die  das  Volk  nicht  interessieren.  Die  Frage,  ob 
die  deutschen  Bourgeois  oder  die  tschechischen  Bourgeois  für  ihre 
Söhne  mehr  Beamtenstellen  ergattern  sollen,  wird  zu  einer  An- 
gelegenheit aufgebauscht,  welche  die  Kräfte  des  Staates  lähmt.  Der 
Großgrundbesitz  insbesondere  lebt  geradezu  vom  Nationalitäten- 
streit, ebenso  wie  die  Advokatenclique,  welche  der  Bourgeoisie 
parlamentarische  Vertreterdienste  leistet.  Die  Großgrundbesitzer 
verkleiden  sich  als  Deutsche  oder  als  Tschechen,  je  nach  Bedürfnis: 
sie  kompromisseln,  brechen  Verträge,  erfinden  neue  Streitpunkte 
und  gebärden  sich  als  die  eigentlichen  Vertreter  des  Volkes.  Der 
Krone  gegenüber  spielen  sie  sich  als  solche  auf,  und  selbst  den 
breiten  Schichten  des  Bürgertums  Sand  in  die  Augen  zu  streuen, 
gelingt  ihnen  häufig.  Ist  das  allgemeine  Wahlrecht  eingeführt,  sind 
die  täuschenden  Masken  und  Theaterkulissen  beseitigt,  dann 
werden  wir  ein  Volkshaus  bekommen,  in  welchem  allerdings  noch 
immer  die  Mehrheit  des  Volkes  von  einer  Minderheit  vertreten  ist, 
aber  wo  die  eigentlichen  Gegensätze  und  die  eigentlichen  Ziele  des 
Kampfes  klar  im  Vordergrund  stehen  werden.  Jedem  Sehenden  ist 
es  unzweifelhaft,  daß  dann  der  nationale  Zwist,  wie  er  ja  heute 
tatsächlich  nur  künstlich  geschürt  und  auf  der  Höhe  seiner  Heftig- 
keit gehalten  wird,  in  den  Hintergrund  tritt*),  sobald  mit  dem  Einzug 
der  Vertreter  der  breiten  Volksmasse  ins  Parlament  der  Kampf 
um  die  Klasseninteressen  auf  die  Tagesordnung  gesetzt  würde, 
wie  sich  ja  auch  heute  schon  in  allen  wirtschaftlichen  Fragen  die 
Parteien  nicht  nach  Nationalitäten,  sondern  nach  wirtschaftlichen 
Gesichtspunkten  gruppieren. 

Wir  wissen  sehr  wohl,  daß  das  allgemeine  Wahlrecht  den 
Nationalitätenstreit  nicht  sofort  aus  der  Welt  schaffen  wird;  aber 
es  bildet  die  notwendige  Vorbedingung  zum  nationalen 

)  Wer  etwa  meint,  daß  Adler  hier  falsch  prophezeit  hat,  der  vergißt, 
daß  durch  die  Einführung  der  Badenischen  fünften  Kurie  der  Staat  selbst 
die  bürgerlichen  Schwindelparteien  geschaffen  hat,  die  das  allgemeine 
Wahlrecht  verfälschten  und  den  nationalen  Kampf  vergifteten  (siehe  u.  a. 
die  beiden  Parteitagsreden  Adlers  vom  Jahre  1902  über  den  Zusammen- 
bruch der  Schwindelparteien  [Bd.  VIII,  Seite  439]  und  über  die  bürger- 
lichen Verfälschungen  der  Arbeiterbewegung  fBd.  VIII,  Seite  444]);  der 
vergißt  aber  auch,  was  Adler  immer  wieder  gesagt  hat,  daß  das  allge- 
meine Wahlrecht  nicht  das  Ende,  sondern  der  Anfang  der  Reform  sein 
müsse  (siehe  Bd.  VIII,  Seite  243 f.,  251,  290,  330  und  viele  andere  Stellen). 
Übrigens  sagt  Adler  ja  gleich  selbst  das  Entscheidende  dazu. 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht. 


Frieden.  Es  wird  ermöglichen,  ja  erzwingen,  daß  Angehörige  aller 
Volksstämme  sich  auf  dem  gemeinsamen  Hoden  ihrer  politischen 
und  wirtschaftlichen,  ihrer  Klasseninteressen  zusammenfinden  und 
gemeinsam  ZU  kämpfen  lernen.  In  einer  wirklichen  Volksvertretung 
wird  trotz  der  nationalen  Gegensätze  sich  zusammenfinden,  was 
zusammengehört  und  dadurch  ein  ehrlicher  nationaler  Friedens- 
schluß möglich  werden.  Alle  „Ausgleiche"  der  Volksverderber 
werden  aber  niemals  zum  Frieden  führen  und  wenn  sie  noch  so 
fein  ausgetüftelt  und  der  Pakt  mit  noch  so  feinem  Champagner 
begossen  wird. 

Es  ist  nicht  zu  zweifeln,  der  Nationalitätenstreit  ist  ein  bewußtes 
und  mit  größter  Raffiniertheit  gehandhabtes  Mittel,  um  alle  Völker 
Österreichs  zugleich  zu  unterdrücken.  Es  ist  das  „Divide  et 
impera",  „Teile  und  herrsche",  der  alten  Staatskunst.  Die  Völker 
werden  mit  Absicht  in  hypnotischer  Gebundenheit  gehalten.  Das 
alte  hypnotische  Experiment  erlebt  hier  seine  groteske  Wieder- 
holung im  großen.  Man  nehme  ein  Huhn,  lege  es  auf  den  Boden, 
ziehe  ihm  mit  der  Kreide  einen  Strich  über  den  Schnabel  und  auf 
dem  Boden  weiter  und  halte  es  nur  eine  halbe  Minute  fest,  dann 
kann  man  es  ruhig  auslassen;  wie  gelähmt  liegt  es  da,  rührt  sich 
nicht  und  sieht  nur  immer  hin  auf  den  Kreidestrich.  Man  kann  es 
stoßen  und  schütteln,  man  kann  es  sogar  rupfen,  es  ist  wehrlos, 
es  ist  hypnotisiert.  So  werden  die  Völker  Österreichs,  Deutsche 
und  Tschechen,  Italiener  und  Slowenen,  Polen  und  Ruthenen,  alle 
miteinander  hypnotisiert  durch  den  dicken  Kreidestrich  des  „natio- 
nalen Gedankens",  der  ihnen  über  die  Nase  gezogen  wird,  und 
während  sie  hinstarren  auf  dieses  eine  Phantom,  sind  sie  wehrlos 
und  man  kann  sie  rupfen  alle  miteinander  —  und  man  rupft  sie. 

Aber  man  vergißt  bei  der  plumpen  Nachahmung  des  alten 
Scherzes  nur  ein  Moment;  die  Hypnose  ist  wirksam,  aber  sie  hat 
eine  zeitliche  Begrenzung;  endlich  erwachen  die  Völker  doch  aus 
ihrem  Schlaf  und  erkennen,  daß  man  sie  getäuscht.  Dann  aber, 
wehe  den  frivolen  Hypnotiseuren! 

Übrigens  begreifen  wir  nicht,  wie  man  wagen  kann,  die  Kor- 
ruption des  heutigen  Wahlsystems  als  ein  nationales  Interesse  für 
die  Deutschen  respektive  für  die  Polen  hinzustellen.  Die  Leute, 
die  das  tun,  haben  die  Frechheit,  das  Interesse  ihrer  Clique,  das 
Interesse  einer  verschwindenden  Minorität  des  Volkes  mit  dem 
Interesse  der  ganzen  Nation  zu  verwechseln.  WTas  insbesondere  die 
Deutschen  angeht,  muß  es  jeden,  der  wirklich  Liebe  zu  seinem 
Volk  empfindet,  anekeln,  wenn  er  ansehen  muß,  wie  die  brutalste 
Gewalt  entschuldigt  und  beschönigt  wird,  als  ausgeübt  in  seinem 
angeblichen  Interesse.  „Im  nationalen  Interesse  der  Deutschen" 
werden  zwei  Drittel  der  deutschen  Bevölkerung  in  Österreich  vom 
Wahlrecht  ausgeschlossen  und  werden  ihre  Angelegenheiten  aus* 
geliefert  den  reaktionären  Grafen,  den  Leuten  von  der  Richtung 
Chlumecky*),  welche  für  alles,  was  Volksinteresse  ist,  weder 

I    Johann    Freiherr    v.   Chlumecky,   Abgeordneter   des   mährischen 
Großgrundbesitzes,  ein  Führer  der  Liberalen,  wurde  nach  dem  Rücktritt  des 

Adler,  Briefe.  X.  Bd.  ■* 


50  \  im  Taaffe  bis  Butlern. 


Verständnis  noch  Herz  haben.  Nein,  gerade  auch  im  nationalen 
Interesse,  welches  kein  anderes  ist  als  das  internationale,  muß  das 
allgemeine  Wahlrecht  verlangt  werden,  denn  die  Nation  umfaßt 
nicht  nur  ein  paar  Privilegierte  und  Protzen,  und  sowohl  Deutsche 
wie  Slawen  bedanken  sich  schönstens  dafür,  ihre  Interessen  von 
diesen  vertreten  zu  sehen. 

Ms  ist  ganz  bezeichnend,  daß  die  eigentlich  nationalen  Parteien. 
weil  sie  volkstümliche  Parteien  sind,  von  dem  allgemeinen  Wahl- 
recht so  wenig  befürchten,  daß  sie  ganz  energisch  dafür  eintreten. 
Schönere  r*),  Pernerstorfer  sind  von  jeher  seine  Vor- 
kämpfer gewesen  und  die  deutschnationale  V  e  r  e  i  n  i- 
g  u  n  g  (Steinwender)  hat  sich  erst  kürzlich  dafür  erklärt,  ebenso 
auf  der  anderen  Seite  die  extrem  nationalen  Jungtschechen. 
.1  ungpolen  und  Jungruth  enen.  Aber  die  „Verfassungs- 
treuen", Schwarzgelben,  wie  die  P  1  e  n  e  r,  J  a  q  u  e  s  und 
A  u  s  p  i  t  z,  entdecken  ihr  deutschnationales  Herz,  sobald  das  all- 
gemeine Wahlrecht  in  Frage  kommt,  und  treffen  da  mit  den  Alt- 
tschechen, dem  böhmischen  Feudaladel  und  der  galizischen 
Schlachta  in  dem  glühenden  Wunsche  zusammen,  „nationale  Inter- 
essen" zu  schützen.  Wir  denken,  solche  Maskenfreiheit  gestattet 
selbst  der  politische  Karneval  in  Österreich  nicht.  Der  Schwindel 
ist  denn  doch  zu  durchsichtig. 

Die  Nationalitätenfrage  in  Österreich  wird  gelöst  werden  auf 
Grundlage  der  gemeinsamen  Interessen  aller  Völker,  welche  sich 
vereinigen  werden,  um  die  Privilegien  des  Geldsackes  und  des 
Großgrundbesitzes  abzuschütteln.  Heute  schon  existiert  in  der 
klassenbewußten  Arbeiterschaft  eine  nationale  Frage  nicht;  es  gibt 
nicht  einen  Sprachstamm  in  Österreich,  welcher  nicht  sein  Kon- 
tingent zur  Sozialdemokratie  stellte,  und  trotzdem  gibt  es  keinen 
Nationalitätenzwist,  trotzdem  stehen  Sozialdemokraten  aller  Zungen 
in  Österreich  geeint  und  fest  gegen  ihre  gemeinsamen  Feinde. 

Die  „Steuerträger". 

Für  den  Zensus  wird  neben  der  politischen  Reife  der  oberen 
Klassen  noch  ins  Feld  geführt,  daß  sie  die  eigentlichen  „Steuer- 
träger" seien  und  daß  das  Maß  ihrer  politischen  Rechte  dem 
Maße  ihrer  Leistungen  für  den  Staat  entspreche.  Ist  unser  ganzes 
Wahlsystem  eine  Fälschung,  so  ist  diese  Begründung  desselben 
die  gröbste  Lüge.  Die  ordentlichen  Ausgaben  des  österreichischen 
Staatshaushaltes  bezifferten  sich  1890  auf  zirka  560  Millionen 
Gulden**).  Hievon  werden  im  Wege  direkter  Steuern  nur  zirka 

Polen  Smolka  am  20.  März  1893  zum  Präsidenten  des  Abgeordnetenhauses 
gewählt  und  war  es  bis  zum  Jahre  1897,  bis  zur  Schaffung  der  fünften  Kurie. 

'"')  Schönerer  und  die  Deutschnationalen  sind  später,  als  die  Sozial- 
demokratie groß  wurde,  die  heftigsten  Feinde  des  allgemeinen  Wahlrechts 
geworden  und  haben  das  ebenfalls  mit  nationalen  Interessen  begründet. 
Pernerstorfer  ist  später  Sozialdemokrat  geworden. 

'*)  Ein  Gulden  (1  iL),  gleich  später  zwei  Kronen.  1  K  =  etwa  S  1'50. 
Natürlich  war  die  Kaufkraft  eines  Guldens  weit  höher  als  die  von  drei 
Schilling. 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht.  r>i 


1077  Millionen  Gulden  hereingebracht  und  hievon  sind  noch  abzu- 
ziehen der  größte  Teil  der  Gebäudesteuer  und  der  Erwerbsteuer, 
welche    beide    prompt    auf    die    gesamte  Bevölkerung    Qberwälzt 

werden.  Nicht  der  Hausherr,  welcher  die  Steuer  aufs  Steueramt 
trägt,  sondern  der  Mieter  der  Wohnung  bezahlt  die  Steuer.  I 
bleiben  dann  nur  etwa  66  Millionen  übrig  an  direkter  Steuer.  Der 
ganze  Rest  sind  indirekte  Abgaben  und  Erträgnisse  aus  den 
Monopolen  und  Zöllen.  Davon  machen  die  Verzehrung s- 
steuern  allein  über  94  Millionen  aus.  Dazu  das  Erträgnis  des 
Salzmonopols  mit  17  Millionen,  des  Tabakmonopols 
mit  51  Millionen  gerechnet,  kommen  wir  auf  Abgaben  von  Dingen, 
welche  jeder  konsumiert,  welche  die  allerärmsten  Klassen  treffen 
und  den  gesamten  Ertrag  der  direkten  Einnahmen  um  mehr 
als  das  Doppelte  überragen.  Aber  das  ist  noch  lange  nicht  alles. 
Es  ist  festgestellt,  daß,  je  geringer  das  Einkommen  ist,  es  um  so 
mehr  mit  indirekten  Abgaben  belastet  ist,  und  hauptsächlich  ist 
das  durch  die  Verzehrungssteuern  bewirkt.  Nach  dem  sogenannten 
„Ernährungsgesetz",  das  der  Statistiker  Engel  feststellte,  werden 
die  Ernährungsausgaben  einer  Familie  zu  einem  um  so  größeren 
Teil  der  Gesamtausgaben,  je  kleiner  ihre  Einnahmen  sind.  Und  es 
ist  eine  weitere  bekannte  Tatsache,  daß  auch  der  Mietzins  und  mit 
ihm  die  Steuern  von  demselben  einen  um  so  höheren  Prozentsatz 
von  dem  Einkommen  der  Familie  in  Anspruch  nehmen,  je  geringer 
dieses  Einkommen  ist.  Während  der  Wohlhabende  für  Nahrung 
und  Wohnung  etwa  die  Hälfte  seines  Einkommens  verbraucht,  muß 
der  Arbeiter  75  Prozent,  ja  in  den  am  schlechtesten  gezahlten 
Schichten  bis  zu  90  Prozent  dafür  ausgeben  und  somit  von 
90  Prozent  seines  Einkommens  indirekte  Abgaben  leisten.  Ein 
gewiß  unverdächtiger  Zeuge,  der  Sekretär  des  Industriellenklubs 
in  Wien,  Herr  Q.  R  a  u  n  i  g,  hat  in  einem  sehr  wertvollen  Aufsatz*) 
aus  den  ihm  vorliegenden  Budgets  einiger  Arbeiterfamilien  die 
indirekten  Steuern  berechnet,  die  sie  zu  zahlen  haben.  Er  kam  zu 
dem  Resultat,  daß  eine  sechsköpfige  Familie  mit  dem  außer- 
ordentlich hohen  Einkommen  von  1200  Gulden  an  indirekten  Ab- 
gaben nicht  weniger  als  11  Prozent  zahlt,  daß  aber  eine  Familie 
von  fünf  Köpfen,  die  jährlich  626  Gulden  70  Kreuzer  ausgibt,  an 
indirekten  Abgaben  106  Gulden  13  Kreuzer  oder  etwa  17  Prozent 
bezahle.  Hievon  zahlt  diese  Familie  38  Gulden  33  Kreuzer  ==  6  Pro- 
zent allein  an  Verzehrungssteuern  von  ihrer  Nahrung.  Wieviel 
müßte  ein  Rothschild  verfressen,  wenn  er  6  Prozent  seines- 
Einkommens  an  Verzehrungssteuer  zahlen  sollte?  Nun  ist  aber  zu 
bedenken,  daß  ein  Einkommen  von  600  Gulden  noch  lange  nicht 
die  unterste  Grenze  des  Einkommens  einer  Familie  ist,  sondern 
daß  man  leider  sagen  kann,  daß  die  Mehrheit  der  Arbeiterbevo.ke- 
rung  ein  Jahreseinkommen  von  300  Gulden  nicht  erreicht.  In  dem- 
selben Maße  aber  steigert  sich  der  Prozentsatz  aller  Beiträge  zu 
den   Staatslasten  noch  weit  über  diese   17  Prozent  hinaus. 

*)  Erschienen  in  Pernerstorfers  „Deutschen  Worten",  Märzheft  1892,* 
unter  dem  Titel:  „fiin  Wiener  Haushalt  in  Beziehung  zu  den  indirekten 
Steuerlasten."  (v.  a.) 

t 


52  \  mi  Taaffe  bis  Badeni. 


Ist  es  schon  aus  dieser  Darlegung  klar,  wer  der  eigentliche 
„Steuerträger"  ist,  so  muß  eine  weitere  Betrachtung  ergeben,  daß 
das  arbeitende  Volk  nicht  nur  der  bedeutendste,  sondern  auch  der 
ausschließliche  Steuerträger  ist.  Denn  jene  direkten  Abgaben, 
welche  der  Grundbesitz  und  der  Kapitalbesitz  zahlt,  sind  ja  tat- 
sächlich nichts  anderes  als  ein  Teil  des  Arbeitsproduktes,  welches 
dem  eigentlichen  Produzenten  abgenommen  wurde.  Was  die  Aus- 
beuterklassen an  Arbeit  leisten,  steht  in  gar  keinem  Verhältnis  zu 
ihrem  Einkommen  oder  bestenfalls  in  dem  Verhältnis  des  Ein- 
kommens von  Rothschild  zu  dem  seines  Bergwerkdirektors  oder 
des  Einkommens  des  Fürsten  Schwarzenberg  zu  dem  seines  Ver- 
walters. 

Wenn  also  tatsächlich  die  Deckung  der  Bedürfnisse  des  Staates 
aufgebracht  wird  von  der  Arbeiterklasse  im  weitesten  Sinne,  so 
ergibt  sich,  daß  die  Wahlgesetzgebung  Österreichs  der  Gerechtig- 
keit geradezu  ins  Gesicht  schlägt.  In  demselben  Maße,  als  eine 
Klasse  mehr  beiträgt  zu  den  Staatslasten,  in  demselben  Maße  ver- 
liert sie  an  politischem  Einfluß,  und  diejenige  Klasse,  die  am  meisten 
leistet,  ist  vollständig  rechtlos. 

Aber  es  gibt  noch  eine  Last,  schwerer  als  alle  anderen.  Nicht 
nur  sein  Gut  schuldet  das  Volk  dem  „Vaterlande",  sondern  auch 
sein  Blut,  und  auch  diese  Last  ist  selbst  heute,  unter  dem  System 
der  allgemeinen  Wehrpflicht,  in  höchst  ungleicher  Weise  verteilt. 
Für  die  Meistbesitzenden,  für  den  hohen  Adel  und  die  Plutokratie. 
ist  der  Militärstand  eine  Ehre,  eine  angenehme  Ausrede  für  ihre 
Existenz,  jedenfalls  ein  Mittel,  ihr  Leben  angenehmer  zu  machen. 
Für  die  Sprößlinge  unseres  Geburts-  und  Geldadels  sind  die  hohen 
Offiziersstellen  und  die  militärischen  Sinekuren  reserviert.  Bei  der 
Arcierenleibgarde*)  dient  es  sich  entschieden  angenehmer  als  beim 
Infanterieregiment.  Auch  die  Bourgeoisie  hat  eine  Form  gefunden, 
ihren  Söhnen  den  Militärdienst  erträglich  zu  machen,  die  Ein- 
richtung der  Einjährig-Freiwilligen.  Nur  auf  dem  Arbeiter,  dem 
Bauer  und  einem  Teil  des  unteren  Mittelstandes  lastet  mit  voller 
Schwere  die  dreijährige  Dienstpflicht.  Dabei  darf  man  nicht  ver- 
gessen, was  das  Opfer  des  Militärdienstes  auch  wirtschaftlich  für 
die  Arbeiterfamilie  oder  Bauernfamilie  bedeutet.  Aber  derselbe 
Mann,  der  selbst  gedient  und  vielleicht  in  einer  Schlacht  Wunden 
davongetragen  hat,  der  seine  Söhne  als  Kanonenfutter  zur  Ver- 
fügung stellen  muß,  ist  unwürdig  des  Wahlrechtes.  So  wie  er  in 
der  Armee  von  dem  geborenen  Herrscher,  dem  adeligen  oder  gut- 
bürgerlichen Offizier,  sein  Kommando  erhielt,  so  empfängt  er  im 
zivilen  Leben  vom  Adel  und  von  der  Bourgeoisie  seine  Gesetze; 
hier  wie  dort  hat  er  zu  parieren  und  zu  kuschen. 

Bisherige  Versuche  einer  Wahlreform. 

Das  Wahlrecht  in  Österreich,  dessen  Schönheiten  wir  ge- 
schildert haben,  wurde  von  den  rechtlosen  Volksklassen  stets  als 
ein  drückendes  Unrecht  empfunden. 

*)   Die   aus   alten  hohen  Offizieren  bestehende  Leibgarde  des  Kaisers. 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht, 


Mit  dem  Erwachen  einer  Arbeiterbewegung  in  Österreich  hat 
auch  sofort  die  Agitation  für  das  allgemeine  Wahlrecht  begonnen, 

ist  wiederholt  zurückgetreten  hinter  drängenderen  Forderungen 
und  Immer  wieder  stärker  und  allgemeiner  geworden.  Die  Methode 

war  zu  verschiedeneu  Zeiten  verschieden.  Tausendc  von  Petitionen 
mit  vielen  Zehntausenden  von  Unterschriften  frißt  der  Staub  des 

Archivs  im  Abgeordnetenhaus.  Heute  freilich  petitioniert  die 
Arbeiterschaft  nicht  mehr;  sie  hat  gewußt,  sich  (iehör  zu  ver- 
schaffen auch  ohne  dieses  Mittel,  und  sie  wird  verstehen,  ihren 
Willen  durchzusetzen,  ob  die  Herren  da  drinnen  gutwillig  sich 
fügen  oder  nicht. 

Aber  auch  aus  der  Mitte  des  Parlaments  selbst  kamen  wieder- 
holt Reformvorschläge,  deren  Schicksale  folgende  Zusammen- 
stellung erzählt: 

1.  Antrag  Rechbauer*).  Art.  I.  Der  Reichsrat  besteht  aus  dem 
Länderhaus  und  Volkshaus. 

Art.  II.  Das  Länderhaus  bestellt  aus  den  kaiserlichen  Prinzen. 
Herrenhausmitgliedern  und  aus  den  vom  Landtag  zu  entsendenden 
Abgeordneten. 

Art.  III.  Das  Volkshaus  wird  gebildet  durch  unmittelbar  direkte 
Wahlen  der  sämtlichen  steuerzahlenden  Bevölkerung  des 
Reiches  in  der  Art,  daß  auf  50.000  Einwohner  ein  Vertreter  ent- 
fällt und  ein  Drittel  der  sämtlichen  Volksvertreter  von  den  Be- 
wohnern der  Städte  und  Märkte,  zwei  Drittel  von  den  übrigen 
Bewohnern  des  Reiches   direkt  und  unmittelbar   gewählt  werden. 

In  der  40.  Sitzung  der  V.  Session  vom  30.  März  1870  wurde  der 
Antrag  der  „geschäftsordnungsmäßigen  Behandlung  zugeführt", 
das  heißt  er  verschwand  spurlos. 

2.  Antrag  Schönerer,  Kronawetter,  Fürnkranz  und 
Steudl,  eingebracht  am  10.  Dezember  1880:  Das  Abgeordneten- 
haus soll  aus  400  Abgeordneten  bestehen,  gewählt  auf  Grund  des 
allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Wahlrechtes,  vom 
24.  Lebensjahre  an.  Auf  je  50.000  Seelen  entfällt  ein  Abgeordneter, 
unter  tunlichster  Berücksichtigung  des  Grundsatzes,  „daß  die  Be- 
wohner des  Wahlkreises  derselben  Nation  angehören".  Der  Antrag 
kam  zur  ersten  Lesung  am  29.  Jänner  1881  und  wurde  nach 
längerer  Debatte  (Au  spitz  namens  der  Liberalen  dagegen)  mit 
großer  Majorität  abgelehnt. 

3.  Antrag  Kronawetter,  S  c  h  ö  n  e  r  e  r,  Fürnkranz  und 
Steudl  (Gegenantrag  zu  Lienbachers  Vorschlag  der  Ein- 
beziehung der  Fünfguldenmänner),  am  28.  Jänner  1881:  Direkte 
Wahlen;  wahlberechtigt  in  der  Wählerklasse  der  Stadt-  und  Land- 
gemeinden ist  jedermann,  der  eine  direkte  Steuer  zu 
entrichten  hat.  Frste  Lesung  am  18.  Februar  1881,  dem  Wahl- 
reformausschuß zugewiesen.  Der  Ausschußbericht  (Hohen- 
wart,      Zeithammer)      beantragt      Übergang      zur      Tages- 

)  I)r.  Karl  Rechbauer  war  Abgeordneter  von  Graz,  gehörte  der 
sogenannten  deutschen  Autonomistenpartei  au:  ein  aufrechter  Demokrat 
gleich  Fischhof. 


54  Von  Taaffe  bis  Badcni. 


o  r  d  n  u  ii  g,  der  auch  in  der  Sitzung  vom  20.  März  1882  beschlossen 
wird. 

I  )em  Antrag  L  i  e  n  b  a  c  h  e  r  auf  Einbeziehung  der  F  ü  n  f- 
g  u  1  d  e  n  m  ä  n  n  e  r  stellte  die  Linke  ein  Minoritätsvotum 
(Berichterstatter  Herbst)  gegenüber,  welches  für  die  Städte 
5  Gulden,  für  die  Landgemeinden  2  Gulden  (beides  mit  Einbeziehung 
der  Staatszuschläge)  beantragte.  Der  Antrag  fiel  mit  150  gegen 
167  Stimmen,  während  der  Antrag  Ze  i  th  am  nre  r- L  ie  n- 
bucher  mit  178  gegen  118  Stimmen,  in  dritter  Lesung  mit  162 
gegen  124  Stimmen,  also  mit  einfacher  Majorität  a  n- 
g  e  n  o  m  m  e  n  wurde.  (20.  März  1882.)  Die  Ausdehnung  des  Wahl- 
rechtes war  in  dem  Antrag  der  Rechten  mit  der  Teilung  des 
böhmischen  Großgrundbesitzes  in  die  Gruppen  des  fidei- 
kommissarisclien  und  nichtfideikommissarischen  verknüpft,  und  um 
diesen  Punkt  handelte  es  sich  eigentlich  hauptsächlich. 

4.  Antrag  Kronawetter,  K  r  e  u  z  i  g,  L  u  e  g  e  r  am  16.  April  1886: 
„Die  Regierung  wird  aufgefordert,  mit  tunlichster  Beschleunigung 
einen  Gesetzesvorschlag  einzubringen  über  die  Änderung  der 
Verfassung  durch  Bildung  eines  auf  Grund  des  a  1 1- 
g  e  meinen,  gleichen  und  direkten  W  ahlrechtes 
und  die  Beseitigung  der  privilegierten  Kurien  zu 
wählenden  Volks  hause  s."  Kam  nie  zur  ersten  Lesung. 

Am  12.  Dezember  1888,  gelegentlich  der  Annahme  des  Wehr- 
gesetzes, verlangte  Abgeordneter  Lazansk  y*),  daß  der  An- 
trag auf  die  Tagesordnung  gestellt  werde.  Präsident  Smolka  er- 
widerte: „Er  werde  den  Augenblick  wahrnehmen,  wo  dies  wird 
geschehen  können."  Dieser  „Augenblick"  ist  nie  eingetreten. 

5.  Antrag  Plener,  Exner,  Wrabetz**),  am  5.  Oktober  1886: 
auf  Errichtung  von  Arbeiterkammern  und  von  diesen  zu 
wählenden  neun  Reichsratsabgeordneten.  Erste  Lesung  am 
1.  Februar  1887  (107.  Sitzung),  einem  besonderen  Ausschuß  über- 
geben; Enquete  vom  23.  bis  26.  Februar  1889.  Der  Antrag  wurde 
in  der  letzten  Session  mit  unwesentlichen  Abänderungen  wieder 
eingebracht  am  25.  Mai  1891. 

6.  Antrag  Fürnkranz,  Schönerer,  Fiegl  und  T  ü  r  k  am 
8.  Oktober  1886:  Unter  Belassung  der  Kurien  Ausdehnung  des 
Wahlrechtes  auf  alle,  die  eine  direkte  Steuer  ent- 
richten und  das  3  0.  Lebensjahr  zurückgelegt  haben. 
Direkte  Wahlen.  —  Der  Antrag  wurde  „geschäftsordnungs- 
mäßig  behandelt",  verschwand  also  spurlos. 

7.  Anträge  auf  Einführung  direkter  Wahlen  in  den 
Landgemeinden  wurden  eingebracht :  Von  T  i  1  s  e  r***)  am 
20.  April  1891,  von  P  1  e  n  e  r  an  demselben  Tage. 


*)   Graf  Leopold    L  a  z  a  n  s  k  y,    ein   Jungtscheche.    (Das    z    wird    ge- 
sprochen wie  „j"  im  Wort  Journal.) 

**)  Über  diesen  Antrag  der  Liberalen  siehe  später. 

:!r)  Dr.  Franz  T  i  1  s  e  r,  Obmann  des  Jungtschechenklubs,   (s  wird  wie 
„seh"  gesprochen.) 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht. 


F'titflkranz  erneuert  seinen  Antrag  (siehe  oben)  am  24,  April 
1891. 

Am  gleichen  Tage  bringt  Qeßrtiann  einen  ähnlichen  Antrag 
ein. 

s.  Antrag  Pernerstorfer  am  8.  Oktober  1891:  Es  sei  ein  vier- 
undzwanziggliedriger  Ausschuß  aus  dem  ganzen  Hause  zu  wählen, 
welcher  diesem  Vorschläge  zu  erstatten  hat  bezüglich  der  Ände- 
r  u  n  g  der  V  e  r  f  a  s  S  un  g  durch  Bildung  einer  auf  (irund  des 
allgemeinen,  direkten  und  gleichen  Wahlrechte  s 
zu  schaffenden  Volksvertretung  an  Stelle  des  gegenwärtigen  auf 
Steuerzensus  und  Privilegien  beruhenden  Abgeordnetenhauses. 
Kam  nie  auf  die  Tagesordnung. 

9.  Antrag  Slavik*)  am  16.  März  1893  (Antrag  der  Jungtschechen). 

Der  Antrag  der  Jungtschechen  beginnt  mit  der  obli- 
gaten „Rechtsverwahrung",  welche  zum  jungtschechischen  Zere- 
monial  gehört  und  lautet: 

Die  Vertreter  des  tschechischen  Volkes  haben  wiederholt  und  ins- 
besondere neuerdings  in  der  ersten  Sitzung  dieser  Sessionsperiode  er- 
klärt, daß  die  gegenwärtige  Verfassung  und  die  auf  Grund  derselben 
bestehende  Reichsvertretung  den  unverjährbaren  Rechten  der  Länder 
der  böhmischen  Krone,  wie  dieselben  durch  Krönungseide,  grundlegende 
Staatsakte  und  königliche  Zusicherungen  gewährleistet  sind,  durchaus 
widerspricht,  daher  diese  Verfassung  für  die  Vertreter  des  tschechi- 
schen Volkes  keine  rechtliche  Geltung  haben  kann.  Gestützt  auf  diese 
Rechtsüberzeugung,  welche  auch  in  der  a.  h.  Thronrede  vom  Jahre  1879 
Anerkennung  fand,  und  unter  Wahrung  der  vollsten  Aktionsfreiheit, 
mit  allen  gesetzlichen  Mitteln  diese  Verfassung  zu  bekämpfen  und  die 
Restituierung  der  Rechte  der  Länder  der  böhmischen  Krone  in  integrum 
anzustreben,  nehmen  die  Gefertigten  an  den  Arbeiten  der  Reichs- 
vertretung teil.  Insolange  aber  jenes  staatsrechtliche  Ziel  nicht  erreicht 
ist,  halten  es  die  Gefertigten  für  ihre  pflichtgemäße  Aufgabe,  im  Geiste 
der  fortschrittlichen  Tendenzen,  welche  die  tschechische  freisinnige 
Nationalpartei  in  ihren  programmatischen  Erklärungen  bereits  des 
öfteren  formuliert  und  veröffentlicht  hat,  wie  in  den  Landtagen  so  nicht 
minder  in  diesem  hohen  Hause  zu  wirken,  also  auch  dahin  zu  streben, 
daß  zum  mindesten  der  bestehende  Wahlmodus  auf 
eine  der  Gerechtigkeit  entsprechende  Basis  gestellt 
werde.  Diese  Basis  erblicken  die  Gefertigten  in  dem  allgemeinen 
Stimmrecht  und  stellen  daher  den  Antrag:  Das  hohe  Haus  wolle 
dem4  beiliegenden    Gesetzentwurf   seine    Genehmigung    erteilen. 

In  formaler  Beziehung  ist  dieser  Antrag  dem  Wahlreform- 
ausschuß  zuzuweisen. 

Der  Gesetzentwurf  lautet: 

„Gesetz,  betreffend  die  Wahl  der  Abgeordneten  in  das  Abgeord- 
netenhaus des  Reichrates. 

Mit  Zustimmung  beider  Häuser  des  Reichsrates  finde  Ich  anzuordnen 
wie  folgt: 

Artikel  1,  §§  6  und  7  des  (iesetzes  vom  21.  Dezember  1867,  Nr.  141 
R.-G.-Bl.,  werden  hiemit  außer  Kraft  gesetzt  und  es  tritt  an  deren 
eile   nachstehende  Bestimmung: 

')  „v"  wird  wie  „w"  ausgesprochen. 


56  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


§  6.  In  das  Haus  der  Abgeordneten  kommen  durch  Wahl  400  Mit- 
glieder, und  zwar  in  der  für  die  einzelnen  Königreiche  und  Länder 
auf  folgende  Art  festgesetzten  Zahl:  Für  das  Königreich  Böhmen  98, 
für  die  Markgrafschaft  Mähren  38,  für  das  Herzogtum  Ober-  und  Nieder- 
schlesien 10,  für  das  Königreich  Galizien  und  Lodomerien  mit  dem 
Herzogtum  Krakau  110,  für  das  Herzogtum  Bukowina  11,  für  das 
Königreich  Dalmatien  9,  für  die  Markgrafschaft  Istrien  5,  für  die 
Stadt  Triest  mit  ihrem  (iebiet  3,  für  die  gefürstete  Grafschaft  Görz 
und  Gradiska  4,  für  das  Herzogtum  Krain  8,  für  das  Herzogtum  Steier- 
mark 21,  für  das  Herzogtum  Kärnten  6,  für  die  gefürstete  Grafschaft 
Tirol  14,  für  das  Land  Vorarlberg  2,  für  das  Herzogtum  Salzburg  3, 
für  das  Erzherzogtum  Österreich  unter  der  Enns  45,  für  das  Erzherzog- 
tum Österreich  ob  der  Enns   13. 

Artikel  2.  Die  Reichsratswahlordnung  vom  2.  April  1873.  R.-G.-Bl. 
Nr.  41,  samt  deren  Anhang  sowie  die  sämtlichen  Gesetze,  wodurch 
dieselbe  abgeändert  und  ergänzt  wird,  treten  außer  Kraft. 

Artikel   3.   Reichsratswahlordnung. 

§  1.  Aktiv  wahlberechtigt  im  allgemeinen  für  das  Abgeordnetenhaus 
des  Reichsrates  ist  jeder  eigenberechtigte  österreichische  Staatsbürger. 
welcher  das  2  4.  Lebensjahr  vollstreckt  hat  und  von  diesem  Wahl- 
recht  nicht  ausgeschlossen  ist. 

§  2.  Vom  aktiven  Wahlrecht  sind  ausgeschlossen:  1.  diejenigen, 
welche  unter  Vormundschaft  oder  Kuratel  stehen;  2.  diejenigen,  über 
deren  Vermögen  der  Konkurs  eröffnet  ist,  solange  derselbe  nicht  auf- 
gehoben wurde ;  3.  diejenigen,  welche  eine  Armen  Versorgung 
aus  öffentlichen  Mitteln  genießen  oder  in  dem  der  Wahl 
unmittelbar  vorangegangenen  Jahre  genossen  haben.  Die 
Bestimmungen  des  §  6  des  Gesetzes  vom  15.  November  1867,  R.-G.-Bl. 
Nr.  31"),  bleiben  aufrecht. 

§  3.  Für  Personen  des  Soldatenstandes  des  Heeres  und  der  Marine 
ruht  das  aktive  Wahlrecht  so  lange,  als  dieselben  sich  bei  der  Fahne 
befinden. 

§  4.  Jeder  Wähler  kann  sein  Wahlrecht  nur  persönlich  und  nur  in 
einem  Wahlbezirk  ausüben. 

§  5.  Wählbar  ist  jeder  in  den  Wahllisten  eingetragene  Wähler, 
welcher  das  30.  Lebensjahr  vollstreckt  hat  und  seit  mindestens  drei 
Jahren  das  österreichische  Staatsbürgerrecht  besitzt. 

§  6.  Zum  Zwecke  der  Wahl  wird  jedes  der  Königreiche  und  Länder 
in  Wahlbezirke  geteilt,  von  denen  jeder  nur  einen  Abgeordneten  zu 
wählen  hat.  Die  Stimmenabgabe  geschieht  womöglich  in  Ortsgemeinden, 
bei  volkreichen  Ortsgemeinden  in  Unterabteilungen.  Mit  Ausschluß  der 
Enklaven  müssen  die  Wahlbezirke  zusammenhängend  und  geographisch 
tunlichst  abgerundet  sein  und  haben  mindestens  50.000,  höchstens 
70.000  Seelen  der  Bevölkerungszahl  zu  enthalten. 

§  7.  Jeder  Wähler  kann  sein  Wahlrecht  nur  in  dem  Wahlbezirk 
ausüben,  in  welchem  derselbe  zur  Zeit  der  Wahl  seinen  W'ohnsitz  hat. 

§  8.  In  jeder  Ortsgemeinde,  in  welcher  die  Stimmenabgabe  erfolgen 
soll,  sind  Wahllisten  anzulegen,  in  welchen  die  zum  Wählen  Berech- 
tigten nach  Zu-  und  Vornamen,  Alter,  Beschäftigung  und  Wohnort  ein- 
getragen werden.  Diese  Listen  sind  spätestens  vier  Wochen  vor  dem 
zur   Wahl    bestimmten   Tage   zu   jedermanns    Einsicht   aufzulegen,   und 


*)  Dieses  Gesetz  enthält  die  Bestimmungen  über  die  Folgen  der  Ver- 
urteilung wegen  Verbrechen. 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht.  57 


ist  dieser  zuvor  unter  Hinweisung  am"  das  Reklamationsrecht  bekannt- 
zumachen. 

§  9.  Die  Wahl  erfolgt  geheim  mittels  Stimmzettel. 

§  10.  Als  gewählt  erscheint  derienige,  welelier  die  absolute  Majori- 
tät aller  in  einem  Wahlbezirk  abgegebenen  Stimmen  hat.  Stellt  bei 
einer  Wahl  eine  absolute  Stimmenmehrheit  sieh  nicht  heraus,  so  ist 
nur  unter  den  Kandidaten  zu  wählen,  welehe  die  meisten  Stimmen  er- 
halten   haben.    Hei    Stimmengleichheit    entscheidet    das    Los. 

§  11.  Über  die  Gültigkeit  der  Wahl  entscheidet  das  Abgeordneten- 
haus des  Reichsrates.  Einwendungen  gegen  die  Wahl  müssen  längstens 
binnen  drei  Tagen  "ach  dem  Zusammentritt  des  Abgeordnetenhauses 
des    Reichsrates   demselben   überreicht    werden. 

§  12.  Die  allgemeinen  Wahlen  sind  in  jedem  einzelnen  Königreich 
oder  Lande  an  einem  Tage,  und  zwar  an  einem  Sonntag,  vorzu- 
nehmen. 

§  13.  Die  Anordnungen  bezüglich  der  Feststellung  der  Wahlbezirke, 
des  Verfassens  der  Wählerlisten,  des  Reklamationsverfahrens  und  der 
Vornahme  der  Wahl  werden  im  Wege  der  Landesgesetzgebung  be- 
stimmt. 

§  14.  Das  vorliegende  Gesetz  tritt  erst  dann  in  Kraft,  nachdem  die 
im  §  13  angeführten,  von  den  Landtagen  der  im  Reichsrat  vertretenen 
Königreiche  und  Länder  geschlossenen  Bestimmungen  in  Gesetzeskraft 
erwachsen  sind. 

§  15.  Mit  der  Durchführung  dieses  Gesetzes  wird  Mein  Minister  des 
Innern  beauftragt. 

Gewiß  ist  der  vorliegende  Gesetzentwurf  keineswegs  einwand- 
frei. Er  trägt  alle  Kennzeichen  des  Machwerks  einer  Bourgeois- 
Partei.  Vor  allem  haben  die  Jungtschechen  natürlich  das  Alter  der 
Wahlfähigkeit  auf  derselben  Höhe  —  24  Jahre  —  belassen,  welche 
nicht  den  Verhältnissen  der  Arbeiterschaft,  wohl  aber  den  Bedürf- 
nissen der  Bourgeoisie  angepaßt  ist.  Weiter  ist  der  Punkt  3  des 
§  2  auf  das  entschiedenste  zu  verwerfen.  Es  ist  eine  richtige 
Protzenidee,  daß  die  armen  Menschen,  welche  die  Opfer  der  Wirt- 
schaftsordnung sind  und  vom  heutigen  Staate  mit  einem  elenden 
Almosen,  „Armenunterstützung"  genannt,  abgefertigt 
werden,  ihrer  Rechte  als  Staatsbürger  verlustig  erklärt  werden 
sollen.  Das  Verbrechen  der  Gesellschaft,  welches  Tausende  auf  die 
elende  „öffentliche  Wohltätigkeit"  anweist,  wird  so  nicht  an  den 
Verübern  des  Verbrechens,  sondern  an  seinen  Opfern  gerächt. 
Wenn  aber  gesagt  wird,  diesen  Leuten  fehle  die  nötige  „Unab- 
hängigkeit", um  frei  und  unabhängig  zu  wählen,  so  ist  das 
gedankenlose  Faselei.  Jeder  „Vagabund",  der  heimatlos  von  Ort 
zu  Ort  zieht  um  Arbeit  zu  suchen,  ist  politisch  unabhängiger  als 
der  erbgesessene  Spießbürger,  der  nicht  einmal  einen  Versuch 
wagt,  gegen  die  Gevatterschaft  in  Opposition  zu  treten,  als  der 
wohlhabende  Kaufmann,  der  Rücksicht  auf  seine  Kundschaft  nimmt, 
und  gewiß  unabhängiger  als  der  Staats-  oder  Privatbeamte,  dessen 
Chef  sich  den  Stimmzettel  zeigen  läßt.  Auch  ist  nicht  einmal  die 
Befürchtung,  daß  das  Ergebnis  der  Wahl  durch  die  Stimmen  der 
ArmenunterstützLing  Genießenden  erheblich  beeinflußt  werden 
könnte,  das  eigentliche  Motiv  dieser  Bestimmung,  sondern  viel- 
mehr der   Hochmut   der   Besitzenden   ist   es,   welcher   sich   sträubt, 


58  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


die  politische  Gleichstellung  seiner  werten  Person  mit  dem  „Armen" 
anzuerkennen.  Diese  Bourgeoisie  vergißt,  daß  sie  selbst  die  eigent- 
liche Klasse  der  „Pfründner"  ist.  und  daß  sie  mitsamt  dem  hohen 
Adel  zum  guten  Teil  das  Wahlrecht  verlöre,  wenn  jeder  davon 
ausgeschlossen  wäre,  der  von  fremder  Arbeit  lebt. 

Aber  der  jungtschechische  Antrag  enthält  noch  eine  Bestim- 
mung, die  gänzlich  unannehmbar  ist,  weil  sie  geeignet  erscheint, 
den  ganzen  Entwurf,  selbst  für  den  Fall  seiner  Annahme,  dazu  zu 
verurteilen,  toter  Buchstabe  zu  bleiben.  Im  §  13  werden  alle 
Einzelheiten  über  die  Durchführung  der  Wahl,  insbesondere  aber 
die  Feststellung  der  Wahlbezirke  den  Landtagen 
überlassen.  Dann  aber  würde  es  von  jedem  der  17  Landtage  ab- 
hängen, wann  und  o  b  das  allgemeine  Wahlrecht  in  Kraft  tritt. 
Der  Kampf  um  die  Einteilung  der  Wahlbezirke  würde  gerade  auf 
jenen  Schauplatz  verlegt  werden,  wo  er  am  hitzigsten  sein  muß, 
weil  sich  die  Parteien  unmittelbar  und  allein  gegenüberstehen.  Es 
würde  aber  auch  eine  so  wichtige  Sache  gerade  den  Körperschaften 
überlassen  bleiben,  die  womöglich  noch  reaktionärer  sind  als  der 
Reichsrat,  und  schließlich  gäbe  es  wahrscheinlich  so  viele  Wahl- 
ordnungen als  „Königreiche  und  Länder"  in  unserem  lieben  Öster- 
reich. Die  Änderung  der  Reichsratswahlordnung  würde  in  jeder 
Session  jedes  Landtages  wieder  neu  auf  der  Tagesordnung  stehen 
und  die  Einteilung  der  Wahlbezirke  würde  wechseln  mit  der 
wechselnden  Majorität.  Nein,  die  Reichsratswrahlordnung  bis  in  alle 
Einzelheiten  ist  Sache  der  Reichsgesetzgebung,  das  ist  so 
klar,  daß  es  selbst  die  Jungtschechen  einsehen  müssen.  Wenn  sie 
das  Gegenteil  in  ihrem  Entwurf  vorgesehen  haben,  so  muß  man 
geradezu  auf  den  Verdacht  kommen,  daß  ihr  Antrag  für  sie  nur 
ein  Mittel  der  Agitation,  nur  ein  Mittel,  für  sich  im  Volke  Stimmung 
zu  machen,  ist,  daß  sie  es  aber  nicht  ernst  meinen  mit  dem  all- 
gemeinen Wahlrecht. 

Nun  denn,  die  Sozialdemokratie  hat  dafür  gesorgt,  daß  der 
Antrag  auf  allgemeines  Wahlrecht  mehr  geworden  ist,  als  ein 
demagogischer  Schachzug  der  Jungtschechen.  Die  Wahlrechts- 
bewegung ist  stärker  angewachsen  als  ihnen  lieb  ist  und  alle  ihre 
„staatsrechtlichen"  Schmerzen  und  der  dazu  gehörige  Spektakel 
treten  dagegen  in  den  Hintergrund  und  verblassen  vollständig. 

Schließlich  ist  an  dem  Antrag  der  Jungtschechen  noch  auszu- 
setzen, daß  die  Zahl  der  Abgeordneten  eine  auf  400  fixierte  ist. 
Das  richtige  Prinzip,  daß  auf  jeden  Wahlkreis,  welcher  50.000  bis 
70.000  Einwohner  umfaßt,  ein  Abgeordneter  entfallen  soll,  wird 
dadurch  auf  die  Dauer  unmöglich,  weil  in  dem  Maße,  wie  die  Be- 
völkerung wächst,  und  zwar  in  verschiedenen  Kreisen  mit  un- 
gleicher Schnelligkeit,  dieses  Verhältnis  verschoben  wird,  wenn 
nicht  durch  Vermehrung  der  Wahlkreise  und  der  Zahl  der  Ab- 
geordneten immer  wieder  eine  gleichmäßige  Verteilung  hergestellt 
wird.  Wie  die  Handhabung  in  der  im  Antrag  vorgeschlagenen  Weise 
wirkt,  sehen  wir  in  Deutschland,  wo  die  Verschiedenheit  der  Wahl- 
kreise eine  so  ungeheure  ist,  daß  sie  zu  den  größten  Ungerechtig- 
keiten führt. 


Das  allgemeine,   gleiche   und   direkte   Wahlrecht. 


9 


So  große  Mängel  aber  der  jungtschechische  Entwurf  haben  mag, 

SO  sind  sie  durchaus  leicht  zu  beseitigen,  und  wir  verwahren  uns 
\on  vornherein  dagegen,  daß  der  erprobte  Pharisäismus  der 
Deutschliberalen  und  der  Feudaler!  sieh  auf  diese  Mängel  berufe, 
um  den  Antrag  abzulehnen.  Auch  wenn  er  in  seiner  heutigen  Ge- 
stalt angenommen  würde,  wäre  es  noch  ein  ganz  ungeheurer 
Fortschritt  gegen  das  heute  geltende  Wahlsystem.  Jeder  Abgeord- 
nete, der  es  irgendwie  ernst  meint  mit  dem  Volksrecht,  der  sich 
nicht  der  Anteilnahme  an  der  Aufrechterhaltung  der  heutigen  un- 
gerechten, den  Volksinteressen  ins  Gesicht  schlagenden  Zuständen 
schuldig  machen  will,  hat  darum  die  Pflicht,  zunächst  für  den  jung- 
tschechischen Antrag  zu  stimmen  und  hernach  zu  suchen,  ihn 
durch  Beseitigung  seiner  Mängel  zu  verbessern. 

Um  dem  jungtschechischen  Antrag  entgegenzutreten,  verstecken 
sich  die  Gegner  des  allgemeinen  Wahlrechtes,  insbesondere  die 
Deutschliberalen,  hinter  das  Argument,  daß  einzelne  Kronländer, 
insbesondere  aber  Galizien,  einen  bedeutenden  Zuwachs  an  Ab- 
geordneten dadurch  erhielten  und  ihr  Übergewicht  auf  die  Gesetz- 
gebung zuungunsten  der  anderen  Länder  vermehrt  würde.  Wie 
sich  das  stellen  würde,  ergibt  folgende  Tabelle: 

Verteilung  nach  Kronländern  und  Kurien. 


K  r  o  n  1  a  n  d 


i 

■o 

2.2 

O 


Sj 


Hievon  aus  der 

Bevölkerung 
gewählt  (abge- 
rechnet Groß- 
grundbesitz 
und  Handels- 
kammern) 


Nach  dem 

Antrag  der 

Jungtschechen 

würden  aufs 

Kronland 

entfallen 


Niederösterreich  . 
Oberösterreich  . 
Salzburg  .... 
Steiermark     .    •    - 

Kärnten 

Krain 

Triest  und  Gebiet 
Görz  und  Gradiska 

Istrien      

Tirol 

Vorarlberg     .    .    . 

Böhmen 

Mähren 

Schlesien    .... 

Galizien 

Bukowina  .... 
Dalmatien  •   .   •   • 

Zusammen    . 


3 
1 
4 
1 
2 

1 
1 

5 

23 
9 
3 

20 
3 

1 


19 
6 
2 
8 
3 
3 
3 
1 
1 
5 
1 

32 

13 
4 

13 
2 
2 


8 
7 
2 
9 
4 
5 

2 
2 

8 

2 

30 

11 

3 

21 

3 

6 


37 

17 

5 

23 

9 

10 

4 

4 

4 

18 

3 

92 

36 

10 

63 

9 

9 


27 

13 
4 

17 
7 
8 
3 
3 
3 

13 
3 

62 

24 
7 

40 
5 
8 


45 

13 

3 

21 

6 

8 

3 

4 

5 

14 

2 

98 

38 

10 

110 

11 

9 


85  I    21 


118 


129 


353 


247 


400 


Es  zeigt  sich,  daß  allerdings  die  Zahl  der  Abgeordneten  für 
einige  Kronländer  vermindert  und  für  Galizien  erheblich  vermehrt 
würde.  Den  größten  Zuwachs  wird  Galizien,  Niederösterreich 
und  Böhmen  erfahren,  während  sich  für  Oberösterreich,  Steiermark 
und  Tirol  eine  Verminderung  ergibt.  Allerdings  würde  sich  dem- 
ich   das  Zahlenverhältnis   zuungunsten   der   innerösterreichischen 


60  \  oh  Taaffe  bis  Hadern. 


Länder  verschieben.  Wenn  man  aber  bedenkt,  daß  nicht  nur  das 
allgemeine,  sondern  auch  das  gleiche  Wahlrecht  eingeführt 
werden  soll,  daß  also  die  Gruppe  der  Großgrundbesitzer  und  der 
Handelskammern  wegfiele,  die  heute  durchaus  nicht  die  Vertreter 
der  Interessen  der  Bevölkerung  des  Kronlandes,  sondern  aus- 
schließlich der  Interessen  ihrer  kleinen  Clique  sind,  so  ergibt  sich 
ein  ganz  anderes  Bild.  Vergleicht  man  nämlich,  wie  wir  in  der 
obigen  Tabelle  getan  haben,  die  Zahl  der  Abgeordneten,  welche 
die  Kronländer  heute  haben,  ohne  die  beiden  Kurien  des  Groß- 
grundbesitzes und  der  Handelskammern  dazuzurechnen,  mit  der 
Zahl  der  Abgeordneten,  die  sie  nach  dem  Antrag  der  Jungtschechen 
zu  bekommen  haben,  so  ergibt  sich  ein  ganz  erklecklicher  Zu- 
wachs der  Abgeordneten,  die  aus  dem  Volke  gewählt  sind.  Dazu 
kommt,  daß,  während  die  40  Abgeordneten,  welche  heute  Galizien 
aus  den  Städten  und  Landgemeinden  in  den  Reichsrat  schickt,  in 
den  Klauen  der  Großgrundbesitzer  stecken  und  im  Polenklub, 
welcher  mit  seinen  63  Abgeordneten  als  eine  geschlossene,  reak- 
tionäre Körperschaft  dasteht,  einfach  Order  zu  parieren  haben, 
nach  Einführung  des  allgemeinen  Wahlrechtes  die  110  galizischen 
Abgeordneten  naturgemäß  nicht  nur  in  Polen  und  Ruthenen, 
sondern  auch  in  Vertreter  der  städtischen  und  landwirtschaftlichen 
Interessen  zerfallen  würden.  Diese  einzelnen  Gruppen  würden  sich 
an  die  verwandte  Interessengruppe  in  anderen  Kronländern  an- 
schließen und  die  Herrschaft  der  polnischen  Delegation  wäre  ge- 
brochen. Die  Vermehrung  der  Abgeordneten  aus  Galizien  bedeutet 
also  tatsächlich  nicht  eine  Verstärkung  des  Einflusses  der 
Schlachta,  wie  uns  die  Liberalen  glauben  machen  wrollen,  sondern 
eine  Schwächung  derselben,  ja  seine  Vernichtung. 

Der  „Bildungszensus". 

Einige  deutschliberale  Parteigänger  hat  die  öffentlich  an  sie 
gestellte  Frage,  wie  sie  sich  zum  allgemeinen  Wahlrecht  verhielten, 
in  arge  Verlegenheit  gebracht.  Dafür  einzutreten,  erlaubt  ihnen  der 
Plener  nicht;  dagegen  zu  sein,  bringt  sie  in  Gefahr,  den  Rest  von 
politischer  Reputation  zu  verlieren,  den  sie  etwa  noch  besitzen. 
Sie  wählten  den  Ausweg  zu  erklären,  daß  sie  wohl  mit  dem  all- 
gemeinen Wahlrecht  einverstanden  seien,  aber  daß  ihr  Gewissen 
nicht  zulasse,  den  Reichsrat  an  die  Analphabeten  Galiziens, 
der  Bukowina,  Dalmatiens  usw.  auszuliefern.  Darum  seien  sie  für 
den  „Bildungszensus",  das  heißt  das  Wahlrecht  solle  an  die  Kennt- 
nis des  Lesens  und  Schreibens  gebunden  sein. 

Das  klingt  ganz  hübsch  und  es  ließe  sich  nicht  viel  dagegen 
einwenden,  wenn  der  Mann,  der  es  nicht  der  Mühe  wert  hält,  sich 
diese  einfachsten  Kenntnisse  zu  verschaffen,  der  aus  eigenem 
Wollen  Analphabet  geblieben  ist,  als  eine  Art  Selbstverstümmler 
vom  Wahlrecht  ausgeschlossen  bliebe.  Stehen  aber  die  Dinge  so? 
Keineswegs.  Die  Analphabeten  sind  die  Opfer  unserer  Zustände 
in  Staat  und  Gesellschaft.  Sie  sind  dem  Fluch  der  Unwissenheit  ver- 
fallen aus  denselben  Gründen,  aus  welchen  sie  der  Unterdrückung 
und  dem  Elend  verfallen  sind.  Unsere  Volksschulgesetzgebung  ist 


Das  allgemeine,  Bleiche  und  direkte  Wahlrecht.  öl 


überdies  nur  eine  halbe  Tat  gewesen;  sic  hat  die  Lasten  der  Schule 
den  armen,  von  den  ( irnndlierren  ausgesaugten  Dorfgemeinden 
aufgewalzt  und  darum  ist  sie  in  (ializien  und  der  Bukowina,  in 
Krain  und  Dalmatien  zum  großen  Teile  auf  dem  Papier  geblieben. 
Die  polnischen  Magnaten,  die  im  Landtag  regieren,  sind  schuld 
an  der  Unwissenheit  wie  an  dem  Elend  im  Laude.  Es  wäre  also 
die  größte  Ungerechtigkeit,  die  armen  Leute,  die  man  gewaltsam 
von  den  notwendigen  Kenntnissen  ausgeschlossen  hat,  auch  noch 
vom  Wahlrecht  auszuschließen,  sie  mit  gebundenen  Händen  wehr- 
los ihren  Peinigern  auszuliefern. 

So  notwendig  übrigens  die  Volksschulbildung  für  das  politische 
Urteil  ist,  unentbehrlich  ist  sie  durchaus  nicht  und  mancher  in 
schwerer  Lebenserfahrung  geprüfte  Bauer,  der  weder  schreiben 
noch  lesen  kann,  wird  seine  Interessen  vielleicht  ganz  gut  verstehen 
und  gewiß  vernünftiger  wählen  als  sein  Herr  Graf,  dem  seine 
..Bildung"  ausschließlich  dazu  dient,  die  Liste  der  startenden  Renn- 
pferde und,  wenn  es  hoch  kommt,  den  Kurszettel  zu  studieren. 

Leider  würde  aber  die  Erteilung  des  Wahlrechtes  auch  ohne 
jede  Einschränkung  an  der  heutigen  Vertretung  dieses  Landes 
wenig  ändern.  Wir  können  die  besorgten  Liberalen  beruhigen,  ihre 
Lieblinge,  die  polnischen  Grafen,  kämen  ziemlich  alle  wieder  in 
den  Reichsrat.  Dafür  spricht  die  Erfahrung  in  Ostpreußen  und 
Posen,  wo  trotz  des  allgemeinen  Wahlrechtes  genau  dieselbe  Sorte 
von  Leuten  in  den  Reichstag  gewählt  wird  wie  in  Galizien.  Wir 
haben  also  kaum  Hoffnung,  daß  daran  zunächst  sich  viel  ändern 
werde.  Jede  Änderung  aber  wäre  ein  Fortschritt.  Der 
analphabetische  Bauer,  der  etwa  gewählt  würde,  wäre  gewiß  ein 
geringeres  Hindernis  für  eine  vernünftige  Gesetzgebung  als  die 
Gruppe  von  politischen  Analphabeten  und  verbissenen 
Gegnern  jedes  Fortschrittes,  die  heute  im  Polenklub  das  Parlament 
beherrscht. 

Wir  finden  es  nur  verwunderlich,  daß  die  Herren,  welche  so 
ängstlich  die  Analphabeten  vom  Wahlrecht  ausschließen  wollen, 
auf  diese  Idee  erst  verfallen,  wenn  vom  allgemeinen  Wahlrecht 
die  Rede  ist  und  warum  sie  diese  Maßregel  nicht  längst  für  die 
heutige  Wahlordnung  beantragt  haben.  Die  Zahl  der  Analphabeten, 
denen  das  Gesetz  die  politische  „Reife"  voll  zuerkennt,  ist  nämlich 
in  den  in  Frage  kommenden  Provinzen  auch  heute  eine  sehr  be- 
trächtliche. Sehen  wir  einmal  zu. 

Von  je    100  über   6   Jahre  alten  Personen   konnten 
weder  lesen  noch  schreiben: 

1880 
männlich 

Krain 4610 

Küstenland      .    .    .  52*63 

Oalizien 74'24 

Bukowina    ....  84*22 

Dalmatien    ....  82*06 

Das  furchtbare  Gewicht  dieser  Zahlen  wird  dadurch  einiger- 
maßen gemildert,  daß  die  Zahl  der  Analphabeten  in  allerdings  lang- 


1890 

weiblich 

männlich 

w  eiblich 

45*02 

34*12 

32*97 

61*08 

43*26 

50*80 

79'92 

64*87 

71*60 

90*79 

75*45 

83*10 

92*68 

75*75 

89*91 

62  Von  Taaffe  bis  Baduii. 


samem  Sinken  begriffen  ist  und  daß  sie  hauptsächlich  die  höhen 
Lebensalter  umfaßt. 

Aus  einer  Tabelle  des  Österreichischen  statistischen  Hand- 
buches für  1892  seht  hervor,  daß  für  das  ganze  Reich  fast  dic 
Hälfte  aller  Männer,  die  1890  schreiben  und  lesen  konnten,  unte  r 
2  4  Jahre  alt  waren,  also  noch  nicht  in  wahlfähigem  Alter 
standen.  Gerade  für  die  analphabetenreichen  Kronländer  ist  dieser 
Prozentsatz  gewiß  ein  noch  höherer.  Betrachten  wir  nun  die 
Ziffern,  welche  die  letzte  Volkszählung  über  die  Zahl  der  des 
Lesens  und  Schreibens  Kundigen  angibt  und  vergleichen  wir  sie 
mit  der  Wählerzahl,  so  erfahren  wir: 

in  Galizien      Bukowina  Dalffiatiei 

gab  es  des  Lesens  und  Schreibens 
kundige  Männer 736.333  61.344  51.145 

davon  in  wahlfähigem  Alter  höch- 
stens      368.000  30.000  25.000 

Wahlberechtigte  aber 550.000  54.438  53.400 

an  alphabetische  Wähler 
also  mindestens 182.000  14.000  28.400 

Wir  finden  also,  daß  bei  dem  heutigen  Wahlgesetz  in  der 
Bukowina  mehr  als  ein  Viertel,  in  Galizien  mehr  als 
ein  Drittel,  in  Dalmatien  über  die  Hälfte  der  Wahl- 
berechtigten Analphabeten  sind,  ohne  daß  es  jemals 
den  liberalen  Politikern  eingefallen  wäre,  an  der  Vorzüglichkeit 
dieser  famosen  Wahlordnung  oder  an  der  Tauglichkeit  der  von- 
den  Analphabeten  gewählten  Abgeordneten  auch  nur  im  geringsten 
zu  zweifeln. 

Die  angebliche  Furcht  vor  den  Analphabeten  ist  also  erst  auf- 
getaucht, um  als  Ausrede  zu  dienen  und  die  Wahlrechtsagitation: 
zu  verwirren.  Was  aber  nicht  gelingen  wird. 

Arbeiterkammern. 

Die  Bewegung  für  das  allgemeine  Wahlrecht  hat  auch  wieder 
ein  halbverschollenes  Schlagwort  der  Vergessenheit  entrissen.  Im 
Jahre  1886  empfand  die  liberale  Partei  das  Bedürfnis,  sich  billig 
bei  der  Arbeiterschaft  populär  zu  machen  und  die  Herren 
Plener,  Exner  und  Wrabetz  brachten  einen  Antrag  auf 
Errichtung  von  26  Arbeiterkammern  ein,  welchen  —  allen  zu- 
sammen —  9,  sage  und  schreibe  neun  Abgeordnetenmandate 
gewährt  werden  sollten.  Der  Antrag  wurde  nach  den  Neuwahlen; 
wieder  eingebracht,  die  Christlichsozialen  (Liechtenstein-Pattai) 
stimmten  ihm  zu,  aber  man  hörte  nichts  weiter  von  ihm.  Am  Tage 
der  Rathausversammlung  in  Wien  verkündeten  offiziöse  Blätter, 
daß  die  Regierung  sich  mit  einem  Gesetzentwurf  über  Arbeiter- 
kammern beschäftige  und  seither  spukt  dieser  Plan  in  allen  mög- 
lichen Formen  in  den  Blättern. 

Fs  ist  hier  nicht  der  Platz,  ausführlich  darauf  einzugehen, 
welche  Aufgabe  „Arbeiterkammern",  wie  sie  im  Jahre  1872  von 
der  österreichischen  Arbeiterschaft  gewünscht  wurden,  haben  und! 


Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht. 


wie  sicli  die  liberalen  Vorschläge  dazu  verhalten.  Gesagt  sei  nur, 
daß  der  Antrag  Plener-Exner* Wrabetz  eine  Einrichtung 
vorschlägt,  gebildet  auf  Grund  eines  engherzigen  Wahlrechtes. 
ausgestattet  ausschließlich  mit  Scheinbefugnissen,  kurz  Einrich- 
tungen, lediglich  dazu  bestimmt,  den  Arbeitern  Sand  in  die  Augen 
zu  streuen.  Dies  vom  sozialpolitischen  Standpunkt. 

Vom  eigentlichen  politischen  Standpunkt  gesehen,  als  Wahl- 
reform, würden  diese  Arbeiterkammeru  eine  lächerlich  geringe  Zahl 
von  Mandaten,  aber  kein  Wahlrecht  gewähren;  der  Wert  des 
Wahlrechtes  iür  die  Agitation  und  Organisation  ginge  gänzlich 
verloren.  Dieser  „Ausbau  der  Interessenvertretung",  sofern  er 
überhaupt  ernstlich  gemeint  ist,  sollte  nur  dazu  dienen,  das  gegen- 
wärtige Wahlunrecht  zu  konservieren,  indem  seine  gröbste  Un- 
gerechtigkeit wohl  nicht  beseitigt,  aber  überkleistert  wird.  Die 
Arbeiter  sollen  ein  „Wahlrecht"  erhalten,  ohne  daß  die  Mandate 
der  heutigen  Abgeordneten  gefährdet  werden,  ja  ohne  daß  sie  um 
sie  mit  den  Arbeitern  kämpfen  müßten.  Und  überdies  —  die  Mil- 
lionen von  Arbeitern  sollen  genau  so  viel  Abgeordnete  wählen 
dürfen  wie  die  179  Großgrundbesitzer  Mährens,  ja  fast  doppelt  so 
viel  als  die  45  fideikommissarischen  Großgrundbesitzer  Böhmens! 
Das  ist  ein  Hohn,  nicht  einmal  eine  „Abschlagszahlung". 

Dazu  kommt  noch,  daß  selbst  dieser  elende  Schwindel  von 
Wahlrechtszuteilung  nicht  einmal  politisch  möglich  ist.  Von  den 
5,700.000  Männern  im  wahlfähigen  Alter  haben  heute  nur  1,730.000 
das  Wahlrecht.  Vier  Millionen  sind  rechtlos.  Das  Wahlrecht  für  die 
Arbeiterkammern  sollen  männliche,  versicherungspflichtige  Arbeiter 
im  Alter  von  über  24  Jahren  haben.  Deren  Zahl  ist  aber  nach  der 
heutigen  Sachlage  geringer  als  eine  Million.  Es  würden  noch  immer 
über  drei  Millionen  Männer  übrigbleiben,  die  nicht  einmal  jenen 
Schatten  von  Recht  hätten  wie  die  versicherungspflichtigen 
Arbeiter.  Unter  diesen  vollständig  Rechtlosen  befänden  sich  aber 
die  Bauern  und  Kleingewerbetreibenden,  die  wreniger  als  5  Gulden 
Steuer  zahlen,  und  diese  kämen  somit,  wenigstens  dem  äußeren 
Anschein  nach,  in  eine  ungünstigere  Lage  als  die  Lohnarbeiter. 
Das  aber  ist  eine  politische  Unmöglichkeit,  die  sich  weder  durch- 
setzen, noch  gar  festhalten  läßt,  und  diese  Konsequenz  des  Vor- 
schlages, der  heute  von  den  Liberalen,  den  Christlichsozialen  und 
der  Regierung  mit  vorgeblichem  Ernst  ins  Auge  gefaßt  wird,  ent- 
hüllt ihn  als  politische  Finte,  die  ebenso  reaktionär  als  un- 
geschickt ist. 

Als  im  Jahre  1886  der  Arbeiterkammerschwindel  zum  erstenmal 
auftrat,  faßte  die  Arbeiterschaft  in  mehreren  Versammlungen  ihr 
Urteil  in  einer  Resolution  zusammen,  welche  noch  heute  alles 
Nötige  sagt  und  die  also  lautet: 

„In  Erwägung,  daß  eine  korporative  Vertretung  der 
Lohnarbeiter  nur  dann  einen  ausgedehnten  Wert  hat,  wenn  die- 
selbe ausgerüstet  ist  mit  ausgedehnten  Befugnissen  zur  Erhebung 
der  Lage  der  arbeitenden  Klasse,  zur  bestimmenden  E  i  n- 
i  1  n  B  nähme  auf  die  Arbeit erschUtZ  g  e  s  e  t  z  z  e  b  u  n  g  und 
ihre    ehrliche    Durchführung,    auf    die    Ernennung    und    Kon- 


64  Von  Taaffe  bis  Hadern. 


trolle  der  Gewerbeinspektoren  und  mit  der  Machtvollkommenheit,  sich 
der  Organe  der  staatlichen  und  kommunalen  Verwaltung  zu  diesen 
Zwecken  zu   bedienen; 

in  Erwägung,  daß  eine  zielbewußte  Vertretung  der  Arbeiterschaft 
nur  zustande  kommen  kann,  wenn  durch  die  vorbereitende  Tätigkeit 
von  Qewe  rkver  einen  und  Arbeiterverbänden  das 
Klassenbewußtsein   ein   allgemeines  und  deutliches   geworden    ist: 

in  Erwägung,  daß  der  von  liberaler  Seite  eingebrachte  Gesetz- 
entwurf über  die  Errichtung  von  Arbeiterkammern  diesen  Voraus- 
setzungen keineswegs  entspricht,  seine  einzelnen  Bestim- 
mungen, sowohl  was  die  Kompetenzgrenzen  der  Kammern,  als  was 
das  aktive  und  passive  Wahlrecht  in  dieselben  anbelangt,  vom  eng- 
herzigsten Hourgeoisstandpunkt  und  von  laienhaftem  Dilettantismus 
diktiert  sind;  daß  Parteien,  welche  die  bei  uns  geübte  Handhabung 
des  Vereins-  und  Koalitionsgesetzes  zustimmend  oder  stillschweigend 
zulassen,  der  ernste  Wille  zur  Ermöglichung  einer  Organisation  der 
Arbeiterschaft   überhaupt   nicht  zuzutrauen   ist: 

in  schließlicher  Erwägung,  daß  das  winzige  Ausmaß  von  parla- 
mentarischer Vertretung,  welches  der  Gesetzentwurf  den  Arbeitern 
gönnt,  durch  den  indirekten  Wahlmodus  nicht  geeignet  ist,  den  wich- 
tigsten und  wesentlichsten  Vorteil  des  allgemeinen  Stimmrechtes  — 
die  Ermöglichung  der  politischen  Erziehung  und  der  freien  Diskussion 
zu  erfüllen; 

erklärt  die  heutige  Volksversammlung,  daß  der  am  5.  Oktober  ein- 
gebrachte Gesetzentwurf  über  die  Errichtung  von  Arbeiterkammern  in 
keiner  Weise  den  Anforderungen,  welche  an  eine  zweckdienliche  Ver- 
tretung der  Interessen  der  Lohnarbeiter  gestellt  werden  müssen,  ent- 
spricht und  daß  das  Proletariat  seine  bestimmte,  immer  und  immer 
wiederholte  Forderung  nach  dem  allgemeinen,  gleichen  und  direkten 
Wahlrecht  niemals  für  das  Linsengericht  eines  dürftigen  Zubaues  an 
die  gegenwärtige   Interessenvertretung   aufgeben  werde." 

Schlußwort. 

Welches  Schicksal  der  jungtschechische  Antrag  auf  allgemeines 
Wahlrecht  im  Abgeordnetenhaus  haben  wird,  läßt  sich  natürlich 
nicht  voraussehen.  Soviel  aber  können  wir  mit  Sicherheit  vorher- 
sagen: Das  „objektive  Verfahren",  mittels  welchem  das 
Präsidium  gewöhnlich  unangenehme  Anträge  konfisziert  und  dem 
Papierkorb  überantwortet,  wird  sich  diesmal  nicht  an- 
wenden lassen.  Herr  Baron  Chlumecky  wird  den  jung- 
tschechischen Antrag  auf  die  Tagesordnung  setzen  müssen,  ob 
es  ihm  genehm  ist  oder  nicht.  Und  zwar  bald.  Noch  wäre  die 
Schwierigkeit  zu  erörtern,  ob  nicht  die  Annahme  des  Antrages  eine 
Zweidrittelmehrheit  erfordere.  Die  Wahlreform  Zeithammer,  welche 
den  böhmischen  Fideikommissaren  neue  Privilegien  gab,  die  Wahl- 
reform Lienbacher,  welche  den  Fünfguldenmännern  das  Wahlrecht 
verschaffte,  sie  kam  mit  einfacher  Majorität  zustande.  Wie  die 
Herren  Staatsweisen  darüber  entscheiden  mögen  und  ob  sich  dafür 
innerhalb  des  Parlaments  eine  Mehrheit  finde:  Für  das  all- 
gemeine, gleiche  und  direkte  Wahlrecht  gibt  es 
bereits  eine  Zweidrittelmehrheit  außerhalb  des 
Parlaments,   die   Zweidrittelmehrheit    des   arbei- 


Die  Frage  der  Arbeiterkammern  in  Hainfeld. 


t  c  ii  d  e  n  V  o  1  k  e  s,  d  i  e  Z  w  e i dr i t  tel  m e h  r  h e  i i  der  b  i  s- 

li  e  r  R  e  ch  1 1 0  se  tl.  Li  n  d  diese  Z  w  e  i  d  r  i  t  t  e  i  m  c  h  r  li  e  i  t 
w  i  r  d  ihre  S  1 1  in  m  e  n  gelten  d  Z  u  ffl  a  c  li  e  n  \v  ls$e  n.  Das 
allgemeine  Wahlrecht  wird  auch  in  Österreich  durchgesetzt  werden. 

so  oder         so. 


Die  Frage  der  Arbeiterkammern  in 

Hainfeld. 

Parteitag  Hainfeld  1  8  88*). 

Über  den  vorliegenden  Gegenstand  der  Tagesordnung  haben 
sich  die  Arbeiter  Österreichs  vor  mehr  als  anderthalb  Jahren  in 
ganz  klarer  und  unzweideutiger  Weise  in  Dutzenden  von  Ver- 
sammlungen ausgesprochen.  Die  Arbeiter  sind  schon  von  vorn- 
herein der  Ansicht  gewesen,  daß  die  Arbeiterkammern  nur  dann 


*)  In  dem  Bruderkampf  zwischen  „Radikalen"  und  „Gemäßigten",  der 
durch  die  Einigung  in  Hainfeld  ein  Ende  fand,  hatte  die  Frage  des  Wahl- 
rechtes eine  große  Rolle  gespielt.  Während  die  „Gemäßigten"  das  all- 
gemeine Wahlrecht  nach  .den  deutschen  Erfahrungen  als  ein  wichtiges 
Mittel  der  Erweckung  der  Arbeiterschaft  ansahen,  wobei  seine  Bedeutung 
gewiß  oft  übertrieben  wurde,  lehnten  es  die  „Radikalen"  entschieden  ab. 
Die  Liberalen  suchten  nun  die  Arbeiter  für  sich  zu  gewinnen,  indem  sie 
ihnen  wohl  das  allgemeine  Wahlrecht  nicht  bewilligen,  aber  statt  dessen 
eine  Vertretung  im  Parlament  durch  „Arbeiterkammern"  geben  wollten, 
die  von  den  Arbeitern  als  eine  Institution  zur  Vertretung  der  sozialen 
Interessen  der  Arbeiter  gefordert  worden  war.  (Darüber  ist  in  der  vorher 
abgedruckten  Wahlrechtsbroschüre  Adlers  das  wichtigste  gesagt.)  Auf  dem 
Parteitag  in  Hainfeld  wurde  sowohl  in  der  Debatte  über  die  Prinzipien- 
erklärung wie  in  der  über  die  „politischen  Rechte"  selbstver- 
ständlich auch  über  das  allgemeine  Wahlrecht  gesprochen.  In  der  Prin- 
zipienerklärung"  ist  ausdrücklich  folgender  Punkt  enthalten: 

3.  Ohne  sich  über  den  Wert  des  Parlamentarismus,  einer  Form  der 
modernen  Klassenherrschaft,  irgendwie  zu  täuschen,  wird  sie  das  a  1 1- 
gemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht  für  alle  Ver- 
tretungskörper mit  Diätenbezug  anstreben,  als  eines  der  wichtigsten 
Mittel  der  Agitation  und  Organisation. 

Selbstverständlich  hat  auch  Adler  in  seiner  Rede  zur  Prinzipienerklärung 
vom  allgemeinen  Wahlrecht  gesprochen,  das  er  ja  noch  gegen  die  Argu- 
mente der  „Radikalen"  verteidigen  mußte.  (Siehe  darüber  seine  Rede  im 
Bd.  VI,  Seite  51  f.  und  besonders  Seite  52  und  54.) 

Auch  beim  nächsten  Punkt:  „Die  politischen  Rechte",  wurde  natürlich 
über  das  allgemeine  Wahlrecht  gesprochen  und  es  ist  in  der  Resolution 
üher  die  politischen  Rechte  folgende  Forderung  nach  dem  Wahlrecht  ent- 
halten: 

4.  Die  Aufhebung  des  Monopols  der  Besitzenden  auf  das  politische 
Wahlrecht  durch  die  Einführung  des  allgemeinen,  gleichen,  direkten  und 
geheimen  Wahlrechtes  (und  zwar  vom  20.  Lebensjahr  an,  wo  die  Ver- 
pflichtung zur  Blutsteuer  beginnt),  als  eines  wichtigen  Mittels  der  Agi- 
tation und  Organisation,  ohne  sich  jedoch  über  den  Wert  des  Parla- 
mentarismus irgendwie  zu   täuschen... 

Adler,  Briete.   X.  Bd.  5 


66  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


einen  Wert  haben,  wenn  sie  einen  Schritt  in  der  Organisation  der 
Arbeiter  bedeuten  und  daß  sie,  wenn  sie  diese  Funktionen  nicht  er- 
füllen, einfach  wertlos  sind.  Freilich  hat  noch  —  und  da  möchte 
ich  ein  Moment  aus  der  Geschichte  der  Arbeiterkammern  heraus- 
greifen —  zu  jener  Zeit,  als  der  Gedanke  der  Errichtung  derselben 
in  Österreich  überhaupt  aufgetaucht  ist,  die  Idee  einer  Vertretung 
der  Arbeiterschaft  im  Parlament  einen  gewissen  Reiz  gehabt,  und 
es  hat  daher  auch  die  Idee,  Arbeiterabgeordnete  auf  dem  Wege  der 
Arbeiterkammern  dorthin  zu  entsenden,  vielen  Anklang  gefunden. 

Man  hat  zu  jener  Zeit  eben  noch  den  Parlamentarismus  über- 
schätzt, indem  man  erwartet  hat,  daß  von  diesen  Abgeordneten  bei 
dem  heutigen  Parlamentarismus  etwas  für  die  Arbeiterklasse  Ver- 
nünftiges durchgesetzt  werden  könne.  Heute  wissen  wir,  daß  für 

Adler  legte  in  seiner  Begründung  dieser  Resolution  seine  Anschauungen 
nur  in  einer  kurzen  Polemik  dar.  (Siehe  Bd.  VI,  Seite  64  und  65.) 

Aber  daneben  wurde  auch  noch  ein  eigener  Punkt:  „Arbeiterkammern", 
auf  die  Tagesordnung  gestellt,  worüber  Heinrich  G  e  h  r  k  e  referierte.  In 
der  Debatte  dazu  sprach  auch  Adler.  Das  nähere  über  diese  Frage  enthält 
schon  die  Wahlrechtsbroschüre  vom  Jahre  1893,  die  wir  oben  abdrucken, 
in  dem  Kapitel  „Arbeiterkammern".  Auch  die  dort  abgedruckte  Resolution 
der  Protestversammlungen  gegen  den  am  5.  Oktober  1886  eingebrachten 
Antrag  Plener  ist  im  wesentlichen  mit  der  von  Gehrke  beantragten  Reso- 
lution gleich.  Adler  hat  übrigens  schon  1886  über  die  Arbeiterkammern 
eine  eigene  Broschüre  geschrieben,  „Die  Arbeiterkammern  und 
die  Arbeite  r",  die  in  dem  fünften  Heft  dieser  Adler-Schriften  „Victor 
Adler  über  Fabrikinspektion,  Sozialversicherung  und 
Arbeiterkammern"  (Bd.  V,  Seite  155  bis  181)  abgedruckt  ist.  Dort 
sind  auch  mehrere  Artikel  abgedruckt,  die  Adler  in  der  „Gleichheit"  über 
diese  Frage  geschrieben  hat,  und  zwar  „Arbeiterversammlungen  über  die 
Arbeiterkammern"  („Gleichheit"  vom  15.  Jänner  1887),  „Die  erste  Lesung 
des  Gesetzentwurfes"  („Gleichheit"  vom  5.  Februar  1887),  „Kritik  der  ersten 
Lesung"  („Gleichheit"  vom  12.  Februar  1887),  „Die  parlamentarische  En- 
quete über  Arbeiterkammern"  (1.  März  1889)  und  schließlich  der  Artikel 
„Konservative  Utopien"  vom  8.  März  1889,  der  sich  mit  den  christlich- 
sozialen Anschauungen  zu  dieser  Frage  beschäftigte.  Bekanntlich  sind 
nach  der  Revolution  in  der  Republik  Deutschösterreich  von  dem  ersten 
Minister  für  soziale  Verwaltung,  Ferdinand  H  a  n  u  s  c  h,  wirkliche  Arbeiter- 
kammern —  „Kammern  für  Arbeiter  und  Angestellte"  —  in  allen  Bundes- 
ländern geschaffen  worden. 

Die  von  Gehrke  erwähnte  Petition,  auf  die  dann  auch  Adler  zu  sprechen 
kommt,  wurde  am  26.  August  1872  von  einer  großen  Volksversammlung 
beim  Schwender  beschlossen.  Diese  Petition  verlangte  aber  wirkliche 
Arbeiterkammern   für   sozialpolitische   Aufgaben,   nicht   Wahlkorporationen. 

Heinrich  Gehrke,  der  der  Reierent  war,  wurde  1835  in  Hannover  ge- 
boren, kam  1854  als  Sattler  nach  Wien,  war  nach  1867  in  dem  Arbeiter- 
bildungsverein Ausschußmitglied;  er  gehörte  damals  der  Lassalleschen 
Richtung  an.  Bei  der  großen  Demonstration  vor  dem  Parlament  am  13.  De- 
zember 1869,  die  der  Arbeiterschaft  das  Koalitionsrecht  brachte,  gehörte 
er  der  Deputation  an  den  Grafen  Taaffe  an,  wurde  in  dem  großen  Hoch- 
verratsprozeß nach  sieben  Monaten  Untersuchungshaft  zu  zwei 
Monaten  schweren  Kerkers  verurteilt.  Am  8.  März  1917  ist  er,  82  Jahre  alt, 
gestorben. 


Die  Präge  der  Arbeiterkammern  In  Hainfeld.  81 


uns  nicht  das  Gewähltwerden,  sondern  nur  das  Wählen  seihst  einen 
Vorteil  bietet,  und  wenn  man  uns  das  Wahlrecht  nehmen  und  etwa, 
wie  dies  schon  heute  im  Herrenhaus  der  Fall  ist,  eine  Anzahl  von 
Abgeordneten  einfach  durch  Ernennung  in  das  Abgeordnetenhaus 
berufen  würde,  so  wäre  uns  das  völlig  gleichgültig.  Uns  handelt 
es  sich  nur  um  die  organisatorische  Seite  des  Wahlrechtes,  aber 
nicht  um  diejenige  Seite,  welche  vom  Hoden  des  Parlaments  viel 
erwartet.  Wenn  aber  die  Arbeiterkammern  zur  Organisation  der 
Arbeiter  etwas  beitragen  sollen,  ist  vor  allem  notwendig,  daß  die 
Zusammensetzung  und  die  Wahl  in  die  Arbeiterkammern  in  einer 
Weise  erfolgt,  welche  eine  solche  Organisation  ermöglicht.  In 
diesem  Gesetzentwurf  ist  aber  gerade  dieser  Punkt,  ich  möchte 
sagen,  mit  den  raffiniertesten  Mitteln  hinausgemaßregelt  worden. 

Alle  Paragraphe,  die  etwa  eine  solche  Organisation  anbahnen 
könnten,  sind  aus  dem  Gesetzentwurf  entfallen.  Derselbe  stellt 
weiters  Bezirke  von  einer  Größe  auf,  die  eine  ordentliche  Wahl- 
agitation unmöglich  machen,  er  sprxht  nämlich  von  einem  Handels- 
kammerbezirk,  und  weiter  beschränkt  er  das  Wahlrecht  auf  jene 
Arbeiter,  welche  durch  zwei  Jahre  fortwährend  in  Arbeit  gewesen 
sind,  und  Sie  wissen  am  besten,  welch  eine  Beschränkung  das  an 
und  für  sich  bietet.  (Sehr  richtig!)  Es  sind  dadurch  einfach  alle  un- 
gelernten Arbeiter  und  von  den  gelernten  sehr  viele,  die  nicht  zu 
dem  Stocke  der  Arbeiter  gehören,  die  schließlich  jede  Fabrik 
haben  muß,  einfach  ausgeschlossen.  In  dem  Gesetzentwurf  ist  in 
keiner  Weise  dafür  vorgesorgt,  daß  Arbeiterwählerversammlungen 
sowie  die  W'ählerversammlungen  für  den  Reichsrat  unbehindert 
tagen  können. 

Es  können  also  auch  solche  Wählerversammlungen  auf  Grund 
unseres  famosen  Versammlungsgesetzes  verboten  werden,  so  wie 
dies  mit  allen  unseren  übrigen  Versammlungen  geschieht,  und  wenn 
dies  alles  noch  nichts  wäre,  so  ist  die  Bestimmung  des  Gesetz- 
entwurfes, daß  die  Wrahl  in  der  Weise  erfolgen  soll,  daß  jeder 
Arbeiterwähler  seinen  Wahlzettel  mit  seiner  Namensunterschrift 
einreicht,  vollständig  genügend,  um  den  Gesetzentwurf  zu  charak- 
terisieren. (Gewiß.)  Man  beruft  sich  hiebei  auf  die  Handels-  und 
Gewerbekammer.  Ja,  dort  geht  er  ganz  gut,  denn  der  Fabrikant 
oder  Gewerbsmann  wird  nicht  gemaßregelt,  ob  er  nun  für  einen 
liberalen  oder  zünftlerischen  Handelskammerabgeordneten  stimmt. 
Etwas  anderes  aber  wäre  es  bei  den  Arbeitern,  und  es  wäre  eine 
ganz  famose  Geschichte,  wenn  der  Regierungsvertreter,  der  ja  bei 
dem  Skrutinium  dabei  sitzt,  eine  Liste  jener  Arbeiter  bekäme,  die 
für  einen  Kandidaten  zu  stimmen  gewagt  haben,  der  vielleicht  nach 
oben  unangenehm  ist.  Außerdem  könnte  —  und  auch  in  dieser 
Richtung  ist  nichts  vorgesehen  —  ein  solcher  glücklich  gewählter 
Arbeiterkamrnerrat  (Heiterkeit)  auf  Grund  des  Ausnahmsgesetzes 
oder  sonst  eines  unserer  vielen  Gesetze  ausgewiesen  werden  und 
diejenigen,  die  ihn  gewählt  haben,  würden  jedenfalls  Unannehm- 
lichkeiten haben.  Wir  kennen  ja  das,  ich  brauche  das  gar  nicht 
weiter  auszuführen. 

5* 


Von  Taaffe  bis  Badeoi. 


Wie  nun  ein  solcher  Gesetzentwurf  für  unsere  Organisation 
irgendeinen  Wert  haben  soll,  ist  absolut  nicht  abzusehen.  Mit  einem 
solchen  Gesetz  kommen  auf.  einmal. jene  Leute,  die  das  Vereins- 
und Versammlungsgesetz  und  die  Ausnahmsgesetze  gemacht  haben. 
dieselben  Leute,  die  heute  während  aller  parlamentarischen  Ver- 
handlungen nicht  ein  Wort  für  die  Maßregelungen  der  Arbeiter 
haben,  und  glauben,  wir  werden  das  ernst  nehmen.  Die  Leute  halten 
uns  geradezu  für  Kinder.  (Heiterkeit.) 

Nun  ist  es  aber  unbedingt  nötig  auszusprechen,  daß  wir  diesen 
( Gesetzentwurf  nicht  ernst  nehmen,  daß  wir  die  Leute,  die  dahinter 
stehen,  klar  durchschauen  und  wissen,  was  sie  wollen.  Sie  glauben, 
daß  die  Arbeiter  heute  noch  so  leicht  zu  gewinnen  sind,  wie  vor 
20  Jahren.  Es  ist  kein  Zweifel,  wenn  zur  Zeit,  wo  die  vom  Genossen 
(i  e  h  r  k  e  erwähnte  Petition  eingebracht  wurde,  ein  solcher  Gesetz- 
entwurf unterbreitet  worden  wäre,  würde  man  das  immerhin  als 
eine  bedeutende  Errungenschaft  und  als  ein  Entgegenkommen  der 
betreffenden  Partei  gegenüber  der  Arbeiterschaft  angesehen  haben. 
Aber  warum  wäre  das  geschehen?  Weil  die  Arbeiterschaft  Öster- 
reichs  zu  jener  Zeit  weder  die  liberale  noch  die  konservative  Partei 
in  Österreich  gekannt  hat.  Heute  aber  kennen  die  Arbeiter  diese 
Parteien,  ihre  Ziele  —  von  Personen  wollen  wir  gar  nicht  reden  — 
und  wissen,  was  sie  von  ihnen  zu  erwarten  haben.  Heute  ist  daher 
ihrer  Liebe  Müh'  umsonst. 

Ich  möchte  Ihnen  auch  mitteilen,  in  welcher  Weise  der  Gesetz- 
entwurf im  Parlament  behandelt  wurde.  Erst  einige  Monate  oder 
gar  ein  Jahr,  nachdem  der  Gesetzentwurf  eingebracht  worden  war, 
wurde  ein  Ausschuß  niedergesetzt,  dieser  Ausschuß  hat  binnen 
einem  Jahre  ein  Subkomitee  gewählt,  dieses  Subkomitee  hat  einen 
neuen  Gesetzentwurf  ausgearbeitet,  hat  wieder  an  den  Ausschuß 
referiert  (Heiterkeit),  und  die  Regierung,  das  muß  ich  konstatieren, 
hat  bis  heute  nicht  den  Mund  aufgemacht.  Bis  heute  hat  sie  noch 
nicht  gesagt,  ob  sie  die  Arbeiterkammern  will  oder  ob  sie  sie  nicht 
will.  Nun  könnte  uns  das  gleichgültig  sein,  aber  wir  leben  in  Öster- 
reich und  in  Österreich  geschieht  vom  Parlament  nur  das,  was  die 
Regierung  will.  Wenn  das  Parlament  der  Regierung  nicht  paßt,  wird 
es  nach  Hause  geschickt,  das  nennt  man  bei  uns  Parlamentarismus. 
(Heiterkeit.)  In  anderen  Ländern,  wo  noch  eine  ernstere  Auf- 
fassung auch  über  die  bourgeoisparlamentarische  Vertretung 
herrscht,  muß  sich  das  Ministerium  nach  dem  Parlament  richten. 
Bei  uns  hat  jede  Regierung  es  in  der  Hand,  das  Parlament  sich  so 
zuzurichten,  wie  sie  es  braucht.  Das  wissen  wir,  und  ob  wir  je 
Arbeiterkammern  haben  werden,  hängt  einfach  davon  ab,  ob  die 
Regierung  sie  will  oder  nicht.  Darüber  hat  sie  sich,  wie  gesagt, 
noch  nicht  ausgesprochen.  Sie  hat  nur  gesagt,  daß  es  schwer  sein 
wird,  vor  Durchführung  der  Krankenkassenorganisation  heraus- 
zubringen, wieviel  Arbeiter  überhaupt  unter  das  Gesetz  fallen.  Als 
nämlich  das  Subkomitee  den  Entwurf  fertiggestellt  hat  und  nun 
die  Möglichkeit  vorgelegen  wäre,  die  Sache  vor  dem  Parlament  zu 
einer  endgültigen  Beschlußfassung  zu  bringen,  hat  ein  Mitglied  der 


Die  Frage  der  Irbefterkammern  In  Hainfeld.  f>'> 

Regierungspartei   den   schlauen   Gedanken   gehabt,   den    Handels- 

minister  zu  ersuchen,  ihm  im  Einvernehmen  mit  dem  Minister  des 
Innern  doch  mitzuteilen,  wieviel  Tischler,  Schuhmacher,  Schlosser, 
Spinner  usw.  es  gibt,  damit  man  doch  klar  wisse,  was  man 
beschließe.  Denn  die  Herren  beschließen  bekanntlich  nie  etwas, 
bevor  sie  nicht  klar  wissen,  welche  Konsequenzen  das  hat.  (Heiter- 
keit.) Durch  diese  ausgezeichnete  Idee  war  der  Handelsminister 
in  der  Lage,  die  einzige  Erklärung  abzugehen,  die  er  überhaupt 
abgegeben  hat,  daß  er  das  nicht  weiß  (Heiterkeit),  und  das  müssen 
wir  ihm  aufs  Wort  glauben,  Er  hat  gesagt,  man  muß  warten,  bis 
das  ganze  Krankengesetz  durchgeführt  ist.  (Rufe:  Da  können  wir 
lange  warten!)  Sie  werden  mir  zugeben,  wenn  man  nicht  früher 
Arbeiterkammern  einführt,  so  brauchen  wir  uns  mit  unseren  Ver- 
handlungen gerade  nicht  sehr  zu  beeilen.  (Heiterkeit.)  Für  uns  ist  es 
aber  ebenso  notwendig  zu  sagen,  daß  die  Arbeiterkammern  in 
dieser  Form  ein  purer  Schwindel  sind.  (Sehr  richtig!)  Wir  haben 
keinen  Anlaß,  uns  zu  genieren,  die  Herren  genieren  sich  uns  gegen- 
über auch  nicht.  (Sehr  gut!) 

Notwendig  ist  es  aber  zu  sagen,  daß  wir  wohl  wissen,  w  e  1  c  h  e 
Arbeiterkammern  wir  wollen.  Wir  wollen  Arbeiterkammern, 
welche  hervorgegangen  sind  aus  dem  Wahlrecht  der  Arbeiter  in 
den  abgegrenzten  kleinen  Bezirken,  welche  aus  geheimer  Stimm- 
abgabe hervorgegangen  sind  und  in  welchen  nun  die  wirklichen 
Interessen  der  Arbeiterschaft  in  ernster  Weise  erwogen  und 
bestimmt  werden  können.  Wir  wollen  Arbeiterkammern,  welchen 
die  Durchführung  der  Arbeiterschutzmaßregeln  ernsthaft  zu- 
gewiesen ist. 

Nicht  der  Bezirkshauptmann  und  die  Statthalterei  und  das 
Ministerium  soll  die  Erlaubnis  haben,  unsere  Arbeiterschutzmaß- 
regeln nach  ihrer  Willkür  einzuschränken,  sondern  wir  wollen,  daß 
diese  Funktionen  den  Arbeiterkammern  zufallen.  Wir  wollen  weiter, 
daß  von  diesen  Arbeiterkammern  gewählte  Inspektoren  oder  viel- 
mehr Kommissionen  im  Verein  mit  vom  Staate  ernannten  und 
besoldeten  Fachorganen  —  daß  diese  die  Inspektion  und  Durch- 
führung der  Gewerbeordnung  vornehmen.  Wrenn  man  uns  hierauf 
—  wir  können  da  ja  noch  eine  kleine  Konzession  machen  —  etwa 
sagen  sollte:  man  kann  die  Verlängerung  des  Arbeitstages  nicht  nur 
von  der  Arbeiterkammer  abhängig  machen,  die  Unternehmer  haben 
auch  Interessen  dabei  —  da  haben  wir  gar  nichts  dagegen,  wenn  die 
Sache  etwa  so  formuliert  würde:  Überschreitung  der  elf  stündigen 
Arbeitszeit  ist  nur  dann  möglich,  wenn  sowohl  die  Gewerbekammer 
als  die  Arbeiterkaminer  einverstanden  sind.  WTenn  die 
Arbeiterkammer  einverstanden  ist  mit  einer  Verlängerung 
und  die  Handels-  und  Gewerbekammer  dagegen  ist,  dann  soll  sie 
nicht  geschehen.  (Heiterkeit.)  Aber  wir  dürfen  auch  nicht  verkennen, 
daß  die  Arbeiterkammern  auf  dieser  Basis  einen  ganz  außerordent- 
lichen Wert  für  uns  hätten.  Ich  möchte  behaupten,  sie  hätten  einen1 
größeren  Wert  als  alle  übrigen  politischen  Rechte,  die  wir  haben. 
Wenn  wir  das  Recht  hätten,  in  einem  Kreis  von,  sagen  wir,  400.000' 


70  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


oder  500.000  Einwohnern  eine  Arbeiterkammer  zu  haben,  in  die 
jeder  Arbeiter  alle  Jahre  —  alle  zwei  Jahre  wollen  wir  sagen  — 
wählt,  die  Versammlungen  abhält,  diese  Arbeiterkammer  mit  ihren 
Wählern  in  stetem  Kontakt  —  dann  hätten  wir  die  Anbahnung  einer 
Organisation  erreicht,  welche  um  so  wertvoller  wäre,  als  unsere 
Fachvereinsorganisation  bis  jetzt  wenig  ausgebildet  ist.  Hätten  wir 
eine  bedeutende  Fachvereinsorganisation,  ließe  sich  über  diese 
Arbeiterkammern  auch  noch  reden.  Aber  den  zersplitterten,  un- 
organisierten Arbeitern  gegenüber,  die  in  öffentlicher  Stimm- 
abgabe in  so  großen  Bezirken  ohne  ordentliche  Wählerversamm- 
lungen wählen  sollen  —  eine  solche  Organisation  hängt  in  der 
Luft  und  ist  zunächst  wertlos. 

Als  im  Jahre  1872  darüber  im  Abgeordnetenhaus  debattiert 
wurde,  hat  der  Ausschuß  über  diese  Petition,  in  dem  Plener 
Referent  war,  klar  gesagt:  Wir  können  die  Sache  nicht  gut  machen, 
weil  der  Unterbau  von  Fachvereinen  fehlt.  Diesen  Unterbau,  den 
verkürzen  sie  uns  heute  fortwährend,  machen  ihn  ganz  unmöglich, 
und  das  müssen  Sie  zugeben:  wrenn  wir  durch  ausdauernde 
Arbeit  in  der  letzten  Zeit  wieder  ein  paar  Vereine  in  die  Höhe 
brachten  —  sie  können  übermorgen  alle  mit  einem  Federstrich 
weggestrichen  werden  —  wer  von  uns  kann  das  hindern?  Aber 
mit  solchen  Institutionen  uns  ernstlich  einzulassen,  ist  ganz  unmög- 
lich. Ich  glaube,  wir  werden  einfach  sagen,  was  wir  wollen,  ver- 
gleiche man  damit,  was  hier  geboten  ist,  und  daraus  wird  das 
Urteil  über  ihre  Institutionen  klar  hervorgehen. 

Es  wird  nicht  lange  dauern,  da  wird  eine  Enquete  im  Abgeord- 
netenhaus*) tagen  —  eine  Anzahl  Arbeiter  werden  berufen  sein,  ihr 
Urteil  abzugeben;  über  die  Zusammensetzung  der  Enquete  wollen 
wir  nicht  sprechen.  Wenn  die  Brünner  Genossen  noch  da  wTären  — 
wrenn  die  steirischen  da  wären,  könnten  sie  erzählen,  w  i  e  da  vor- 
gegangen wurde**).  Man  hat  für  ganz  Mähren,  ganz  Steiermark  ab- 
solut keine  Vertretung  zugelassen,  und  für  Mähren  einen  Mann 
zugelassen,  der  von  den  Arbeiterkammern  so  viel  versteht,  als  ihm 
der  Graf  Belcredi  darüber  erzählt  —  (Zurufe:  Seine  Stellung!) 
seine  Stellung  zu  charakteriseren,  das  kommt  mir  nicht  zu  —  ein 
Brünner  Genosse  könnte  das  tun  —  er  soll  in  direkt  abhängiger 
Stellung  von  Belcredi  sein.  (Zurufe:  Hat  keine  Fühlung  mit  der 
Arbeiterschaft!) 

Es  wird  der  Enquete  ein  Fragebogen  vorgelegt  werden  —  wir 
wollen  den  Mitgliedern  der  Enquete  nicht  vorgreifen  —  sie  werden 

"')  Siehe  den  bereits  zitierten  Artikel  der  „Gleichheit"  vom  1.  März 
1889:  „Die  parlamentarische  Enquete  über  Arbeiterkammern"  (Bd.  V, 
Seite  201). 

r~)  Für  die  steirischen  Delegierten  erzählte  dann  Gans  (Graz),  daß  für 
ganz  Steiermark,  Kärnten,  Krain  und  Istrien  als  angeblicher  Arbeiterver- 
treter ein  gewisser  Kunz  ernannt  wurde,  weil  er  im  Jahre  1872,  als  die 
Erage  der  Arbeiterkammern  auftauchte,  Arbeiter  und  Sozialdemokrat  war, 
der  aber  jetzt  Meister  und  Christlichsozialer  sei. 


Die  Frage  der  Arbeiterkammern  In  Hainfeld.  71 

ihre  Meinung  schon  sagen.  Aber  wir  wollen  hier  sagen,  wie  w  i  r 

es  beantworten  würden,  wenn  wir  gefragt  worden  wären. 

Da  heißt  es:  Frste  Frage:  Erscheint  die  im  Gesetzentwurf  in 
Aussicht  genommene  Institution  als  eine  richtige  und  wünschens- 
werte Form  der  Vertretung  der  wirtschaftlichen  und  politischen 
Interessen  der  arbeitenden  Klasse? 

Darauf  antwortete  unsere  Resolution:  „Der  Parteitag  erklärt, 
daß  der  Gesetzentwurf  weder  wirtschaftlich  noch  politisch  ent- 
spricht." 

Damit  ist  die  erste  Frage  erledigt  und  das  ist  die  Hauptfrage. 

Zweite  Frage:  Ist  die  zunächst  ins  Auge  gefaßte  Überein- 
stimmung zu  der  Zahl  und  dem  Gebietsumfang  der  bestehenden 
Handels-  und  Gewerbekammern  zu  empfehlen? 

Wir  haben  uns  ja  darüber  geäußert,  daß  dieser  Gebietsumfang 
ein  viel  zu  großer  ist,  mitunter  ein  ganz  unvernünftiger,  weil  in 
diesen  Bezirken  Industrien  auseinandergerissen  und  nicht  zu- 
sammengehörige vereinigt  werden  in  ganz  überflüssiger,  unklarer 
und  die  Bedeutung  einer  solchen  Institution  geradezu  fälschender 
Weise. 

Dritte  Frage:  Ist  die  Begründung  des  aktiven  Wahlrechtes  durch 
die  Mitgliedschaft  in  einer  Krankenkasse  zutreffend? 

Ich  glaube,  ich  meinerseits  —  die  berufenen  Genossen  werden 
es  besser  verstehen  —  ich  meinerseits  wreiß  das  nicht.  Wenn  das 
Krankenkassengesetz  vollständig  ausgeführt  ist,  wird  es  dem  un- 
gefähr entsprechen. 

Vierte  Frage:  Wie  wäre  eine  Gruppierung  nach  Berufskategorien 
durchzuführen? 

Auf  diesen  Punkt  möchte  ich  Sie  aufmerksam  machen,  hier  liegt 
etwas  darunter. 

Im  Ausschusse  nämlich  — ■  beide  Parteien  sind  nämlich  riesig 
arbeiterfreundlich  —  wenn  die  Linke  einen  solchen  Gesetzentwurf 
einbringt,  so  ist  es  der  Rechten  von  vornherein  unmöglich  zu 
sagen:  nein;  nicht  einmal  die  Linke  hat  zum  Arbeiterschutzgesetz 
absolut  nein  gesagt,  sondern  nur:  man  muß  die  Sache  vernünftig 
machen.  (Heiterkeit.)  Die  Rechte  sagte  ebenso  nicht  gleich:  die 
Kammern  passen  uns  nicht,  sondern  sie  sagte:  wir  wollen  das 
Ding  ordentlich  machen;  wir  wollen  die  korporative  Gliederung 
der  Gesellschaft  hier  ihren  Anfang  machen  lassen  —  davon  werden 
Sie  im  „Vaterland"  gelesen  haben;  „wir  wollen  die  Genossen- 
schaften benützen,  eine  Gruppierung  nach  Berufen."  Da  kommen 
die  Genossenschaften  zu  ihrer  politischen  Ausnützung.  Sie  wissen 
nun,  was  das  bedeutet.  Wir  sind  ganz  dafür,  daß  in  den  von  uns 
gewünschten  Arbeiterkammern  eine  solche  Gliederung  auf  Grund- 
lage von  Fachvereinen  stattfindet.  Aber  diese  Genossenschaften*) 

)  Gemeint  sind  hier  die  Zwangsgenossenschaftcn  der  Gewerbetreiben- 
den, bei  denen  auch  eine  Gehilfenvertretung  war.  Die  Gehilfcnversamm- 
lungen  und  die  Oehilfcnaussehiisse  wurden  unter  dem  Ausnahmezustand 
oft   ausgenützt,    um    einen    Frsatz   für   die    verbotenen    Organisationen    zu 

bilden. 


72  Von  Taaffe  bis  hadern. 


mit  ihrer  absoluten  Rechtlosigkeit  der  Gehilfen  gegenüber  den 
Meistern  —  die  sind  nicht  geeignet,  eine  Basis  dafür  zu  bieten.  Sie 
sind  heute  im  Schlepptau  von  der  Arbeiterklasse  geradezu  ent- 
gegengesetzten Interessen.  Es  gibt  allerdings  auch  Genossen- 
schaften —  wo  die  Arbeiterpartei  überhaupt  lebt,  ist  es  auch  mög- 
lich, einzelne  der  Gehilfenversammlungen  herüberzuziehen  und 
ihnen  ihre  wirklichen  Interessen  zu  zeigen  —  aber  im  allgemeinen 
ist  das  durchaus  nicht  der  Fall. 

Es  gehört  eine  ungeheure  Organisation  unsererseits  dazu,  die 
wir  nicht  haben,  um  die  Genossenschaften  für  uns  auszunützen. 
Heute,  wo  alle  Vereine  zusammengeworfen  sind,  die  Versamm- 
lungen aufgelöst  werden,  sind  wir  oft  gezwungen,  eine  solche 
Gehilfenversammlung  zu  benützen,  um  für  uns  auch  einmal  zu 
agitieren,  wie  wir  eben  alles,  was  wir  haben,  benützen. 

Fünfte  Frage:  Empfiehlt  sich  für  den  Wahlakt  das  Listen- 
skrutinium? 

Eine  zu  spezielle  Frage,  auf  die  wir  uns  nicht  einlassen.  Aber 
hiebei  weisen  wir  auf  die  offene  Wahl  hin,  die  Zettel  werden 
ebenso  viele  Denunziationen  an  die  Polizei  sein. 

Sechste  Frage:  Erscheint  die  vorgeschlagene  Kompetenz  der 
Arbeiterkammern  richtig  begrenzt  und  sind  die  Bestimmungen 
über  die  Bestellung  der  Funktionäre  gutzuheißen? 

Darüber  haben  wir  gesprochen.  Eine  Kompetenz  haben  die 
Arbeiterkammern  nämlich  überhaupt  nicht. 

Die  Kompetenz  der  Arbeiterkammern  ist,  Dinge  in  Beratung 
zu  ziehen  und  darüber  Resolutionen  zu  fassen  —  das  können  wir 
in  unseren  Versammlungen  auch  —  daß  hernach  irgend  Jemand  auf 
diese  gefaßten  Beschlüsse  irgend  etwas  gebe,  das  ist  nirgends 
gesagt  und  es  wird  darauf  wahrscheinlich  ebensowenig  gegeben 
werden  wie  auf  unsere  Resolutionen.  Es  ist  weiter  gesagt,  die 
Arbeiterkammern  haben  das  Recht,  Fragen  zu  stellen  und  Unter- 
suchungen einzuleiten  über  die  wirtschaftliche  Lage  der  Arbeiter 
—  es  ist  aber  nirgends  gesagt,  daß  auch  die  Behörden  und  ihre 
Organe  darauf  antworten  müssen  und  daß  die  Fabrikanten  darauf 
antworten  müssen,  ist  schon  gar  nicht  gesagt.  Und  sie  werden 
auch  keine  Antwort  erhalten,  es  wird  also  nicht  möglich  sein, 
ordentliche  Untersuchungen  in  dieser  Richtung  zu  machen.  Dann 
weiter  ist  diesen  Arbeiterkammern  nirgends  eine  Exekutive 
gegeben,  es  ist  unmöglich,  die  Untersuchung  irgendeines  gewerb- 
lichen Etablissements  durchzuführen  —  wenn  die  Arbeiterkammer 
nur  eine  Resolution  darüber  fassen  kann,  so  nützt  das  absolut 
nichts.  Unsere  Ausführungsorgane,  die  Gewerbebehörden,  sind  ja  zu 
dieser  ihrer  Funktion  erst  vor  nicht  gar  langer  Zeit  gelangt,  sie 
verstehen  daher  davon  so  gut  wie  nichts  und  bei  den  meisten 
fehlt  auch  der  gute  Wille  —  einzelne  Ausnahmen  wollen  wir  ja 
gelten  lassen.  Auch  sind  sie  viel  zu  sehr  überbürdet  mit  Arbeiter- 
angelegenheiten, sie  haben  fortwährend  Untersuchungen  über  die 
Zustände  der  Arbeiter  zu  pflegen,  ob  nicht  etwa  irgendwo  die  Ruhe 
und  Ordnung  gestört  wird,  auch  haben  sie  zu  viel  zu  tun  mit  der 


Die  Frage  der   ^rbeiterkammern  in  tiainfeld.  73 

Untersuchung  des  Arbeitsbuches*)  das  ist  nämlich  der  einzig« 
l>unkt  unserer  Gewerbeordnung,  der  durchgeführt  wird,  und  zwar 
drakonisch  •  als  daß  sie  noch  Zeit  hätten  für  etwas  die  Arbeiter 
wirklich  Interessierendes.  Nun,  wie  jeder  von  Ihnen  weih1,  fiel  diese 
Bestimmung,  welche  den  Arbeiterkammern  wirklich  einen  Werl 
verleihen  würde,  im  Entwurf,  und  man  muß  wirklich  zu  der  Frage 
gelangen,  ob  die  Arbeiterschaft  Österreichs  nicht  einfach  sagen 
soll:  behaltet  euch  eure  Arbeiterkanunern,  wir  pfeifen  darauf. 

Das  wäre  allerdings  sehr  einfach,  wir  sind  aber  verpflichtet. 
nicht  nur  zu  sagen,  was  wir  nicht  wollen,  sondern  auch  zu  sagen, 
was  wir  wollen,  verpflichtet,  nicht  etwa  deswegen,  weil  wir  glauben, 
daß  wir  dann  das  erreichen,  was  wir  angesprochen  haben,  sondern, 
weil  wir  der  Arbeiterschaft,  die  noch  nicht  organisiert  ist,  die  sich 
noch  nicht  in  unseren  Bahnen  bewegt,  auch  beweisen  und  erklären 
müssen,  warum  wir  das  gerade  nicht  wollen  und  weil  wir  auch 
die  Ziele  angeben  müssen,  denen  wir  zusteuern.  Eine  solche  Organi- 
sation, die  ich  Ihnen  früher  nur  in  einzelnen  Zügen  geschildert  habe, 
ist  in  dem  ausgezeichneten  Arbeiterschutzgesetzentwurf,  welchen 
unsere  Genossen  im  Deutschen  Reichstag  eingebracht  haben,  in 
allen  Einzelheiten  ausgeführt;  sie  hätte  für  uns  einen  ungeheuren 
Wert,  und  daß  dies  auch  unsere  Gegner  anerkennen,  beweist  eine 
Szene  im  Deutschen  Reichstag,  die  etwa  folgendermaßen  verlief: 
Abgeordneter  Bebel,  der  auseinandersetzte,  wie  eine  solche  Organi- 
sation beschaffen  sein  müßte,  sagte  unter  anderem:  das  wollen 
wir  und  sonst  nichts  von  euch,  worauf  ihm  Minister  Böttcher  zurief: 
„das  glauben  wir,  dann  seid  ihr  fertig!"  Dann  sind  eben  die  Vor- 
bereitungen geschaffen,  um  alles  zu  erreichen,  was  wir  wollen,  wenn 
wir  in  Bezirke  abgeteilt  sind,  wenn  wir  unsere  Angelegenheiten 
selbständig  verwalten,  wenn  wir  Gelegenheit  haben,  unsere  Leute 
zu  schulen  in  der  Verwaltung  und  ihre  Interessen  mit  einer  gewissen 
Autorität  zu  wahren  —  dann  sollen  sich  die  Gewerbebehörden  und 
andere  darauf  gefaßt  machen,  daß  die  Interessen  der  Arbeiterschaft 
eine  sehr  gute  Vertretung  haben  werden.  Ich  habe  nur  einzelnes 
fragmentarisch  angedeutet,  aber  das  Eine  glaube  ich  noch  sagen  zu 
dürfen,  daß  alle  diejenigen,  welche  unseren  Verhandlungen  bei- 
gewohnt haben,  die  Überzeugung  mitnehmen  werden,  daß  diese 
Frage  von  der  Arbeiterschaft  ganz  objektiv  und  ruhig  verhandelt 
wird;  der  einzige  Gesichtspunkt,  der  uns  leitet,  ist  eben  der,  was 
für  die  Organisation  der  Arbeiterschaft  nützlich  und  förderlich  ist, 
alles  übrige  interessiert  uns  nicht.  (Lebhafter  Beifall.) 

Ich  möchte  nur  noch  ein  paar  Worte  dem  beifügen,  was  Genosse 
Körber  aus  Prag  erzählt  hat**).  Ich  zweifle  gar  nicht,  und  das 

*)  Ohne  Arbeitsbuch  durfte  kein  Arbeiter  aufgenommen  werden.  Das 
Arbeitsbuch  wurde  oft  durch  geheime  Zeichen  als  Steckbrief  gegen  die 
Arbeiter  ausgenützt. 

**)  Nach  Adler  sprach  dann  Eduard  Rieger  (Kratzau),  der  nachmalige 
Abgeordnete,  dann  Wilhelm  Körber  (Prag),  der  erzählte,  daß  die  Jung- 


74  Von  Taaffe  bis  Badcni. 


zeigt,  wie  es  heute  in  unserem  Parlament  und  mit  unseren  Parteien 
aussieht,  daß  die  tschechischen  Abgeordneten,  sowohl  die  Alt-  als 
die  Jungtschechen  ganz  dafür  wären,  daß  die  Arbeiterkammern  ein- 
geführt werden,  obwohl  sie  sich  an  der  Debatte  seinerzeit  sehr 
wenig  beteiligt  haben  und  ihre  Wortführer  nur  allerlei  Flausen 
gemacht  haben.  Aber  dem  möchte  ich  entgegentreten,  daß  sich  unter 
den  Genossen  die  Ansicht  bildet,  daß,  wenn  die  Arbeiter  zu  den 
Arbeiterkammern  nein  sagen,  sie  dann  nicht  eingeführt  werden. 
Wir  werden  uns  durch  solche  Redensarten  nicht  bestimmen  lassen. 
Die  Arbeiter  sagen  seit  20  Jahren  nein  zu  unserem  Vereinsrecht, 
nein  zu  unserem  Versammlungsgesetz  und  sie  schreien  nein  zu 
unseren  Ausnahmsgesetzen,  und  trotzdem  haben  wir  alle  diese 
Gesetze.  Glauben  Sie  mir,  es  ist  der  Regierung  völlig  gleichgültig, 
wie  wir  darüber  urteilen.  Den  Parteien  liegt  ebensowenig  wie  der 
Regierung  an  der  Einführung  der  Arbeiterkammern,  sie  wollen  nur, 
daß  sie  sie  in  Vorschlag  bringen,  um  unter  der  Arbeiterschaft  für 
sich  eine  günstige  Meinung  zu  erzeugen.  Es  handelt  sich  also  um 
einen  Gimpelfang.  Es  fehlen  dazu  eben  nur  die  Gimpel.  (Lebhafter 
Beifall.) 

So  ist  die  Sache,  und  das  muß  auch,  das  soll  auch  gesagt  werden. 
Es  ist  nicht  wahr,  daß  die  Arbeiter  einen  Einfluß  hätten  auf  die 
Gesetzgebung,  auch  nur  in  der  Weise,  daß  man  ihre  Wünsche 
irgendwie  berücksichtigte.  Das  ist  nicht  wahr.  Wenn  das  wahr 
wäre,  dann  müßte  die  Regierung  nach  unseren  Versammlungen  und 
unserem  Parteitag  nicht  sagen,  wir  wollen  die  Arbeiterkammern 
nicht,  sondern  sie  müßte  sagen:  dann  werden  wir  den  Arbeiter- 
kammern einen  ordentlichen  Inhalt  geben.  Das  tut  die  Regierung 
nicht,  und  die  Wünsche  der  Arbeiter  haben  auf  sie  absolut  keinen 
Einfluß. 

Daß  die  Agitation  in  Prag  so  betrieben  wird  von  den  tschechi- 
schen Abgeordneten,  ist  höchst  interessant.  Es  zeigt,  daß  sie  ebenso 
wie  die  deutschen  einen  Brücke  suchen,  ein  Mittel  mit  den  Arbeitern 
in  irgendeine  Berührung  zu  treten,  und  gerade  in  Prag  ist  das  un- 
geheuer wichtig  — ■  ich  hoffe,  ich  werde  keinem  der  anwesenden 
slawischen  Arbeiter  nahetreten,  er  wird  wissen,  was  ich  meine 
und  worauf  ich  anspiele  —  es  ist  wahr,  daß  die  slawischen  Arbeiter 
gerade  auch  in  Prag  bis  zu  einem  hohen  Grade  bis  in  letzter  Zeit 
im  Schlepptau  der  jungtschechischen  Partei  waren  (Körber: 
wäre  n).  Gerade  noch  in  Resolutionen  der  letzten  Zeit  ist  ein 
gewisses  Vertrauen  zur  jungtschechischen  Partei  zum  Vorschein 
gekommen  —  noch  immer  die  alte  Illusion  der  Petitionen!  —  oft  in 


tschcchen  wie  die  Alttschechen  sich  bemühen,  die  Arbeiter  für  die 
Arbeiterkammern  zu  gewinnen,  dann  Dr.  Adolf  Brau  n,  der  bekannte 
Theoretiker  und  Praktiker  des  Gewerkschaftswesens,  der  Schwager 
Victor  Adlers,  der  schon  an  der  „Gleichheit"  mitarbeitete  und  später 
Redakteur  der  „Arbeiter-Zeitung",  dann  Redakteur  in  Nürnberg  und 
schließlich,  nach  dem  Umsturz,  Mitglied  des  Deutschen  Reichstags  war. 
Dann   kam   wieder  Adler  zu  Wort. 


Die  Präge  der  \rbciterkammern  in  Hainfeld.  75 

ganz  merkwürdigen  Formen  —  ich  habe  gelesen,  daß  eine  Ver- 
sammlung von  Arbeitern  beschloß,  eine  Petition  an  das  Abgeord- 
netenhaus   zu     richten,    gelegentlich    der    Feier    des    40jährigen 

Jubiläums  das  allgemeine  Wahlrecht  einzuführen.  (Körber:  Das  ist 
eine  Fälschung!)  Also  ist  das  erlogen  gewesen. 

Aber  es  kommen  auch  Züge  von  solch  rührender  Naivität  vor,  dal.» 
wir  uns  darüber  wundern  müssen.  Durch  die  rührige  Agitation  und 
durch  die  energische  Arbeit  unserer  slawischen  Genossen  fangen  die 
tschechischen  Arbeiter  an,  sich  der  Fühlung  mit  den  Jungtschechen 
allmählich  zu  entziehen  —  sie  verlieren  allmählich  die  Fühlung,  und 
nach  und  nach  gibt  es  eine  selbständige  tschechische  sozial- 
demokratische Partei,  welche  von  den  jungtschechischen  Abgeord- 
neten nichts  wissen  will,  wie  die  deutschen  Arbeiter  nichts  von 
ihren  Abgeordneten.  Dies  merken  die  tschechischen  Abgeordneten 
und  benützen  jedes  Mittel,  um  sie  wiederum  in  ihre  Schlingen 
hineinzubringen;  es  ist  gut  hier  darauf  aufmerksam  zu  machen. 
•Genosse  R  e  s  e  1*)  macht  mich  darauf  aufmerksam,  daß  hier  nicht 
erwähnt  wurde,  daß  auch  ein  Passus  vorkommt:  „daß  diejenigen, 
die  in  UntersuchuT^s-  oder  Strafhaft  sind,  von  der  Wählbarkeit 
ausgeschlossen  sind."  Nun,  Genossen,  das  ist  ein  sehr  wichtiger 
Paragraph.  Sie  wissen,  daß  man  bei  uns  mit  der  Untersuchungs- 
haft nicht  viel  Umstände  macht.  Es  wäre  sehr  gut,  besonders  wie 
es  in  Böhmen  üblich  ist.  wie  seinerzeit  bei  Verhängung  des  Aus- 
nahmezustandes einfach  a!!e  Listen  der  Ausschüsse  der  Fach- 
vereine hergenommen  wurden  und  die  Leute  von  A  bis  Z  aus- 
gewiesen wurden  —  ohne  zu  fragen,  was  sie  getan  haben  —  man 
fragte  einfach,  ob  er  nach  Wien  zuständig  ist,  oder  nicht;  —  ebenso 
"können  dann,  wenn  eine  solche  Liste  aufgestellt  wird,  25  bis  30 
Leute  in  Untersuchungshaft  gesteckt  werden,  wenn  es  gerade  nicht 
paßt,  daß  sie  gewählt  werden.  (Sehr  richtig!)  Und  ich  bin  über- 
zeugt, daß  wir  noch  Richter  dafür  finden  werden;  denn  bei  jedem 
findet  sich  doch  ein  Anhaltspunkt.  Vielleicht  hat  er  eine  Nummer 
des  »Rovnost«  oder  »Vek  Svobody«**)  bei  sich.  Dies  genügt.  Der 
Geheimbund  wird  dann  schon  gesucht  werden.  Nach  der  Wahl 
entläßt  man  sie  wieder  und  das  Recht  ist  wieder  hergestellt.  (Ge- 
lächter.) Ich  selbst  bei  meinem  Geheimbundprozeß  bemühe  mich 
jetzt,  bei  drei  oder  vier  Vernehmungen  zu  erfahren,  warum  der 
Prozeß  gemacht  wird;  man  nennt  mir  immer  einen  Paragraph.  Ich 
sage:  Aber  auf  Grund  welcher  Tatsachen?  Da  erwidert  man  mir: 
Ja,  die  Tatsachen,  die  suchen  wir  eben.  (Heiterkeit.)  Gerade 
so  gut  könnte  es  da  sein.  Mich  sperrt  man  nicht  ein.  Ich  bin  ein 
Doktor,  den  sperrt  man  nicht  gern  ein.  Aber  da  könnte  man  die 
ganze  Kandidatenliste  einsperren.  Daß  sie  überhaupt  auf  dieselbe 
Liste  geschrieben  wurde,  für  eine  Wahl,  alle  zusammen,  das  ist 
schon  ein  sehr  wichtiges  Indizium,  daß  ein  Geheimbund  existiert. 

)   haus  Resel,  der  nachmalige  Abgeordnete  von   Graz,  vertrat  damals 
noch  St.  Polten.  Kr  ist  im  Jahre  1928  gestorben. 
I  Zwei   tschechische   Parteiblätter. 


76  Von  Taaffe  bis  Badeni 


Die  Liberalen  und  das  allgemeine 

Wahlrecht. 

„A  r  b  e  i  t  e  r  -  Z  e  i  t  u  n  g"  vom  31.  Oktober  189  0*). 

v.  a.  Es  geschehen  Zeichen  und  Wunder.  Die  Liberalen  Öster- 
reichs fangen  an  für  das  allgemeine  Wahlrecht  zu 
schwärmen.  Es  ist  noch  nicht  lange  her,  daß  Herr  von  P 1  e  n  e  r 
offiziell  und  feierlich  sich  gegen  jede  derartige  Ausdehnung  des 
Wahlrechtes  ausgesprochen  und  seine  Stellungnahme  unter  anderem 
damit  motivierte,  daß  in  England  gerade  das  „verrottetste 
Wahlsystem"  die  größten  Staatsmänner  gezeugt.  Herr  von 
P 1  e  n  e  r  rechnet  sich  offenbar  darum  zu  den  „größten  Staats- 
männern", weil  er  auch  seinen  Parlamentssitz  einem  so  verrotteten 
Wahlsystem  verdankt**).  Aber  die  ganze  liberale  Staatsmännerei 
erlebt  böse  Tage.  Gegen  ihren  Willen  hat  der  Kleinbürger  das 
Wahlrecht  bekommen  und  nützt  es  nun  gegen  sie  aus.  Ein  städti- 
scher Bezirk  um  den  anderen  geht  an  die  „Antiliberalen"  verloren. 
Die  letzten  Landtagswahlen  in  Niederösterreich  haben  die  Liberalen 
eine  erhebliche  Anzahl  von  den  Sitzen  gekostet***),  und  wenn  der 
nationale  Rummel  in  Böhmen,  der  zum  letzten  Male  sein  Spektakel- 
stück aufführt,  vorüber  sein  wird,  werden  auch  dort  die  sozialen 
Gegensätze  in  den  Vordergrund  treten. 

Die  nächsten  Reichsratswahlen  werden  wahrscheinlich  den 
Liberalen  noch  mehr  ernstliche  Verluste  bringen  und  einer  ganz 
erklecklichen  Anzahl  von  „Antisemiten",  „Antiliberalen",  „Deutsch- 
nationalen" oder  „Christlichsozialen",  oder  welche  Namen  der 
kleinbürgerliche  Wurstkessel  sonst  noch  führt,  zu  Parlaments- 
sitzen verhelfen.  Was  nützt  aber  die  Liberalen  ihr  Monopol  auf 
das  Wahlrecht,  wenn  andere  davon  profitieren?  Not  lehrt  beten, 
in  der  Todesangst  werden  die  Liberalen  —  liberal.  Eine  Anzahl 
von  Vereinen,  von  liberalen  Zeitungen  fängt  an,  das  allgemeine 
Wahlrecht  zu  erörtern,  ja  die  „Neue  Freie  Presse"  in  höchsteigener 
Person  hat  —  so  um  die  Zeit  des  1.  Mai  herum  —  davon  zu 
sprechen  nicht  unter  ihrer  Würde  gehalten.  Der  Arbeiter,  der  kluge, 

*)  Die  Liberalen,  die  eigentliche  Partei  des  Großbürgertums,  die  bei 
jeder  Wahlrechtserweiterung-  Mandate  einbüßten,  waren  die  borniertesten 
Feinde  des  allgemeinen  Wahlrechts.  Da  sie  aber  auch  die  intellektuellen 
Schichten  vertraten,  mußten  sie  manchmal  so  tun,  als  ob  sie  für  das  all- 
gemeine Wahlrecht  wären.  Das  taten  sie  gewöhnlich  so,  daß  sie  für  die 
Volksrechte  in  —  anderen  Ländern  eintraten.  Da  mußte  sie  Adler  an- 
nageln. Siehe  auch  den  Artikel  vom  2.  Juni  1893  über  die  gleiche  Frage. 
rvr)  Ernst  v.  Plener  war  Abgeordneter  der  Handelskammer  von 
Eger.  Die  „Neue  Freie  Presse"  nannte  ihn  im  Februar  1889  bewundernd  den 
„Führer  mit  dem  Helmbusc h".  Das  Wort  blieb  als  Spottwort. 

")  Im  Oktober  1890  fanden  die  Wahlen  zum  Landtag  statt,  bei  denen 
zum  erstenmal  die  Fünfguldenmänner  wählten.  Die  Liberalen  behielten  nur 
noch  5  Mandate  in  den  Landgemeinden,  18  in  den  Städten  (von  28  Land- 
und  29  Stadtmandaten)  sowie  die  Mandate  in  den  Handelskammern  und 
im   Großgrundbesitz. 


Die  Liberalen  und  das  allgemeine  Wahlrecht.  77 


der  verständige,  der  aufgeklärte  Arbeiter.  Da  diese  Leute  vom 
ganzen  politischen  Leben  nichts  sehen  als  den  „Antisemitismus", 

genau  wie  das  hypnotisierte  Mulm  einzig  den  Kreidestrich,  ver- 
gessen sie  alles  über  der  unleugbaren  Tatsache,  dal.»  der  Arbeiter 
den  Antisemiten  ebenso  feindlich  gegenübersteht  wie  ihnen  selber, 
und  sie  suchen  aus  der  gemeinsamen  Gegnerschaft  eine  Freund- 
schaft oder  wenigstens  die  Möglichkeit  eines  Bündnisses  heraus- 
zutüfteln. Sie  spüren  in  der  Arbeiterbewegung  etwas,  was  ihnen 
gänzlich  abgeht;  Jugend,  Mut,  Kraft,  Begeisterung  —  und  sie 
wären  nicht  abgeneigt,  an  diesem  Feuer  ihre  Suppe  zu  kochen. 

Nicht  allein  die  Furcht  der  Liberalen  aber  ist  es,  was  das  all- 
gemeine Wahlrecht  nach  und  nach  zum  Gegenstand  der  öffent- 
lichen Diskussion  macht.  Noch  eine  andere  Tatsache  wirkt  mächtig 
in  demselben  Sinne.  Das  Rumpfparlament,  welches  sich 
österreichisches  Abgeordnetenhaus  nennt,  war  niemals  eine  Volks- 
vertretung. Aber  es  hat  Zeiten  gegeben,  wo  es  sich  bei  einiger 
Phantasie  wenigstens  einbilden  konnte,  es  zu  sein.  Heute  aber  ist 
die  Arbeiterklasse  Österreichs  erwacht.  Mit  Kraft  und  Entschieden- 
heit tritt  sie  auf  den  Kampfplatz;  die  Sozialdemokratie  macht  täg- 
lich gewaltige  Fortschritte;  der  Klassenkampf  fängt  an,  deutlich  zu 
werden  und  europäische  Formen  anzunehmen.  Immer  häufiger 
wiederholt  sich  die  Erscheinung,  daß  die  parlamentarischen  Rede- 
übungen an  Wichtigkeit  im  öffentlichen  Bewußtsein  weit  zurück- 
treten gegen  das,  was  da  draußen  vorgeht;  immer  deutlicher  wird 
es,  daß  die  Arbeiterklasse  ein  Machtfaktor  im  politischen  Leben 
Österreichs  geworden  ist.  Immer  klarer  wird  es  also  auch,  daß  die 
Bezeichnung  des  Abgeordnetenhauses  als  „Volksvertretung"  eine 
heute  von  niemand  geglaubte  konventionelle  Lüge  ist.  Das  ist  es, 
was  bei  allen  Parteien  jenes  Gefühl  der  Unsicherheit  und  Unbe- 
haglichkeit  erzeugt,  woran  sie  alle  kranken.  Und  diese  Umstände 
bringen  auch  das  allgemeine  Wahlrecht  zur  Diskussion  und  werden 
es  nicht  mehr  von  der  Tagesordnung  verschwinden  lassen. 

Dazu  kommt  noch,  daß  soeben  in  Belgien  unter  ganz  eigentüm- 
lichen Verhältnissen  ein  Teil  der  Liberalen  sich  mit  den  Sozialisten 
verbündet  hat,  um  gemeinsam  die  klerikale  Majorität  zu  stürzen, 
um  das  allgemeine  Wahlrecht  zu  gewinnen.  Da  mag  denn  den 
Liberalen  Österreichs  ein  ähnliches  Bündnis  als  Ziel  vorschweben. 

Das  Wahlrecht  ist  ein  Kampfmittel,  welches  die  österreichische 
Arbeiterschaft  schmerzlich  entbehrt.  Für  die  sozialdemokratische 
Agitation,  für  die  Organisation  der  Arbeiterklasse  wäre  mit  der 
Erreichung  des  allgemeinen  Wahlrechts  sehr  Erhebliches  gewonnen, 
und  es  verlohnt  deshalb  der  Mühe,  uns  die  Leute  näher  anzusehen, 
die  uns  dieses  kostbare  Geschenk  anbieten.  Wir,  für  unsere  Person, 
gestehen  offen,  daß  wir  ein  ehrliches,  offenes  und  klares  Bündnis 
zur  Erreichung  ganz  bestimmter  politischer  Ziele  durchaus  nicht 
von  vornherein  verwerfen;  dazu  sind  wir  nicht  doktrinär  genug. 
Es  ist  sehr  wohl  möglich,  daß  zwei  verschiedene  Parteien  ein  be- 
grenztes Stück  Weges  zusammengehen,  ohne  ihrer  Würde  irgend 
etwas  zu  vergeben. 


78  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


Aber  zu  einem  politischen  Vertrag,  wie  zu  jedem  anderen, 
gehören  vor  allem  zwei  Dinge:  jeder  Teil  muß  überzeugt  sein,  daß 
der  andere  ehrlich  will,  was  er  verspricht,  und  ebenso,  daß  er 
leisten  kann,  was  er  verspricht. 

Was  nun  die  Ehrlichkeit  anbelangt.  Daß  der  österreichische 
Liberalismus  die  verlogenste  Erscheinung  im  modernen  politischen 
Leben  ist,  haben  wir  nicht  erst  zu  beweisen,  sondern  nur  in  dem 
einzelnen  Falle  darzutun.  Seine  Doppelzüngigkeit  wird  nur  noch 
von  seiner  Gedankenlosigkeit  überboten.  In  demselben  Augenblick, 
wo  die  liberale  Presse  sich  an  die  Arbeiterklasse  heranbiedert  und 
vom  allgemeinen  Wahlrecht  zu  sprechen  beginnt,  tobt  im  böhmi- 
schen Landtag  der  Kampf  um  den  sogenannten  „Ausgleich",  der 
nichts  anderes  zur  Voraussetzung  hat  als  die  V  e  r  e  w  i  g  u  n  g 
der  Vorrechte  des  Großgrundbesitzes,  als  die 
feierliche  Einsetzung  einer  Handvoll  Feudalherren  zu  Schieds- 
richtern zwischen  zwei  Völkern.  Derselbe  Liberalismus,  der  es 
wagt,  das  allgemeine  Wahlrecht  im  Munde  zu  führen,  setzt  sich 
dort  für  das  erbliche  Privilegium  des  Grundadels  ein,  will  es  er- 
weitern und  kräftigen. 

Aber  Böhmen  ist  weit.  Was  geschieht  in  Wien?  Hier  wird  ein 
Gemeindestatut  für  die  künftige  Großkor:, mune  ausgearbeitet*).  Die 
Regierung  zeigt  plötzlich  ein  sehr  verdächtiges  Bedürfnis  nach 
„Fortschritt".^  Die  Liberalen  „wittern  Morgenluft"  und  die  Regie- 
rung verfolgt  großartige  militärische  Pläne,  worüber  Lueger  weis- 
lich schweigt.  Davon  ein  andermal.  Aber  das  neue  Statut  bedingt 
eine  neue  Wahlordnung.  Und  in  denselben  Blättern,  die  sich  den 
Schein  geben,  das  allgemeine  Wahlrecht  zu  befürworten,  wird 
schamlos  und  unverhüllt  für  die  Beibehaltung  der  Wahlkörper  und 
für  alle  die  wahlgeometrischen  Künsteleien  und  Kniffe  eingetreten, 
welche  den  Liberalen  die  Majorität  sichern  sollen.  Und  da  soll 
irgendein  Mensch  an  die  politische  Ehrlichkeit  dieser  Kumpane 
glauben! 

Aber  nehmen  wir  einen  Moment  an,  die  liberalen  Wortführer 
wären  ebenso  aufrichtig  als  sie  verlogen  sind,  sie  wären  politische 
Naturburschen,  die  in  ihrer  Naivität  ihre  eigenen  Widersprüche 
nicht  merken,  und  prüfen  wir,  was  sie  leisten  könnten,  wenn  sie 
wollten.  Da  wäre  es  denn  eine  gänzliche  Verkennung  der  politischen 
Verhältnisse  Österreichs  und  ihrer  Geschichte,  zu  glauben,  die 
liberale  Partei  hätte  die  Macht,  eine  so  gründliche  Veränderung  im 
Staatsleben  herbeizuführen,  wie  sie  die  Einführung  des  allgemeinen 

,r)  Es  handelte  sich  um  die  Vereinigung  der  Vororte  mit  den  bisherigen 
zehn  Wiener  Bezirken  zu  einer  Gemeinde  Groß-Wien  mit  neunzehn  Be- 
zirken. Am  14.  Oktober  1890  haue  die  Regierung  das  neue  Statut  für  Groß- 
Wien  dem  Landtag   vorgelegt.  Am   20.  Dezember   wurde  es  sanktioniert. 

Im  Jahre  1899  wurde  dann  vom  zweiten  Bezirk  (Leopoldstadt)  die 
Brigittenau  als  zwanzigster  Bezirk  losgetrennt  und  am  10.  Jänner  1905 
kam  dann  Floridsdorf  als  einundzwanzigster  Bezirk  zu  Wien.  (Siehe  die 
Rede  in  der  Sitzung  des  niederösterreichischen  Landtages  vom  16  .Juli  1902 
über  die  damals  unterbliebene  Eingemeindung  von  Floridsdorf.) 


Die  Liberalen  und  das  allgemeine  Wahlrecht.  79 


Wahlrechtes  bedeuten  würde.  Österreich  wird  nicht  vom  Parla- 
ment regiert.  Nicht  das  Parlament  macht  die  Regierung,  sondern 
die  Regierung,  die  jeweilig  das  „Vertrauen  der  Krone"  genießt, 
macht  sich  ihr  Parlament  znrecht.  Und  wer  ist  SO  naiv,  zu  glauben, 
irgendeine  Regierung  würde  freiwillig  auf  ein  so  bequemes 
Instrument  verzichten,  wie  es  der  österreichische  Parlamentaris- 
mus mit  seinen  allzeit  getreuen  und  zimmerrein  gedrillten  Groß- 
grundbesitzern ist.  Nein,  die  ohnmächtige  Schwäche  des  Liberalis- 
mus ist  der  einzige,  aber  allerdings  schwerwiegende  Milderungs- 
grund, den  er  bei  der  Beurteilung  seiner  Verbrechen  geltend  machen 
kann.  Aber  da  dem  so  ist,  welchen  Wert  haben  die  liebenswürdigen 
Versprechungen  der  Liberalen?  Was  hat  die  Arbeiterschaft  davon, 
daß  der  Liberalismus  plötzlich  sein  demokratisches  Herz  entdeckt 
hat?  „Was  kannst  du  armer  Teufel  bieten?" 

Nein,  die  Arbeiterklasse  Österreichs  muß  die  ganze  Arbeit 
allein  besorgen.  Sie,  und  sie  allein  wird  sich  das  Wahlrecht 
erkämpfen;  sie  wird  zu  einer  Macht  heranwachsen,  der  man  die 
Tore  des  Parlaments  wird  einfach  nicht  mehr  versperren  können. 
Über  die  Trümmer  der  alten  Parteien,  der  liberalen  wie  der  anti- 
liberalen, geht  ihr  Weg.  Ihr  Wachstum,  ihr  Erstarken  wird  der 
Anlaß  werden,  daß  endlich  die  leblosen  Überbleibsel  der  ver- 
gangenen Zeiten  des  Feudalstaates  in  die  längst  verdiente  Rumpel- 
kammer wandern  und  der  Boden  geebnet  wird  für  den  Kampf 
unserer  Zeit.  Die  Arbeiterschaft  Österreichs  wird  sich  politische 
Rechte  erzwingen  müssen,  niemals  wird  man  sie  ihr 
gewähren. 

Sollten  aber  die  Liberalen  wirklich  das  Bedürfnis  fühlen,  eine 
Probe  abzulegen  von  der  Echtheit  ihrer  Gesinnung,  so  wollen  wir 
ihnen  eine  prächtige  Gelegenheit  dazu  verraten.  Wir  hoffen,  daß 
Dr.  Krona  wette  r*),  der  sich  mit  einigen  mehr  oder  minder  auf- 
richtigen Schwärmern  für  die  Ideale  der  alten,  ehrlichen,  bürger- 
lichen Demokratie  bemüht,  seinen  alten  Antrag  auf  Revision 
der  Verfassung  im  Sinne  des  allgemeinen  Wahl- 
rechtes, den  er  vor  jetzt  fünf  Jahren  eingebracht,  auf  die 
Tagesordnung  wird  setzen  lassen.  Da  mögen  denn  die  Herren  ihre 
Künste  auf  dem  frischgespannten  liberalen  Seile  zeigen.  Aber  wir 
fürchten,  Pleners  Helmbusch  weht  dann  —  im  Büffet. 

Ist  ihnen  aber  diese  Probe  zu  hart,  so  gibt  es  weit  billigere 
(Methoden,  die  Waschechtheit  des  Liberalismus  zu  zeigen.  Es  gibt 
eine  Anzahl  von  Reformen,  die  so  dringend  sind,  deren  Notwendig- 
keit so  selbstverständlich  und  allgemein  anerkannt  ist,  daß,  wenn  die 
Liberalen  ernstlich  wollen,  niemand  zu  widersprechen  wagen  wird. 

Wir  nennen  nur :  die  Aufhebung  der  Ausnahme- 
verfügungen, die  Freigebung  der  Kolportage,  die 
Aufhebung  des  objektiven  Verfahrens.  Lauter  Dinge, 
die  durchaus  dem  liberalen  Programm  entsprechen,  und  die  selbst  in 
diesem  Abgeordnetenhaus  durchzusetzen  sind,  wenn  sie  wollen. 

*)  Über  Kronawetter  Näheres  Seite  107,  Fußnote. 


SO  Von  Taaffe  bis  Badcni. 


Ein  wirksameres  Wahlnianüver  können  wir  den  Liberalen  nicht 
empfehlen. 

Berichte  an  die  Internationale*). 

An  den  internationalen  Sozialistenkongreß  zu  Brüssel   1891. 

Wenige  Monate  vor  dem  Internationalen  Arbeiterkongreß  zu 
Paris,  in  den  ersten  Tagen  des  Jahres  1889,  vollzog  sich  auf  dem 
Parteitag  zu  Hainfeld  die  Neukonstituierung  der  öster- 
reichischen Arbeiterpartei.  Nach  einigen  Jahren  des  Stillstandes,  ja 
des  Rückganges,  hatte  die  Partei  sich  wiedergefunden;  die  Spal- 
tungen innerhalb  der  sozialistisch  denkenden  Arbeiterschaft  hatten 
wieder  einer  festen,  einheitlichen  Organisation  mit  klaren,  genau 
umschriebenen  Prinzipien  und  einem  wohldurchdachten  Arbeits- 
programm Platz  gemacht.  Der  in  einem  politisch  zurückgebliebenen, 
despotisch  regierten  Lande  so  begreifliche  und  naheliegende  Irrtum, 
auf  jede  politische  Tätigkeit  zu  verzichten  und  die  ganze  Hoffnung 
auf  den  Ausbruch  der  durch  äußersten  Druck  zur  Verzweiflung  ge- 
steigerten Unzufriedenheit  des  Volkes  zu  setzen,  war  überwunden 
und  alle  Elemente  der  klassenbewußten  Arbeiterschaft  hatten  sich 
auf  dem  Boden  der  sozialdemokratischen  Prinzipien,  welchen 
Karl  Marx  die  theoretische  Grundlage  gegeben,  zusammenge- 
funden. Eine  politische  Partei,  welche  wreiß,  daß  ihr  revolutionäres 
Endziel,  der  Übergang  der  Arbeitsmittel  in  den  gemeinschaftlichen 
Besitz  der  Gesamtheit  des  arbeitenden  Volkes,  der  Abschluß  einer 
notwendigen  geschichtlichen  Entwicklung  ist,  deren  Träger  nui  das 
klassenbewußte  Proletariat  selbst  sein  kann,  muß,  wie  unser  H  a  i  n- 
felder  Programm  es  ausdrückt,  seine  eigentliche  Aufgabe 
darin  sehen,  „das  Proletariat  politisch  zu  organisieren,  es  mit  dem 
Bewußtsein  seiner  Lage  und  seiner  Aufgabe  zu  erfüllen,  es  geistig 
und  physisch  kampffähig  zu  machen  und  zu  erhalten". 

Neben  der  eigentlichen  prinzipiellen  sozialdemokratischen  Pro- 
paganda ist  also  der  Kampf  um  die  Erringung  von  politischer  Macht 

*)  Im  Gegensatz  zu  dem  Bericht  an  den  Londoner  Internationalen 
Sozialistenkongreß  vom  Jahre  1896,  der  sich  vornehmlich  mit  der  Wahl- 
rechtsbewegung beschäftigt,  ist  in  diesen  beiden  ersten  Berichten  nach 
Brüssel  und  nach  Zürich  vom  Wahlrechtskampf  direkt  weniger  die  Rede. 
Trotzdem  aber  sollen  auch  diese  beiden  Berichte  hier  ihre  Stelle  finden  — 
einmal,  weil  sie  uns  den  Zustand  Österreichs  schildern,  in  dem  die  Arbeiter 
in  den  Wahlrechtskampf  eintraten,  dann  auch,  weil  da  doch  einiges  vor- 
weggenommen ist,  was  zum  Verständnis  des  Kampfes  später  erklärt 
werden  müßte. 

Der  Internationale  Sozialistenkongreß  in  Brüssel  fand  vom  16.  bis 
22.  August  1891  statt.  (Siehe  den  Artikel  „Zum  Brüsseler  Kongreß"  in  der 
„Arbeiter-Zeitung"  vom  28.  August  1891.  Bd.  VII,  Seite  64  ff.)  Der  Züricher 
Kongreß  war  vom  6.  bis  12.  April  1893.  (Siehe  Bd.  VII,  Seite  5  ff .  und  11  ff.), 
der  Kongreß  in  London  war  vom  27.  Juli  bis  1.  August  1896.  (Bd.  VII, 
Seite  69  ff.) 

Der  Bericht  an  den  Londoner  Kongreß  wird  an  seiner  Stelle  (Seite  186  ff.) 
eingeschaltet  werden. 


Bericht  an  die  Internationale.  **i 


durch  das  Proletariat  und  der  Kampf  für  die  bessere  Gestaltung 
der  physischen  Lebensbedingungen  für  die  unmittelbare  Gegenwart 
zu  führen  und  alle  drei  Momente  sind  untrennbar  miteinander  ver- 
knüpft. In  jeder  dieser  Richtungen  begegnet  die  Sozialdemokratie 
in  Österreich  Schwierigkeiten,  die  gewiß  in  keinem  anderen  Staat 
Europas  größer  sind.  Von  der  Verschiedenheit  der  Nationalität 
wollen  wir  nicht  sprechen;  sie  bewirkt  nur  eine  technische 
Schwierigkeit,  welche  in  dem  Grade  überwunden  ist,  daß  es  heute 
nur  eine  einzige  österreichische  sozialdemokratische  Partei  gibt, 
in  welcher  die  klassenbewußten  Proletarier  deutscher,  tschechischer, 
polnischer,  italienischer  und  slowenischer  Zunge  brüderlich  ver- 
einigt sind.  Nationaler  Chauvinismus,  der  den  Lebensinhalt  der 
Bourgeoispolitik  Österreichs  ausmacht,  hat  unsere  Partei  niemals 
gehemmt;  sie  war  stets  eine  internationale  Partei  im  besten 
Sinne  des  Wortes. 

Größer  ist  die  Schwierigkeit,  welche  in  der  Verschiedenheit  der 
Stufe  ökonomischer  Entwicklung  liegt.  Neben  großen  Gebieten,  wo 
die  Ausbeutung  mit  den  modernsten  Formen  großkapitalistischer 
Produktion  arbeitet,  finden  wir  andere,  in  welchen  noch  der  Feu- 
dalismus seine  patriarchalischen  Ausbeutungsmethoden  üben  kann, 
und  solche,  wo  ein  Bauernstand,  der  noch  halb  in  der  Naturalwirt- 
schaft steckt,  eben  erst  beginnt  vom  Kapitalismus  bedrängt  zu 
werden.  Dem  entspricht  der  politische  Zustand  Österreichs.  Neben 
Elementen  einer  Bourgois-Konstitution  liberalen  Zuschnitts  finden 
sich  feudale  Reste  von  solcher  Macht  und  Ausdehnung,  daß  Öster- 
reich politisch  nicht  als  moderner  europäischer  Staat  bezeichnet 
werden  kann. 

Die  herrschenden  Klassen,  Feudaladel  und  Bourgeoisie,  haben 
zur  Verteidigung  ihrer  Klasseninteressen  gegen  das  erwachende 
Proletariat  nicht  nur  die  Waffen  des  modernen  Liberalismus,  son- 
dern ebenso  das  ganze  Arsenal  des  Polizeistaates,  wie  die  Fesseln, 
in  welchen  die  jahrhundertelange  Herrschaft  der  Kirche  das  Volk 
erhielt,  zu  ihrer  Verfügung.  Alle  Mittel  der  Propaganda  und  Organi- 
sation, Vereinsrecht,  Versammlungsrecht,  Preßfreiheit,  Koalitions- 
recht, sind  nur  in  so  beschränkter  und  überdies  zweideutiger  Form 
gegeben,  daß  sie  von  der  im  Dienste  der  Ausbeuterklassen  stehen- 
den Verwaltung  ohne  weiteres  aus  einem  Hebel  der  Befreiung  in 
Werkzeuge  der  Verknechtung  umgefälscht  werden  können.  In  Ein- 
zelheiten an  dieser  Stelle  einzugehen,  wäre  gänzlich  wertlos,  da  es 
unmöglich  ist,  dem  Ausländer  die  Kette  von  Polizeikniffen  klarzu- 
machen, als  welche  die  berühmte  „Freiheit  wie  in  Österreich*)"  sich 

*)  Der  Spruch  „Freiheit  wie  in  Österreich"  stammt  aus  dem 
Jahre  1661,  aus  dem  preußisehen  VerfassuiiKskonflikt.  Österreich  hatte  den 
Krie^  in  Italien  und  damit  die  blühende  Provinz  Lombardei  verloren.  Das 
Budget  für  1860  hatte  ein  Defizit  von  280  Millionen  Gulden.  Franz  Josef 
suchte  die  Öffentlichkeit,  die  eine  Verfassung  verlangte,  zuerst  mit  dem 
Schwindel  des  verstärkten  Reichsrates  und  seinen  ernannten  Mitgliedern 
zu  übertölpeln,  dann  mit  dem  Oktoberdiplom  vorn  20.  Oktober  1*60,  <jas 
den  Schwerpunkt  in  die  Landtage  verlebte.  Aber  die  Kapitalisten,  die  dem 

Adler,  Briefe.   X.  Bd.  6 


32  Von  Taaffe  bis  Badoni. 


in  Wirklichkeit  darstellt.  Dazu  aber  kommt,  daß  wir  in  Österreich 
jenes  wichtigsten  Mittels  der  Agitation,  jenes  wertvollsten  Mali- 
stabes der  eigenen  Kraft  entbehren,  welches  im  Wahlrecht  liegt.  Das 
Wahlrecht  ist  an  eine  direkte  Abgabe  von  5  Gulden  geknüpft  und 
schließt  den  eigentlichen  Lohnarbeiter  vollständig  aus.  Dadurch  wird 
es  notwendig,  daß  in  dem  Programm  der  österreichischen  Sozial- 
demokratie Forderungen  Platz  finden,  die  in  anderen  Ländern  als 
selbstverständliche  und  eingelebte  Bedingungen  des  öffentlichen 
Lebens  längst  verwirklicht  sind. 

Die  fortwährend  schwankende  Politik  der  Regierung  nahm  der 
Arbeiterbewegung  gegenüber  in  den  Jahren  1883  bis  1886  einen 
grausamen,  ja  geradezu  blutdürstigen  Charakter  an.  Einige  an- 
archistische Gewaltakte,  denen  später  mehrere  kindische  „Dynamit- 
attentate" und  dergleichen  folgten,  deren  harmlose  Verüber  offen- 
kundig die  naiven  Opfer  von  Lockspitzeln  waren,  gaben  den  Anlaß, 
dem  Parlament  ohne  namhaften  Widerstand  die  Genehmigung  von 
zwei  Ausnahmeverordnungen*)  abzugewinnen,  deren  eine 
alle  „anarchistischen  Delikte"  den  Schwurgerichten  entzog  und  be- 
sonderen Ausnahmsgerichtshöfen  zuteilte,  deren  zweite  für  Wien 
und  die  Industriebezirke  Niederösterreichs  alle  politischen  Rechte 
suspendierte  und  insbesondere  die  Ausweisung  ohne  richterliches 
Urteil,  auf  bloßen  Ukas  der  Polizei  hin,  ermöglichte.  In  Wien,  dem 
einen  großen  Zentrum  der  Arbeiterbewegung,  wurde  nun  die  Or- 
ganisation auf  Grund  dieser  Regierungsverordnung  mit  einem 
Schlage  zertrümmert,  Hunderte  von  Arbeitern  ausgewiesen,  die 
Fachvereine  aufgelöst  oder  zur  freiwilligen  Sistierung  gezwungen. 
In  dem  anderen  größten  Industriezentrum,  in  Böhmen,  geschah  ganz 
dasselbe,  ohne  auch  nur  das  Feigenblatt  der  „gesetzlichen"  Be- 
bankrotten Staate  Geld  borgen  sollten,  wollten,  daß  ihre  Klassengenossen 
die  Finanzen  Österreichs  kontrollieren.  Dazu  kam,  daß  Franz  Josef  nach 
dem  Verlust  der  Lombardei  wieder  in  Deutschland  seine  Macht  zu  ver- 
stärken suchte.  Um  Preußen  im  Ansehen  des  deutschen  Bürgertums  zu 
verdrängen,  da  im  Jahre  1861  nach  dem  Tode  des  geisteskranken  Fried- 
rich Wilhelm  IV.  der  neue  König  Wilhelm  I.  eine  liberale  Regierung  be- 
rufen hatte,  entschloß  sich  Franz  Josef,  auch  eine  Regierung  des  Groß- 
bürgertums einzusetzen.  Am  4.  Februar  1861  wurde  Freiherr  v.  Schmer- 
ling, der  1848  in  Frankfurt  Reichsminister  gewesen  war,  Ministerpräsi- 
dent und  am  26.  Februar  wurde  mit  dem  Februarpatent  die  Verfassung 
kundgemacht,  die  einen  von  den  Landtagen  gewählten  Reichsrat  ein- 
setzte und  das  Wahlrecht  für  die  Landtage  den  vier  Kurien  übertrug, 
die  bis  zur  Badenischen  fünften  Kurie  bestanden;  nur  war  in  den  beiden 
letzten  Kurien  das  Wahlrecht  an  eine  Steuerleistung  von  10  bis  20  Gulden 
geknüpft,  so  daß  nur  die  großen  Steuerzahler  das  Wahlrecht  hatten. 

Die  österreichische  Großbourgeoisie  feierte  Schmerling  als  Vater  der 
Verfassung,  die  preußische  Bourgeoisie,  die  bald  danach  von  Bismarck 
im  Verfassungskonflikt  an  die  Wand  gedrückt  wurde,  beneidete 
ihre  österreichischen  Klassengenossen  und  sehnte  sich  nach  der  .,F  r  e  i- 
heit  wie  in  Österreich"  —  die  in  Wirklichkeit  eine  Scheinfreiheit 
auch  für  die  Bourgeoisie  war,  wie  die  Verfassung  eine  Scheinverfassung. 

*)  Siehe  im  sechsten  Bande  dieser  Schriften  („Aufbau  der  Sozialdemo- 
kratie") das  Kapitel  ..Der  Kampf  gegen  den  Terror",  Seite  31  ff. 


Bericht   atl  die   Internationale.  53 

Stimmungen  für  nötig  ZU  finden.  Dort  wurden  1  hinderte  von  Ar- 
beitern, deren  ganzes  Verbrechen  oft  nur  im  Besitz  eines  öffentlich 
erscheinenden  Arbeiterblattes  bestand,  gefesselt  nach  Prag  ge- 
schleppt, um  dort  nach  monatelanger  Untersuchungshaft  vor  einen 
Gerichtshof  gestellt  zu  werden,  der,  trotzdem  er  von  der  noch  heute 
geltenden  Fiktion  eines  über  ganz  Österreich  sich  erstreckenden 
sozialistischen  Qeheimbundes  ausging,  oft  nicht  imstande  war,  zu 
verurteilen.  Dabei  wurden  von  Zeit  zu  Zeit  größere  „Anarchisten- 
prozesse" arrangiert,  deren  Hauptheiden  es  gewöhnlich  gelang, 
rechtzeitig  zu  entfliehen,  während  ihre  armen,  verführten  „Mit- 
schuldigen", die  sie  ans  Messer  geliefert,  ihre  Leichtgläubigkeit 
mit  acht-,  zehn-,  zwölf-,  ja  zwanzigjähriger  Kerkerstrafe  büßen 
mußten.  Die  Mehrzahl  dieser  Unglücklichen,  die  durchaus  in  dem 
Glauben  gehandelt,  der  Sache  des  Proletariats  zu  nützen,  sind  be- 
reits an  Gefängnisskorbut  und  Tuberkulose  zugrunde  gegangen.  Es 
gibt  Leute,  welche  für  den  Versuch  der  Verbreitung  aufreizender 
Flugschriften  auf  diese  Weise  der  trockenen  Guillotine  verfallen 
sind. 

Von  den  herrschenden  Parteien  war  selbstverständlich  nicht  die 
geringste  Hilfe  zu  erwarten.  Was  in  Österreich  innere  Politik  heißt, 
ist  der  Kampf  der  drei  Faktoren:  Hochadel,  Kirche  und  Bourgeoisie, 
um  jenen  Rest  von  Macht,  welchen  der  alles  übersteigende  Einfluß 
der  Krone  übrig  läßt.  Dabei  werden  die  nationalen  Streitigkeiten 
als  Maske  benützt  und  durch  zeitweilige  Bündnisse  die  Sachlage 
noch  mehr  verdunkelt.  Die  Bauernschaft  ist  politisch  der  Schwanz 
der  Klerikalen;  das  Kleinbürgertum  befindet  sich  auf  dem  Wege 
zur  Proletarisierung  in  jener  Phase,  wo  es,  vor  sich  den  Abgrund 
sehend,  Hilfe  in  der  Vergangenheit  sucht,  reaktionär  wird  und 
jedem  reaktionären  Schlagwort  willenlos  anheimfällt. 

Alle  diese  Faktoren  gebärden  sich  „arbeiterfreundlich",  stehen 
aber  allen  Forderungen  der  Arbeiter  und  insbesondere  ihrer  Or- 
ganisation feindlich  gegenüber.  Untereinander  in  grimmigster  Fehde, 
bilden  sie  dem  Proletariat  gegenüber  in  der  Tat  nur  „eine  einzige 
reaktionäre  Masse".  Die  Sozialdemokraten  Österreichs  waren  ganz 
allein  auf  sich  selbst  angewiesen.  Auch  für  die  liberale  Bourgeoisie 
Österreichs  bildet  die  politische  Freiheit  längst  keinen  ernstlichen 
Programmpunkt  mehr. 

Unter  solchen  Umständen  war  die  doppelte  Aufgabe  der  Agi- 
tation für  das  neu  festgestellte  Programm  unserer  Partei  und  die 
Wiederaufrichtung  und  den  Ausbau  der  Organisation  der  Arbeiter- 
schaft eine  schwere  Aufgabe  und  wir  dürfen  mit  freudigem  Stolz 
darauf  hinweisen,  daß  wir  ernstliche  Erfolge  aufzuweisen  haben. 

Wir  wollen  hier  gleich  den  politischen  Teil  vorwegnehmen  und  in 
ganz  wenigen  Strichen  die  Fortschritte  kennzeichnen.  Es  ist  uns  vor 
allem  gelungen,  indem  wir  durch  breiteste  Öffentlichkeit  der  ganzen 
Agitation  dafür  sorgten,  daß  die  Bevölkerung  nicht  nur  unsere 
Prinzipien,  sondern  auch  unsere  Taktik  kennenlernte,  die  Aus- 
nahmeverordntingen  ad  absurdum  zu  führen.  Sie  sind  gefallen,  weil 
sie  zum  öffentlichen  Gespötte  geworden.  Die  früher  zahllosen  Ge- 

6* 


84  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


hcimbundprozesse  hatten  jeden  Anhaltspunkt  verloren;  es  ging 
einfach  nicht  mehr,  Männer  als  Geheimbündler  zu  verurteilen,  die 
in  Dutzenden  von  Zeitungen,  in  zahllosen  Versammlungen  öffentlich 
ihr  Programm  aussprachen.  Freilich  ging  das  alles  nicht  ohne  zahl- 
reiche Opfer  ab.  Als  der  bekannte  Tramwaystreik  im  Juni  1889*) 
die  Bevölkerung  Wiens  erregte,  als  die  Sozialdemokraten  es  ver- 
standen, die  Tramwaybediensteten  zu  organisieren  und  ihnen  trotz 
aller  ungesetzlichen  Eingriffe  der  Behörden,  der  Polizei,  des  Mili- 
tärs auch  die  Sympathien  des  Publikums  und  wesentliche  Erfolge 
zuzuwenden,  wurde  das  Wiener  Parteiorgan,  die  „Gleichheit",  als 
„anarchistisch"  unterdrückt,  ihr  Redakteur  als  „Anarchist"  pro- 
zessiert und  eingesperrt.  Ebenso  werden  in  Böhmen,  in  Steiermark, 
in  Triest,  in  Galizien,  wo  es  sich  zu  regen  beginnt,  unausgesetzt 
Verfolgungen  inszeniert.  Aber  die  Bewegung  wird  dadurch  nicht 
gehindert  und  die  Behörden  bequemen  sich  endlich  dazu,  fatalistisch 
zu  resignieren  und  einzusehen,  daß  auch  in  Österreich  die  sozial- 
demokratische Partei  als  politischer  Faktor  existiert. 

Am  deutlichsten  wird  der  Fortschritt  an  der  Entwicklung 
unserer  Presse  sichtbar.  Neben  der  Zensur  ist  unsere  Presse 
auch  noch  durch  dasVerbotderKolportag  e**)  belastet  und 
die  Schwierigkeit  der  Redaktion  wird  überboten  durch  jene  der 
Verbreitung.  Unter  diesen  Umständen  gewinnen  folgende  Zahlen 
an  Wrert.  Anfang  1889  hatten  wir  sechs  politische  Blätter 
(wöchentlich  und  halbmonatlich  erscheinend),  davon  erschienen 
zwei  in  tschechischer,  eines  in  polnischer  Sprache.  Sie  hatten  ins- 
gesamt 15.4  00  Abnehmer.  Dem  Parteitag  in  Wien  Ende  Juni 
1891,  also  zweiundeinhalb  Jahre  später,  konnte  berichtet  werden, 
daß  wir  7  deutsche,  5  tschechische,  2  polnische,  1  italienisches, 
1  slowenisches  Blatt,  zusammen  16  Zeitungen  mit  5  6.0  0  0  Ab- 
nehmern haben.  Dazu  kommen  aber  noch  „Fachblätter",  für 
einzelne  Branchen  berechnet,  aber  durchaus  auf  sozialdemo- 
kratischem Standpunkt  stehend;  dieselben  haben  sich  in  diesem 
Zeitraum  von  4  auf  19  (6  tschechische)  vermehrt  und  ihre  Abon- 
nentenzahl ist  von  6  0  0  0  auf  4  4.0  0  0  gestiegen.  Insgesamt  hat 
heute  die  sozialdemokratische  Presse  Österreichs  eine  Auflage  von 
128.000  Exemplaren;  1889  betrug  dieselbe  22.000  Exemplare;  ihre 
Verbreitung  hat  sich  also  in  zweiundeinhalb  Jahren  versechsfacht. 

Ein  weiterer  Beleg  für  die  Entwicklung  unserer  Partei  ist  es, 
daß  wir  die  R  e  i  c  h  s  r  a  t  s  w  a  h  1  e  n***)  im  März  dieses  Jahres  zu 

*)  Der  Streik  begann  am  4.  April  1889.  Siehe  den  dritten  Band  dieser 
Schriften:  „Victor  Adler  über  Arbeiterschutz  und  Sozialreform",  und  zwar 
das  Kapitel  „Die  Auflehnung  der  Tramwaysklave  n", 
Seite  36 ff.,  sowie  Julius  Deutsch:  „Geschichte  der  österreichischen 
Gewerkschaftsbewegung",  Seite   146. 

**)  Der  §  23  des  Preßgesetzes  verbot  die  freie  Kolportage.  (Siehe  die 
im  nächsten  Band  abgedruckte  Broschüre  „Der  Paragraph  23  des 
Preßgesetzes"  aus  dem  Jahre  1891. 

'***)  Am  23.  Jänner  1891  war  der  Reichsrat  aufgelöst  worden  und  die 
sozialdemokratische   Partei   trat   trotz   dem   bestehenden   Zensuswahlrecht 


Bericht  an  die  Internationale.  ^;> 


wirksamer  Propaganda   benützen   konnten.   Wie  erwähnt*  ist  das 

Wahlrecht  in  Österreich  an  den  Zensus  geknüpft;  es  war  also  von 
vornherein  vollständig  ausgeschlossen  für  uns,  Mandate  zu  erlangen. 
Aber  wir  ergriffen  die  Gelegenheit,  das  sozialdemokratische 
Programm  in  unzähligen  Wählerversammlungen  auseinanderzu- 
setzen, ein  Wahlflugblatt  in  allen  Sprachen  des  Landes  in  Millionen 
von  Exemplaren  zu  verbreiten  und  gewissermaßen,  wenn  auch  als 
höchst  ungeladene  Gäste,  bei  den  bürgerlichen  Parteien  unsere 
Visitkarte  abzugeben.  Die  Sache  hatte  einen  ausgezeichneten  Erfolg. 
Nicht  die  zirka  6000  Stimmen;  welche  für  Sozialdemokraten  abge- 
geben wurden,  kommen  in  Betracht,  sondern  die  Wirksamkeit  der 
Propaganda  in  uns  sonst  fernstehenden  Kreisen  und  das  steigende 
Selbstvertrauen  unserer  eigenen  Parteigenossen.  Wir  haben  damit 
zugleich  energisch  gegen  unser  reaktionäres  Wahlsystem  protestiert 
und  das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht  auf  die  Tages- 
ordnung gesetzt,  von  der  wir  es  nicht  wieder  verschwinden  lassen 
werden. 

Indem  wir  nun  zum  Vereinswesen  übergehen,  verlassen  wir  das 
eigentliche  politische  Gebiet.  Das  österreichische  Gesetz  unter- 
scheidet strenge  zwischen  politischen  und  nichtpolitischen  Vereinen. 
Die  ersteren  dürfen  mit  anderen  Vereinen  nicht  in  Verbindung 
treten,  müssen  ihre  Mitglieder  der  Behörde  anmelden  usw.  Und  die 
Polizei  benützt  diese  sachlich  ganz  unmögliche  Unterscheidung,  um 
unbequeme  Organisationen  zu  beseitigen.  Von  einigen  wenigen 
jungen  politischen  Vereinen  abgesehen,  vollzieht  sich  die  Organi- 
sation der  Arbeiterschaft  also  in  nichtpolitischen  Vereinen, 
die  mit  der  Sozialdemokratie  an  sich  gar  nichts  zu  tun  haben  und 
deren  Gründer,  Vorstände  und  Mitglieder  nur  zufällig  Sozialdemo- 
kraten sind.  Diese  Vereine  sind  Fachvereine  oder,  was  bei 
uns  dasselbe  bedeutet,  Gewerkschaften  und  Bildungs-  und 
Lesevereine.  Nach  einer,  wohlgemerkt,  unvollständigen 
Statistik  betrug  ihre  Zahl  Ende  1838  104,  Mitte  1891  230;  in  der- 
selben Zeit  stieg  die  Mitgliederzahl  von  15.600  auf  48.000.  Dabei  ist 
zu  bemerken,  daß  unser  Gewerkschaftswesen  sich  gerade  jetzt  im 
raschesten  Aufschwung  befindet;  fast  jede  Woche  bringt  die  Grün- 
dung neuer  Vereine,  die  schnell  an  Mitgliedern  zunehmen.  Der  Einfluß 
der  Organisationen  reicht  übrigens  stets  über  die  eigentlichen  Mit- 
gliedschaften hinaus,  welche,  wo  es  zum  Lohnkampf  kommt,  nur  die 
allerdings  entscheidenden  Kerntruppen  bilden.  Für  die  öster- 
reichischen Gewerkschaftsorganisationen  ist  charakteristisch,  daß 
sie  mit  großem  Erfolg  die  weibliche  n  Arbeiter  in  die  Bewe- 
gung ziehen  und  ebenso,  daß  sie  die  ungelernten  Arbeiter  nicht 
nur  zulassen,  sondern  mit  aller  Kraft  in  die  Organisation  einzube- 

in  den  Wahlkampf  ein.  Sie  konnte  zwar  kein  Mandat,  auch  nicht  sehr  viele 
Stimmen  erhalten,  aber  sie  benutzte  die  WahlbewegUfig,  bei  der  sie  in 
der  politischen  Agitation  weniger  gehindert  war  als  sonst,  zur  Aufklärung 
über   ihre   Ideen   und   zur   Altfzeigung  des   Wahlunrechts. 

Siehe  übrigens  zu  den  Angaben  dieses  Berichtes  auch  noch  das 
Referat,  das  Adler  auf  dem  Parteitag  1891  über  die  Parteitätigkeit  seit 
Hainfeld  erstattet  hat.  (Bd.  VI,  Seite  88  ff.) 


•86  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


ziehen  suchen.  Wie  wichtig  beides  nicht  nur  für  die  näheren  Ziele, 
sondern  auch  politisch  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Die  eigentlichen 
Unterstützungszwecke  (Kranken-,  Invalidenunterstützung  usw.) 
werden  von  den  jüngeren  Vereinen  nicht  mehr  verfolgt  und  sind  in 
unserer  Statistik  die  Arbeitervereine,  die  sich  damit  ausschließlich 
befassen  und  deren  Mitglieder  nach  hunderttausenden  zählen,  nicht 
mit  aufgenommen.  Dagegen  wird  Arbeitslosen-  und  Reiseunter- 
stützung gepflegt.  Einen  besonders  schwierigen  Punkt  bildet  die 
Ansammlung  von  Widerstandsfonds,  da  die  Behörden  in  Österreich 
sich  auch  in  die  innere  Organisation  und  Gebarung  der  Vereine  ein- 
mengen und  ein  größerer  Barschatz  stets  für  sie  den  Anreiz 
bildet,  unter  irgendeinem  Vorwand  den  Verein  aufzulösen.  Aber 
auch  diese  Schwierigkeit  wird  umgangen.  Sosehr  in  Österreich 
die  Notwendigkeit  einer  durchgängigen  Zentralisation  der  Gewerk- 
schaft anerkannt  wird,  so  unpraktisch  wäre  eine  solche,  solange 
die  Gefahr  besteht,  daß  die  Behörde  dann  mit  einem  Streich  den 
ganzen  Bau  vernichtet.  Wir  sind  also  gezwungen,  uns  mit  lokalen 
Vereinen  zu  behelfen,  die  erst  nach  und  nach  in  Provinzial- 
organisationen  zusammengefaßt  werden,  zwischen  welchen 
wieder  eine  regelmäßige  Verbindung  durch  alljährliche 
Kongresse  („Tage")*)  hergestellt  wird.  Solche  Kongresse 
haben  Ende  1890  und  Anfang  1891  mit  größtem  Erfolg  abgehalten: 
die  Drechsler,  Tischler,  Hutmacher,  Schuhmacher, 
Textilarbeiter,  Berg-  und  Hüttenarbeiter,  Metall- 
arbeiter, Gerber,  Bäcker,  Bauarbeiter,  und  dem- 
nächst werden  die  Schneider  zusammentreten. 

In  den  Zielen  aller  dieser  Organisationen  steht  voran:  Die  Ab- 
kürzung der  Arbeitszeit.  Obwohl  Österreich  den  gesetz- 
lichen elfstündigen  Normalarbeitstag,  freilich  mit  zahlreichen  Aus- 
nahmen, bereits  besitzt,  wird  er  mangels  genügender  staatlicher 
Inspektion  noch  immer  nur  mangelhaft  durchgeführt.  Überdies  gilt 
das  Gesetz  nur  für  die  Fabrikindustrie  und  schließlich  sind  auch 
elf  Stunden  ein  viel  zu  großes  Zugeständnis  an  die  Ausbeutung  der 
menschlichen  Arbeitskraft.  Keine  Forderung  ist  mehr  lebendig  in 
der  österreichischen  Arbeiterschaft  als  die  nach  dem  gesetzlichen 
Achtstundentag,  ihr  und  der  Erhöhung  der  elenden  Löhne  gilt  der 
energischeste  Kampf.  Es  ist  auch  in  den  letzten  Jahren  vielfach  ge- 
lungen, die  Arbeitszeit  in  einzelnen  Branchen  zu  reduzieren;  aber 
auch  in  der  Metallindustrie,  der  überall  am  weitesten  vorge- 
schrittenen, wird  noch  nirgends  weniger  als  zehn  Stunden  gear- 
beitet und  nur  die  Buchdrucker  sind  bis  zu  neuneinhalb  Stunden 
gelangt;  ihre  heroische  Anstrengung  im  letzten  Streik,  bis  auf  neun 
Stunden  zu  kommen,  blieb  leider  vorläufig  ohne  Erfolg. 

Ein  weiteres  Ziel  der  gewerkschaftlichen  Organisation  ist  die 
Verhinderung  aussichtsloser  Streiks,  dafür  aber  die  planmäßige  und 
machtvolle  Anwendung  dieses  Kampfmittels,  wo  die  Bedingungen 
dafür  vorhanden  sind.  Gerade  das  Jahr  1890  hat  in  Österreich  wie 


*)   Siehe  Deutsch  „Geschichte   der   österreichischen   Gewerkschafts- 
bewegung", Seite  171  ff. 


Bericht  <m  die  Internationale.  Kl 

überall  eine  Reihe  von  Arbeitseinstellungen  gebracht,  die,  wenn 
auch  angesichts  der  unglaublich  niedrigen  Löhne  und  ungünstigen 
Arbeitsbedingungen  durchaus  berechtigt,  doch,  weil  mit  unzuläng- 
lichen materiellen  und  geistigen  Mitteln  unternommen,  vielfach  er- 
folglos bleiben  mußten.  Wenn  auch  stellenweise  ganz  erhebliche 
Vorteile  erzielt  wurden,  so  drängte  sich  doch  die  Notwendigkeit 
eines  planmäßigen  Vorgehens  auf  Qrund  einer  festen  Organisation 
um  so  mehr  auf,  als  auch  in  Osterreich  die  Unternehmer  beginnen, 
in  ihren  Kartellen  neben  der  systematischen  Übervorteilung  des 
Konsumenten  die  Organisation  gegenüber  ihren  Lohnsklaven  sehr 
energisch  ins  Auge  zu  fassen.  Und  gerade  hier  ist  es,  wo  das 
Bedürfnis  darauf  hinweist,  daß  der  bloß  nationale  Verband  nicht 
einmal  mehr  den  Zwecken  der  Information,  der  Übersicht  des 
Weltmarktes  der  Arbeit  genügt,  daß  hier  eine  internationale 
Verbindung  regelmäßig  und  geregelt  einzutreten  hat.  Und  das 
ist  der  Punkt,  wo  vom  Brüsseler  Kongreß  wertvolle  und  prak- 
tische Resultate  erwartet  werden. 

Es  wäre  noch  unsere  Autgabe,  mitzuteilen,  inwiefern  denn  die 
Anregung,  welche  der  für  die  Arbeiterbewegung  in  allen  Ländern 
so  fruchtbringende  Pariser  Sozialistenkongreß  1889  den  Regie- 
rungen gegeben  hat  und  die  zur  famosen  Berliner  Arbeiterschutz- 
konferenz*) führte,  auf  die  österreichische  Gesetzgebung  gewirkt  hat. 
Wir  können  kurz  sein:  Der  österreichische  Arbeiterschutz  hat  auch 
nicht  den  geringsten  Fortschritt  gemacht;  die  Regierung  begnügt 
sich  damit,  auf  den  Lorbeeren  zu  ruhen,  welche  das  Gesetz  vom 
Jahre  1885  ihr  in  Berlin  eingetragen  hat,  meint  warten  zu  können, 
bis  die  andern  Staaten  ihren  vermeintlichen  Vorsprung  eingeholt 
hätten  und  sucht  zu  verheimlichen,  daß  in  vielen  Beziehungen  der 
österreichische  Arbeiterschutz  weit  hinter  dem  Auslande  zurück- 
bleibt, vor  allem,  weil  ihm  seine  wichtigste  Garantie,  wirkliches 
Koalitionsrecht,  fehlt.  So  wird  der  internationale  Arbeiter- 
schutz, im  Munde  der  Unternehmer  zur  Phrase  geworden,  der 
Feind  des  nationalen  Arbeiterschutzes;  aus  dem  internationalen 
Arbeiterschutz  wird  internationaler  Ausbeuterschutz. 

Dagegen  wird  sehr  eifrig  an  der  Fesselung  der  Arbeiterschaft 
in  Zwangsorganisationen  von  Staats  wegen  gearbeitet.  Die  soge- 
nannten „Genossenschaften"  für  das  Kleingewerbe,  welche  das 
verlorene  Ideal  der  Zünfte  wieder  heraufbeschwören  sollten,  sind 
freilich,  wo  sie  überhaupt  zustande  kamen,  dank  der  Tatkraft  und 
Klugheit  der  Arbeiter,  entweder  unschädlich  gemacht  oder  zu 
wirksamen  Waffen  für  die  Arbeiter  umgeschmiedet  worden.  Nun 
sollen  auch  die  Arbeiter  der  Großindustrie  und  des  Bergbaues  mit 
ähnlichen  Einrichtungen  beglückt  werden**).  Die  klassenbewußten 

*)  Über  die  von  Kaiser  Wilhelm  II.  für  den  März  1890  einberufene 
..Internationale  Arbcitcrschutzkonferenz",  die  praktisch  keinen  Erfolg  hatte, 
siehe  Bd.  VI,  Seite  178  f. 

**)  Die  Zünftler  wollten  die  Hinrichtung  der  Zwai)KSKrenossenscliaften, 
die  nach  der  Gewerbeordnung  für  das  Kleingewerbe  bestand,  auch  auf  die 
Großindustrie   und   den   Bergbau   ausdehnen. 


■S8  Von  Taaffe  bis  Hadcni. 


Arbeiter  Österreichs,  tüchtig  geschult  im  Geiste  der  Sozial- 
demokratie, werden  auch  damit  fertig  zu  werden  wissen. 

Sowenig  von  dem  internationalen  Zusammengehen  der  herr- 
schenden Klassen  und  der  ihre  Geschäfte  führenden  Regierungen  zu 
erwarten  war,  soviel  hat  der  internationale  Sozialistenkongreß  zu 
Paris  1889  für  die  Entwicklung  der  Arbeiterbewegung  selbst  ge- 
leistet. Gilt  das  von  den  Vereinbarungen  prinzipieller  Natur  in 
hohem  Grade,  so  mindestens  ebensosehr  von  jenem  praktischen 
Beschluß  die  Maifeier*)  betreffend.  Wir  haben  diesen  Gegenstand 
bisher  geflissentlich  übergangen,  um  ihm  mit  einiger  Ausführlich- 
keit den  Schluß  unseres  Berichtes  zu  widmen.  Denn  namentlich  die 
österreichische  Arbeiterbewegung  verdankt  der  großartigen  Idee 
eines  internationalen  Arbeiterfesttages  ganz  außerordentlich  viel. 
Die  Demonstration  zugunsten  des  gesetzlichen  Achtstundentages, 
welche  in  Paris  beschlossen  wurde,  hat  eine  Wirkung  weit  über  den 
beabsichtigten  Rahmen  hinaus  gehabt  und  ist  von  geschichtlicher 
Bedeutung.  Wenn  man  sich  an  unsere  oberflächliche  Skizze  der  poli- 
tischen Zustände  Österreichs  erinnert,  wird  man  es  begreiflich 
finden,  daß  wir  angesichts  des  Beschlusses,  die  Feier  „den  Verhält- 
nissen jedes  Landes  gemäß"  zu  gestalten,  uns  in  einiger  Verlegen- 
heit befanden.  Umzüge,  Versammlungen,  Feste,  das  alles  war  dem 
einfachen  Verbot  durch  die  Polizei  nach  aller  Voraussicht  ver- 
fallen; in  einem  Staate  wie  Österreich  gab  und  gibt  es  nur  ein  ein- 
ziges, was  möglich  ist:  die  Arbeitsruhe,  der  Festtag  von  Volkes 
wegen.  Wir  wußten  sehr  wohl,  daß  man  uns  auch  in  Österreich  mit 
dem  albernen  Einwurf  des  „Kontraktbruches"  kommen  werde;  daß 
dieselben  Leute,  welche  leichten  Herzens  Tausende  von  Arbeitern 
für  Monate  aufs  Pflaster  werfen,  wenn  deren  weitere  Ausbeutung 
nicht  einträglich  ist,  die  ohne  weiteres  „halbe  Zeit  arbeiten"  lassen, 
wenn  es  ihnen  bequem  ist,  die  bereit  sind,  zum  Zwecke  der  byzan- 
tinischen Verherrlichung  des  Festes  irgendeines  Potentaten  die 
Arbeiter  feiern  zu  lassen;  wir  wußten,  daß  diese  Leute  über 
„Kontraktbruch"  schreien  würden,  über  Schädigung  der  heiligen 
Interessen  der  „nationalen  Arbeit",  wenn  der  Arbeiter  einmal  im 
Jahre  wenige  Stunden  seinen  höchsten  Aufgaben  widmen  will.  Wir 
wußten  ebenso,  daß  die  Staatsgewalt,  wie  stets,  bereitwillig  das 
Gesetz  handhaben  wird,  wo  es  zugunsten  der  Ausbeuter  gedeutet 
werden  kann.  Trotzdem  gelang  das  Werk.  Monatelang  vorher 
wurde  durch  die  Arbeiterpresse  das  Proletariat  aufgefordert,  seines 
Festes  zu  gedenken;  zahllose  Versammlungen  dienten  diesem 
Zwecke;  Hunderttausende  von  Flugblättern  wurden  verteilt.  Wider 
ihren  Willen  half  uns  die  gegnerische  Presse,  die  erst  frech  spottete, 
dann,  als  sie  sah,  daß  es  Ernst  wurde,  für  den  1.  Mai  das  Ende  der 
Welt  weissagte. 

Die  Agitation  griff  so  tief  in  die  noch  indifferente  Masse  der 
Arbeiterschaft  ein,  wie  noch  keine  zuvor.  Es  gab  buchstäblich 
keinen  weltfernen  Winkel  Österreichs,  wo  die  Kunde  vom  1.  Mai, 

*)  Siehe  im  sechsten  Band  dieser  Schriften  das  Kapitel  „Der  Streit  um 
die  Maifeier".  (Bd.  VI,  Seite  176  ff.) 


Bericht  an  die  internationale.  w» 


dem  Arbeiterfeiertag,  nicht  mit  freudigem  Staunen,  mit  hoffender 
Erwartung  vernommen  worden  wäre.  Und  das  Wichtigste  ist,  daß 
zugleich  mit  der  Idee  der  Maifeier  überall  der  sozialistische 
Gedanke  und  der  internationale  Gedanke   verbreitet   wurde. 

Wir  brauchen  hier  nicht  zu  schildern,  wie  der  1.  Mai  1890  in 
Österreich  verlaufen.  Die  wahrhaft  erhebende,  überwältigend  große 
Demonstration  brachte  aller  Welt  zum  Bewußtsein,  daß  das 
klassenbewußte  Proletariat  Österreichs  das  Recht  habe,  mit  in  den 
ersten  Reihen  zu  marschieren. 

War  die  Agitation,  die  Rüstung,  schon  fruchtbringend  für  die 
Sache  der  Sozialdemokratie,  so  war  es  erst  recht  der  Erfolg,  der 
glorreiche  Sieg  und  die  umfassende  und  tiefgreifende  Organisations- 
arbeit der  letzten  Jahre  hat  vielfach  direkt  an  die  Maibewegung 
anknüpfen  können. 

Im  Jahre  1891  waren  die  Schwierigkeiten  größer  geworden.  Der 
Geschäftsgang  war  schlechter,  der  Tag,  ein  Freitag,  noch  weniger 
günstig  als  1890  der  Donnerstag;  die  Unternehmer  entschlossener 
zum  Widerstand;  die  Behörden  mißgünstig  wie  immer  und  gereizt 
durch  unsern  ihnen  höchst  unbequemen  Erfolg  im  Vorjahre.  Trotz- 
dem wurde  an  der  Arbeitsruhe  festgehalten  und  überall  zeigte  sich, 
daß  sie  auch  heuer  durchgeführt  wurde.  Es  ist  wahr,  daß  der  Glanz 
fehlte,  den  dem  Feste  1890  seine  unerhörte  Neuheit  und  die  sich 
verkriechende  Feigheit  der  Bourgeoisie  verliehen  hatte.  Aber  der 
Charakter  der  Feier  war  ein  gleich  ernster  und  sie  umfaßte  in 
diesem  Jahre  Proletarierschichten,  die  noch  im  Vorjahr  fehlten. 
Freilich,  die  Opfer  waren  größere.  An  einzelnen  Orten:  Warnsdorf. 
Bielitz-Biala,  Jägerndorf,  erfolgten  Ausperrungen  von  Tausenden 
von  Arbeitern,  die,  trotzdem  sie  nur  wenige  Tage  dauerten,  emp- 
findlich genug  waren.  Ebenso  erforderten  zahlreiche  Maßrege- 
lungen einzelner  Genossen  außerordentliche  Hilfsmaßregeln.  Aber 
die  Arbeiter  Österreichs  halten  dafür,  daß  diese  Opfer  durch  den 
Wert  der  Maifeier  voll  und  ganz  aufgewogen-  werden  und  be- 
schlossen auf  dem  sozialdemokratischen  Parteitage  zu  Wien,  Ende 
Juni  1891,  an  dem  Arbeiter!  eiertag  am  1.  Mai  unter 
allen  Umständen  festzuhalten. 

Allerdings  —  und  das  muß  an  dieser  Stelle  gesagt  werden,  wie 
es  von  uns  in  Brüssel  unverblümt  ausgesprochen  werden  wird  — 
die  Maifeier  verliert  die  Hälfte  des  Wertes,  wenn  sie  ihres  inter- 
nationalen Charakters  als  W  eltfeiert  agdesProletariats 
entkleidet  wird.  Und  das  geschieht,  wenn  nicht  nur  die  Art  der 
Feier,  was  in  Paris  vorgesehen  wurde,  sondern  wenn  auch  der 
Tag  der  Feier  ein  verschiedener  ist.  Die  Genossen  in  Deutschland 
und  England  mögen  wohlerwogene  Gründe  haben,  die  Maifeier  auf 
den  Sonntag  zu  verlegen;  wir  werden  sie  hören  und  würdigen.  Sc 
fern  uns  eine  ungebührliche  Einmischung  liegt,  werden  wir  aber 
doch  geltend  machen  müssen,  daß  hier  nicht  ausschließlich  lokale 
Verhältnisse,  sondern  auch  internationale  Verpflichtungen  gar  sehr 
ins  Gewicht  lallen.  Die  Verschiebung  in  Deutschland  und  England 


90  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


hat  nicht  nur  den  idealen  üehalt,  die  moralische  Wirkung  der 
Maifeier  beeinträchtigt,  sie  hat  auch  ihre  an  sich  schwere  Durch- 
führung in  Österreich  noch  ganz  bedeutend  erschwert.  Die  öster- 
reichischen Delegierten  sind  darum  beauftragt,  auf  dem  Brüsseler 
Korfgreß  energisch  für  eine  einheitliche  Gestaltung  der 
Maifeier  einzutreten. 

Zum  Schluß  kommend,  fassen  wir  unseren  Bericht  dahin  zu- 
sammen, daß  die  Sozialdemokratie  Österreichs  ihrer  Aufgabe  nach 
Kräften  nachzukommen  bemüht  ist.  Der  Revolutionierung  der  Wirt- 
schaft, dem  Fortschreiten  des  Kapitalismus  folgt  Schritt  für  Schritt 
die  Revolutionierung  der  Geister  durch  die  Sozialdemokratie.  Den 
Gegensatz  zwischen  Ausbeutern  und  Ausgebeuteten  zu  einem  be- 
wußten zu  machen,  aus  der  willenlosen  Masse  von  verelendeten 
Lohnsklaven  ein  organisiertes  Heer  von  Streitern  für  die  Emanzi- 
pation der  Arbeiterklasse  zu  gestalten,  diese  Armee  physisch 
kampffähig  zu  machen,  ihr  geistige  Waffen  zuzuführen,  das  ist  das 
große  Werk,  dem  wir  dienen.  Wir  haben  das  Bewußtsein,  daß  es 
vorwärts  geht.  Wir  fühlen,  daß  den  Elenden,  den  Geknechteten 
überall  der  erhabene  Gedanke  aufgeht,  daß  an  ihrer  eigenen  Be- 
freiung arbeiten,  bedeute,  für  die  Zukunft  des  Menschengeschlechts 
kämpfen;  und  daß  sie  nicht  nur  Genossen  im  Unglück  und  in  der 
Schmach,  sondern,  daß  sie  auch  Genossen  im  Kampf  haben  in  allen 
Ländern  des  kultivierten  Erdballes.  In  unserm  Parteiprogramm 
heißt  es:  „Der  Kampf  gegen  die  Ausbeutung  muß  international  sein, 
wie  die  Ausbeutung  selbst",  und  in  diesem  Sinne  begrüßen  wir  den 
Kongreß  zu  Brüssel,  wünschen  seiner  Arbeit  Erfolg  und  rufen: 
Hoch  die  Vereinigung  des  Proletariats  aller  Länder!  Hoch  die 
internationale  Sozialdemokratie! 

An     den     Internationalen     Sozialistischen      Arbeiterkongreß 

Zürich  1893. 

Als  vor  zwei  Jahren  der  Brüsseler  Kongreß  zusammentrat,  da 
konnten  wir  unsern  Freunden  und  Kampfgenossen  im  Ausland  über 
die  Neukonstituierung  der  sozialdemokratischen  Arbeiterpartei  in 
Österreich  berichten;  heute,  nach  zwei  weiteren  Jahren,  sind  wir  in 
der  Lage,  bedeutende  Fortschritte  zu  verzeichnen. 

Die  Schwierigkeiten,  welche  unserer  Partei  in  Österreich  ent- 
gegenstehen, sind  in  dem  letzten  Bericht  ausführlich  gewürdigt 
worden.  Langsam  nur  vollzieht  sich  in  unserem  Lande  der  Über- 
gang von  feudalen  Verhältnissen  zu  moderner  kapitalistischer 
Produktion.  Neben  großen  Industriezentren  mit  für  die  Sozial- 
demokratie reifem  und  empfänglichem  Proletariat  gibt  es  weite 
Länderstrecken,  wo  rückständige  Wirtschaftsformen  vorwiegen. 
Dementsprechend  ist  der  politische  Charakter  Österreichs  durch 
die  absolute  Übermacht  des  Feudaladels  bestimmt,  der  sich  halb- 
moderner  parlamentarischer  Formen  bedient  und  seine  Herrschaft 
nur  notgedrungen  mit  der  Bourgeoisie  teilt.  Je  mehr  freilich  auch 
der  Großgrundbesitz  gezwungen  ist,  zu  kapitalistischer  Produktion 
überzugehen,  um  so  deutlicher  wird  die  Verschmelzung  der  Klassen- 


he  rieht  an  die  Internationale.  M 

interessen  von  Qrundadel  und  Bourgeoisie,  und  dem  Proletariat 
gegenüber  gehen  sie  bereits  einträchtig  zusammen.  Jener  Wett- 
eifer zwischen  Konservativen  und  Liberalen,  der  gleichwie  in 
England  auch  in  Osterreich  seine  Zeit  hatte,  die  Arbeiterschaft  dem 
Gegner  abzujagen  durch  billige  Konzessionen  -  auf  politischem 
üebiet  von  seiten  der  letzteren,  auf  dem  (iebiet  der  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung durch  die  ersteren  -  ist  verschwunden,  seitdem 
Liberale  wie  Konservative  immer  mehr  wesentlich  dieselben  wirt- 
schaftlichen Interessen  haben,  seit  sie  sich  beide  der  organisierten 
Arbeiterklasse  als  einer  selbstbewußten  Macht  gegenübersehen, 
die  ebensowenig  zu  kaufen  als  einzuschüchtern  ist.  Beide  reaktio- 
näre Parteien  wenden  nunmehr  ihre  eigennützige  Liebe  dem 
kleinbürgerlichen  und  kleinbäuerlichen  Element  zu,  welches  aber 
seinerseits,  die  unvermeidliche  Proletarisierung  vor  Augen,  aller- 
dings reaktionären  Experimenten  zugänglich  ist,  aber  immer  mehr 
seine  eigenen  Wege  des  kleinbürgerlichen  Radikalismus  geht. 
Überall  zeigt  sich  auch  in  Österreich,  daß  diese  kleinbürgerliche, 
vielfach  in  antisemitischen  Formen  auftretende  Bewegung  den 
Händen  ihrer  feudalen  Protektoren  entgleitet  und  schließlich  der 
Sozialdemokratie  die  Wege  ebnet. 

Die  bürgerliche  Revolution  ist  in  Österreich  in  den  Anfängen 
stecken  geblieben,  sie  ist  verkrüppelt  und  verfälscht.  Das  modern- 
konstitutionelle Gewand,  mit  welchem  der  Parlamentarismus  den 
Polizeistaat  notdürftig  deckt,  existiert  selbst  als  Maske  ausschließ- 
lich für  die  besitzenden  Klassen;  sämtliche  politischen  Rechte 
sind  darauf  zugeschnitten,  für  sie  ein  Monopol  zu  bilden.  So  muß 
denn  die  Arbeiterklasse  sich  die  allernotwendigsten  Waffen  für 
den  Klassenkampf,  die  ihr  in  europäischen  Ländern  der  Sieg  der 
Bourgeoisie  geliefert,  erst  selbst  erkämpfen.  Mögen  sich  unsere 
französischen  und  englischen  Genossen  eine  sozialdemokratische 
Bewegung  vorstellen  ohne  Preßfreiheit,  eine  gewerkschaftliche 
Bewegung  ohne  Koalitionsfreiheit;  mögen  die  deutschen  Genossen 
sich  eine  politische  Bewegung  ohne  Wahlrecht  vorstellen.  Und 
doch  sind  das  die  Bedingungen,  unter  welchen  wir  in  Österreich 
zu  kämpfen  haben. 

Ein  ganz  beträchtlicher  Teil  unserer  Arbeit  mußte  darum 
zunächst  der  Erringung  vernünftiger  Preßzustände  gewidmet 
werden.  Im  Winter  1892  wurde  eine  sehr  lebhafte  und  wirksame 
Agitation  entfaltet,  die  insbesondere  die  Beseitigung  der  Hinder- 
nisse, welche  das  heutige  Preßgesetz  der  Verbreitung  unserer 
Druckschriften  in  den  Weg  legt,  zum  Ziele  hatte.  Dieses  geradezu 
lächerliche  Monstrum  von  Gesetz  bildet  ein  großes  Hindernis  für 
unsere  Agitation  und  macht  vor  allem  die  Entwicklung  unserer 
P  a  r  t  e  i  p  r  e  s  s  e  unmöglich,  so  daß  wir  bisher  kein  einziges  täg- 
lich erscheinendes  Blatt  besitzen.  In  unserm  Kampfe  stehen  wir 
gänzlich  allein;  die  bürgerliche  Presse  ist  mit  ihrem  Monopol  zu- 
frieden und  trägt  ihm  zuliebe  gern  die  Schmach  der  Zensur,  welche 
sie  freilich  nicht  besonders  drückt.  Trotzdem  gelang  es  uns,  durch 
eine   eifrige   Agitation   das   Abgeordnetenhaus   zu    veranlassen,   die 


92  Von  Taufte  bis  Badeni. 


Preßreform*)  bis  zu  einem  von  der  Kommission  angenommenen 
Entwurf  zu  fördern,  der  zwar  durchaus  nicht  vollkommen  ist, 
dessen  Annahme  aber  die  ärgsten  Mißstände  abstellen  würde. 
Der  Energie  unserer  Partei  wird  es  vorbehalten  bleiben,  das 
Parlament  zu  zwingen,  diesen  kleinen  Schritt  nach  vorwärts  auch 
wirklich  zu  machen  und  damit  eines  der  wesentlichsten  Hindernisse 
für  unsere  Agitation  zu  beseitigen. 

Mindestens  ebenso  bedeutungsvoll  ist  der  Kampf  für  das  a  1 1- 
g  e  in  eine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht,  der  mit  er- 
neuter Kraft  von  unserer  Partei  geführt  wird.  Die  österreichische 
„Verfassung"  drückt  zwei  Dritteln  der  Bevölkerung  die 
Schmach  der  politischen  Rechtlosigkeit  auf.  Nur  ein  schwaches 
Drittel  hat  das  Wahlrecht,  und  zwar  so  verteilt,  daß  der  Löwen- 
anteil des  politischen  Einflusses  einer  kleinen  Clique  von  Groß- 
grundbesitzern und  Kapitalisten  zufällt,  welche  ihr  Privilegium  dazu 
gebrauchen,  die  besitzlosen  Volksklassen  unter  das  Joch  einer 
brutalen  Klassengesetzgebung  zu  beugen  und  eine  volksfeindliche 
Verwaltung  und  Justiz  mit  Gewalt  aufrechtzuerhalten.  Längst  war 
das  Widersinnige  dieses  Zustandes  erkannt.  Aber  das  Erstarken 
der  Sozialdemokratie  machte  es  auch  den  Gegnern  klar,  daß  er 
fernerhin  einfach  unmöglich  ist.  Die  Arbeiterschaft  ist  aner- 
kanntermaßen die  zielbewußteste,  politisch  reifste  Klasse  in  Öster- 
reich; ihre  Organisation  wird  respektiert  und  gefürchtet  und  sie 
hat  sich  eine  Geltung  erworben,  welche  alle  fühlen,  die  aber  im 
Parlament  nicht  zum  Ausdruck  kommt,  welches,  weit  entfernt 
davon  eine  Volksvertretung  zu  sein,  die  zahlreichste  und  politisch 
tüchtigste  Klasse  ausschließt.  Diese  Tatsache  wird  immer  empö- 
render für  die  Rechtlosen,  aber  auch  immer  unbehaglicher  für  die 
Privilegierten. 

So  lagen  die  Dinge,  als  im  April  1893  unsere  belgischen  Partei- 
genossen durch  einen  heldenmütigen  Vorstoß  der  Kammer  das 
allgemeine  Stimmrecht  abzuzwingen  wußten.  Wie  ein  Blitzstrahl 
wirkte  dieses  Ereignis  in  Österreich,  dem  Lande,  das  nunmehr  das 
politisch  rückständigste  in  Europa  geworden  war.  Nicht  nur  wir 
Sozialdemokraten,  sondern  die  breitesten  Volksschichten  wußten 
sofort,  daß  nunmehr  der  Kampf  ums  Wahlrecht  auch  bei  uns  ent- 
brennen würde.  Ja  selbst  die  Sippe  des  Grundadels  und  der  Bour- 
geoisie packte  die  Ahnung  an,  daß  ihr  Monopol  unhaltbar  geworden 
sei.  Unter  diesen  Umständen  gestaltete  sich  die  Maifeier  1893 
im  ganzen  Reiche   zu   einer  großartigen  Manifestation,  nicht   mir 

*)  Im  November  1892  wurde  zwar  im  Preßausschuß  die  Aufhebung  des 
Kolportageverbotes  mit  allen  gegen  die  Stimmen  der  Klerikalen  be- 
schlossen, aber  die  Regierung  erklärte,  darauf  nicht  eingehen  zu  können 
und  so  wurde  erst  im  Jahre  1894  die  Kautionspflicht  der  Zeitungen 
aufgehoben.  Außerdem  wurde  die  Entschädigungspflicht  des  Staates  für 
aufgehobene  Konfiskationen  geregelt  und  der  freie  Verkauf  von  Zeitungen 
in  den  der  Behörde  angezeigten  Räumen  zugelassen.  Am  7.  Juli  1894 
wurde  dieses  Gesetz  sanktioniert.  Siehe  übrigens  Adlers  Broschüre:  „Der 
§  23  des  österreichischen  Preßgesetzes"  aus  dem  Jahre  1891. 


Bericht  an  die  Internationale. 


für  den  A  c  h  t  s  t  u  n  d  e  n  t  a  g,  sondern  mich  für  das  allgemeine 
Wahlrecht.  In  Wien  marschierten  150.000  Männer  und  Frauen 
in  militärisch  geordneten  Reihen  auf  und,  was  vorher  unerhört  ge- 
wesen, auf  allen  Plätzen,  vor  den  Palästen  des  Adels,  in  der  Hof- 
burg selbst  ertönten  die  donnernden  Rufe:  „Hoch  die  internationale 
Sozialdemokratie!  Hoch  der  Achtstundentag!  Hoch  das  allgemeine 
Wahlrecht!"  Und  wenige  Wochen  später  wurden  die  Wahlsiege 
der  deutschen  Sozialdemokratie  in  allen  Provinzen  in  einer  Reihe 
von  großartigen  Meetings  gefeiert,  die  den  Entschluß  zu  kämpfen 
wiederholten.  Als  nun  am  9.  Juli  im  Rathaus  zu  Wien,  im  Herzen 
der  Hauptstadt,  50.000  Arbeiter  und  Arbeiterinnen  erschienen,  um 
zu  erklären,  „nicht  ruhen  und  vor  keinem  Opfer  zurückschrecken 
zu  wollen"  bis  das  Wahlrecht  erkämpft  sei,  da  war  endlich  das 
Wahlrecht  auf  die  Tagesordnung  in  Österreich  gesetzt  und  Mittel- 
punkt der  politischen  Diskussion  geworden.  Die  Sozialdemokratie 
hat  unbestritten  die  Führung  in  diesem  Kampf  übernommen;  sie 
ist  die  einzige  Partei,  die  den  Mut  dazu  besitzt,  und  sie  wird  un- 
erschrocken bis  ans  Ende  gehen. 

Über  diesen  politischen  Kämpfen  wurde  jedoch  unsere  wich- 
tigste Aufgabe :  die  Erweckung  und  Organisation  des 
Proletariats,  keineswegs  vernachlässigt.  Breite,  bisher  gänz- 
lich indifferente  Schichten  wurden  der  Sozialdemokratie  zugeführt 
und  die  furchtbare  Not,  die  unerhörte  Ausdehnung  der  Arbeitslosig- 
keit, die  im  Winter  1891/92  den  Bankrott  der  herrschenden  Ord- 
nung offenbar  machte,  führte  uns  neue  Scharen  zu,  die  erkennen, 
daß  nur  eine  revolutionäre  Partei,  welche  die  Ausbeutung  be- 
seitigt, das  Besitzmonopol  aufhebt,  dem  mörderischen  Bruderkrieg 
des  Menschen  gegen  den  Menschen  ein  Ende  macht,  einen  ver- 
nünftigen sozialen  Zustand  schaffen  kann;  daß  aber  auch  einzig 
und  allein  das  organisierte  Proletariat  selbst  den 
Kampf  führen  kann  und  wird.  Unsere  Agitation  drang  weit  über  das 
städtische  Proletariat  hinaus  und  fängt  an,  auch  auf  dem  flachen 
Land  Erfolge  zu  haben,  trotz  der  Hindernisse,  welche  in  einem 
durch  Jahrhunderte  systematisch  in  geistiger  Knechtschaft  ge- 
haltenen Land  insbesondere  die  Macht  der  klerikalen  Partei  be- 
reitet, welche  die  Religion  als  Mantel  für  ihr  Bedürfnis,  zu  herrschen 
und  auszubeuten   benutzt. 

Daß  dieser  Kampf  auch  Opfer  kostet,  ist  selbstverständlich; 
stets  sind  eine  ganze  Anzahl  unserer  Genossen  in  Haft  und  eben 
jetzt  stehen  in  Prag  allein  53,  in  Brunn  36  Genossen  vor  Gericht 
wegen  des  „Verbrechens",  daß  sie  die  Säbelhiebe  der  Polizisten 
und  Soldaten  gelegentlich  einer  von  der  Behörde  widergesetzlich 
verbotenen  Versammlung  nicht  stillschweigend  hingenommen 
haben*). 


)  Es  handelte  sich  um  die  blutigen  Zusammenstöße  nach  den  Ver- 
sammlungen vom  18.  Juni  1893.  In  Brunn  wurden  deshalb  46  Personen 
zu  insgesamt  17  Jahren,  3  Monaten  und  3  Tagen  Kerker  und  Arrest 
verurteilt.  Ms  wird  darüber  später  berichtet.   (Siehe  Seite   114*). 


94  Von  Taaffe  bis  Kadern. 


Zeugnis  von  den  Fortschritten  der  sozialdemokratischen  Agita- 
tion gibt  das  Entstehen  zahlreicher  politischer  Vereine  und 
das  Erstarken  unserer  Presse.  Gegenwärtig  besitzt  unsere  Partei 
13  deutsche,  8  tschechische  und  2  polnische  poli- 
tische Zeitungen  (von  den  Fachblättern  abgesehen),  die  freilich 
sämtlich  nur  wöchentlich  oder  halbmonatlich  erscheinen  können, 
deren  Verbreitung  aber  von  Monat  zu  Monat  zunimmt.  Die  in  Wien 
erscheinende  „Arbeiter-Zeitung"  hat  eine  Auflage  von  19.000  Exem- 
plaren, die  Wiener  „Volkstribüne"  von  9000,  die  „Arbeiterin- 
nenzeitung"  von  mehr  als  4000  Exemplaren.  Insbesondere  das 
Gedeihen  des  letzterwähnten,  von  unseren  braven  Genossinnen  im 
Jänner  1892  gegründeten  Blattes  ist  ein  gutes  Zeichen  für  unsere 
Erfolge. 

Der  wichtigste  Fortschritt,  den  die  Sozialdemokratie  in  Öster- 
reich seit  dem  Brüsseler  Kongreß  machte,  besteht  in  dem  Ausbau 
ihrer  Parteiorganisation.  In  Österreich  ist  gerade  dieser 
Punkt  einer  der  schwierigsten,  da  die  zweideutigen  Bestimmungen 
eines  verzopften  Vereinsgesetzes  einerseits,  die  Klippe  nach  Be- 
lieben dehnbarer  Geheimbundparagraphen  anderseits,  vermieden 
werden  mußten.  Zudem  standen  die  Behörden  und  die  Gerichte 
auf  dem  Standpunkt,  die  Sozialdemokratie  an  sich  sei  „staats- 
gefährlich", und  die  Zugehörigkeit  zu  ihr  eine  strafbare  Handlung. 
Noch  vor  wenigen  Jahren  wurden  Parteigenossen  auf  die  bloße 
Tatsache  hin,  daß  sie  „geständig"  wraren,  ein  sozialdemokratisches 
Blatt  zu  abonnieren,  als  „Geheimbündler"  monatelang  in  Unter- 
suchungshaft gehalten  und  „rechtskräftig"  verurteilt.  Die  Ver- 
folgung jedes  Ansatzes  zur  Organisation  nahm  mitunter  geradezu 
wahnsinnige  Formen  an  und  die  Verfolger  verfügen  in  Österreich 
über  Gesetze  von  solcher  Kautschuknatur,  daß  sie  sich  zu  jedem 
Henkerdienst  gebrauchen  lassen.  Wenn  unser  III.  Parteitag,  der  zu 
Pfingsten  1892  in  Wien  tagte,  trotzdem  eine  Parteiorganisation 
schuf,  die  seither  wirklich  ins  Leben  trat,  trotz  aller  hier  kurz 
angedeuteten  Hindernisse,  so  ist  das  nur  der  unüberwindlichen 
Kraft  zuzuschreiben,  die  unserer  Partei  aus  den  Verhältnissen 
selbst  zuströmt.  Die  österreichische  Bürokratie  sah  sich  eben  einer 
augenfälligen  Tatsache  gegenübergestellt,  der  Tatsache,  daß  die 
Arbeiterschaft,  vom  sozialdemokratischen  Geist  erfüllt,  als  ein  be- 
wußter, einheitlicher  und  kraftvoll  wollender  Organismus  dasteht 
und  sie  fügte  sich  dieser  Tatsache.  Die  Durchführung  der  Organi- 
sation begegnete  verhältnismäßig  wenig  Hindernissen;  sie  wurde 
von  den  Behörden  stillschweigend  anerkannt  und  sie  funktioniert 
in  zufriedenstellender  Weise. 

Der  Wiener  Parteitag  1892  nahm  als  Grundlage  der  Organisa- 
tion die  vollste  Öffentlichkeit  an.  Die  Teilung  der  Organi- 
sationsgebiete schließt  sich  an  die  politische  Einteilung  in  Kron- 
länder und  Bezirke  an.  Die  einzelnen  Orte  bilden  Lokalorganisa- 
tionen, deren  Vertrauensmänner  die  Bezirks-  respektive  Provinzial- 
vertretung  bilden.  Mindestens  alljährlich  soll  die  Landeskonfe- 
renz, mindestens  alle  zwei  Jahre  der  Parteitag  zusammen- 


Bericht  an  die  Internationale.  95 

treten.  Der  Parteitag  wählte  auch  •  zum  erstenmal  in  Osterreich 
—  eine  aus  neun  Mitgliedern  bestehende  Partei  Vertretung 
welche  die  Geschäfte  der  Partei  zu  besorgen  hat  und  dem  Partei- 
tag verantwortlich  ist. 

Unsere  Organisation  gewährt  jeder  (iruppe  von  Parteigenossen 
die  weitgehendste  Selbständigkeit,  macht  es  aller  möglieh,  die 
Kraft  der  Partei  zusammenzufassen,  planmäßig  zu  arbeiten  und  die 
Mittel  der  Partei  jenen  Punkten  zuzuführen,  wo  sie  am  notwendig- 
sten gebraueht  werden. 

Noeh  sei  erwähnt,  daß  die  Organisation  auf  die  Sprachgrenzen 
gebührende  Rücksieht  nimmt,  und  daß  die  tschechischen  und 
polnischen  Genossen  ihre  volle  Autonomie  bewahren,  obwohl 
sie  vollständig  im  Rahmen  der  Gesamtorganisation  stehen.  In  dem- 
selben vielsprachigen  Österreich,  dessen  bürgerliche  Parteien  vom 
nationalen  Zwist  zerklüftet  und  gelähmt  werden,  steht  einzig  die 
Sozialdemokratie  da  als  eine  jede  nationale  Eigenart  achtende, 
dabei  aber  einheitliche,  streng  international  organisierte 
Partei. 

An  dieser  Stelle  sei  konstatiert,  daß  die  Bewegung  unserer 
Genossen  tschechischer  und  polnischer  Zunge  mit  großer 
Energie  und  bewundernswertem  Mut  unter  den  schwierigsten 
Verhältnissen  geführt  wird.  Die  tschechische  und  die  polnische 
Sozialdemokratie  stehen  auf  höchst  exponiertem  Posten  und  wissen 
ihn  trotz  aller  Hindernisse  zu  behaupten. 

Bedeutungsvoll  wurde  eine  Reihe  von  Beschlüssen  des  III.  Par- 
teitages, welche  Gleichstellung  der  weiblichen  Parteimitglieder 
im  Programm,  Organisation  und  Agitation  bezweckten.  Die  s  o- 
zialdemokratische  Frauenbewegung  hat  in  der  Tat 
ganz  beachtenswerte  Fortschritte  gemacht.  Sie  ist  wesentlich  auf- 
gebaut auf  der  Einbeziehung  der  Arbeiterinnen  in  die  Gewerk- 
schaften; ihr  nächster  Ausdruck  ist  aber  bereits,  daß  überall 
auch  in  den  politischen  Organisationen  unsere  Genossinnen  tat- 
kräftig und  mit  großem  Erfolg  eingreifen.  Die  gefährlichste  Klippe 
für  eine  gesunde  sozialdemokratische  Arbeiterinnenbewegung, 
welche  in  der  Verquickung  mit  den  bürgerlichen  Anläufen  zur 
„Frauenemanzipation''  besteht,  wurde  in  Österreich  durch  die  von 
allem  Anfang  an  kräftige  Betonung  ihres  proletarischen 
Charakters  vermieden. 

Auch  die  gewerkschaftliche  Organisation  wurde 
in  den  letzten  beiden  Jahren  ganz  wesentlich  gefördert,  und  das 
trotz  des  verbissenen  Widerstandes  der  Unternehmerschaft, 
welcher  die  Bürokratie,  die  Polizei  und  das  Militär  zur  Verfügung 
steht.  Der  enge  Rahmen  unserer  Vereinsgesetze  schränkt  das  Koali- 
tionsrecht ohnehin  sehr  ein.  Aber  noch  viel  ärger  ist  die  Willkür  der 
Exekutive,  die  Brutalität,  mit  welcher  der  einzelne  Beamte  das 
dem  Arbeiter  in  kümmerlichem  Ausmaß  gesetzlich  gewährleistete 
Recht  mit  Füßen  tritt.  Da  mußte  jeder  Zollbreit  Boden  erst  er- 
obert werden  und  wir,  die  revolutionäre  Partei,  sind  gezwungen, 
mit  Hilfe  unserer   Presse  Bezirk  um   Bezirk,  Provinz  um   Provinz 


96  Von  Taaffc  bis  Badcni. 


dem  Gesetz  zu  unterwerfen  und  die  k.  k.  Beamten  Achtung  vor 
dem  Gesetz  zu  lehren.  Mit  welcher  zügellosen  Schamlosigkeit 
die  Staatsbehörden  in  Österreich  dem  Geldsack  Schergendienste 
leisten,  möge  daran  bemessen  werden,  daß  in  gewissen  Kronländern 
(Böhmen,  Galizien,  Steiermark)  fast  bei  jeder  Arbeitseinstellung 
den  streikenden  Arbeitern  von  der  politischen  Behörde  gedroht 
wird,  sie  als  arbeitslose  „Vagabunden"  abzuschieben.  Und  in  sehr 
vielen  Fällen  wird  diese  Infamie  auch  tatsächlich  vollbracht. 

Trotz  solcher  asiatischer  Verhältnisse  ist  es  gelungen,  für  die 
wichtigsten  Industriezweige  gewerkschaftliche  Organisationen  zu 
schaffen,  die  sich  über  das  ganze  Reich  erstrecken.  Jährliche 
Fachkonferenzen  und  zahlreiche  Fachblätter  befestigen  den  Zu- 
sammenhalt. Die  internationalen  Gewerkschaftskongresse,  die  in 
Zürich  zugleich  mit  dem  Sozialistenkongreß  stattfinden,  werden 
von  Österreich  aus  zahlreich  beschickt  werden  und  von  den  Fort- 
schritten unserer  Gewerkschaftsorganisationen  sich  überzeugen. 

Wenn  wir  nunmehr  zum  Schlüsse  dem  internationalen 
Momente  der  sozialdemokratischen  Bewegung  einige  Worte  widmen, 
so  müssen  wir  der  Maifeier  in  erster  Linie  gedenken,  welche 
ihr  deutlichster,  populärster  und  darum  wichtigster  Ausdruck 
geworden  ist.  Für  Österreich  ist  sie  ein  Hebel  der  Agitation 
geworden,  wie  vielleicht  in  keinem  andern  Lande.  Der  1.  Mai 
ist  der  Tag  des  klassenbewußten  Proletariats,  der  Tag,  an 
welchem  es  sich  selbst  seine  Stärke  und  seine  Hoffnungen  zum 
Bewußtsein  bringt,  der  Tag,  an  welchem  es  den  herrschenden 
Klassen  das  Wachstum  seiner  Macht  zeigt.  Der  Hauptwert  der 
Maifeier  liegt  aber  darin,  daß  sie  ein  W  e  1 1  f  e  i  e  r  t  a  g  des  Pro- 
letariats ist,  daß  sie  in  allen  Ländern  zugleich  und  möglichst  i  n 
derselben  Weise  dem  weltbefreienden  Gedanken  der  Sozial- 
demokratie Ausdruck  geben  werde.  Für  uns  Österreicher  gehört 
die  Arbeitsruhe  unbedingt  zur  Maifeier  und  wir  haben  sie  auch 
1893,  allerdings  nicht  ohne  schwere  Opfer,  aber  mit  Erfolg  durch- 
gesetzt. Nun  meinen  wir  in  aller  Bescheidenheit,  was  uns,  der 
schwachen  und  jungen  Partei,  möglich  ist,  muß  auch  den  alten, 
sturmerprobten  Kämpfern  in  Deutschland,  Frankreich  und  England 
erreichbar  sein.  Der  Beschluß  des  Brüsseler  Kongresses, 
wenigstens  das  Datum  des  1.  Mai  einzuhalten,  wurde  leider  von 
den  Arbeitern  Englands  nicht  befolgt  und  mit  der  Arbeits- 
ruhe, die  überall,  wo  sie  „nicht  unmöglich"  ist,  eingehalten 
werden  sollte,  blieben  die  Österreicher  1892  ziemlich  ganz  allein. 
Das  erschwert  nicht  nur  unsere  ohnehin  schwierige  Lage  im 
eigenen  Lande  noch  mehr,  es  schwächt  auch  ganz  ent- 
schieden die  internationale  Bedeutung  der  Feier 
a  b.  Die  österreichischen  Delegierten  wurden  deshalb  beauftragt,  im 
Interesse  ihrer  eigenen  wie  der  internationalen  Organisation  in 
Zürich  wiederholt  auf  eine  einheitliche  Gestaltung  der 
Maifeier  zu  dringen. 

Indem  wir  diese  trockene  Aufzählung  von  Tatsachen  schließen, 
begrüßen   wir  unsere   Bruderparteien   in  allen   Ländern   und   ver- 


Taaffes  Sturz  und  die  Koalition.  -*7 


sichern  sie  unserer  Solidarität.  Die  Sozialdemokratie  Österreichs 
sucht  die  schwere  Aufgabe,  die  ihr  gestellt  Ist,  nach  Kräften  zu 
erfüllen  und  ihren  Platz  in  den  Reihen  des  kämpfenden  Proletariats 
mit  Ehren  auszufüllen.     In  demselben  Maße  als  der  Kapitalismus 

die  Wirtschaft  umwälzt,  folgt  ihm  die  Revolutionierung  des  Prole- 
tariats durch  die  Sozialdemokratie.  Meute  schon  steht  in  jedem 
Lande  ein  kampfbereites,  opfermutiges,  siegesgewisses  Heer  von 
klassenbewußten  Proletariern  und  Proletarierinnen  bereit.  Möge 
der  Züricher  Kongreß  die  internationale  Vereinigung  befördern, 
möge  seine  Arbeit  erfolgreich  sein  und  uns  dem  Tage  näherbringen, 
wo  der  Ruf  unseres  Lehrers  und  Vorkämpfers:  Proletarier  aller 
Länder  vereinigt  euch!  zur  Tatsache  geworden  und  die  Befreiung 
der  Arbeiterklasse  von  den  Fesseln  des  Klassenstaates  und  der 
Ausbeutung  vollendet  ist. 

Hoch  die  internationale  Sozialdemokratie! 

Taaffes  Sturz  und  die  Koalition. 

Parteibericht  —  Parteitag  189  4*). 

Genossen  und  Genossinnen!  Wenn  die  Parteivertretung  ihrer 
Pflicht  genügt,  über  die  Tätigkeit  der  Partei  in  den  letzten  Jahren 
seit  dem  letzten  Parteitag  Bericht  zu  erstatten,  so  sind  eigentlich 

*)  Gleich  nachdem  das  neugewählte  Abgeordnetenhaus  im  April  1891 
zusammengetreten  war,  wurden  Anträge  auf  Änderung  der  Wahlordnung 
eingebracht:  meist  solche  auf  Reformen  bei  Aufrechterhaltung  des  Zensus- 
wahlrechts; aber  immerhin  auch  schon  solche  auf  allgemeines  Wahlreeht. 
Am  25.  Mai  wurde  ein  Wahlreformausschuß  gewählt,  dem  alle  diese  An- 
träge zugewiesen  wurden.  Am  8.  Oktober  1891  brachte  Pernerstorfer 
seinen  Antrag  auf  Einführung  des  allgemeinen  Wahlrechts  ein.  Wieder 
geschah  nichts.  Aber  die  Arbeiterschaft  rief  auf  jeder  Versammlung  nach 
dem  Wahlrecht.  Aber  dieses  und  auch  das  nächste  Jahr  hatte  die  Arbeiter- 
schaft genug  zu  tun,  um  ihre  Organisation  in  Ordnung  zu  bringen  und 
die  Gefahr  der  Spaltung  —  die  durch  die  Affäre  Hanser  nahegerückt 
war  —  zu  bannen.  Endlich  hatte  die  Sozialdemokratie  ihre  Organisation 
gefestigt  und  konnte  nun  zur  Aktion  übergehen. 

Am  16.  März  1893  brachte  der  Jungtscheche  Dr.  Slavik  im  Namen 
seiner  Partei  den  Antrag  auf  Einführung  des  allgemeinen  Wahlrechts  ein. 
(Der  Antrag  ist  oben  in  der  Wahlrechtsbroschüre,  Seite  55,  abgedruckt.) 
Der  Antrag  Slavik  wurde  gerade  im  rechten  Augenblick  eingebracht.  Der 
nationale  Streit  war  eben  auf  seinem  Höhepunkt  angelangt.  Taaffe  hatte 
vergeblich  versucht,  einen  nationalen  Frieden  der  bürgerlichen  Parteien 
herbeizuführen.  Die  Agitation  der  Sozialdemokratie  für  das  allgemeine 
Wahlrecht  fand  eine  lebhafte  Unterstützung  auch  dadurch,  daß  zu  gleicher 
Zeit  das  belgische  Proletariat  den  gleichen  Kampf  führte.  Am  26.  Februar 
hatten  die  radikalen  Parteien  in  Brüssel  eine  Volksabstimmung  über  das 
allgemeine  Wahlrecht  veranstaltet.  Von  111.700  Wählern  nahmen  60.279 
daran  teil  und  von  diesen  sprachen  sich  48.660  für  das  allgemeine  Wahl- 
recht vom  21.  Jahre  an  aus.  Aher  die  klerikale  Regierung  Beernaert 
widersetzte  sich  dem  allgemeinen  gleichen  Wahlrecht  und  am  12.  April 
lehnte   die    Deputiertenkammer    mit    115    gegen    26    Stimmen    den    Antrag 

Adler,  Briefe.   X.  Dd.  7 


98  Von  Taufte  bis  Badeni. 


nur  wenige  Ausführungen  nötig,  da  wir  diesmal,  wie  der  letzte 
Parteitag  uns  beauftragt  hat,  Ihnen  einen  gedruckten  Überblick  in 
die  Hand  geben.  Er  ist  allerdings  noch  höchst  unvollständig;  un- 
vollständig in  bezug  auf  die  Organisation,  denn  in  dieser  Beziehung 
waren  wir  vollständig  abhängig  von  dem,  was  uns  die  einzelnen 
Land-  und  Bezirksorganisationen  eingesendet  haben,  er  ist  unvoll- 
ständig in  bezug  auf  den  allgemeinen  Teil,  denn  es  ist  nicht  möglich, 
die  Summe  von  Arbeit,  die  Summe  von  lebendigem  Leben,  das 
unsere  Partei  gerade  in  den  letzten  zwei  Jahren  in  Österreich  ent- 
faltet hat,  in  einem  kurzen  Bericht  wiederzugeben.  Mit  einem  Wort, 
die  Sozialdemokratie  hat  sich  tatsächlich  seit  diesen  letzten  zwei 
Jahren  erst  als  organisierte  Partei  konstituiert.  Sie  ist  erst  in  diesen 
zwei  Jahren  dazu  gelangt,  als  eine  einheitlich  organisierte  Partei 
auch  aufzutreten. 

Wir  dürfen  sagen:  Bis  zum  letzten  Parteitag  war  alles  nur  Vor- 
bereitung, nur  die  Ziehung  der  Grundlinien  eines  Programms,  das 
war  nur  ein  vorläufiger  Aufbau.  Die  Möglichkeit,  unsere  Organi- 
sation anzuwenden,  zu  sehen,  wie  sie  wirkt,  haben  wir  erst  in  den 
letzten  zwei  Jahren  gehabt.  Parteigenossen!  Es  ist  notwendig,  daß 
wir  heute  den  Blick  hinwegrichten  über  die  Einzelheiten  der  Agita- 

Janson  auf  allgemeines  Wahlrecht  ab.  Am  13.  April  beschloß  der  Ge- 
neralrat  der  Arbeiterpartei  den  sofortigen  Generalstreik,  der  erst  sein 
Ende  nahm,  als  am  18.  April  die  Kammer  mit  86  gegen  47  Stimmen  den 
Antrag  N  y  s  s  e  n  s  annahm,  wonach  jeder  25jährige  Belgier  mit  ein- 
jähriger Seßhaftigkeit  das  Wahlrecht  erhalten  solle,  außerdem  sollte  aller- 
dings eine  Mehrstimme  erhalten,  wer  .35  Jahre  alt,  verheiratet  ist  und 
5  Franken  jährlich  Steuer  zahlt,  nach  dem  25.  Lebensjahr  wer  mindestens 
liegende  Güter  im  Katasterwert  von  2000  Franken  oder  das  Gymnasium 
absolviert  hatte.  Trotz  dieser  Pluralität  war  immerhin  das  allgemeine 
Wahlrecht   erobert. 

Dieser  —  wenn  auch  nicht  volle  —  Erfolg  der  belgischen  Arbeiter 
feuerte  die  österreichischen  Arbeiter  an  und  man  erklärte  auch  hier,  daß 
man  „belgisch  reden"  werde  —  ähnlich  wie  man  später  drohte, 
„russisch"  zu  reden. 

Die  Maifeier  stand  ganz  im  Zeichen  des  belgischen  Sieges  und  Victor 
Adler  erklärte  in  seiner  Mairede,  „die  Sozialdemokraten  würden  nicht 
rasten,  als  bis  der  Antrag  der  Jungtschechen  auf  der  Tagesordnung  des 
Parlaments  erscheine  und  würden  nicht  dulden,  daß  dieser  Antrag  so 
ohne  weiteres  von  der  Tagesordnung  verschwinde".  (Siehe  B  r  ü  g  e  1, 
„Geschichte  der  österreichischen  Sozialdemokratie",  Bd.  IV,  Seite  184.) 

Das  ist  die  Vorgeschichte  des  Wahlrechtskampfes,  der  im  Jahre  1893 
anhob  und  über  dessen  einzelne  Phasen  später  berichtet  werden  wird.  Am 
10.  Oktober  hat  dann  Taaffe  seinen  Wahlreformentwurf  eingebracht. 

Auf  dem  vierten  österreichischen  Parteitag,  der  vom  25.  bis  31.  März 
1894  in  Schwenders  Kolosseum  in  Wien  stattfand,  gab  Adler  in  seinem 
Parteibericht  eine  Darstellung  des  Wahlrechtskampfes,  die  wir  hier  ab- 
drucken. Auf  der  Tagesordnung  stand  dann  noch  als  besonderer  Punkt: 
„Das  allgemeine  Wahlrecht  und  der  Generalstrei  k", 
-worüber  Dr.  Ellenbogen  referierte.  Die  Rede,  die  Adler  dabei  hielt, 
ist  im  siebenten  Heft  dieser  Schriften  (Seite  80)  abgedruckt,  wo  auch  die 
Geschichte    des   Wahlrechtskampies    dargelegt   ist. 


Taaffes  Sturz  und  die  Koalition.  99 

ÜOn,  über  die  kleinen  und  großen  Zufälle  in  der  Politik,  auf  das  Ziel 
unserer  Partei,  daß  wir  ins  Bewußtsein  bringen,  was  die  Sozial- 
demokratie in  Österreieli  ist  und  was  sie  in  aller  Welt  ist.  Die 
Sozialdemokratie  ist  in  Österreieli  die  Organisation  des  Proletariats 
als  Klasse,  welelie  um  ihre  Befreiung  kämpft.  Dieser  Klassenkamp! 
des  Proletariats  nimmt  zu  verselnedenen  Zeiten  verschiedene 
Formen  an.  Dieser  Klassenkampf  zerfällt  in  eine  Reihe  von  Einzel- 
kämpfen, in  eine  Periode  der  Stagnation  und  des  Aufschwunges,  von 
Siegen  und  Niederlagen;  manchmal  auch  ein  Konzentrieren  auf 
einen  bestimmten  Punkt,  aber  niemals  darf  die  Partei,  niemals  wird 
die  Partei  dessen  uneingedenk  sein,  daß  alle  politischen  Kämpfe  nur 
dienen  der  ökonomischen  Befreiung  des  Proletariats,  der  Be- 
seitigung des  eigentlichen  Klassenstaates.  Nun,  Genossen,  wenn  w  i  r 
daran  vergessen  würden,  die  Gegner  ließen  uns  nicht  daran  ver- 
gessen. Immer  und  immer  wieder  wird  von  den  Gegnern  das 
Moment  des  Klassenkampfes  in  den  Vordergrund  gebracht,  wird 
uns  gezeigt,  daß  wir  die  Organisation  der  Bourgeoisie  und  der 
Feudalen  als  herrschende  Klassen  gegen  uns  haben;  das  haben  wir 
zu  spüren  in  der  politischen  Verwaltung,  in  der  Gesetzgebung,  in 
der  Justiz.  Darüber  helfen  alle  Phrasen  nicht  hinweg.  Ich  erwähne 
es  ausdrücklich,  weil  die  bürgerliche  Presse  immer  und  immer 
wieder  darauf  hinarbeitet,  immer  nach  einem  Symptom  hascht,  als 
ob  die  österreichische  Sozialdemokratie  oder  irgendeine  auf  dem 
Kontinent  sich  zu  jener  Reformpartei  umwandeln  würde,  wie  sie 
uns  gern  hätten.  Dieser  sagen  wir:  Wenn  wir  so  pflichtvergessen 
wären,  wenn  wir  unser  Programm  vergessen  würden,  ihr  treibt  uns 
dazu,  ihr  zwingt  uns  dazu,  uns  auf  den  einzig  richtigen,  den  klassen- 
revolutionären Standpunkt  zu  stellen.  (Sehr  gut!)  Nun,  Genossen! 
Wir  werden  uns  im  Verlauf  dieses  Parteitages  mit  einer  Reihe  von 
einzelnen  Dingen  zu  beschäftigen  haben,  von  einzelnen  Maßregeln 
und  einzelnen  taktischen  Schritten;  alle  diese  aber  verlieren  jeden 
Sinn,  jeden  Zusammenhang,  wenn  wir  uns  nicht  fühlen  als  die  Ver- 
treter des  klassenbewußten  Proletariats,  als  die  revolutionäre 
Partei. 

Nun,  Genossen,  als  der  letzte  Parteitag  auseinanderging,  hatte  er 
die  Grundlinien  einer  Organisation  geschaffen,  von  der  —  das 
können  wir  ja  offen  sagen  —  wir  zu  jener  Zeit  nicht  wußten,  ob  sie 
Fleisch  und  Leben  haben  werde.  Vielfache  Zweifel  mußten  auf- 
steigen, ob  das  Netz  der  Organisation,  wie  es  aufgerichtet  war,  auch 
den  festen  Zusammenhang  bis  in  die  entferntesten  Provinzen  her- 
stellen könne.  Und  Sie  müssen  sagen,  es  ist  gelungen  über  Erwarten. 
Wir  wissen  sehr  gut,  wie  lückenhaft  die  Organisation  noch  ist.  Wir 
wissen  sehr  gut,  wieviel  noch  auszufüllen  ist,  wie  das  Netz  noch 
durchaus  weitmaschig  ist,  wie  es  noch  Schichten  des  industriellen 
Proletariats  gibt,  wo  wir  noch  nicht  eindringen. 

Aber  unsere  Organisation  ist  so  weit  gekommen,  das  können  wir 
sagen,  daß  in  den  allermeisten  Provinzen,  ganz  wenige  Bezirke  aus- 
genommen, durch  die  Vertrauensmänner  und  Bezirksorganisationen 
die   Möglichkeit  geschaffen   wurde,   Anknüpfungspunkte   zu  finden.. 


100  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


und  überall  sind  die  Vertrauensmänner  der  sozialdemokratischen 
Partei  auch  die  Vertrauensmänner  der  Arbeiterbevölkerung.  Die 
Organisation  hat  zur  Grundlage  die  Selbständigkeit  aller  einzelnen 
Organisationen  und  die  Zusammenfassung  zu  einer  gemeinsamen 
Aktion  und  die  Möglichkeit  einer  Zusammenfassung  in  der  Partei- 
vertretung. Die  Parteivertretung  hat  zum  ersten  Male  in  diesem 
Zeitraum  in  Österreich  überhaupt  funktioniert.  Ich  zweifle  nicht,  daß 
hier  in  vielen  Beziehungen  berechtigte  Vorwürfe  werden  gemacht 
werden,  ich  zweifle  nicht,  daß  sie  vielleicht  vieles  anders  hätten 
machen  müssen  und  können.  Aber  die  Parteivertretung  ist  sich 
bewußt,  daß  unter  sehr  schwierigen  Verhältnissen,  in  einer  Zeit,  wo 
die  Partei  einen  sehr  raschen  Aufschwung  genommen  hat,  sie  den 
Ereignissen  gewissermaßen  mehr  nachfolgen  mußte,  als  sie  ihnen 
vorangehen  konnte.  Es  hat  sich  nicht  gehandelt  um  eine  Leitung, 
sondern  die  Parteivertretung  hat  sich  gefühlt  als  die  Exekutive  der 
gesamten  Partei.  Als  solche  hat  sie  sich  gefühlt,  und  als  solche  hat 
sie  gehandelt. 

Als  vor  zwei  Jahren  der  Parteitag  auseinanderging,  hatte  die 
Sozialdemokratie  in  Österreich  allerdings  eine  politische  Bedeutung, 
sie  hatte  diese  Bedeutung  und  ihre  Ausdehnung  verdankt  haupt- 
sächlich dem  Umstand,  daß  sie  jederzeit  sich  gefühlt  hat  als  das 
Sprachrohr  des  gesamten  Proletariats.  Aber  die  politische  Be- 
deutung, welche  die  Sozialdemokratie  in  Österreich  heute  hat,  ist 
eine  ganz  andere.  Wenn  Sie  zurückdenken  an  die  Zeit  vor  zwei 
Jahren,  da  war  Österreich  ein  Sumpf,  auf  dem  sich  nichts  regte,  da 
gab  es  in  Österreich  politisches  Leben  eigentlich  sehr  wenig.  Sie 
erinnern  sich,  daß  die  Politik  des  Fortwursteins  und  Fortfrettens 
die  Signatur  war.  Den  Forderungen  des  arbeitenden  Volkes  stand 
diese  Politik  abweisend,  negativ  und  vor  allem  schweigend 
gegenüber.  Wir  hatten  weniger  zu  überwinden  den  aktiven  Druck, 
der  immer  auch  ausgeübt  wurde,  als  den  absoluten,  passiven  Wider- 
stand, das  Ignorieren  alles  dessen,  was  im  Proletariat  vorging.  Die 
Zeiten  haben  sich  geändert,  die  Sozialdemokratie  ist  heute  nicht 
mehr  eine  Fraktion  innerhalb  der  Arbeiterschaft,  die  Lärm  macht, 
die  Sozialdemokratie  ist  heute  bewußt  nicht  nur  für  sich,  sondern 
für  die  gesamte  Arbeiterschaft,  ja  noch  mehr,  für  die  gesamten 
besitzlosen  Volksklassen  in  Österreich  die  anerkannte  Führerin  in 
ihrem  Kampfe.  Heute  wissen  die  gesamten  besitzlosen  Volksklassen, 
daß  sie,  mögen  sie  mit  unseren  theoretischen  Überzeugungen  ein- 
verstanden sein  oder  nicht,  in  allen  praktischen  Fragen,  in  allen 
aktuellen  Fragen  der  Politik  dieser  besitzlosen  Volksklassen  nur 
einen  Anwalt  haben,  nur  ein  Sprachrohr,  nur  einen,  der  ihnen  voran- 
geht, das  ist  die  Sozialdemokratie.  Diese  Anerkennung  hat  sich  die 
Sozialdemokratie  in  diesen  zwei  Jahren  erkämpft,  das  macht,  daß 
sie  heute  ein  politischer  Faktor  geworden  ist.  Nun,  Genossen,  wie 
ist  das  gekommen?  Ich  übergehe  die  organisatorische  Arbeit  und 
die  Ausbildung  unserer  Presse. 

Das  wichtigste  ist,  daß  die  österreichische  Sozialdemokratie  in 
der  Lage    war,   in    einer  Lebensfrage    für  die  ganze  fernere  Ent- 


Taaffes  Sturz  und  die  Koalition.  l Ol 

Wicklung  des  Volkes,  das  in  Österreich  wohnt,  führend  vorzugehen. 
Für  die  Rechtlosen  in  Österreich,  zwei  Drittel  des  gesamten  Volkes, 
war  der  Druck  dieser  Rechtlosigkeit  seit  Jahren  gleich  groß.  Die 
Grundlage  unserer  Verfassung  sind  Privilegien  der  Besitzenden,  die 
Grundlage  dessen,  was  man  in  Österreich  die  Staatsgrundgeset/,c\ 
liberale  und  freisinnige  Gesetzgebung  nennt,  die  Grundlagen  sind 
Rechtlosigkeit  der  Besitzlosen;  geändert  hat  sich  darin  nur,  dal.»  die 
Besitzlosen  eine  Stimme  gefunden  haben,  und  es  war,  das  läßt  sich 
als  geschichtliche  Tatsache  nicht  leugnen,  das  Zusammentreffen  des 
Aufschwunges  und  Vorwärtsgehens  der  Sozialdemokratie  mit  der 
belgischen  Arbeiterbewegung,  mit  dem  Siege  der  belgischen 
Genossen  im  Kampfe  um  das  Wahlrecht,  welches  einen  großen 
Anstoß  für  Österreich  gegeben  hat.  (Sehr  richtig!)  Das  ist  eine 
geschichtliche  Tatsache,  die  ebenso  sicher  ist,  wie  daß  im  Jahre  1848 
der  Anstoß  zur  Revolution  in  Österreich  und  Deutschland  aus  Paris 
gekommen  ist.  Die  Folgen  dieses  Ereignisses  zeigten  sich  sofort.  Die 
belgischen  Genossen  haben  genau  so  wie  die  Österreicher  viele 
Jahre  um  das  Wahlrecht  gekämpft,  sie  haben  einen  sehr  intensiven 
Kampf  insbesondere  in  den  letzten  acht  Jahren  geführt.  Die 
belgischen  Genossen  haben  im  April  1893  nicht  die  erste  Schlacht, 
sondern  nur  die  entscheidende  Schlacht  gewonnen.  Aber  während 
die  früheren  Schlachten  des  belgischen  Proletariats  an  der  öster- 
reichischen Arbeiterschaft  vorbeigingen,  ohne  einen  Widerhall  zu 
finden,  ohne  eine  Wirkung  hier  hervorzurufen,  war  diese  Schlacht 
im  Jahre  1893  eine  Bewegung  von  ganz  anderer  Wirkung,  weil  in 
Österreich  bereits  die  Vorbedingung  vorhanden  war,  um  dieser  Be- 
wegung einen  Widerhall  zu  geben.  Daß  dies  allgemein  in  ganz 
Österreich  empfunden  wurde,  hat  der  1.  Mai  1893  gelehrt.  Die  Feier 
unterschied  sich  überall  dadurch  von  der  vorhergegangenen,  daß  die 
frühere  Maifeier  ein  proletarischer  allgemeiner  Protest,  eine  prole- 
tarische allgemeine  Demonstration  war,  während  diesmal  die  Mai- 
feier durchaus  die  aktuelle  Spitze  auf  das  Wahlrecht  richtete. 
Man  muß  die  Massen  in  Wien  gesehen  und  gehört  haben,  als  sie  aus 
dem  Prater  kamen.  Jeder,  der  sie  hörte,  und  man  hörte  bis  in  die 
Hofburg  hinein  den  Ruf:  „Es  lebe  die  Sozialdemokratie,  es  lebe  das 
allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht!"  wußte  in  dem  Moment: 
Es  hat  eine  neue  Ära  in  Österreich  begonnen.  (Beifall.)  Was  bis 
dahin  nur  die  Unterdrückten  dumpf  als  Unrecht  empfunden,  das  ist 
heute  anerkannt  von  allen  Faktoren,  die  überhaupt  politisch  denken 
und  beschließen,  ist  anerkannt  als  politische  Unmöglichkeit.  An 
diesem  Tage  wurde  es  klar,  daß  die  heutige  Verfassung  in  Öster- 
reich nicht  mehr  zu  halten  ist,  weil  das  Verbrechen  zur  Unmöglich- 
keit geworden. 

Nun,  Genossen,  der  1.  Mai  1893  war  gleichzuhalten  einer  Ab- 
stimmung, einer  unmittelbaren  Volksabstimmung  des  gesamten 
Proletariats  in  Österreich.  Und  diese  Willensäußerung  in  Formen  zu 
bringen,  ihr  die  Möglichkeit  zum  Durchbruch  zu  geben,  war  die 
Aufgabe  der  Parteivertretung.  Wir  hätten  unsere  Aufgabe  schlecht 
verstanden,   wenn   wir    nicht   unmittelbar   nach    dem  1.  Mai   jenes 


102  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


bekannte  Rundschreiben  an  die  Landesorganisationen  erlassen 
hätten.  Hier  muß  ich  einen  Umstand  erwähnen,  den  ich  noch  nicht 
berührt  habe.  Es  lag  dem  Parlament  ja  schon  seit  Anfang  des  Jahres 
1893  ein  Antrag  vor  auf  Einführung  des  allgemeinen,  gleichen  und 
direkten  Wahlrechtes  von  Seiten  der  Jungtschechen.  Es  lag  ferner 
eine  Anzahl  von  Anträgen  vor,  die  ebenso  weit  und  noch  weiter 
gingen,  aber  nicht  so  ausgearbeitet  waren.  Erinnern  Sie  sich,  daß 
das  Einbringen  dieser  Anträge,  obwohl  sie  von  einer  parlamen- 
tarischen Fraktion  getragen  und  unterstützt  wurden,  eine  politische 
Bedeutung  tatsächlich  nicht  hatte,  während  in  dem  Moment,  wo 
die  österreichische  Arbeiterschaft  diese  Forderung  in  die  Hand 
nahm,  sofort  auch  diese  Anträge  Leben  bekamen.  Die  Massen- 
versammlungen, die  zu  dieser  Zeit  stattfanden,  haben  für  unsere 
Parteigenossen  nichts  Neues  bringen  können,  aber  die  indifferenten 
Massen  sind  dadurch  herangezogen  worden,  wir  sind  ins  flache 
Land  dadurch  eingedrungen.  Wir  hatten  eine  Gelegenheit,  um 
diesen  Massen  zu  zeigen,  wie  man  mit  ihnen  umspringt,  wir  haben 
uns  dadurch  Bundesgenossen  geschaffen,  die  auch  für  die  Folge 
von  großem  Wert  sein  wrerden.  In  der  Politik  gilt  zwar  nur  die 
Macht,  aber  auch  das  Gefühl,  daß  Unrecht  geschieht,  ist  eine 
Macht,  und  diese  Macht  im  Volke  geweckt  zu  haben,  ist  das  Ver- 
dienst der  Wahlrechtsagitation.  Wie  stets  die  österreichische  Re- 
gierung glaubte,  eine  Bewegung  zu  beseitigen,  indem  man  einem 
„Schreier"  einen  Knebel  in  den  Mund  steckte,  so  versuchte  die 
Regierung  auch  diese  Wahlrechtsbewegung  auf  kurzem  Wege 
abzutun.  Und  in  keinem  Kronland  ist  derart  „energisch"  und 
„schneidig"  vorgegangen  worden  als  in  Böhmen.  (Lebhafter  Bei- 
fall.) Die  Regierung  hatte  ihre  Gründe  dazu.  Es  hatte  sich  dort 
eine  kleinbürgerliche  und  kleinbäuerliche  Opposition  heraus- 
gebildet, die  ihre  Vertretung  in  den  Jungtschechen  hat.  Sie  sind 
vielleicht  nicht  besser  als  die  Jungdeutschen,  aber  sie  sind  jeden- 
falls klüger  und  machten  wenigstens  den  Versuch,  die  besitzlosen 
Volksklassen  hinter  sich  zu  bekommen,  ein  Versuch,  der  nicht  ge- 
lingen konnte,  weil  in  diesen  Massen  schon  der  Geist  des  klassen- 
bewußten Proletariats  steckte.  Aber  die  Möglichkeit  war  vor- 
handen, daß  eine  Verbindung  der  kleinbürgerlichen  und  klein- 
bäuerlichen Opposition  mit  den  proletarischen  Elementen  in  den 
tschechischen  Gebieten  stattfinden  könnte.  Gerade  in  Böhmen  ist 
aber  der  Sitz  der  mächtigsten  Schichte,  der  eigentlichen  Herrscher- 
gewalt in  Österreich,  des  Feudaladels.  Diese  Leute  aber  waren 
durch  jene  Opposition  in  ihren  eigensten,  persönlichsten, 
materiellsten  Interessen  getroffen,  und  noch  mehr  durch  die  Gefahr 
einer  Verbindung  mit  dem  Proletariat.  Daher  kam  es,  daß  dort  in 
Böhmen  rücksichtsloser  über  alles  hinweggegangen  wurde  als 
irgendwo  anders. 

In  Böhmen  und  Galizien  existieren  einzelne  Beamte,  die  sich 
nur  als  Beamte  der  Adelsoligarchie  ansehen.  (So  ist  es!)  Daher 
kommt  es,  daß  in  Böhmen  Blut  geflossen  ist,  daß  man  dort  gegen 
•die  jungtschechische  Bewegung  einen  Ausnahmezustand  annonciert 


Taaffes  stur/  und  die  Koalition.  103 


hat,  um  ihn  gegen  das  Proletarial  auszunützen.  (Beifall.)  in  Öster- 
reich haben  Wir  nicht  eine  n  Feind,  nicht  einen  geschlossenen 
Gegner,  wir  müssen  eben  bei  der  verschiedenen  Entwicklung  der 

Länder  unseren  Kampf  den  Verhältnissen  jedes  Landes  anpassen. 
Es  ist  nicht  möglich,  in  Böhmen,  in  Prag  oder  einem  böhmischen 
Bergwerksbezirk,  zum  Beispiel  Kladno,  mit  denselben  Mitteln  zu 
arbeiten  wie  in  Wien  oder  üalizien,  wo  der  Bezirkshauptmann  eine 
Macht  hat,  die  er  in  Innerösterreich  wirklich  bereits  verloren  hat. 
Nun  komme  ich  auf  die  Demonstration  am  9.  Juli  1893*)  in  Wien  vor 
dem  Rathaus  zu  sprechen.  Wir  wissen,  daß  diese  Demonstration, 
trotzdem  sie  von  allen  Instanzen,  den  kommunalen,  staatlichen  und 
polizeilichen,  verboten,  doch  abgehalten  wurde.  Die  Regierung 
hätte  die  Macht  gehabt  sie  zu  unterdrücken,  man  hätte,  wie  heute 
Budapest**),  Wien  militärisch  besetzen  können,  aber  sie  wußte,  wie 
auch  wir,  daß  die  Weltgeschichte  nicht  aufhört,  wenn  geschossen 
wird.  Es  ist  zwar  unangenehm,  niedergeschossen  zu  werden,  aber 
auch  verdammt  unangenehm,  schießen  zu  müssen.  Wir  Sozial- 
demokraten gewinnen  aber  vron  Tag  zu  Tag  an  Macht,  gewinnen 
immer  mehr  an  Boden,  ohne  daß  geschossen  wird.  Unsere  Taktik  ist 
nicht,  an  die  Gewalt  zu  appellieren,  wir  haben  ja  keine,  wir  haben 
die  leere  Hand,  aber  wir  haben  heute  in  einem  gewissen  Grade 
schon  die  Macht,  die  sich  stets  vermehrt  und  vom  9.  Juli  bis  zum 
10.  Oktober  1893***)  gewaltig  vermehrt  hat,  bis  zu  dem  Tage,  an  dem 
schwarz  auf  weiß  von  der  Gesamtregierung,  der  Krone  anerkannt 
werden  mußte:  Die  heute  bestehende  Verfassung  ist  ein  Unrecht, 
eine  Unmöglichkeit.  Zu  dieser  Ansicht  wurde  aber  die  Regierung 
nicht  plötzlich  erleuchtet;  daß  diese  Erleuchtung  über  sie  ge- 
kommen ist,  war  das  Resultat  der  Agitation  des  Proletariats. 

Der  10.  Oktober  1893  hat  uns  eine  mangelhafte  Wahlreform 
gebracht,  die  Vorlage  erklärte  vom  Wahlrecht  nur  jene  aus- 
geschlossen, die  nicht  lesen  und  schreiben  können.  Aber  was  folgte 
dieser  Vorlage?  Alle  bürgerlichen  Parteien  traten  zusammen  und 
es  kam  die  Koalition  zustande,  die  gegenüber  dem  früheren  Zustand 
sich  durch  nichts  als  eine  andere  Form  unterscheidet. 

Die  latente  Form,  die  gelegentliche  Koalition  aller  bür- 
gerlichen Parteien  oder  vielmehr  der  Bourgeoisie  mit  der  Feudal- 
klasse gegen  die  Arbeiter  ist  immer  ins  Leben  getreten,  wenn  es 
sich  um  eine  bestimmte  Aktion,  um  einen  bestimmten  Gesetz- 
entwurf    gehandelt    hat.     Aber    der    Entschluß    des    Ministeriums 


*)   Siehe   später  den   Bericht   über   diese   Versammlung,   aber   auch  die 
Bemerkungen   in  Adlers   Wahlrechtsbroschüre. 

I  Am  20.  März  1894  starb  Ludwig  Kossuth  in  Turin  und  die  ganze 
öffentliche  Meinung  Ungarns  verlangte,  daß  der  Diktator  der  Republik,  der 
im  April  1849  auf  dem  Reichstag  von  Debreczin  Habsburg  abgesetzt  hatte, 
nach  Ungarn  gebracht  und  auf  Staatskosten  beigesetzt  werde.  Tatsächlich 
war  ganz  Budapest  schwarz  beflaggt.  Am  23.  März  kam  es  zu  Zusammen- 
stößen mit  der  Polizei.  Bis  zum  30.  März,  wo  die  Leiche  Kossuths  in  Buda- 
pest eintraf,  war  die  Stadt  förmlich  vom  Militär  besetzt.  Am  1.  April  wurde 
Kossuths  Leiche  feierlich  auf  Kosten  der  Stadt  beigesetzt. 

**)  Der  Tag  der  Einbringung  der  Taaffeschen  Wahlreform. 


104  Von  Taaffe  bis  Badern. 


T  a  a  f  f  e,  endlich  eine  in  einigen  Punkten  vernünftige  Wahlreform 
zu  geben,  bewirkte,  daß  die  Parteien  alles  Schamgefühl  fallen 
ließen,  das  bewirkte,  daß  Graf  Hohen  wart  erklären  konnte: 
„Es  ist  notwendig,  daß  die  Besitzenden  zusammentreten  zur  ge- 
meinsamen Abwehr  gegen  die  Besitzlosen",  und  der  liberale 
Plener  sagte:  „Ja,  wir  wollen  mit  euch  diese  Abwehr  machen 
und  wir  verlangen  als  Trinkgeld  nur  zwei  Ministerportefeuilles." 
(Sehr  gut!)  Es  kam  das  Koalitionsministerium  und  —  da  muß  ich 
ein  Wort  sagen  über  die  Ruhe,  die  nach  dem  10.  Oktober  eintrat. 

Diese  Ruhe  ist  vielfach  mißverstanden  worden,  und  zwar  nicht 
allein  von  den  Gegnern,  sondern  auch  von  solchen  Parteien,  die 
uns  freundlich  gesinnt  waren,  und  selbst  von  eigenen  Parteigenossen. 
Es  hat  sich  gehandelt  um  den  Kampf  zwischen  Taaffe  und  der 
neuen  Koalition,  und  da  war  allerdings  die  Versuchung  sehr  groß, 
für  die  Wahlreform  des  Grafen  Taaffe  gegen  die  Koalition  ein- 
zutreten. Ich  kann  es  hier  sagen,  daß  die  einzige  Oppositionspartei 
im  Abgeordnetenhause,  die  Jungtschechen,  es  gar  nicht  begriffen 
haben,  warum  wir  in  diesem  Moment  nicht  mit  großem  Ansturm 
gegen  die  Koalition  losgegangen  sind. 

Sie,  Parteigenossen,  werden  es  verstehen,  warum  wir  unmög- 
lich unser  Programm  einer  Augenblicksaktion  zuliebe  aufs  Spiel 
setzen  konnten;  wir  konnten  einer  Regierung  zuliebe,  welche  den 
Ausnahmezustand  in  Wien  und  in  Prag  auf  dem  Gewissen  hat, 
nicht  die  Kastanien  aus  dem  Feuer  holen,  und  wenn  wir  auch  sehr 
wohl  wissen,  daß  die  Regierung  Plener-Windischgrätz 
nicht  um  ein  Haar  besser  ist  als  das  Ministerium  Taaffe.  Es  wäre 
geradezu  ein  politischer  Selbstmord  gewesen,  wenn  wir  dies  getan 
hätten,  und  die  Kosten  hätten  wir  bezahlt.  Es  wäre  doch  verdammt 
naiv  gewesen,  auf  die  Gesinnungstüchtigkeit  und  Festigkeit  jener 
Regierung  zu  bauen.  Diese  Herren  Schönborn,  Falkenhayn, 
Bacquehem  usw.  haben  nicht  einmal  dem  Grafen  Taaffe 
Wort  gehalten,  wie  hätten  sie  uns  Wort  gehalten?  Wir  hätten  uns 
durch  ein  derartiges  Vorgehen  kompromittiert,  wir  wären  in 
die  Gefahr  gekommen,  eine  zu  Regierungs- 
zwecken ausgenützte  Partei  zu  sein,  wir  hätten  das 
Proletariat  in  Mißverständnisse  geleitet.  Wir  mußten  uns  sagen: 
wir  können  nichts  anderes  als  warten,  was  die  neue  Regierung 
tun  wird,  wir  müssen  zunächst  einen  Angriffspunkt  haben,  wenn 
wir  angreifen  sollen.  Wir  haben  die  beiden  Parteikonferenzen  ein- 
berufen, deren  Resultat  Sie  kennen.  Der  Kampf  um  das  Wahlrecht 
wird  ein  langer  sein;  wir  werden  nicht  allein  mit  Flugschriften, 
mit  Versammlungen  und  in  der  Presse  kämpfen  können;  es  wird 
wahrscheinlich  notwendig  sein,  alle  jene  Mittel,  die  das 
Proletariat  überhaupt  zur  Verfügung  hat,  nach- 
einander in  Anwendung  zu  bringen.  Es  mußten  daher 
alle  diese  Mittel  auch  erwogen  werden  und  da  hat  die  Parteiver- 
tretung daran  denken  müssen,  den  Parteigenossen  auch  den  Ge- 
neralstreik oder  Massenstreik  in  Erwägung  zu  geben.  Es  wurde 
darüber  sehr  viel  geschrieben  und  wurde  diese  Aktion  der  Partei- 


Taaffes  Sturz  und  die  Koalition.  |h  ' 


Vertretung    in    der    bürgerlichen    Presse    und    unter    den    Genossen 

verschieden  beurteilt;  es  scheint  mir  aber,  daß  diese  Aktion  im 
wesentlichen  nicht  richtig  aufgefaßt  wurde.  Niemals  hat  die 
Parteivertretung  den  Generalstreik  empfohlen,  niemals  hat  sie  die 
Parole  dazu  ausgegeben.  Dies  wäre  ja  eine  Kompetenzüber- 
schreitung gewesen. 

Das  wäre  etwas  gewesen,  wo/u  die  Parteivertretung  gar  nicht 
das  Recht  hat. 

Die  Parteivertretung  hatte  aber  die  Pflicht,  die  Parteigenossen 
aufzufordern,  diese  Angelegenheit  beizeiten  zu  erörtern,  um  dann  der 
einzig  kompetenten  Stelle,  dem  Parteitag,  die 
Frage  in  einer  diskussionsfähigen  Form  vorzulegen.  Die  Meinung, 
daß  bei  uns  eine  Parteivertretung  derlei  anordnen  kann,  können  die 
Bourgeoisparteien  haben,  wo  wirklich  der  einzelne  Führer  handelt, 
dem  die  Herde  nur  nachgeht.  Die  Parteivertretung  hatte  nicht  ein- 
mal die  Aufgabe,  sich  selbst  vollständig  einig  und  klar  zu  sein,  ob 
der  Massenstreik  anzuwenden  sei  oder  nicht.  Es  hat  Leute  unter 
uns  gegeben,  die  gemeint  haben,  die  Möglichkeit  dazu  sei  näher,  es 
hat  Leute  gegeben,  die  gemeint  haben,  der  Massenstreik  sei  nicht 
möglich  und  zunächst  wenigstens  nicht  anwendbar.  Aber  darüber, 
daß  dieses  Mittel  diskutiert  werde,  darüber  war  die  Parteivertre- 
tung einig.  Parteigenossen!  Die  Situation  für  unsere  Partei  ist  heute 
folgende:  Wir  haben  gegen  uns  eine  Regierung,  welche  zwei  Lebens- 
äußerungen von  sich  gegeben  hat,  wie  sie  der  Arbeiterklasse  gegen- 
über denkt.  Die  eine  Äußerung  war  jener  Wahlreformentwurf,  über 
den  Sie  sich  in  einem  anderen  Punkt  der  Tagesordnung  zu  äußern 
haben  werden.  Die  andere  Äußerung,  die  den  meisten  von  Ihnen 
nicht  bekannt  ist,  war  eine  neue  Preßordonnanz,  die  seit 
dieser  Woche  ins  Leben  getreten  ist.  Der  Justizminister  Schön- 
born als  Mitglied  des  konservativen  Ministeriums  T  a  a  f  f  e 
glaubte,  nicht  so  gegen  die  Presse  vorgehen  zu  müssen  als  der 
Justizminister  Schönborn  als  Mitglied  des  liberalen  Mini- 
steriums der  Koalition.  Das  ist  die  Situation.  Wir  haben  heute  vor 
uns  einheitlich  geschlossen  die  ganzen  besitzenden  Klassen.  In  der 
klerikalen  Partei  bröckelt  es  ab,  und  die  armen  Landpfarrer,  die 
selbst  Proletarier  und  Proletariersöhne  sind,  machen  mitunter 
schüchterne  Versuche,  das  Joch,  das  auf  ihnen  lastet,  abzuschütteln. 
Es  kommt  vor,  daß  irgendwelche  kleine  Teile  der  klerikalen  Partei 
sich  knirschend  wehren,  wrenn  sie  zu  feudalen  Interessen  aus- 
gebeutet werden  sollen.  Aber  diese  kleinen  Regungen  werden  unter- 
drückt, denn  in  dieser  Partei  wird  ein  eisernes  Regime  geführt,  das 
mehr  für  sich  hat  als  die  anderen,  denn  sie  können  nicht  nur  Eisen- 
bahnen vergeben  und  Straßen,  sie  können  auch  einen  Gewissens- 
druck ausüben,  und  wir  müssen  gefaßt  sein,  daß  wir  vollständig 
isoliert  unseren  Kampf  zu  führen  haben. 

Die  Koalition  steht  fest,  und  es  ist  ein  Erfolg  der  Sozialdemo- 
kratie in  Österreich,  daß  allen  den  Ausbeuterparteien  mit  einem 
Male  die  Maske  heruntergerissen  wurde;  nun  wissen  es  alle  jene, 
die  es  bis  jetzt  nicht  wußten,  daß  das  österreichische   Proletariat 


106  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


nur  sich  selbst  etwas  zu  verdanken  haben  wird,  und  daß  es  nur 
einen  bewußten,  einen  politischen  Ausdruck  hat  in  Österreich, 
und  das  ist  die  Sozialdemokratie. 

Genossen!  Beurteilen  Sie  die  Tätigkeit  der  Parteivertretung 
streng,  wenden  Sie  aber  dieselbe  rücksichtslose,  phrasenlose  Be- 
urteilung auf  sich  selbst  an  und  seien  Sie,  wie  wir  es  mit  gutem 
Gewissen  sagen  können,  bewußt  der  Verantwortlichkeit,  die  die 
Leitung  zu  tragen  hat,  die  nicht  mehr  Hunderttausende,  sondern 
Millionen  von  Menschen  in  einen  Kampf  zu  führen  hat.  Diese  Ver- 
antwortlichkeit ist  keine  leichte,  wir  tragen  nicht  nur  die  Ver- 
antwortlichkeit für  das,  was  wir  etwa  unberechtigt,  unvorsichtiger- 
weise tun,  sondern  wir  tragen  auch  die  Verantwortung  dafür,  was 
wir  etwa  unberechtigt  unterlassen.  In  diesem  Gefühl  glauben  wir 
unsere  Pflicht  getan  zu  haben,  in  diesem  Gefühl  wollen  Sie  prüfen 
und  selbst  entscheiden.  (Lebhafter  Beifall.) 

Das  allgemeine  Wahlrecht  und  die 

Liberalen. 

„A  r  b  e  i  t  e  r  -  Z  e  i  t  u  n  g"  vom  2.  Juni  189  3*). 

Die  Arbeiter  Österreichs  haben  den  ernstlichen  Entschluß  gefaßt, 
die  Frage  des  Wahlrechtes  nicht  mehr  einschlafen  und  sie  nicht 
mehr  von  der  Tagesordnung  verschwinden  zu  lassen.  Die  Mittel, 
die  uns  in  diesem  Kampfe  zur  Verfügung  stehen,  liegen  zunächst 
allerdings  in  unserer  eigenen  Kraft,  in  unserer  eigenen  Organi- 
sation. Wie  fühlbar  dieselbe  den  Gegnern  und  der  Regierung  ge- 
worden ist,  davon  bringt  jeder  Tag  Beweise.  Aber  das  Werkzeug, 
durch  welches  schließlich  und  endlich  die  Entscheidung  herbeizu- 
führen ist,  das  sind  nicht  die  wenn  auch  noch  so  zahlreichen 
Stimmen  der  Arbeiter,  sondern  die  Stimmen  der  privilegierten  Ver- 
treter der  privilegierten  Wählerschaft.  Ein  recht  zurückgebliebenes 
Werkzeug,  welches  zu  wenig  vernünftigen  Dingen  zu  gebrauchen 
ist,  aber  leider  das  einzige,  das  derzeit  zur  Verfügung  steht.  Dieses 
muß  nun  so  gut  es  geht  brauchbar  und  vor  allem  gefügig  gemacht 
werden.  Es  handelt  sich  in  der  Tat  darum,  daß  auch  der  Vertretung 
der  Bourgeoisie  klargemacht  werde,  daß  ihre  gegen  das  allgemeine 

*)  Siehe  dazu  auch  den  Artikel  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  31.  Oktober 
1890  über  die  gleiche  Frage.  Er  ist  oben  bereits  abgedruckt. 

Der  Anlaß  zu  diesem  Artikel  war,  wie  unten  dargelegt  wurde,  die  vom 
Sozialpolitischen  Verein  einberufene  Versammlung  vom  25.  Mai  für  das 
allgemeine  Wahlrecht,  in  der  auch  Adler  sprach.  Leider  ist  über  die  Rede 
Adlers  kein  ausreichender  Bericht  erhalten. 

In  derselben  Nummer  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  2.  Juni,  in  der  dieser 
Artikel  erschien,  war  auch  eine  Mitteilung,  daß  die  von  der  Parteileitung 
gegebene  Anregung,  die  Agitation  für  das  allgemeine  Wahl- 
recht nun  eifrig  in  die  Hand  zu  nehmen,  in  allen  Provinzen  auf 
den  günstigsten  Boden  gefallen  sei  und  daß  überall  große  Versamm- 
lungen unter  freiem  Himmel  geplant  seien  —  meist  für  den 
18.  Juni. 


Das  allgemeine  Wahlrecht  und  die-  Liberalen,  1()7 


Wahlrecht  ablehnende  Waltung  nicht  einmal  mehr  dem  Willen  ihrer 
eigenen  Wählerschaft,  geschweige  des  Volkes  entspricht.  Unter 
diesem  Gesichtspunkt  haben  wir  alle  Zeichen  des  Fortschritts,  wie 
den  Antrag  der  Jütigtschechen  und  die  dem  Wahlrecht  günstigen 
Äußerungen  der  Antisemiten  als  bemerkenswerte  Ereignisse  kon- 
statiert, und  wir  sind  nunmehr  in  der  Lage  festzustellen,  daß  der 
Not  gehorchend,  nicht  dem  eigenen  Triebe  endlich  auch  Mitglieder 
der  Vereinigten  Linken  anfangen,  sich  in  Bewegung  zu  setzen. 

In  einer  allgemeinen  Wälllerversammlung,  welche  der  junge 
Sozialpolitische  Verein  im  ersten  Bezirk  Wiens  am  25.  Mai  ein- 
berufen hatte,  stand  das  allgemeine  Wahlrecht  auf  der  Tages- 
ordnung, und  man  mußte  erwarten,  daß  eine  Wählerschaft,  die  noch 
vor  wenigen  Monaten  dem  Dr.  Kronawetter  ein  Mandat  ge- 
geben*), wenn   auch    bekannterweise   dabei   mehr   rassenpolitische 

*)  Es  ist  hier  vielleicht  der  Anlaß,  einiges  über  Ferdinand  Krona- 
wetter zu  erzählen,  den  bürgerlichen  Demokraten,  der  allezeit  ein  auf- 
richtiger Freund  der  Arbeiter  war  und  ihnen  jahrzehntelang  als  einziger 
Vertreter  neben  Pernerstorfer  im  Parlament  zur  Seite  stand.  Kronawetter 
wurde  am  27.  Februar  1838  in  Wien  als  Kind  eines  kleinbürgerlichen  Hauses 
geboren.  Die  Märzrevolution  machte  auf  den  zehnjährigen  Knaben  einen 
unauslöschlichen  Eindruck.  Nach  Beendigung  seiner  Universitätsstudien  trat 
der  junge  Jurist  in  den  Dienst  der  Wiener  Gemeindeverwaltung,  in  dem  er 
bis  zu  seiner  Pensionierung  im  Jahre  1902  verblieb.  Sowohl  unter  der  libe- 
ralen wie  später  unter  der  christlichsozialen  Herrschaft  war  er  trotz  der 
heftigen  politischen  Gegensätze  wegen  seiner  fabelhaften  Kenntnis  jedes 
einzelnen  Verwaltungsdetails  sehr  geschätzt.  Schon  in  den  sechziger  Jahren 
war  er  in  der  demokratischen  Bewegung  sehr  geschätzt  und  hatte  auch 
frühzeitig  ein  Interesse  an  der  Arbeiterbewegung  gefunden.  Im  „Kommünal- 
kalender"  für  das  Jahr  1869  veröffentlichte  er  bereits  eine  34  Seiten  lange 
Studie  über  „Die  Arbeiterbewegung  in  Wien  vom  Jahre 
1866  bis  Mitte  186  8",  die  trotz  aller  Sachlichkeit  seine  Sympathien 
so  wenig  verbirgt,  daß  die  Redaktion  des  Kalenders  in  einer  Anmerkung 
ausdrücklich  erklärte,  daß  es  dem  Verfasser  überlassen  bleibe,  seine  Auf- 
fassung der  Frage  zu  vertreten.  Bald  kam  Kronawetter  auch  in  persönliche 
Berührung  mit  der  Arbeiterbewegung. 

Als  im  Jahre  1873  die  Abgeordneten  des  Reichsrats  nicht  mehr  von  den 
Landtagen,  sondern  zum  erstenmal  von  den  Wählern  direkt  gewählt 
wurden,  wenn  auch  auf  Grund  eines  Zensuswahlrechtcs  von  10  Gulden, 
wurde  er  vom  achten  Wiener  Bezirk  (Josefstadt)  in  das  Parlament  ent- 
sendet —  mit  ihm  zusammen  in  Wien  noch  zwei  andere  Demokraten  (in 
Margareten  Steudel,  am  Neubau  Dr.  Schrank),  dann  als  damals  noch  sehr 
radikaler  Fortschrittler  in  Mariahilf  Dr.  Kopp.  In  den  ersten  Jahren  galt 
sein  Kampf  vornehmlich  der  Korruption  der  liberalen  „Verfassungspartei", 
für  die  er  die  Bezeichnung  „Verwaltungsratspartei"  erfand,  die  alsbald  ein 
geflügeltes  Wort  im  politischen  Kampfe  wurde,  aber  neben  ihrer  Korruption 
auch  ihrer  Halbschlächtigkeit  in  allen  Freiheitsfragen,  so  auch  in  Kultur- 
und  Kirchenfragen  ...  Im  Jahre  1876  überreichte  er  im  Parlament  die 
Wahlrechtspe titionen  der  Arbeiter,  und  von  da  an  war  er  im 
Parlament  der  Wortführer  der  Arbeiter  gegen  die  Unterdrückung  durch  die 
Staatsgewalt.  Wegen  seines  Kampfes  gegen  die  Korruption  und  für  die 
Arbeiter  und  eine  demokratische  Wahlreform  wurde  von  den  Liberalen 
eine  infame  Hetze  gegen  ihn  veranstaltet,  die  auch  vor  seinem  Privatleben 
nicht  zurückschreckte.  (Als  Anlaß  wurde  eine  Pfründe  genommen,  die  seine 


108  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


Motive  als  solche  freisinniger  Art  maßgebend  gewesen  waren,  man 
mußte  erwarten,  daß  eine  derartige  Wählerschaft  sich  für  die  Frage 
des  Wahlrechtes  doch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  interessieren 
würde.  Der  Verein  hatte  seine  Schuldigkeit  getan;  nicht  weniger 
als  7200  Einladungen  waren  ausgegeben,  und  sämtliche  Mandats- 
träger der  Inneren  Stadt  in  Parlament,  Landtag  und  Qemeinderat 
waren  speziell  eingeladen  worden.  Als  die  Versammlung  beisammen 
war,  konnte  ein  Redner  konstatieren,  daß  nicht  einmal  ganz  fünf 
Promille  der  eingeladenen  Wähler  erschienen  waren.  Wir  geben 
zu,  daß  hieran  nicht  nur  die  Qualität  der  Liberalen,  sondern  auch 
die  Art  der  Einberufung  Schuld  trug,  und  wir  sind  überzeugt,  daß, 
wenn  die  Vereinsleitung  weniger  bescheiden  gewesen  wäre,  sondern 
Vorträge     von    Reichsratsabgeordneten     angekündigt     hätte,     die 

Mutter  von  der  Gemeinde  bezog  und  auf  die  sie  als  Witwe  nach  einem 
„Bürger"  Anspruch  hatte.)  Es  gelang  dieser  Hetze,  ihn  zum  Rücktritt  zu 
zwingen  und  ihm  das  Mandat  abzunehmen,  aber  bei  den  allgemeinen 
Wahlen  im  Jahre  1885  —  die  bereits  unter  dem  niedrigeren  Zensus  statt- 
fanden —  wurde  er  von  den  Fünfguldenmännern  wieder  gewählt,  mit  ihm 
in  Margareten  noch  als  Demokrat  auch  Dr.  L  u  e  g  e  r  (allerdings  gegen  den 
wirklichen  Demokraten  Steudel),  übrigens  in  Wiener-Neustadt  auch 
Pernerstorfe  r. 

Bei  den  Wahlen  im  Jahre  1891  standen  einander  Lueger  und  Krona- 
wetter  bereits  als  Feinde  gegenüber,  da  der  ehrgeizige  Lueger  seinen  Über- 
gang zu  den  Klerikalen  vollzogen  hatte,  die  damals  unter  dem  Decknamen 
der  „Vereinigten  Christen"  ihren  Eroberungszug  in  Wien  begannen.  Die 
„Vereinigten  Christen"  stellten  Kronawetter  in  seinem  Stammbezirk  Josef- 
stadt den  Professor  Schlesinger  gegenüber  und  Kronawetter,  de*i  die 
dortigen  „Demokraten"  fallen  ließen,  trat  nun  im  Wiener  Vorortewahlbezirk 
Hernais  (zu  dem  damals  auch  drei  andere  Wiener  Vororte  Ottakring; 
Währing  und  Döbling  gehörten)  gegen  den  von  den  „Vereinigten  Christen" 
oder  „Christlichsozialen",  wie  sie  sich  auch  bereits  nannten,  kandidierten 
Prinzen  Alois  Liechtenstein  auf,  der  früher  als  Erzklerikaler  die 
Bauern  des  steirischen  Bezirkes  Hartberg  vertreten  hatte  und  nun  als 
Christlichsozialer  in  Wien  kandidierte,  weil  die  Bauern  keinen  Fürsten  mehr 
wollten. 

Die  Sozialdemokratie  gab  die  Parole  aus,  mit  aller  Kraft  für  Krona- 
wetter einzutreten:  „Der  durchlauchtigste  Vorkämpfer  der  Dummheit,  der 
frivole  Jesuit  darf  nicht  siegen;  der  tapfere  Verfechter  des  Volksrechtes, 
der  unermüdliche  Bekämpfer  der  Polizeiwillkür  darf  nicht  fallen!"  hieß  es 
in  dem  Aufruf,  der  die  wahlberechtigten  Arbeiter,  die  im  ersten  Wahlgang 
ihre  Stimmen  für  Jakob  Reumann  abgegeben  hatten,  aufforderte,  in  der 
Stichwahl  für  Kronawetter  zu  stimmen.  Für  die  übrigen  Stichwahlen  hatte 
die  Partei  die  Parole  der  Wahlenthaltung  ausgegeben,  da  es  gleichgültig 
sei,  „ob  ein  liberaler  Schwätzer  mehr  oder  weniger  im  Parlament  sitzt". 
Trotz  der  Unterstützung  der  Sozialdemokraten  fiel  Kronawetter  und  es 
siegte  Liechtenstein,  der  dann  bis  zu  den  Juniwahlen  des  Jahres  1911 
dem  Parlament  angehörte. 

Der  bisherige  Vertreter  des  Bezirkes  Hernais  war  der  in  diesem  Artikel 
ebenfalls  genannte  Professor  Dr.  Wilhelm  E  x  n  e  r  gewesen,  ein  Liberaler, 
der  in  der  Inneren  Stadt  gewählt  wurde,  später  im  Herrenhaus  war. 

Als  nach  dem  Tode  des  Liberalen  Dr.  Eduard  Herbst  (des  ehemaligen 
Ministers)  in  der  Inneren  Stadt  in  Wien  ein  Mandat  frei  wurde,  wurde  es 
von  den  Liberalen  Kronawetter  angeboten,  weil  er  im  Kampf  gegen  die 


|).is  allgemeine  Wahlrecht  und  die  Liberalen.  109 


Herren  Wähler,  /war  weder  uns  Pflichtgefühl  noch  aus  sachlichem 
Interesse,  aber  aus  Neugierde  erschienen  wären.  Immerhin  aber  ist 
der  klägliche  Ausfall  der  Versammlung  nur  dadurch  zu  erklären, 
daß  die  Wähler  der  Inneren  Stadt  der  wohlhabenden  Bourgeoisie 
angehören,  und  für  diese  hört  mit  Anfang  Mai  jede  Politik  auf,  denn 
da  geht  sie  aufs  Land.  Die  Wahlrechtsagitation  wird,  wie  es  scheint, 
in  Wien  auf  diejenigen  angewiesen  sein,  deren  Mittel  es  nicht  er- 
lauben, aufs  Land  zu  gehen.  Nun  zur  Versammlung  selbst. 

Wir  übergehen  einige  recht  interessante  Zwischenfälle,  die  sich 
um  das  Andenken  Schmerlings  drehen,  der  am  selben  Tage 
begraben  wurde;  wir  übergehen  auch  einige  gute  Reden,  von  denen 
die  Pernerstorfer  s  die  beste  war.  Schließlich  ist  es  bekannt, 
daß  die  Mitglieder  der  sogenannten  demokratischen  Partei  sowie 

Antisemiten  unterlegen  war.  (Das  sind  die  hier  zitierten  „rassenpolitischen 
Motive".)  Er  wurde  auch  gewählt.  Das  war  allerdings  nicht  ganz  nach  dem 
Herzen  der  dortigen  liberalen  Clique,  die  später,  als  Kronawetter  für  die 
Taaffesche  Wahlreform  eintrat,  ihn  —  allerdings  vergeblich  —  zu  beseitigen 
versuchte.  1897  wurde  Kronawetter  wieder  gewählt,  1901  verzichtete  er 
auf  eine  Kandidatur  und  sein  Mandat  bekam  dann  Dr.  O  f  n  e  r,  der  be- 
kannte Jurist.  Im  Jahre  1896  wurde  Kronawetter  zusammen  mit 
^en  „Sozialpolitikern"  Professor  Philippovich  und  Dr.  0  f  n  e  r  von 
der  Inneren  Stadt  in  den  Landtag  entsendet.  Im  Jahre  1902  schied  er  ganz 
aus  der  aktiven  Politik  aus  und  starb  am  31.  Jänner  1913. 

Obwohl  Kronawetter  kein  Sozialdemokrat  war,  wurde  er  von  den 
Arbeitern  immer  als  einer  ihrer  treuesten  Freunde  angesehen.  Schon  seit 
dem  Jahre  1880  wurden  die  Reden,  die  er  im  Parlament  hielt,  von  der 
Sozialdemokratie  als  Broschüren  herausgegeben  und  gehörten  zu  den 
wichtigsten  Agitationsschriften  der  Partei:  so  besonders  die  Reden,  die  er 
und  Pernerstorfer  am  26.  und  27.  März  1886  über  die  Staatspolizei 
hielten,  dann  die  Rede  über  die  Geheimbündelei  und  das  objektive  Ver- 
fahren im  Jahre  1888,  in  der  er  die  böhmische  Klassenjustiz  geißelte,  seine 
Rede  vom  März  1889  über  die  Greuel  des  Ausnahmezustandes  („Die  Staats- 
polizei vor  dem  österreichischen  Parlament"). 

In  der  Nummer  der  „Gleichheit"  vom  12.  Februar  1887  (abgedruckt  im 
Bd.  VIII,  Seite  339  und  340)  hat  Adler  Kronawetter  und  sein  Verhältnis  zur 
Sozialdemokratie   mit  folgenden  treffenden  Worten  gekennzeichnet: 

Er  ist  aufgewachsen  in  den  Begriffen  von  politischen  Idealen  der 
bürgerlichen  Demokratie,  deren  Vertreter  heute  nur  noch  der  Klein- 
bürger ist:  später  lernte  er  den  Sozialismus  kennen,  von  dem  in  seinen 
älteren  Reden  noch,  keine  Spur  zu  finden  ist.  Trotz  seiner  Begabung 
seheint  es  ihm  aber  unmöglich  zu  sein,  sich  zu  einer  klaren  Durch- 
dringung des  wissenschaftlichen  Sozialismus  und  seiner  Geschichtsauf- 
fassung durchzuarbeiten.  So  bringt  er  jedesmal  bürgerlich-revolutionäre 
Vorstellungen,  „die  Prinzipien  von  1789"  mit  sozialistischen  Utopien  in 
buntem  Gemisch  vor  ...  Wenn  Dr.  Kronawetter  von  den  Arbeitern  ge- 
achtet, ja  vielfach  verehrt  wird,  so  hat  dies  keineswegs  seinen  Grund 
darin,  daß  sie  ihn  für  einen  Parteigenossen  halten.  Sie  ehren  und 
schätzen  ihn,  weil  er  ein  ehrlicher  Mann  ist,  der  den  Mut  hat,  die 
Wahrheit  darüber  zu  sagen,  wie  es  mit  unseren  „sogenannten  staats- 
bürgerlichen Rechten"  eigentlich  bestellt  ist. 

Siehe  übrigens  auch  Adlers  Rede  bei  Kronawetters  sechzigstem  Ge- 
burtstag am  27.  Februar  1898. 


110  Von  Taufte  bis  Badern. 


Pernerstorfer  Anhänger  des  allgemeinen  Wahlrechtes  sind. 
Recht  interessant  war,  daß  einer  der  Redner,  wir  glauben,  es  war 
der  Vorsitzende  der  Versammlung,  Herr  v.  N  e  u  m  a  n  n,  sofort  von 
dem  Rechte  der  Minoritäten  sprach  und  das  Proportionalwahl- 
system empfahl.  Wir  sind  gewiß  für  das  Proportionalwahlsystem, 
wir  meinen  aber,  daß  es  heute  in  Österreich  ziemlich  verfrüht  ist. 
es  auf  die  Tagesordnung  zu  stellen;  es  handelt  sich  heute  nicht  um 
den  Schutz  der  Minoritäten,  in  Österreich  handelt  es  sich  vor  allem 
um  den  Schutz  der  Majorität,  jener  kolossalen  Majorität 
von  zwei  Dritteln  der  Bevölkerung,  welche  recht-  und  schutzlos  ist. 

Aber  bemerkenswerter  waren  die  Äußerungen  des  Herrn  Abge- 
ordneten E  x  n  e  r  und  des  Herrn  Stadtrats  N  o  s  k  e.  Sie  hatten  etwas 
Gemeinsames  darin,  daß  sie  im  Schweiße  ihres  Angesichts  für  das 
allgemeine  Wahlrecht  einzutreten  versprachen,  dabei  aber  alle 
Einwendungen,  die  gegen  das  Wahlrecht  irgendwie  vorgebracht 
werden  können,  in  ausführlicher  Rede  darlegten.  Herr  E  x  n  e  r  er- 
klärte ausdrücklich,  daß  er  nur  für  seine  Person  und  nicht  im 
Namen  seiner  Partei  spreche,  welcher  Umstand  weiter  dadurch 
illustriert  wurde,  daß  der  Abgeordnete  Baernreither  zwar 
anwesend  war,  aber  schwieg.  Herr  E  x  n  e  r,  so  warme  Töne  er  zu- 
gunsten des  allgemeinen  Wahlrechtes  fand,  er  geriet  gerade  in  eine 
Art  von  Begeisterung,  als  er  schilderte,  wie  so  viele  seiner  Freunde 
für  das  Wahlrecht  nicht  zu  haben  seien,  weil  sie  für  den  Besitz- 
stand der  deutschen  Nation  fürchten.  Und  obwohl  er  auch  am 
Schluß  erklärte,  ihn  vermöge  dieses  Argument  nicht  zu  überzeugen, 
vermißten  wir  doch  eine  Widerlegung  dessen  aus  seinem  Munde, 
die  der  Abgeordnete  Pernerstorfer  hierauf,  und  zwar  nicht 
nur  vom  allgemeinen,  sondern  auch  vom  nationalen  Standpunkt 
beibrachte.  Für  uns  hat  das  Vorgehen  des  Abgeordneten  Exner 
bei  dieser  Gelegenheit  um  so  mehr  Bedeutung,  als  wir  darin  das 
Vorbild  für  seine  gesamte  Partei  haben.  Es  gibt  vielleicht  wenig 
Angehörige  der  Vereinigten  Linken,  bei  denen  das  nationale  Ele- 
ment so  wenig  in  den  Vordergrund  tritt,  wie  beim  Abgeordneten 
Exner,  und  seiner  ganzen  Entwicklung  und  Stellung  nach  gehört 
er  zum  internationalen  Liberalismus. 

Wenn  sich  also  schon  solche  Leute  hinter  das  nationale  Inter- 
esse verschanzen,  so  ist  es  absolut  sicher,  daß  wir  diesem  Schlag- 
wort auf  der  ganzen  Linie  begegnen  werden,  um  so  mehr,  da  neuer- 
dings die  deutschliberale  Partei  die  angeblichen  Interessen  des 
Deutschtums  zum  Deckmantel  und  zur  Maske  ihrer  Klassen-  und 
Cliqueninteressen  mehr  als  sonst  macht. 

Der  Herr  Stadtrat  N  o  s  k  e  erklärte  sich  bereit,  die  Suppe  des 
allgemeinen  Wahlrechtes  hinunterzuschlucken,  obwohl  er  ein  Haar 
darin  gefunden,  nämlich  „die  bedrohliche  Herrschaft  der  gedanken- 
losen Menge,  welche  durch  die  Analphabeten  insbesondere  in  den 
östlichen  Provinzen  repräsentiert  werde".  Es  ist  ein  erfreuliches 
Zeichen,  daß  diese  Ausführungen  des  Herrn  N  o  s  k  e  mit  kaum  durch 
die  Höflichkeit  gemildertem  Hohngelächter  aufgenommen  wurden. 
Aber   dieser   Herr   ist   überhaupt   nicht    ernst   zu   nehmen.   Er   ist 


Das  allgemeine  Wahlrecht  und  die  Liberalen.  111 


bekanntlich  ein  ganz  ordinärer  Prixhusar*),  das  heißt  ein  Mitglied 
und    williges    Werkzeug   jener   Gemeinderatsclique,    welche    ihre 

persönlichen  Interessen  mit  liberalem  Anstrich  und  bedingungs- 
loser Untertänigkeit  gegenüber  dem  liberalen  Klüngel  zu  verbinden 

weiß.  Als  Genosse  Adler,  der  direkt  gezwungen  wurde,  das 
Wort  zu  ergreifen,  Herrn  N  o  s  k  e  fragte,  wie  er  sich  zur  Auf- 
hebung der  Wahlkörper  bei  der  Wiener  Gemeindevertretung  ver- 
halte, war  der  bärbeißige  Mann  des  Fortschrittes  gezwungen,  sich 
verlegen  hinter  den  Ohren  zu  krauen. 

Trotzdem  also  die  Versammlung  nicht  überreich  an  Ergiebig- 
keit war,  möchten  wir  ihr  nicht  jede  Bedeutung  absprechen.  Es  ist 
immerhin  ein  Beweis  dafür,  daß  die  Idee  des  allgemeinen  Wahl- 
rechtes ihren  Siegeslauf  auch  in  der  privilegierten  Wählerschaft 
begonnen  hat,  wenn  Leute,  wie  E  x  n  e  r  und  N  o  s  k  e,  deren  Nasen 
darauf  dressiert  sind,  zu  erkennen,  woher  der  Wind  weht,  sich 
gezwungen  sehen,  wenn  auch  in  noch  so  verlegenen  Rede- 
wendungen für  das  Wahlrecht  einzutreten,  und  wenn  andererseits 
Abgeordnete,  die  dazu  vorläufig  keine  Lust  haben,  wie  die  Herren 
J  a  q  u  e  s  und  Kopp,  es  vorziehen,  zu  Hause  zu  bleiben.  Wir 
zweifeln  nicht,  daß  die  Zeit  kommen  wird,  wo  sich  kein  Ab- 
geordneter einer  Partei  findet,  der  sich  nicht  schämte,  gegen  das 
Wahlrecht  aufzutreten.  Aber  das  genügt  nicht,  wir  müssen  es  so 
weit  bringen,  daß  sich  jeder  fürchtet,  anders  als  für  das  Wahl- 
recht zu  stimmen.  Herr  E  x  n  e  r  hat  die  Frage,  wie  er  sich  dem 
jungtschechischen  Antrag  gegenüber  verhalte,  vorläufig  nicht  beant- 
wortet; und  die  Antwort,  die  er  feierlich  versprach,  wird  er  wohl 
erst  zu  geben  Gelegenheit  haben,  wenn  die  Wähler  von  ihren  Villen 
wieder  eingerückt  sind.  Wir  denken,  bis  dahin  wird  die  Situation 
eine  wesentlich  andere  sein.  Antisemiten  und  christlichsoziale  Ab- 
geordnete, das  heißt  solche  Abgeordnete,  in  deren  Wählerkreisen 
das  Kleinbürgertum  organisiert  ist  und  die  Majorität  bildet,  wagen 
schon  heute  nicht  gegen  das  allgemeine  Wahlrecht  aufzutreten,  und 
wir  sind  überzeugt,  daß  sie  in  der  Folge  gezwungen  sein  werden, 
bei  einer  Abstimmung  ihr  Ja  zu  sagen.  Die  Agitation,  wTelche  die 
Sozialdemokratie  den  Sommer  über  entwickeln  wird,  wird  dazu 
beitragen,  auch  in  solchen  Bezirken,  wo  sich  die  Liberalen  heute 
noch  sicher  fühlen,  eine  Bewegung  für  das  allgemeine  Wahlrecht 
zu  erzielen,  welche  so  manchen  Liberalen  zwingen  wird,  wenn 
auch  mit  süßsaurer  Miene,  für  den  jungtschechischen  Antrag  zu 
stimmen. 

Anknüpfend  an  diese  Versammlung  wurde  vielfach  von 
„die  Klassengegensätze  überbrückenden  Annäherungen"  zwischen 
Arbeiterschaft  und  Bürgertum  gesprochen.  Abgeordneter  P  e  r  n  e  r- 
s  t  o  r  f  e  r  selbst  sprach  sich  in  einer  begeisterten  Rede  dafür  aus, 
daß  die  besseren  Elemente  des  Bürgertums,  wenn  sie  auch  das 
soziale  Programm  der  Arbeiterschaft  nicht  unterschreiben  könnten, 
mindestens  ihre  politischen  Forderungen  zu  den  ihrigen  machen 
müßten.  Wir  müssen  leider  gestehen,  daß  wir  hievon  wenig  oder 

)  Dr.  Prix  war  der  liberale  Bürgermeister  von  Wien. 


112  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


nichts  erwarten.  Nicht  die  Liebe  zu  den  Menschen,  nicht  die  Idee 
der  Gerechtigkeit  wird  die  österreichische  Besitzerklasse  dazu 
bringen,  ihre  Privilegien  aufzugeben,  sondern  einzig  und  allein  die 
Furcht.  Das  rechtlose  Proletariat  hat  die  Zahl  für  sich  und  die 
Masse,  es  muß  zeigen,  daß  es  auch  eine  Macht  ist;  der  Macht 
werden  sie  sich  beugen,  und  sie  werden  sich  nicht  einen  Moment 
früher  beugen,  als  sie  sich  beugen  müssen.  An  uns  ist  es,  das 
Herannahen  dieser  Stunde  zu  beschleunigen. 

Eine  Frage  an  die  Rechtlosen. 

„Arbeiter-Zeitung",  9.  Juni  1893*). 

Warum  seid  ihr  rechtlos?  Warum  seid  ihr  nicht  Wähler? 
Warum  dürfen  Leute,  die  von  einem  schwachen  Drittel  der 
Bevölkerung  gewählt  sind,  im  Namen  des  ganzen  Volkes  Gesetze 
machen  und  den  Staat,  das  Land,  die  Gemeinde  verwalten??  Seht 
nach  Deutschland  hinüber;  da  seht  ihr  heute  ein  mächtiges  Ringen 
des  ganzen  Volkes  gegen  die  Übermacht  des  Militarismus.  Der 
ärmste  Proletarier,  so  machtlos  er  sein  mag,  er  darf  seine  Stimme 
erheben  als  Protest  gegen  die  Zumutung,  daß  dem  Volke  neue 
Lasten  an  Gut  und  Blut  aufgebürdet  werden  sollen.  Habt  ihr  eine 
ähnliche  Volksbewegung  je  in  Österreich  erlebt?  Unser  Redehaus, 
das  Parlament,  bewilligt  stets  und  alles,  wras  man  von  ihm  begehrt. 
Das  Volk  weiß  nichts  von  unseren  Volksvertretern  und  sie  wissen 
nichts  vom  Volke. 

In  Österreich  gibt  es  sechs  Millionen  Männer  von  über 
24  Jahren;  noch  nicht  zwei  Millionen  von  ihnen  haben  das  Wahl- 
recht. Vier  Millionen  erwachsener  Männer  haben  alle  Lasten  zu 
tragen,  die  ihnen  Staat  und  Gemeinde  auferlegen,  haben  mit  ihrem 
Blute  das  Reich  zu  schützen,  das  sie  nicht  wert  hält,  vollberech- 
tigte Bürger  zu  sein.  Vier  Millionen  sind  rechtlos. 

Aber,  so  sagen  die  Gesetzesmacher,  wir  Wähler  sind  die 
„Steuerzahler".  Nun,  von  den  über  400  Millionen  Gulden,  die  der 
Staat  alljährlich  nimmt,  werden  300  durch  indirekte  Steuern  auf- 
gebracht, die  ihr  alle  zahlt,  Männer  und  Frauen,  bei  jedem  Bissen, 
den  ihr  eßt,  bei  jedem  Schluck,  den  ihr  trinkt,  ihr  zahlt  Steuer  für 
die  dumpfe  Luft  sogar  in  euren  engen  Wohnungen.  Und  die  direkten 
Steuern?  Zahlen  sie  denn  die  Reichen  aus  ihrer  Tasche  oder  nicht 
vielmehr  aus  eurer?  Eure  Arbeit,  euer  Schweiß  ist  es,  was  sie  aufs 
Steueramt  tragen. 

*)  Dieser  Artikel,  der  am  9.  Juni  1893  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  erschien, 
wurde  kurz  vor  den  Massenversammlungen,  die  am  18.  Juni  in  ganz 
Österreich  veranstaltet  wurden  und  in  mehreren  Orten,  zum  Beispiel  in 
Brunn  und  Prag,  zu  blutigen  Zwischenfällen  führten,  in  einer  Auflage  von 
400.000  Exemplaren  auch  als  Flugblatt  verbreitet.  Die  Verbreitung  erfolgte 
am  15.  Juni,  an  dem  Tage,  an  dem  die  deutsche  Arbeiterschaft  zur  Wahl- 
urne schritt.  (Siehe  B  r  ü  g  e  1,  Bd.  IV,  Seite  184  f.,  wo  das  Flugblatt  eben- 
falls abgedruckt  ist.) 


Eine  Präge  an  die  Rechtlos  t  n.  1 i  ; 


Ihr  habt  zu  zahlen  und  zu  schweigen.  Und  Ihr  habt  um  So  mehr 
zu  zahlen,  weil   ihr  schweigen   müßt.  Eure   Rechtlosigkeit  kömmt 

euch  teuer  zu  stehen.  Ohne  euch  wird  regiert  und  nur  zu  oft  gegen 

euch. 

Aber,  heißt  es,  ihr  seid  politisch  unreif.  Reif  seid  ihr.  Schätze 
anzuhäufen  für  die  anderen,  reif  seid  ihr.  eure  Haut  zu  Markte  zu 
tragen  für  das  Vaterland  —  reif  seid  ihr  für  jede  schwere  Pflicht, 
aber  wenn  es  gilt,  Bürgerrechte  auszuüben,  zu  verwalten,  was  ihr 
dem  Staate  gebt,  Gesetze  zu  machen,  denen  ihr  blind  gehorchen 
müßt,  dann  seid  ihr  — ■  unreif. 

Nicht  Charakter,  Intelligenz,  Bildung,  nicht  Opfermut  und  fleißige 
Arbeit  macht  politisch  reif  in  Österreich  —  der  Geldsack  allein 
macht  reif,  gibt  politisches  Recht.  Je  mehr  Geld,  desto  mehr  Recht. 
Je  mehr  Arbeit,  desto  mehr  Lasten;  je  mehr  Lasten,  desto  weniger 
Rechte. 

Und  nun  noch  eine  Frage,  ihr  Rechtlosen.  Wie  lange  wollt  ihr 
diesen  unwürdigen  Zustand  noch  dulden?  Wie  lange  noch  wollt 
ihr  einer  Minderheit  erlauben,  in  eurem  Namen  „Volksvertretung" 
zu  spielen.  Meint  ihr  nicht,  daß  es  Zeit  sei,  der  Schmach  ein  Ende 
zu  machen?  Wenn  ja,  dann  schließt  euch  der  Sozialdemokratie  an 
und  ihrem  Kampfe  gegen  die  politische  Ungleichheit  und  Bevor- 
mundung. Die  Sozialdemokratie  ist  die  einzige  Partei,  die  rück- 
sichtslos die  wirtschaftliche  Ausbeutung  bekämpft,  ebenso  wie  die 
politische  Unterdrückung. 

Auf!  Vereinigt  euch  mit  der  Armee  der  sozialdemokratischen 
Arbeiterschaft  und  zeigt,  daß  dem  Volk,  das  erwacht  ist  und  will, 
Nichts  und  Niemand  widerstehen  kann. 

Und   nun    eine    Frage    an    die   Bevorrechteten,    die 

Wähler! 

Ihr  genießt  das  Privilegium,  Vertreter  zu  wählen  für  Parlament, 
Landtag  und  Gemeinde.  Seid  ihr  zufrieden  mit  euren  Vertretern? 
Oder  müßt  ihr,  Kleinbürger  und  Bauern,  nicht  vielmehr  erfahren, 
daß  ganz  andere  Interessen  gewahrt  werden,  als  die  der  Masse  des 
Volkes?  Warum  ist  das  so?  Weil  euer  Wahlrecht  verdünnt  ist  und 
nicht  weiter  geht,  als  euer  Geldsack,  der  täglich  dünner  wird.  Ganz 
andere  Leute  regieren,  als  ihr,  arme  Fünfguldenmänner. 

Die  5000  Großgrundbesitzer  wählen  85  Abgeordnete.  Ein  Ab- 
geordneter entfällt  schon  auf  63  dieser  hohen  Herren,  aber  erst  auf 
2918  Bürger  und  gar  erst  auf  10.500  Bauern.  Ihr  seht,  die  5  Gulden 
direkter  Steuer,  die  euch  zu  Wählern  machen,  geben  euch  nur  ein 
Scheinrecht. 

Und  dabei  müßt  ihr  zusehen,  wie  euch  eure  Brüder,  die  große 
Masse  des  Volkes,  rechtlos  zur  Seite  stehen.  Das  ist  schmachvoll, 
ebenso  für  euch  wie  für  sie.  Ein  Privilegium  entehrt  die  Privile- 
gierten ebenso,  wie  die  vom  Privilegium  Ausgeschlossenen. 

Und  das  Privilegium  rächt  sich.  Schwach,  wie  ihr  seid,  da  die 
Masse  des  Volkes  fernsteht,  müßt  ihr  sehen,  wie  die  öffentlichen 
Angelegenheiten  des  Landes  rettungslos  in  einen  Sumpf  geraten 
sind;  wie  eure  Vertreter  mit  unfruchtbarem,  kleinlichem  Nationali- 

Adler,  Briefe.  X.  Bd.  8 


114  Von  Taaffe  bis  Madcni. 


tätengezänk  ihre  Zeit  und  euer  Geld  totschlagen  —  derweilen  die 
eigentlich  Mächtigen  im  Trüben  fischen  und  alle  Schafe  scheren. 

In  eurer  großen  Mehrzahl  gehört  ihr  selbst  zu  den  Schwachen 
und  Armen,  gehört  ihr  zum  Volke.  Verlangt  es  da  nicht  eure  Ehre 
sowohl  wie  euer  Interesse,  daß  ihr  mithelft,  das  Unrecht  gut  zu 
machen;  daß  ihr  helft,  eure  Brüder  zu  Bürgern  zu  machen,  daß  ihr 
mitkämpft  für  das  Wahlrecht! 

Darum,  Rechtlose  und  Bevorrechtete,  Arbeiter  und  Bürger,  so- 
weit ihr  Herz  und  Kopf  am  rechten  Flecke  habt  —  stimmt  ein  mit 
den  Sozialdemokraten  in  den  Ruf:  Hoch  das  allgemeine,  gleiche 
und  direkte  Wahlrecht! 

Wenn  ihr  ernstlich  wollt,  so  muß  es  euch  gelingen,  muß  auch  in 
Österreich  gewährt  werden,  was  alle  modernen  Staaten  haben: 
gleiches  politisches  Recht.  Was  die  belgischen  Arbeiter  vor  wenigen 
Monaten  erkämpft*),  auch  wir  in  Österreich  werden  es  erkämpfen. 
Wir  wollen  hoffen,  daß  die  Mächtigen  einsichtig  genug  sind,  es  an 
dem  Kampfe  mit  gesetzlichen  Mitteln  genug  sein  zu  lassen. 

Wir  aber  wrollen  nicht   ruhen,  nicht  rasten,  durch  nichts   und 
durch  niemand  uns  abschrecken  lassen,  bis  das  Volk  erlangt  hat, 
was  sein  natürliches  Recht  ist  — 
das   allgemeine,   gleiche  und   direkte   Wahlrecht! 

Das  erste  Wahlrechtsmeeting. 

Versammlung  im  Rathaus  am  9.  Juli  189 3**). 

Wir  sind  nicht  als  Fremde  ins  Rathaus  gekommen,  wir  nehmen 
unser  Recht  in  Anspruch,  wenn  wir  hieher  kommen.  Wir  sind  nicht 
als  Bittende  gekommen,  wir  haben  in  Anspruch  genommen,  was 

*)  Im  April  hatten,  wie  bereits  oben,  bei  Adlers  Rede  auf  dem  Partei- 
tag 1894  („Taaffes  Sturz  und  die  Koalition"),  dargelegt  wurde,  die  bel- 
gischen Arbeiter  nach  einem  Generalstreik  das  allgemeine  Wahlrecht  er- 
langt. 

**)  Für  den  18.  Juni  waren  in  ganz  Österreich  Massenversammlungen 
für  das  Wahlrecht  einberufen  worden.  In  Wien  sollten  die  Versammlungen 
in  der  Volkshalle  des  Rathauses,  im  Arkadenhof  und  auf  dem  Rathaus- 
platz stattfinden.  Die  Wiener  Versammlungen  wurden  aber  wegen  Tagens 
der  Delegationen  dann  auf  den  9.  Juli  verschoben.  In  Prag  und  Brün  n, 
wo  man  die  Versammlungen  verbot,  kam  es  zu  blutigen  Zusammenstößen 
mit  Polizei  und  Militär.  In  Wien  wurde  Sonntag  den  9.  Juli  die  Ver- 
sammlung auf  dem  Rathausplatz  von  der  Polizei  verboten,  die  beiden 
anderen  Versammlungsräume  wieder  vom  Stadtrat  verweigert,  nach- 
träglich aber  vom  Gemeinderat  bewilligt.  Die  Zahl  der  Teilnehmer  wurde 
selbst  von  den  bürgerlichen  Blättern  auf  40.000  bis  50.000  geschätzt.  Die 
Versammlungen  verliefen  in  musterhafter  Ordnung  —  weshalb  die  „Neue 
Freie  Presse"  die  Kundgebung  höhnisch  als  „Galaparade"  bezeichnete. 
Im  Arkadenhof  sprach  zuerst  Adler,  dann  Schuhmeier,  Perner- 
storf er,  Adelheid  Dworschak  (Popp),  Ellenbogen.  —  Lueger 
hatte  sich  mit  Krankheit  entschuldigt,  sich  aber  für  das  allgemeine  Wahl- 
recht ausgesprochen,  ebenso  der  Alldeutsche  H  a  u  c  k.  (Siehe  übrigens  den 
Bericht  in  der  Wahlrechtsbroschüre.) 


Das  eiste  Wahlrechtsmeeting.  U5 


uns  mit  Unrecht  verweigert  wird.  So  wie  dieses  Haus  dem  Volke 
von  Wien  gehört,  so  gehört  jenes  Maus,  das  Parlament,  dem  Volke 
von  Österreich  von  Rechts  wegen.  Wir  mußten  um  diese  Räume 
kämpfen  —  es  war  nur  der  erste  Schritt  für  einen  größeren  und 
wichtigeren  Kampf.  Wir  haben  das  Wahlrecht  nie  als  Endziel 
unserer  Wünsche  angesehen,  aber  als  Vorbedingung  für  jeden  Fort- 
schritt in  Österreich,  als  die  wichtigste  Waffe,  womit  das  Voik 
seinen  weiteren  Weg  machen  kann,  an  dessen  Ende  steht  das  Ende 
der  Ausbeutung,  das  Ende  der  Unterdrückung,  das  Ende  der  syste- 
matischen Verdummung.  (Großer  Beifall.)  Die  heutigen  politischen 
Zustände  stinken  schon  so  zum  Himmel,  daß  jeder  einsieht,  nur  das 
Volk  selbst  könne  die  Verrottung  beseitigen.  Ein  Staatsanwalt,  Herr 
Lienbacher,  sagte  einst:  „Wie  das  Wahlrecht  ist,  so  ist  die 
Reichsvertretung,  und  wie  die  Reichsvertretung,  so  sind  die  Reichs- 
gesetze." So  verrottet,  so  beschränkt,  so  engherzig,  so  nur  für  die 
obersten  Schichten  angepaßt,  so  sehr  nur  dem  egoistischen  Sinne 
der  Obersten,  der  Großgrundbesitzer  und  Großkapitalisten  unsere 
Wahlordnung  ist,  so  ist  auch  unsere  Gesetzgebung  einfach  eine 
Gesetzgebung  zugunsten  von  einigen  Wenigen,  während  über  die 
eigentlich  arbeitende  Klasse  einfach  zur  Tagesordnung  über- 
gegangen wird.  (Beifall.)  Im  Jahre  1881  stellte  Schönerer  mit 
Kronawetter,  Fürnkranz  und  Steudel  den  Antrag  auf  allgemeines 
Wahlrecht  —  Übergang  zur  Tagesordnung.  Im  Jahre  1886  stellte 
Kronawetter  mit  Kreuzig  und  L  u  e  g  e  r  den  Antrag  auf 
allgemeines  Wahlrecht  —  wieder  Papierkorb.  Durch  sechs  Jahre 
ist  ein  gleicher  Antrag  in  der  letzten  Wahlperiode  nicht  einmal  zur 
ersten  Lesung  gekommen.  Nun  kommen  die  Jungtschechen.  Aber 
in  dem  schönen  Hause,  wo  die  Hüter  und  Fabrikanten  des  Gesetzes 
sitzen,  findet  sich  niemand,  der  sich  des  Kindes  annimmt.  Wenn 
es  aber  die  Abgeordneten  nicht  durchsetzen  können,  daß  der  An- 
trag auf  allgemeines  Wahlrecht  auf  die  Tagesordnung  kommt,  wird 
das  arbeitende  Volk  draußen  dafür  sorgen.  In  Prag  und  Brunn 
hat  man  auf  die  Forderung  des  Volkes  so  geantwortet,  wie  man 
gern  überall  antworten  möchte,  wenn  man  sich  getraute.  Wir 
protestieren  heute  gegen  die  Vergewaltigung  unserer  Genossen 
in  Prag  und  Brunn,  wir  protestieren  gegen  die  Verkürzung  des 
heute  bereits  errungenen  Versammlungsrechtes  durch  die  Prager 
und  Brünner  Behörden. 

Man  sucht  das  Wahlrecht  mit  allen  Mitteln  so  lange  als  möglich 
zu  verweigern,  wenn  dies  nicht  mehr  möglich  ist,  sucht  man  zu 
fälschen.  Angefangen  haben  die  Liberalen  durch  den  Vorschlag, 
Arbeiterkammern  mit  politischem  Wahlrecht.  Die  eine  Frak- 
tion der  Antiliberalen  Liechtenstein-Pattai  hat  das  akzep- 
tiert. Wo  es  was  zu  fälschen  gibt,  darf  auch  eine  andere  Instanz  nicht 
fehlen;  nun  hat  sich  auch  die  Regierung  eingestellt.  Durch  den 
Mund  eines  ihrer  offiziösen  Journalisten*)  hat  sie  heute  offiziös  aus- 

A)  Gemeint  war  das  „Wiener  Tagblatt".  Dessen  Redakteur  Moritz 
Szeps  tat  dann  in  dem  Blatt  sehr  beleidigt  über  diese  Bezeichnung,  wurde 
aber   von   Adler  in   der   nächsten  Nummer  der   „Arbeiter-Zeitung"   mit  der 

8* 


11C)  Von  Taaffe  bis  Badcni. 


gesprochen,  sie  werde  selbst  einen  Antrag  auf  parlamentarische 
Vertretung  der  Arbeiterschaft  durch  Arbeiterkammern  einbringen. 
(Gelächter.)  Es  soll  Ihnen  so  gut  gehen  wie  den  Handelskammern. 
Wenn  es  gut  geht,  sollen  die  Millionen  von  Arbeiter  so  viel  Ver- 
treter haben  wie  die  139  Großgrundbesitzer  in  Mähren.  (Pfuirufe 
und  Gelächter.)  Wir  haben  nichts  gegen  ehrliche  Arbeiter- 
kammern als  Erhebungs-  und  Kontrollinstitute.  Diese  wären  sehr 
notwendig.  Aber  wir  können  es  nicht  brauchen,  daß  man  sie 
benützen  will  zur  Verfälschung  des  Wahlrechtes,  um  das  Volk 
abzuspeisen.  Wir  pfeifen  auf  dieses  Geschenk.  (Rauschender  Bei- 
fall und  Heiterkeit.)  Wir  empfehlen  Ihnen  folgende  Resolution  zur 
Annahme: 

Resolution1'). 

Die  im  Rathaus  zu  Wien  am  9.  Juli  1893  tagende  Volksver- 
sammlung erklärt: 

Die  erste  Vorbedingung  jeden  politischen  und  wirtschaftlichen  Fort- 
schrittes in  Österreich  ist  die  Beseitigung  der  heutigen  auf  das  Monopol 
der  Besitzenden  gegründeten  Verfassung.  Großgrundbesitz  und  Groß- 
kapital sind  nicht  nur  im  alleinigen  Besitz  des  Herrenhauses,  sondern  sie 
sind  durch  ihre  Wahlprivilegien  auch  die  eigentlichen  Beherrscher  des 
Abgeordnetenhauses.  Die  gesamte  Gesetzgebungsmaschine  steht  im  Dienste 
einer  kleinen  Gruppe  von  Meistbesitzenden,  welche  das  arbeitende  Volk 
nicht  nur  als  einzelne  Unternehmer  wirtschaftlich . . .,  sondern  es  auch  als 
Klasse  politisch  knechten. 

Die  Versammlung  erkennt  das  rückständige  und  . . .  Wahlsystem 
Österreichs  als  Grundursache  der  politischen  Versumpfung  des  Reiches 
und  als  Wurzel  des  sinnlosen,  maßlosen  und  fruchtlosen  Nationa^täten- 
haders  und  der  kläglichen  staatsrechtlichen  Wirren. 

Die  heutige  Versammlung  protestiert  gegen  jenes  Wahlsystem, 
welches  Österreich  zu  einer  traurigen  Ausnahmsstellung  in  Europa  ver- 
urteilt. Sie  protestiert  gegen  die  Ausschließung  von  mehr  als  zwei 
Dritteln  des  Volkes  vom  Wahlrecht  in  Stadt,  Land  und  G  e- 
m  e  i  n  d  e,  und  verlangt  als  Grundlage  und  Vorbedingung  einer  ernsten 
Geltendmachung  der  Volksinteressen  die  Aufhebung  der  politischen  Vor- 
rechte aller  privilegierten  Interessengruppen  und  das  allgemeine,  gleiche 
und  direkte  Wahlrecht  für  alle  Staatsangehörigen  ohne  Unterschied  des 
Geschlechtes  vom  21.  Lebensjahr  an. 

Die  heutige  Versammlung  protestiert  auch  aufs  Entschiedenste 
gegen  jene  ...  und  verhängnisvollen  Einschränkungen  des  Versammlungs- 
rechtes, die  in  Brunn  und  Prag  zu  Blutvergießen  führten,  durch  welche 
aber  der  Kampf  um  das  Volksrecht  wohl  verbittert,  niemals  aber  behin- 
dert werden  kann. 

Die  große  Masse  der  Besitzlosen  hat  es  satt,  sich  von  einer  ver- 
schwindenden Minderheit  gängeln  und  übervorteilen  zu  lassen.  Die  sozial- 

Bemerkung  abgefertigt,  daß  die  Beziehungen  zwischen  dem  „Wiener  Tag- 
blatt" und  dem  Preßbüro  notorisch  seien;  übrigens  sei  bei  dieser  Ver- 
bindung die  -Unehre  entschieden  auf  Seiten  des  Grafen  Taaffe. 
.  *)  Zu  den  hier  ausgelassenen  Stellen  der  Resolution  siehe  die  Be- 
merkungen bei  der  Wahlrechtsbroschüre,  wo  die  Resolution  im 
Vorwort  ebenfalls  abgedruckt  ist.  (Seite  11.) 

Das  erste  fehlende  Wort  heißt  danach:  „ausbeuten",  das  zweite: 
„verrottete",  das  dritte:   „ungesetzlichen". 


Taaffes  Wahlreform.  i !7 


demokratische  Arbeiterschaft  Insbesondere  verlangt  das  politische  Wahl- 
recht als  Grundlage  der  Organisation  des  Proletariats,  als  das  vornehmste 
Mittel  politischer  Bildung,  als  wichtigste  Waffe  im  Kampfe  gegen  Aus,- 
beutung,  Rechtlosigkeit  und  Bevormundung. 

Die  heutige  Versammlung  erklärt  es  als  Pflicht  jedes  Rechtdenkenden, 
mit  aller  Kraft  dahin  zu  wirken,  daß  endlich  die  Verfassung  den  Grundsatz: 
„Gleiches   Recht   für  alle"   auch   wirklich   zur   Wahrheit  mache. 

sie  erklärt  nicht  ruhen  und  vor  keinem  Opfer,  das  dem  Volke  auferlegt 
wird,  zurückschrecken  zu  wollen,  bis  das  a  1  1  g  e  tri  e  i  n  e,  g  1  e  i  c  h  e  u  n  d 
direkte  Wahlrecht  erkämpft  ist. 

Nun,  Genossen,  diese  Resolution  ist  für  alle  bestimmt,  die  wollen, 
daß  dem  Volk  sein  Recht  nicht  vorenthalten  werde.  Wir  aber  haben 
noch  weitere  Ziele.  So  ruhig  und  kaltblütig,  aber  auch  so  uner- 
schütterlich wir  bisher  gekämpft  haben  für  den  Achtstundentag, 
für  das  Wahlrecht,  so  werden  wir  weiter  kämpfen  für  unsere  End- 
ziele. Hoch  die  internationale  Sozialdemokratie!  (Donnernde  Hoch- 
rufe. Lebhafter  Beifall.) 

Taaffes  Wahlreform. 

Versammlung  im  S  o  p  h  i  e  n  s  a  a  1  am  16.  Oktober 

1893*). 

Nach  mehr  als  25  Jahren  unaufhörlicher  Arbeit  und  harten 
Kampfes  steht  die  Arbeiterbewegung  heute  endlich  zum  ersten  Male 

*)  Am  10.  Oktober  1893,  als  das  Parlament  nach  den  Sommerferien  zu 
seiner  Herbsttagung  zusammentrat,  überraschte  Graf  Taaffe  die  Abgeord- 
neten und  die  Öffentlichkeit  mit  einem  Wahlreformentwurf,  der  die  Kurien 
bestehen  ließ,  aber  in  den  Kurien  der  Steuerzahler,  in  der  Städte-  und  der 
Landgemeindenkurie,  den  Zensus  aufhob.  Das  Wahlrecht  in  diesen  Kurien 
solle  jeder  Staatsbürger  haben,  der  vor  dem  Feinde  gestanden,  zum 
Tragen  der  Kriegsmedaille  berechtigt  ist,  das  Zertifikat  für  ausgediente 
Unteroffiziere  erworben  hat,  den  erforderlichen  Bildungsnachweis  (Kennt- 
nis des  Lesens  und  Schreibens)  oder  den  Nachweis  über  die  erfüllte 
Stellungspflicht  zu  erbringen  vermag.  —  Die  Kurien  hatte  Graf  Taaffe  (oder 
vielmehr  der  eigentliche  Anreger,  der  Finanzminister  Dr.  Emil  Steinbach) 
deshalb  belassen,  weil  sie  sonst  die  zur  Abschaffung  der  Kurien  notwendige 
Zweidrittelmehrheit  gebraucht  hätten,  während  sie  die  einfache  Mehrheit 
leicht  zu  erhalten  hofften.  Die  Bindung  des  Wahlrechtes  an  die  Militär- 
pflicht wurde   deshalb  gewählt,  um  den  Kaiser  zu  gewinnen. 

Aber  unmittelbar  nach  der  Einbringung  der  Vorlage  vereinigten  sich 
die  in  ihrem  Besitzstand  bedrohten  Parteien  —  die  Liberalen  unter  der 
Führung  Pleners,  die  Konservativen  unter  der  Führung  des  Grafen  Hohen- 
wart  und  die  Polen  unter  der  Führung  des  R,  v.  Jaworski  —  zum  Sturz  der 
Regierung.  Als  am  23.  Oktober  die  erste  Lesung  der  Vorlage  —  und  zu- 
gleich der  anderen  Wahlreformantrüge  —  begann,  war  Taaffe  ein  ge- 
fallener Mann.  Am  28.  Oktober  wurde  das  Parlament  vertagt.  Am  11.  No- 
vember wurde  die  Regierung  offiziell  enthohen  und  zugleich  Fürst  Alfred 
Windischgrätz  zum  Ministerpräsidenten  des  Koalitionsministeriums 
ernannt. 

Am  10.  Oktober  fand  nun  die  Versammlung  im  Sophiensaal  statt,  in  der 
Adler  das  Referat  hatte. 


118  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


beim  Beginn  eines  Erfolges.  Die  Millionen  von  Rechtlosen,  die  in 
Österreich  in  politischen  Dingen  bisher  nichts  dreinzureden  hatten, 
sie  haben  frischen  Mut  gefaßt  am  1.  Mai  1893,  als  durch  das  ganze 
Reich  der  Ruf  ging:  was  in  Belgien  geworden,  in  Österreich  muß 
es  werden  (Beifall),  und  es  scheint,  Genossen,  daß  es  wird. 

Die  ungeheuren  Schwierigkeiten,  die  sich  gerade  in  Österreich 
der  Wahlreform  entgegensetzen,  haben  wir  niemals  unterschätzt. 
Wir  haben  gewußt,  daß  ein  Großgrundbesitz,  ein  Feudaladel  da  ist, 
der  sich  noch  nicht  an  den  Gedanken  gewöhnen  kann,  daß  auch 
seiner  Herrschaft  ein  Ende  gemacht  werde,  und  eine  Bourgeoisie, 
die  feig  und  faul  ist,  von  der  wir  nichts  zu  erwarten  haben.  Wir 
haben  gewußt,  daß  alles,  was  erreicht  werden  kann,  einzig  zu  er- 
reichen ist  durch  die  Arbeiterklasse  selbst,  durch  den  Ernst,  den  das 
Proletariat  aufzubringen  imstande  sein  wird.  Und  seit  Jahren,  wo 
die  Arbeiterpartei  gewachsen  ist,  und  seit  dem  1.  Mai  und  seit  dem 

9.  Juli  in  Wien  weiß  man  es  in  Österreich  überall,  mit  diesem  Prole- 
tariat darf  man  nicht  scherzen,  wie  mit  der  Bourgeoisie.  In  diesem 
Sinne,  Genossen,  ist  die  Wahlreformvorlage  zu  betrachten,  die  der 
Ministerpräsident  am  10.  Oktober  eingebracht  hat,  eine  Vorlage, 
die  in  jedem  anderen  Lande  als  ein  Werk  der  Reaktion  angesehen 
werden  müßte,  weil  sie,  wenn  durchgeführt  beinahe  ein  Dritteil  des 
Parlaments,  106  Sitze  von  353,  an  den  Großgrundbesitz  und  an  die 
Handelskammern  in  Generalpacht  gibt,  und  nur  den  Rest  der  Parla- 
mentssitze überhaupt  den  Wahlen  zugänglich  macht;  denn  in 
Handelskammern  und  im  Großgrundbesitz  wird  nicht  gewählt, 
sondern  ernannt.  Eine  Wahlreform  weiter,  welche  in  dem  weitaus 
größten  Teil  der  Wahlbezirke,  in  den  ländlichen,  das  indirekte 
Wahlsystem  aufrechterhält,  ein  System,  das  verurteilt  ist  vom  ge- 
sunden Menschenverstand  und  von  der  Geschichte  der  Wahlen; 
eine  Wahlreform,  die  sich  allgemeines  Wahlsystem  nennt  und  trotz- 
dem diejenigen  ausschließt,  wrelche  am  schwersten  zu  leiden  haben 
unter  dem  Fluche  der  Unbildung.  Und  trotzdem  —  dieses  verzopfte 
Gebilde,  diese  Mißgeburt  in  jedem  europäischen  Lande,  in  Öster- 
reich ist  sie  ein  riesiger  Fortschritt  (so  ist  es!),  der  erste  Schritt 
zum  allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Wahlrecht  und,  ich  sage 
es  gleich  hier,  ein  erster  Schritt,  dem  andere  folgen  müssen.  Am 

10.  Oktober  hat  zum  ersten  Male  in  Österreich  wieder  die  Logik 
gesprochen,  und  die  Logik  wird  bei  diesem  Gesetz  nicht  stehen- 
bleiben, dafür  werden  wir  sorgen.  Wenn  wir  fragen,  warum  hat  die 
Regierung  diese  Wahlreformvorlage  eingebracht,  so  müssen  wir 
uns  vor  allem  gestehen,  daß  diese  Frage  eigentlich  nicht  ein  Kom- 
pliment für  die  Regierung  ist,  denn  vernünftigerweise  müssen  wir 
doch  fragen,  warum  wurde  diese  Wahlreform  nicht  schon  längst 
eingebracht,  warum  erst  jetzt?  Warum  ist  dem  Grafen  Taaffe 
erst  jetzt  diese  Idee  gekommen? 

Das  war  der  1.  Mai,  das  war  der  9.  Juli,  das  war  in  allen 
Provinzen,  wo  es  Arbeiter  gibt,  das  unaufhaltsame  Drängen,  das 
sich  selbst  hinstellte  als  ein  Anfang  und  lange  noch  nicht  als  das 
Ende.  (Ruf  von  der  Galerie:  „Das  ist  eine  Utopie."  Große  Unruhe.) 
Bitte,  wenn  der  Herr  etwas  wünscht,  so  kann  er  nach  mir  sprechen. 


Taaffes  Wahlreform.  l  n» 


(Beifall.)   Die  Wahlreform   des   Grafen  Taaffe,   gerade   in    diesem 

Moment,  ist  das  direkte  Erzeugnis  der  Bewegung,  die  in  der 
Arbeiterschaft  in  den  letzten  Monaten  entstanden,  sie  ist  das  direkte 
Erzeugnis  der  Verlegenheit,  vor  der  endlich  die  Regierung  steht, 
der  Verlegenheit,  daß  die  große  Majorität  des  Volkes  etwas  ver- 
langt, was  jedermann  für  vernünftig  ansehen  muß. 

Es  ist  klar,  daß  die  Regierung  anfängt,  die  Folgen  zu  fürchten, 
wenn  sie  in  einem  Widerstand  beharrt,  dessen  Folgen  sie  nicht  ab- 
sehen kann.  Die  Regierung  mußte  weiter  einsehen,  daß  es  doch  nicht 
angeht,  das  Volk,  das  man  regiert,  so  gut  man  es  zuwege  bringt, 
ausschließlich,  fortwährend  mit  Ausnahmezuständen  zu  füttern.  Die 
Regierung  hat  vielleicht  begriffen,  daß  sie  die  Macht  hat,  die  Leute 
zu  knebeln  für  den  Moment,  daß  aber  die  Geknebelten  an  Macht  ge- 
winnen. Die  jungtschechische  Partei  ist  keine  sozialistische,  und  wie 
weit  sie  demokratisch  ist,  wird  sich  noch  zeigen.  Aber  es  ist  sicher, 
daß  die  Geschicklichkeit,  mit  der  die  Jungtschechen  in  diesem 
Jahre  den  Antrag  auf  allgemeines,  gleiches  und  direktes  Wahlrecht 
eingebracht  haben,  ihnen  sehr  große  Sympathien  zugeführt  hat,  und 
die  Regierung  mußte  sich  sagen:  Gerade  diejenige  Partei,  gegen 
welche  wir  angeblich  den  Ausnahmezustand  erlassen,  ist  es,  der 
das  Volk  am  meisten  wohl  will,  weil  sie  sich  zur  Trägerin  einer  der 
Hauptforderungen  des  Volkes  machte.  Und  außerdem  —  es  wird 
immer  schwerer,  zu  regieren  in  Österreich,  es  ist  im  Parlament 
durchaus  nicht  mehr  so  gemütlich,  wie  es  einmal  war.  Welche  De- 
batte immer  geführt  wird,  kein  Tag  vergeht,  ohne  daß  einzelne  der 
Wellen  hineinschlagen  vom  großen  Strome  der  Unzufriedenheit  da 
draußen.  Sie  fühlen  sich  schon  lange  nicht  mehr  sicher,  weder  die 
Minister  auf  ihren  Fauteuils,  noch  die  Abgeordneten  auf  ihren  Sitzen. 
Da  sieht  denn  die  Regierung  plötzlich,  wie  Graf  Taaffe  ausdrück- 
lich sagte,  es  sei  notwendig  geworden,  die  Wahlreform  nicht 
länger  hinauszuschieben.  Diese  „Notwendigkeit"  haben  wir  er- 
zeugt, Genossen,  diese  Notwendigkeit  ist  das  Ergebnis  einer  langen, 
stillen,  aber  unausgesetzten  Arbeit.  Wie  Sie  hier  sind,  und  Zehn- 
tausende draußen  in  den  Provinzen,  Sie  können  sagen:  Wir  haben 
ein  gut  Stück  dazu  beigetragen,  daß  es  so  geworden  ist,  wir  sind 
ein  Stück  jener  Notwendigkeit,  welcher  sich  die  Regierung  beugen 
mußte.  Freilich,  wir  haben  die  Leute*),  [die  heute  an  der  Regierung 
sind,  niemals  als  besonders  ernste  Leute  angesehen,  und  es  ist  so 
wahr,  daß  sie  als  solche  nicht  anzusehen  sind,  daß  es  noch  heute 
viele  Stimmen  gibt,  die  sagen:  „Das  ist  ein  Scherz  des  Grafen 
Taaffe,  ein  billiges  Auskunftsmittel,  um  über  die  Minute  hinweg- 
zukommen, frivol,  wie  er  ist,  wird  er  auch  wissen,  seinen  Antrag 
zu  beseitigen,  wie  er  ihn  hervorgezaubert  hat."  Es  mag  sein,  daß 
Graf  Taaffe  frivol  ist,  ich  habe  nie  daran  gezweifelt,  es  mag  sein, 
daß  dieser  Antrag  in  mancher  Stunde  etwa  als  ein  Spiel  gemeint 
war,  aber  das  österreichische  Proletariat  ist  nicht  frivol, 
das  österreichische  Proletariat  spielt  n  i  c  h  1 1  und  läßt  nicht 


*)  Die  Stellen  zwischen  den  eckigen  Klammern   waren  im  Bericht  der 
„Arbeiter-Zeitung"  konfisziert. 


120  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


mit  sich  spielen.  Und  heute  schon  ist  es  sicher,  ist  es  im 
Bewußtsein  aller,  ob  Freund  oder  Feind,  eingegraben:  Diese  Vor- 
lage ist  ein  Anfang,  aber  dieser  Anfang  ist  heute  schon 
Tatsache.  Hinter  diesen  Anfang  erlaubt  die  österreichische 
Arbeiterschaft  der  Regierung  nicht  zurückzugehen,  und  wenn  sie 
wollte,  sie  könnte  es  nicht,  das  Proletariat  in  Österreich  verbietet 
es.  Die  Katze  ist  aus  dem  Sack,  und  wenn  er  es  versuchen  würde, 
sie  wieder  zu  fangen,  es  gelingt  ihm  nicht . . . 

Es  werden  nach  ziemlich  genauen  Berechnungen  zu  den  heute 
vorhandenen  1,770.000  Wählern  hinzukommen  2,230.000,  das  gibt 
eine  Gesamtzahl  von  über  vier  Millionen  Wählern.  Es  werden  noch 
immer  beinahe  dreiviertel  Millionen  sein,  die  das  Wahlrecht  nicht 
haben.  Das  sind  diejenigen,  die  nicht  lesen  und  schreiben  können, 
obwohl  sie,  wie  die  Regierung  offenbar  meint,  so  schöne  Gelegenheit 
dazu  gehabt  hätten,  da  sie  das  Glück  hatten,  zu  einer  Zeit  ihre 
Jugend  zuzubringen,  wo  die  Neuschule  bereits  bestand. 

Aber,  Genossen,  Sie  wissen  alle,  und  insbesondere  jene,  die  auf 
dem  flachen  Lande  zu  Hause  sind,  wie  viele  von  Ihnen,  die  ein- 
und  zweiklassige  Schulen,  dieses  berühmte  Geschenk  der  Liberalen, 
besucht  haben  und  wie  sie,  wenn  sie  dann  5  bis  6  Jahre  von  der 
Schule  weg  waren,  schon  wenn  sie  zum  Militär  gekommen,  nichts 
mehr  davon  wußten.  Diese  Unwissenheit  ist  eine  Folge  und  eine 
Form  des  sozialen  Elends.  Und  dieselbe  Logik,  die  den  Armen  auf 
den  Schub  schickt  und  den  Verbrecher  aus  Not  bestraft,  anstatt  den 
Räuber  zu  bestrafen,  der  ihn  zum  Bettler  und  Verbrecher  gemacht 
hat,  macht  für  die  Unkenntnis  verantwortlich  das  Opfer  dieser 
elenden  Schulzustände,  statt  jene,  die  zwar  Millionen  hergeben  für 
Repetiergewehre,  aber  noch  lange  nicht  so  viele  Hunderttausende 
für  die  Schulen. 

In  dem  Entwurf  steht  auch  ein  Satz,  auf  den  ich  sehr  wenig 
Wert  lege,  er  ist  reiner  Aufputz.  Diejenigen  sollen  das  Wahlrecht 
haben,  die  erstens  vor  dem  Feinde  gestanden,  beziehungsweise  zum 
Tragen  der  Kriegsmedaille  berechtigt  sind  oder  ein  Zertifikat  als 
ausgediente  Unteroffiziere  erbringen.  Dieser  Paragraph  ändert  an 
dem  Wahlrecht  außerordentlich  wenig;  von  diesen  Leuten  wird  es 
nur  wenige  geben,  die  nicht  lesen  und  schreiben  können.  Aber  er 
zeigt,  wie  ungerecht  die  Bestimmung  bezüglich  des  Lesens  und 
Schreibens  ist.  Der  Mann,  der  zum  Flintentragen  verwendet  wird, 
kriegt  das  Wahlrecht  nicht,  wenn  er  außer  unter  dem  Militarismus 
auch  noch  unter  den  galizischen  Schulverhältnissen  gelitten  hat. 
Aber  das  ist  noch  lange  nicht  das  ärgste.  Es  findet  sich  im  Gesetz- 
entwurf eine  Bestimmung,  die  ich  für  gefährlicher  halte,  als  selbst 
den  „Bildungszensus".  Das  ist  die  Bestimmung,  daß  diejenigen  nur 
das  Wahlrecht  bekommen,  welche  durch  ein  Arbeits-  oder 
Dienstbuch  ausweisen  können,  daß  sie  in  einem 
bestimmten  Beruf  eine  ständige  Beschäftigung 
finden.  In  dieser  Form  ist  der  Paragraph  unannehmbar,  denn  er 
ist  geeignet,  die  Bestimmungen  über  das  Wahlrecht  in  die  Hand 
jedes  Gemeindepaschas  oder  Bezirkshauptmannes  zu  legen.  Wir 
aber  haben  kein  Vertrauen  zu  unseren  Bezirkshauptleuten  und  wir 


Taaffes  Wahlreform.  l~i 


kennen  unsere  Magistrate.  Diese  Bestimmung  muß  klar  ersetz! 
werden.  Wenn   es  denn  schon  sein   muß,  daß   Dokumente   verlangt 

werden,  so  muß  sieh  jeder  über  seine  Identität  ausweisen.  Das  ist 
aber  auch  alles,  was  verlangt  werden  kann.  In  Deutschland  seihst 
heißt  es:  „J  eder  Deutsche,  der  das  25.  Jahr  zurückgelegt  hat, 
ist  Wäll  ler",  und  zwar  dort,  wo  er  seinen  Wohnsitz  hat,  außer 
wenn  er  gestohlen  hat  oder  unter  Kuratel  steht.  Diese  Bestimmung 
des  Entwurfes  ist  also  gefährlich  und  muß  fallen. 

Wir  jubeln  also  nicht,  Genossen,  wir  bewundern  nicht  die  Staats- 
kunst  und  noch  viel  weniger  die  Liebe  des  Grafen  Taaffe  zum  Volke. 
Wir  wissen,  daß  der  Mann  weniger  tut,  als  er  tun  sollte;  und  daß 
er  knapp  tut,  was  er  tun  muß.  Aber,  Genossen,  diese  Wahlreform 
ist  aus  dem  Grunde  so  wichtig,  weil  mit  ihr  die  Beseitigung  der 
heutigen  Verfassung  gegeben  ist.  Ein  Parlament,  in  dem  eine  auch 
noch  so  geringe  Anzahl  von  Sozialdemokraten  drinnen  sitzt,  welches 
zu  zwei  Dritteln  getragen  ist  von  den  Volksmassen,  ein  solches  Par- 
lament verträgt  nicht  Abgeordnete,  die  von  45  Großgrundbesitzern 
gewählt  sind.  Die  Gegensätze,  die  in  dieses  Parlament  hinein- 
getragen werden,  müssen  es  sprengen  und  werden  es  sprengen. 

Und  darum  begrüßen  wir  diese  Wahlreform.  Nicht  als  ob  sie 
das  Endziel  unserer  Wünsche  wäre,  aber  sie  ist  die  erste  Sprosse 
auf  der  Leiter,  und  diese  Leiter  wird  beschritten  werden  müssen  bis 
ans  Ende. 

Wie  wurde  denn  diese  Wahlreform  aufgenommen?  Ich  war  bis- 
her der  Wichtigkeit  und  der  Würde  der  Sache  angemessen  ernst. 
Wenn  ich  von  nun  an  nicht  mehr  so  ernst  sein  kann,  so  verzeihen 
Sie:  Sie  lachen  ja  selbst  schon.  Diese  Wahlreform  wurde  auf- 
genommen nicht  etwa,  wie  man  von  vernünftigen  Menschen  er- 
warten sollte,  mit  dem  Rufe:  „Endlich  etwas  Vernünftiges  von  der 
Regierungsbank!"  Diese  Wahlreform  wurde  aufgenommen  mit  dem 
Gefühl  der  Verblüffung,  der  Angst,  der  Zerknirschung.  Wer  unsere 
liberale  Partei  nicht  am  Dienstag  den  10.  Oktober  im  Parlament 
gesehen  hat,  der  hat  noch  nichts  Lächerlich-Feiges  gesehen.  Wer 
nicht  gesehen  hat,  wie  diese  „Staatsmänner"  geknickt  waren,  wie 
sie  herumgingen,  jeder  einzelne,  als  hätte  man  seinen  Vater  er- 
mordet, wie  sie  verzweifelt  und  erstaunt  zugleich  waren,  wer  nicht 
die  Wiener  Presse  gelesen  in  den  letzten  Tagen,  wer  nicht  die  vier 
oder  fünf  Leitartikel  der  „Neuen  Freien  Presse"*)  gelesen,  der  weiß 
nicht,  was  der  Liberalismus  in  Österreich  ist,  der  kann  nicht  wissen, 
welche  enge  Verknüpfung  mit  dem  Schmocktum  er  hat.  Es  ist  kein 
Zweifel,  diese  Wahlreform  tut  der  liberalen  Partei  wehe.  Wir  be- 
greifen den  ersten  Schmerzensschrei,  wir  gestehen  aber  offen,  daß 
wir  trotz  der  sehr  geringen  Meinung,  die  wir  von  dieser  Partei 

*)  Am  Tage  nach  Einbringung  der  Taaffcschen  Wahlreform  begann  der 
Leitartikel  der  „Neuen  Freien  Presse"  mit  den  Worten:  „Das  haben  sich 
die  Herren  Adler,  Schuhmeier,  Ellenbogen  ...  nicht  träumen  lassen  ..." 
Noch  berühmter  ist  aber  der  Anfang  des  Leitartikels  vom  12.  Oktober  ger 
worden:  „Graf  Taaffe  hat  auf  sein  ertcraueudes  Haar  die  phrygische  Mütze 
gesetzt  und  tanzt  vor  den  erstaunten  Völkern  Österreichs  die  Car- 
magnole  . . ." 


122  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


haben,  doch  erwartet  haben,  daß  sie  sich  schneller  fassen  und  eine 
halbwegs  würdige  Haltung  einnehmen  werde.  Die  liberale  Partei 
mußte  wissen,  daß,  sobald  dieser  Antrag  eingebracht  ist,  er  nicht 
mehr  zurückgezogen  und  nicht  mehr  abgelehnt  werden  kann.  Und 
anstatt  eine  würdige  Haltung  einzunehmen,  zerrissen  sie  ihre 
Kleider  und  streuten  Asche  auf  ihr  Haupt.  Was  verliert  denn  eigent- 
lich die  liberale  Partei  so  furchtbar  viel?  (Zwischenruf:  Sie  hat 
nichts  mehr  zu  verlieren!)  Gewiß,  sie  hat  nichts  mehr  zu  verlieren 
im  Respekt  des  Volkes,  sie  hat  nichts  mehr  zu  verlieren  in  der  Liebe 
des  Volkes,  nicht  mehr  in  der  Achtung  des  Volkes,  aber  hundert- 
zehn Mandate  hat  sie  zu  verlieren.  (Heiterkeit.)  Und  diese  hundert- 
zehn Mandate  verliert  sie  lange  nicht  alle,  davon  ist  gar  keine  Rede. 
Graf  T  a  af  f  e  ist  kein  Feind  der  Bourgeoisie,  ist  nicht  feindlich  dem 
politischen  Monopol  des  Kapitals.  Er  hat  ihnen  den  Großgrundbesitz 
aufrecht  gelassen,  und  man  vergesse  ja  nicht,  daß  von  den  85  Man- 
daten des  Großgrundbesitzes  die  Liberalen  mindestens  30  haben, 
und  daß  weitere  10  sich  im  liberalen  Schlepptau  befinden,  und  die 
Handelskammern  werden  auch  keine  Antisemiten  und  keine  Sozial- 
demokraten wählen.  Die  Vereinigte  Linke  hat  auch  hier  zwölf  feste, 
garantierte  Mandate.  Ja,  und  will  sie  denn  gar  nicht  streiten  um  ihr 
Leben,  ist  es  ihr  gar  nichts  wert,  so  weiß  die  Linke  —  oh,  sie  weiß 
es  sehr  gut,  und  bei  der  ersten  Wahl  unter  dem  neuen  Wahlsystem 
werden  wir  es  spüren  — ,  daß  das  allgemeine  Wahlrecht  noch  lange 
nicht  eine  freie  Wahl  bedeutet.  Weiß  die  Linke  nicht,  aber  sie 
wird  zeigen,  daß  sie  es  weiß,  daß  man  in  Deutschland  neben  die 
Wahlurne  die  Hungerpeitsche  aufpflanzt,  und  die  Vereinigte  Linke 
wird  von  dieser  Hungerpeitsche  Gebrauch  machen,  verlassen  Sie 
sich  darauf.  Um  ihre  Existenz  geht  es  noch  lange  nicht;  die  Herren, 
[die  imstande  sind,  in  ganzen  Bezirken  alle  behördlichen  Autoritäten 
so  in  die  Hand  zu  bekommen,  die  imstande  sind,  die  Bezirkshaupt- 
leute zu  Lakaien  des  Fabrikanten  zu  machen,  diese  Herren  werden 
wirklich  wissen,  wie  sie  bei  den  Wahlen]  ihren  Einfluß  geltend  zu 
machen  haben.  Aber  so  bequem  wird  es  ihnen  nicht  mehr  werden 
wie  heute  . . .  Die  Liberalen  haben  bekanntlich  schon  seit  vielen 
Jahren  als  Antwort  auf  die  unaufhörlichen  Rufe  nach  dem  Wahl- 
recht einen  Antrag  auf  Arbeiterkammern  eingebracht.  Es 
waren  das  die  Herren  Plener,  Exner  und  W  r  a  b  e  t  z;  der  Herr 
W  r  a  b  e  t  z,  der  jetzt,  nachdem  das  Unglück  geschehen  ist,  gesagt 
haben  soll,  er  habe  es  ja  immer  gesagt,  man  solle  lieber  das  all- 
gemeine Wahlrecht  geben.  Aber  leider  ist  sein  Ruf  unerhört  ge- 
blieben in  seiner  Partei,  und  er  wird  nach  außen  auch  nicht  be- 
sonders laut  gerufen  haben.  Nun,  in  diesem  Schwindelantrag  über 
Arbeiterkammern  sollten  die  Arbeiter  neun  Mandate  bekommen, 
und  zwar  neun  Mandate,  welche  die  Liberalen  nicht  herzugeben 
brauchen,  sondern  die  zu  den  heutigen  353  Abgeordneten  hinzuzu- 
fügen wären.  Und  nachdem  dieser  Antrag  von  der  Arbeiterschaft 
mit  Hohn  zurückgewiesen  wurde,  gingen  die  Liberalen  weiter,  und 
ihr  Spezialgelehrter  für  Sozialpolitik,  Abgeordneter  Dr.  B  a  e  r  n- 
r  e  i  t  h  e  r,  machte  sich  an  die  Arbeit,  um  etwas  Neues  zu  schaffen. 
Er  kam  gerade  um  eine  Woche  zu  spät. 


Taaffes  Wahlreform.  123 


Jetzt  hat  num  sich  nämlich  beeilt,  diesen  Antrag  einzubringen. 
Nicht  mehr  die  Arbeiterkammern,  nicht  mehr  das  indirekte  Wahl- 
recht für  die  Arbeiter,  nein,  ein  direktes  Wahlrecht,  nicht  mehr 
9  Mandate,  sondern  20.  Die  „Kurie  der  Sozialdemokraten"  haben 
sie  es  genannt,  und  die  liberalen  Blätter  rechnen  uns  vor,  daß  wir 
Sozialdemokraten  doch  furchtbar  dumm  sind,  wenn  wir  nicht  nach 
diesen  20  Mandaten  «reifen,  wo  wir  doch  nicht  sicher  wissen,  ob 
wir  auf  dem  Wege  des  allgemeinen  Wahlrechtes  diese  20  Mandate 
bekämen.  Ich  bin  überzeugt,  wir  kriegen  lange  nicht  20  Mandate 
beim  allgemeinen  Wahlrecht.  Aber  wenn  wir  auf  dem  Wege  des  all- 
gemeinen Wahlrechtes  auch  nicht  ein  einziges  Mandat  bekommen 
würden,  so  wäre  uns  das  allgemeine  Wahlrecht  mehr  wert  als  die 
geschenkten  20  Mandate.  (Stürmischer  Beifall.) 

Uns  ist  es  nämlich  zum  Unterschied  von  den  Liberalen  durchaus 
nicht  um  Mandate,  sondern  nur  um  den  Wahlkampf  zu  tun,  während 
die  Liberalen  nur  die  Mandate  wünschen  und  ihnen  der  Wahlkampf 
eine  höchst  zuwidere  Angelegenheit  ist. 

Redner  kritisiert  nun  ausführlich  den  Antrag  Baernreither  und 
fährt  dann  fort:  ...  Die  Liberalen  werden  dem  Antrage  der  Regie- 
rung energisch  Widerstand  leisten.  Der  erste,  der  dagegen  auftrat, 
war  das  Haupt  der  Ausbeuter  im  Handelskammerbezirk  Reichen- 
berg, der  berühmte  Baron  Leitenberge  r*).  der  zweite  war  der 
liberale  Preßknecht,  Herr  St  räche**)  von  Warnsdorf.  Die  Libe- 
ralen lassen  sich  nämlich  alles  bieten  von  der  Regierung,  einen  Aus- 
nahmezustand, zwei  Ausnahmezustände,  drei  Ausnahmezustände,  sie 
erklären  schließlich,  sie  hätten  kein  Recht,  sich  dagegen  zu  wehren. 
Die  Konfiskation  der  politischen  Rechte  überall,  das  stecken  sie  ein; 
sie  lassen  sich  gefallen,  daß  jede  Preßreform  verschoben  und  ver- 
schleppt wird;  sie  trifft  es  ja  nicht.  Die  „Neue  Freie  Presse" 
wird  nicht  konfisziert,  die  „Neue  Freie  Presse"  geniert  es  nicht,  daß 
man  sie  nicht  kolportieren  darf,  ihre  Leser  sind  fähig,  ein  Jahres- 
oder Monatsabonnement  auf  einmal  zu  bezahlen;  sie  mucksen  also 
nicht.  Aber  sie  sind  nicht  nur  „liberal",  sie  sind  ja  auch  „deutsch". 
Und  sie  vertragen  als  Deutsche  nach  ihrer  Behauptung  viel.  Nach 
ihrer  Behauptung  sind  sie  ja  die  langen  Jahre  immer  geknechtet 
worden,  aber  sie  sind  darum  nicht  in  Opposition  gegangen;  man  hat 
ihren  Liberalismus  getreten,  sie  haben  es  mit  Demut  getragen,  man 
hat  ihr  Deutschtum  getreten,  sie  haben  es  über  sich  gebracht,  zu 
schweigen,  zu  kuschen,  den  Stiefel  zu  küssen,  der  sie  getreten.  Aber 
nun,  wenn  die  Regierung  sich  anschickt,  sagen  wir,  mindestens 
einer  Million  ihrer  „deutschen  Stammesbrüder"  das  Wahlrecht  zu 
geben,  das  verträgt  ihr  Liberalismus  nicht  mehr,  das  verträgt  ihr 
Deutschtum  nicht  mehr.  Da  empören  sie  sich,  da  greifen  sie,  wie  die 
„Neue  Freie  Presse"  gesagt  hat,  „in  die  Tiefen";  aus  der  Tiefe  des 
Volkes  soll  es  aufbrausen;  ja  aufbrausen  wird  in  den  Tiefen  die 
Verachtung,  die  dieses  Pack  verschlingen  wird,  etwas  anderes  gibt 

)    Ein   großer   Industrieller   in   Reiehenberkr. 

)  Eduard  S  t  r  a  e  li  e   war  der  Herausgeber  des  liberalen  Blattes  „Ab- 
wehr" in   Warnsdorf,  ein  Typus  des  er/reaktionären  Liberalen. 


124  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


es  in  den  Tiefen  nicht  für  diese  Leute.  Und  diese  Leute  glauben  noch 
immer,  es  sei  die  Zeit  der  Diplomatie.  Die  liberale  Partei  hat  in  ihrer 
Geschichte  viele  Blätter,  die  mit  Schmach  und  Feigheit  bedeckt 
sind,  aber  ein  Blatt,  das  mit  einer  so  grenzenlosen  Dummheit  be- 
schrieben wäre,  wie  jene  Erklärung,  welche  die  Vereinigte  Linke 
am  Freitag  abgegeben  hat*),  findet  sich  selbst  in  der  Geschichte  der 
liberalen  Partei  nicht.  Die  liberale  Partei,  welche  dem  Ausnahme- 
zustand bisher  mit  stiller  Gewogenheit  und  „Objektivität"  gegen- 
übergestanden, welche  in  ihren  schwarzgelbsten  dynastischesten 
Gefühlen  tief  erschüttert  und  entschlossen  war,  anzuhören,  was  man 
ihr  da  vorbringen  werde,  diese  liberale  Partei  ist  beinahe  auf  dem 
Sprunge,  den  Ausnahmezustand  nicht  zu  bewilligen.  Was  muß  ge- 
schehen sein,  wenn  die  österreichischen  Liberalen  den  Prager  Aus- 
nahmezustand nicht  bewilligen?  Nichts  anderes,  als  eine  Erweite- 
rung des  Wahlrechtes  kann  es  sein,  die  sie  zu  solcher  Empörung 
hinreißt.  Sie  erklären,  sie  würden  sich  auch  da  „objektiv"  verhalten, 
aber  sie  erklären  bei  der  Debatte  über  den  Ausnahmezustand,  wo 
hievon  keine  Rede  war,  daß  sie  von  nun  an  diesen  Angriff  der  Regie- 
rung auf  das  deutsche  Bürger-  und  Bauerntum  entschieden  zurück- 
weisen würden.  Welchen  Angriff?  Die  Angriffe  etwa,  welche 
diese  reaktionäre  Regierung  seit  fünfzehn  Jahren  unaufhörlich 
macht?  Nein,  das  bringt  sie  nicht  in  Entrüstung.  Etwa  jener  Aus- 
nahmezustand, von  dem  ein  sehr  gemäßigter  Liberaler  und  über- 
dies deutschnationaler  Mann,  der  Abgeordnete  Baernreither, 
erklärt  hat,  daß  seine  Partei  dafür  nicht  stimmen  könne,  weil  das 
hieße  „die  nationale  Fahne  beschmutzen"?  Der  Ausnahmezustand 
hat  sie  nicht  in  Entrüstung  gebracht,  sie  beschmutzen  ruhig  ihre 
Fahne,  das  sind  sie  gewohnt,  das  ist  ihre  Beschäftigung,  davon  lebt 
ja  die  liberale  Partei.  Nein,  erst  die  Aussicht,  daß  sie  nunmehr  um 
ihre  Alleinherrschaft  in  den  städtischen  Bezirken  kommen  werden, 
daß  sie  werden  um  ihre  Mandate  kämpfen  müssen,  das  empört  sie. 
Und  doch  handelt  es  sich  lange  nicht  um  ihre  Existenz;  30  bis 
40  Mandate  für  sie  im  allerärgsten  Falle  sind  es,  um  die  es  sich 
handelt,  ich  glaube  nicht  einmal  so  viel;  aber  freilich  das  Geschäfte- 
machen wird  hernach  nicht  so  einfach  sein,  und  das  spüren  sie  auch. 
Einige  von  ihnen  werden  nicht  wiederkommen,  und  die  kommen, 
werden  ein  saures  Leben  haben,  denn  es  werden  Leute  da  sein,  die 
ihnen  auf  die  Finger  schauen  und  zu  geeigneter  Zeit  sehr  laut  rufen 
werden:  „Haltet  den  Dieb!"  Wir  begreifen  also,  daß  es  ihnen  unan- 
genehm ist,  aber  was  wir  nicht  begreifen,  ist,  daß  sie  nicht  von  der 
Tugend  Gebrauch  machen,  die  ihnen  in  Fleisch  und  Blut  über- 
gegangen ist,  daß  sie  nicht  —  heucheln.  Sind  sie  schon  so  aus- 
einander, daß  sie  nicht  einmal  mehr  zu  heucheln  verstehen? 

Die  anderen  Parteien  werden  voraussichtlich  einen  großen  und 
erheblichen  Widerstand  nicht  leisten.  Die  Polen  verlieren  ja  wahr- 

*)  Auch  Dr.  Kolmer  schreibt  in  seinem  Werk  „Parlament  und  Ver- 
fassung" über  diesen  Zusammenhang:.  Das  Haus  bereitete  sich  vor,  die 
Vorlage  der  Regierung  über  die  Fortdauer  des  Ausnahmezustandes  in  Prag 
und  Umgebung  zurückzuweisen.  Es  begann  eine  obstruktionistische  Stim- 
mung vorzuwalten. 


I  aaffes  Wahlreform.  125 


scheinlich  einige  Mandate,  aber  sie  vertrauen  auf  die  fcalizischen 

Institutionen,  sie  verlassen  sich  darauf,  daß,  wenn  heute  ein  Mandat 
sie  l o.ooo  dulden  gekostet  hat,  es  künftighin  höchstens  15.000  Gulden 
kosten  wird. 

hie  Klerikalen  dürfen  einen  ernstlichen  Widerstand  nicht 
machen,  weil  sie  gerade  in  letzter  Zeit  den  Anschein  einer  volks- 
tümlichen Partei  angenommen  haben.  Da  sie  tatsächlich  in  breiten 
Schichten  fußen,  sind  sie  nicht  in  der  Lage,  einem  volkstümlichen 
Antrag  entgegenzutreten.  Von  den  Jungtschechen  brauche  ich  nicht 
zu  sprechen,  die  sind  selbstverständlich  dafür.  Aber  mögen  nun  die 
Liberalen,  mögen  andere  verschleppen,  wie  sie  wollen,  wir  sind 
auch  da.  Wenn  übrigens  die  Liberalen  den  Antrag  der  Regierung 
schlecht  finden  und  auf  einmal  die  Privilegien  des  Großgrundbesitzes 
und  der  Handelskammern  für  reaktionär  erklären  —  das  ist  ja  ganz 
unsere  Ansicht  — ,  so  müssen  sie  logischerweise  in  erster  Linie  für 
das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht,  also  den  Antrag  der 
Jungtschechen,  stimmen.  Wenn  aber  dieser  Antrag  abgelehnt 
wrerden  sollte,  dann  gibt  es  keine  Ausflucht  mehr,  dann  muß  jeder, 
der  den  Fortschritt  will,  für  den  Regierungsantrag  stimmen. 

Der  Antrag  der  Regierung  ist  der  Abschluß  einer  riesigen  Agi- 
tationsperiode für  das  Proletariat,  aber  er  bedeutet  auch  einen  An- 
fang. Für  unsere  Genossen  beginnt  jetzt  erst  eine  neue  Zeit  weiterer 
energischer  Arbeit.  Wir  haben  zwei  Dinge  zu  machen:  Erstens 
hinter  ihnen  her  zu  sein  und  sie  nicht  zu  Atem  kommen  zu  lassen, 
bis  etwas  geschehen  ist.  Zweitens,  sicher  wie  wir  sind,  daß  es  ge- 
schehen wird,  daß  das  allgemeine  Wahlrecht  kommen  muß,  uns 
darauf  vorzubereiten. 

Das  allgemeine  Wahlrecht  bedeutet  für  uns  in  erster  Linie  nicht 
Mandate,  sondern  eine  neue  Grundlage  für  unsere  Organisation,  eine 
moderne  Form  der  Agitation.  (Beifall.)  Diese  Umwandlung  unserer 
ganzen  Tätigkeit  ist  eine  schwere  Arbeit,  der  wir  alle  Anstrengung 
widmen  müssen,  die  mehr  Opfer,  mehr  Überwindung,  mehr  Kraft 
von  uns  fordert,  als  alles  Bisherige.  Zu  dieser  Arbeit  laden  wir  euch 
ein,  Parteigenossen,  und  sind  überzeugt,  daß  ihr  alle  kommen 
werdet,  Männer  wie  Frauen.  (Stürmische  Rufe:  Alle!  Alle!)  Wir 
werden  zeigen,  daß  die  österreichische  Arbeiterschaft,  die  stark  und 
kräftig  genug  ist,  sich  das  Wahlrecht  zu  erobern,  auch  kräftig  genug 
sein  wird,  es  auszunützen  nach  jeder  Richtung.  Und  nun  erlaube  ich 
mir  in  einer  Resolution  in  wenigen  Worten  zusammenzufassen,  was 
hier  ausgeführt  wurde. 

Resolution. 
Die  heutige  Versammlung  sieht  in  der  Wahlreformvorlage  der  Regie- 
rung das  ihr  endlich  abgezwungene  Bekenntnis,  daß  die  heute  bestehende 

Verfassung  nicht  nur  eine *)  Ungerechtigkeit  gegen  zwei  Drittel  des 

Volkes  ist,  sondern  auch,  daß  es  gegenüber  der  von  der  organisierten 
Arbeiterschaft  geführten  Bewegung  unmöglich  ist,  fernerhin  die  poli- 
tischen Privilegien  der  Besitzenden  aufrechtzuerhalten. 

Die   Versammlung    erklärt    aber    weiter,   daß    die    Regierungsvorlage 
gänzlich  ungenügend  ist;  sie  protestiert  entschieden  gegen  die  Aufrecht- 


)  Die  fehlende  Stelle  ist  unbekannt. 


126  Von  Taaffe  bis  Badern. 


erhaltung  der  Privilegien  des  Großgrundbesitzes  und  der  Handels- 
kammern und  verurteilt  das  Festhalten  an  den  indirekten  Wahlen  in  den 
Landgemeinden  sowie  den  sogenannten  Bildungszensus. 

Trotzdem  betraehtet  die  Versammlung  die  Regierungsvorlage  als  den 
allerersten  Beginn  einer  Reform,  die  mit  Notwendigkeit  zur  gründlichen 
Umgestaltung  der  Verfassung  führen  muß.  Die  Versammlung  fordert 
schließlich  die  Abgeordneten  aller  Parteien  auf,  in  erster  Linie  für  den 
jungtschechischen  Antrag  im  Sinne  des  allgemeinen,  gleichen,  direkten 
Wahlrechtes  zu  stimmen,  warnt  sie  aber  ernstlich  davor,  falls  dieser 
Antrag  abgelehnt  würde,  dem  Durchdringen  der  Regierungsvorlage  aus 
borniertem  Klassenegoismus  Hindernisse  zu  bereiten. 

Die  Versammlung  erklärt  schließlich,  daß  die  sozialdemokratische 
Arbeiterschaft  von  nun  an  mit  noch  größerer  Energie  als  bisher  nicht 
nur  für  das  allgemeine,  sondern  auch  das  gleiche  und  das  direkte 
Wahlrecht  eintreten  und  vor  keinem  zweckdienlichen  Mittel  zurück- 
schrecken wird,  bis  dieses  Ziel  erreicht  ist. 

. . .  Nun,  Parteigenossen,  Sie  werden  nicht  zurückschrecken,  und 
man  weiß  heute  in  ganz  Österreich,  daß  die  Arbeiterschaft  nicht 
zurückschrecken  wird.  Und  daß  man  das  weiß,  das  ist  das  Verdienst 
des  wirkenden  Prinzips,  des  Geistes  des  Proletariats,  der  internatio- 
nalen Sozialdemokratie.  Diesem  Geiste,  der  internationalen  Sozial- 
demokratie, bringe  ich  ein  dreimaliges  Hoch!  (Hochrufe,  anhaltender 

Beifall*). 

*  * 

Genossen!   Ich  glaube  eine  der  besten  Reden,   die  heute  hier 

gehalten  wurden, —  Konfisziert! 

Konfisziert! **)  (Beifall.) 

Der  Genosse  da  hat  im  Namen  der  Million  von  Bürgern  gesprochen, 
die  das  Wahlrecht  auch  nach  dieser  Vorlage  nicht  bekommen.  Sie 
können  ruhig  sein,  wenn  der  erste  Schritt  gemacht  ist,  dann  haben 
wir  eine  Waffe  in  der  Hand,  und  wir  werden  diese  Waffe  nicht 
rosten  lassen,  wir  werden  dafür  sorgen,  daß  diese  Schmach  auch 
hinweggetilgt  werde.  Nun,  Genossen,  erlauben  Sie,  daß  ich  noch 
auf  eines  hinweise,  was  heute  noch  nicht  erwähnt  wurde.  Ist  es 
nicht  eigentümlich,  daß  in  Österreich  jeder  Fortschritt  auf  politi- 
schem und  wirtschaftlichem  Gebiet  tatsächlich  von  den  reaktionären 
Parteien  und  der  Regierung  herkommt?  Es  ist  traurig,  aber  es  ist 
so.    Die  Fünfguldenmänner    sind    von    den  Klerikalen  gekommen. 

*)  Dann  sprachen  Pernerstorfe  r,  Schramme  1,  Dr.  Ellen- 
bogen, Hofer,  Reumann,  Leuthner,  Leitner  (Wiener-Neustadt), 
H  u  e  b  e  r  und  dann  wieder  Adler. 

**)  Die  konfiszierte  Stelle  lautet:  „hat  mein  unmittelbarer  Vorredner 
gehalten.  Das  war  der  Aufschrei  des  gequälten  Volkes,  das  man  der 
Bildung  in  grausam  tückischer,  niederträchtiger  Weise  von  jeher  beraubt 
hat  und  dem  man  diesen  Raub  zur  bewußten  Entrechtung  macht" . . . 

Der  Vorredner  war  Hueber. 

Wir  lassen  den  Text  so,  wie  er  in  der  zweiten  Auflage  zu  lesen  war, 
um  ein  Bild  zu  geben,  wie  eine  konfiszierte  Zeitung  aussah.  Erst  im  Kriege 
wurden  dann  die  weißen  Flecke  erfunden,  weil  dann  die  zensurierten 
Stellen  im  letzten  Augenblick  ausgekratzt  wurden. 


Taaffes  Wahlreform.  127 


Die  Qewerbereform  mit  dem  Maximalarbeitstag,  so  elend  schlecht 
und  durchlöchert  er  ist,  aber  immerhin  ist  es  ein  Arbeiterschiit/., 
der  Besseres  schafft,  als  wie  es  früher  war,  auch  das  ist  von  der 
rechten  Seite  des  Hauses  gekommen;  nicht  von  den  Liberalen.  Die 
Liberalen  haben  den  größten  Widerstand  geleistet,  mit  Klauen  und 
Zähnen  sich  zur  Wehr  gesetzt,  um  den  Maximalarbeitstag  zu  ver- 
hindern. Wir  wollen  nicht  darauf  eingehen,  wie  die  Klerikalen  und 
Polen  dann  die  ursprüngliche  Idee  gefälscht  haben;  diese  Ver- 
schlechterungen waren  ebensoviele  Konzessionen  an  die  Liberalen. 
Was  folgt  daraus?  Etwa,  wie  offiziöse  Blätter  uns  heute  schon  nahe 
legen,  daß  auf  dieser  rechten  Seite  und  insbesondere  bei  unserem 
hohen  Ministerium  ein  besonders  hoher  Grad  von  Wohlwollen  vor- 
handen ist?  Keineswegs.  Graf  Taaffe  ist  ein  Reaktionär  vom 
Scheitel  bis  zur  Zehe.  Aber  welche  .  Reaktionäre  müssen  die 
Liberalen  sein,  wenn  Graf  Taaffe  ihnen  gegenüber  noch  Fort- 
schrittsmann sein  kann?  Und  noch  eines.  Es  fallen  Andeutungen 
perfidester  Natur.  Man  spielt  an,  als  ob  Graf  Taaffe  da  einen  Coup 
gemacht  im  halben  Einverständnis  mit  der  Arbeiterschaft. 

Herr  S  t  r  a  c  h  e  hat  es  merkwürdig  gefunden,  daß  am  10.  Okto- 
ber soviel  Sozialdemokraten  im  Parlamente  waren:  man  sagte,  es 
handelte  sich  um  einen  Streich  des  Cäsarismus,  das  Bestreben  der 
Regierung,  mit  Hilfe  des  Proletariats  das  Bürgertum  zu  beherrschen 
und  Proletariat  und  Bürgertum  zugleich  zu  treten.  Der  Cäsarismus 
ist  ein  schweres  Kunststück  und  Graf  Taaffe  ist  kein  Julius  Cäsar. 
Aber  selbst  wenn  er  die  Qualität  dazu  hätte  —  man  spielt  den 
Cäsar  auf  dem  Rücken  eines  bewußtlosen  Pöbels,  einer  Menge, 
die  nicht  denkt,  die  nicht  weiß,  was  sie  will,  aber  wo  eine  bewußte 
Arbeiterschaft  dasteht,  gibt  es  keinen  Cäsarismus.  (Beifall.)  Die 
Vorlage  ist  gewiß  nicht  nur  ein  Produkt  der  eisernen  Notwendig- 
keit, sie  ist  außerdem  gewiß  auch  ein  Versuch,  das  Proletariat  zu 
gewinnen.  Vielleicht  findet  der  Herr  Kriegsminister,  daß  er  in  eine 
sonderbare  Lage  kommt,  wenn  er  Soldaten  herbeirufen  muß,  die 
keine  Wähler  sind.  Vielleicht  auch  meint  man  mit  uns  zu  spielen. 
Man  hat  es  schon  einmal  versucht  auf  anderem  Gebiet.  Ich  er- 
innere Sie  daran,  daß  man  mit  den  Genossenschaften  glaubte,  der 
Arbeiterschaft  ein  Netz  über  den  Kopf  geworfen  zu  haben.  Diese 
Zwangsgenossenschaften  sind  in  den  Händen  der  organisierten 
Arbeiter  eine  Waffe  geworden,  um  die  den  Gegnern  schon  längst 
leid  ist.  Eines  ist  der  große  politische  Vorteil  dieser  Reform,  noch 
bevor  sie  Gesetz  geworden. 

Bereits  in  der  ersten  Sitzung,  die  unter  ihrem  Eindrucke  statt- 
fand, war  von  der  berühmten  lex  Trautenau  keine  Rede  mehr,  keine 
Rede  ist  mehr  von  den  nationalen  Quertreibereien  und  Stänkereien, 
die  bisher  für  österreichische  Politik  ausgegeben  worden  sind.  Auch 
eine  andere  Komödie  von  heute  wird  bald  vorbei  sein.  Es  lohnt 
sich  nicht  mehr  der  Mühe,  die  Kleingewerbetreibenden,  die  Fünf- 
guldenmänner, mit  dem  Befähigungsnachweis  zu  fangen;  die 
Stellung  des  Kleingewerbes  ist  ein  Geschäft,  dem  viel  Abbruch 
getan   wird   durch   die   Wahlreform.   Sie   ist  zu  Wahlzwecken   be- 


128  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


trieben  worden.   In  dem  Momente,  wo  das  allgemeine  Wahlrecht 
auf  i.\cn  Plan  tritt,  hören  diese  Faxen  auf. 

Das  sind  die  Folgen,  die  schon  heute  sich  geltend  machen;  die 
wichtigsten  Konsequenzen  haben  w  i  r  daraus  zu  ziehen,  wir  haben 
aus  der  Vorlage  etwas  Vernünftiges  zu  machen,  so  unvernünftig 
sie  ist.  Und  wir  haben  vor  allem  dafür  zu  sorgen,  daß  sie  Gesetz 
wird,  und  sie  wird  Gesetz  werden,  mögen  ganze  Ströme  von 
Tinte  dagegen  vergossen  werden.  Auf  jedes  Tintenfaß,  das  da  aus- 
geschrieben wird,  stehen  wir,  wenn  es  notv/endig  ist,  gegen  die 
Tinte   mit  unserem  Blut.   (Lebhafter  Beifall   und  Händeklatschen.) 

Vor  dem  Sturz  Taaffes. 

Schwender-Versammlung   am  3  0.   Oktober   189 3*). 

Seit  vielen  Jahren  stand  Österreich  nicht  an  einem  ähnlichen 
Wendepunkt  seines  Schicksals  wie  heute.  Das  Österreich,  unter  dem 
wir  alle  leben,  ist  eine  alte  verzopfte  Stände-Monarchie,  gegen  deren 

*)  Am  23.  Oktober  1893  begann  im  Abgeordnetenhaus  die  erste  Lesung 
der  Wahlreformvorlage  der  Regierung  und  gleichzeitig  damit  der  Wahl- 
reformanträge Pernerstorfer,  Slavik  und  Baernreither.  Das  Schicksal  der 
Wahlreform  war  nach  den  Erklärungen  der  Parteien  nicht  mehr  zweifel- 
haft. Trotzdem  wirkte  die  provokatorische  Art,  wie  namentlich  der  Ver- 
treter des  Polenklubs  über  die  Arbeiter  sprach,  aufreizend.  Der  Abgeord- 
nete Graf  Eduard  S  t  a  d  n  i  c  k  i  sagte  am  24.  Oktober  unter  anderem: 

Ich  befürchte,  daß  die  Wählerschichten,  die  nach  der  Wahlreform 
der  Regierung  zum  öffentlichen  Leben  berufen  werden  sollten,  eine 
Brutstätte  für  die  Anarchie  werden  könnten,  weil  die  Dienst- 
boten und  Arbeiter,  alle  die  Schichten,  die  nach  dieser  Vorlage  zur  Wahl- 
urne schreiten  möchten,  das  Gefühl  haben  würden,  daß  sie  dem 
souveränen  Volk  angehören  und  selbstverständlich  —  ein  Mitglied 
des  souveränen  Volkes  ist  nicht  berufen,  irgend 
jemand  zu  gehorchen... 

Die  Wahlreformvorlage  kann  in  unserem  nationalen  Leben  einen  ent- 
schiedenen Umschwung  bedeuten;  es  kann  dadurch  in  Galizien  eine  Ver- 
schiebung stattfinden  zugunsten  von  Volksschichten,  unter 
denen  sich  auch  solche  vorfinden  könnten,  die  gerade  keinen  Sinn  und 
kein  Verständnis  besitzen  für  ideale  Güter  der  Menschheit,  bei  denen 
der  Wahlspruch  „Brot  und  Arbeit"  oder  „Brot  ohne  Arbeit"  ein  allge- 
meiner zu  sein  pflegt,  bei  denen  die  Worte  „nationaler  Geist,  historische 
Individualität,  Landesgrenze,  Staatsgrenze"  keinen  Sinn  haben,  bei 
denen  leider  Vaterland,  Ehre,  Patriotismus  Worte  ohne  Bedeutung  sind, 
bei  denen  der  Spruch,  den  wir  leider  schon  einmal  vernommen  haben, 
Anklang  finden  kann:  Zwar  nicht  ehrenhaft,  aber  gesund. 

Diese  Worte  erregten  natürlich  in  den  Arbeiterversammlungen  die 
größte  Empörung,  und  sooft  der  Name  Stadnicki  genannt  wurde,  ertönten 
stürmische  Pfuirufe,  so  daß  Stadnicki  dann  allgemein  als  „Graf  Pfui" 
bezeichnet  wurde.  Die  Bemerkungen  Stadnickis  waren  um  so  unver- 
schämter, als  die  Worte  „Zwar  nicht  ehrenhaft,  aber  gesund!"  ein  in  den 
Kreisen  der  polnischen  Adeligen  üblicher  Spruch  waren,  der  polnisch 
lautet:  „Nie  honorowo  ale  zdrowo". 


\  or  dem  Sturz  Taaffes.  129 


reaktionäres  Grundprinzip  keine  Partei  einen  Angriff  machte,  außer 
der  klassenbewußten  Arbeiterschaft.  Nun  berichten  heute  die 
Blätter  von  einem  Systemwechsel.  Qraf  Taaffe  soll  abgedankt 
haben.  Wir  weinen  ihm  keine  Träne  nach  -  •  unter  jeder  Ausnahms- 
verordnung  steht  der  Name  des  Grafen  Taaffe,  an  seinen  Namen 

knüpft   sieh    die    größte    der    Arbeiterschaft. 

Wir  werden  aber  trotzdem,  wenn  er  auch  gehen  sollte,  nicht 
illuminieren  wie  die  Wähler  des  Herrn  Abgeordneten  Swoboda. 
Denn  an  seine  Stelle  träte  dann  ein  liberal-feudales  Ministerium, 
das  die  Quintessenz  aller  reaktionären  Instinkte  unserer  Bourgeoisie 
und  unserer  Aristokratie  ist.  Wir  haben  dabei  weder  etwas  zu 
gewinnen,  noch  etwas  zu  verlieren,  aber  trotzdem  begrüßen  wir 
dieses  neue  Dreigestirn,  und  sagen:  Bravo,  nun  haben  wir  sie  end- 
lich beisammen,  diese  politischen  Gaukler.  Wir  haben  sie  gezwungen, 
sich  selbst  die  Maske  vom  Gesicht  zu  reißen.  Die  Liberalen  wollten 
zur  Schüssel,  mag  es  sein,  mit  wem  immer,  sei  es  mit  dem  Teufel. 
Und  die  Konservativen,  die  Heiligen,  Frommen,  auch  sie  koalieren 
sich  mit  dem  Teufel,  mit  dem  Liberalismus  selbst.  So  stehen  denn 
vor  uns  die  geeintenVertreter  der  besitzenden  und 
privilegierten  Klassen,  die  sich  rüsten  zur  AbwTehr  gegen 
den  Ansturm  des  Proletariats.  So  soll  es  sein;  dem  Blindesten  muß 
die  Binde  vom  Auge  fallen.  Endlich  einmal  handelt  es  sich  auch  in 
Österreich  um  den  Klassenkampf;  verschwunden  ist  seit  vier 
Wochen  die  Frage  des  Trautenauer  Bezirksgerichtes,  der  Nationali- 
tätenschwindel. Und  wie  kam  das?  Die  Regierung  mußte  eine 
Sünde  begehen,  die  kein  Liberaler  verzeiht,  und  sie  hat  die  Sünde 
begangen,  freilich  nur,  weil  sie  mußte;  sie  erklärte,  nicht  in  freudiger 
Überzeugung,  nicht  mit  Begeisterung,  den  rechtlosen  Massen  muß 
das  Wahlrecht  gegeben  werden;  das  genügte,  um  aus  den  Kastraten 
Leute  zu  machen,  die  so  tun,  als  wären  sie  Männer.  Die  Parteien 
wurden  stramm,  weil  sie  die  Sozialdemokratie  noch  mehr  fürchteten, 
als  selbst  die  Regierung.  Die  liberalen  Salonbauern  und  die  feudalen 
Grafen  erklärten  einmütig,  daß  man  nicht  den  Klassenkampf  in  die 
ländliche  Bevölkerung  dürfe  hineintragen  lassen.  Am  meisten  gefiel 
mir  die  Rede  des  Abgeordneten  Stadnicki.  (Lebhafte  Pfuirufe 
auf  Stadnicki.) 


Am  28.  Oktober  wurde  das  Parlament  vertagt. 

Am  30.  Oktober  fanden  in  Wien  mehrere  Versammlungen  statt,  die  alle 
massenhaft  besucht  waren  und  geteilt  werden  mußten.  Im  überfüllten 
Amorsaal  in  Schwenders  Kolosseum  sprach.  A  d  1  e  r. 

Am  11.  November  wurde  Graf  Taaffe  enthoben  und  der  Kaiser  setzte 
zur  Verhandlung  der  Wahlreform  das  Koalitionsministcrium  WMndisch- 
k'rätz  ein. 

We^en  dieser  Versammlung  vom  30.  Oktober  sowie  wegen  der  Ver- 
sammlung vom  5.  November  wurde  Adler  angeklagt  und  vom  Bezirks- 
gericht Rudolfsheim  wegen  Beleidigung  der  Regierung  zu  einem  Monat 
Arrest  verurteilt.  Das  Urteil  wurde  auch  vom  Landesrecht  bestätigt. 
Siehe  darüber  den  Berieht  im  zweiten  Band  dieser  Sammlung  „Adler  vor 
Gericht".  (Bd.  II,  Seite   111,  „Die  verkleinerten  Delikte".) 

Adler,  Briete.   X.  Bd.  9 


130  Von  Taaffe  bis  Badcni. 


Lassen  Sie  doch!  Stadnicki  ist  unbezahlbar  für  uns.  Diesen 
Mann  brauchen  wir  als  Zeugen  dafür,  welche  Leute  das  öster- 
reichische Proletariat  beherrschen;  wir  brauchen  einen  Kerl,  den 
wir  als  corpus  delicti  auf  den  Gerichtstisch  der  Geschichte  nieder- 
legen können.  Herr  Graf  Stadnicki  ist  ein  Mitglied  des  Polen- 
klubs, welcher  der  Ausschuß  einer  Aktiengesellschaft  von  polnischen 
Grundherren  ist,  welche  Streifzüge  unternimmt  gegen  die  Millionen 
ruthenischer  und  polnischer  Bauern,  und  jede  Frage  vom  Stand- 
punkt des  Profites  betrachtet.  Von  sich  und  seiner  Sippschaft  aber 
sprach  Graf  Stadnicki  als  von  „nationalen  Idealisten",  die  alles 
für  das  „Land"  opfern,  die  ihr  Vermögen  verschleudern  für  ihre 
Nation.  Diese  Leute  haben,  als  es  sich  darum  handelte,  polnische 
Revolutionäre  vor  der  Auslieferung  an  die  russischen  Henkers- 
knechte zu  bewahren,  es  rundweg  abgeschlagen,  etwas  zu  tun  für 
ihre  „polnische  Nationalidee".  Dieses  ruppige  Gesindel  kennen  wir, 
und  diese  Stadnicki  haben  die  Infamie,  von  den  Rechtlosen  zu 
sagen,  sie  hätten  keinen  Sinn  und  kein  Gefühl  für  ideale  Güter. 
(Bewegung  und  Pfuirufe.)  Dieser  Mensch,  der  noch  keinen  Tropfen 
Schweiß  bei  ehrlicher  Arbeit  vergossen  hat,  wirft  den  Arbeitern 
vor,  daß  sie  „Brot  und  Arbeit,  lieber  noch  Brot  ohne  Arbeit"  haben 
wollen.  (Pfuirufe.)  So  sehen  die  Leute  aus,  die  jetzt  an  die  Regierung 
kommen  sollen,  mit  den  Liberalen  Arm  in  Arm.  Aber  auch  diese 
eventuelle  neue  reaktionäre  Regierung  muß  von  vornherein  er- 
klären, daß  die  Wahlreform  nicht  von  der  Tages- 
ordnung verschwinden  könne.  Sie  werden  die  Ab- 
sperrung der  klassenbewußten  Arbeiterschaft  von  der  übrigen  Be- 
völkerung bezwecken  wollen.  Sie  sind  so  dumm,  zu  glauben,  irgend 
etwas  in  der  Welt  könnte  den  Bazillus  der  Sozialdemokratie  unter 
Sturzgläsern  halten;  dieselben  Leute,  welche  durch  ihre  Wirt- 
schaft Sozialisten  fabrizieren,  glauben,  die  Sozialdemokratie  an  der 
Verbreitung  hindern  zu  können.  Was  immer  kommen  möge,  für  uns 
ist  es  nur  Gutes.  Ein  liberalreaktionäres,  feudalreaktionäres  und 
klerikalreaktionäres  Ministerium  ist  gut,  weil  wir  die  politische 
Klarheit  über  alles  wünschen,  weil  das  Klassenbewußtsein  der 
Besitzlosen  am  raschesten  geweckt  wird  durch  eine  solche  Phalanx 
von  liberalen  und  schwarzen  Ausbeutern.  Niemand  wird  sich  mehr 
finden,  den  Liberalen  oder  den  Klerikalen  die  Kastanien  aus  dem 
Feuer  zu  holen.  Jedenfalls  wird  auch  die  Frage  der  Verfassung 
nicht  mehr  von  der  Tagesordnung  verschwinden.  Jetzt  schon  er- 
klären alle  Parteien,  daß  jede  Wahlreform  heute  nur  ein  Über- 
gangsstadium  sein  kann  zum  allgemeinen,  gleichen  und  direkten 
Wahlrecht.  Der  Glaube  an  die  Festigkeit  der  Verfassung  ist  beim 
Teufel.  Unsere  Aufgabe  ist,  zu  sorgen,  daß  die  Sache  schneller  geht. 
Wir  hätten  ganz  andere  Dinge  zu  tun,  als  Österreich  seine  Ver- 
fassung zu  flicken,  als  das  erst  zu  vollbringen,  was  die  Bourgeoisie 
aus  Feigheit  und  Dummheit  unterlassen  hat.  Jeder  von  uns  fühlt, 
daß  wir  die  eigentlichen  sozialistischen  Dinge  mehr  in  zweite  Linie 
stellen  müssen,  um  eine  Waffe  zu  erhalten.  Obwohl  wirtschaftlich 
unterdrückt,  obwohl  politisch  rechtlos,  hat  sich  in  sechs  Monaten 


Vor  dem  stur/.  Taaffes.  131 


die  Arbeiterklasse  Österreichs  ein  Stuck  politischer  Macht 
erobert,  und  mit  diesem  wird  es  sich  eine  Waffe  erobern, 
um  in  einem  langen  Kampf  auf  Leben  und  Tod  auch  die 
wirtschaftliche  Emanzipation  durchzusetzen.  Wir  sind  endlich  in 
Österreich  durch  die  politische  Tätigkeit  der  Arbeiterklasse  aus  der 
Versumpfung  unserer  politischen  Zustände  herausgekommen.  Auch 
bei  uns  wird  bei  jedem  Gesetz,  bei  jeder  Ministerzusammensetzung 
erwogen,  wie  das  auf  die  Arbeiterklasse  wirken  wird.  Vielleicht 
werden  sie  jetzt  wieder  blind  sein  und  glauben,  man  könne  noch 
einmal  das  Proletariat  foppen.  Wenn  sie  blind  sein  wollen,  die 
Herren  in  jenem  Blindeninstitut,  dann  wird  die  Arbeiterschaft  ihnen 
den  Star  stechen. 

Die  Zukunft  ist  noch  nicht  klar.  Aber  für  uns  handelt  es  sich 
heute  nicht  darum,  was  s  i  e  tun  werden,  wir  müssen  nur  wissen, 
was  wir  wollen.  Die  Herren  mögen  tun,  was  sie  wollen;  wir 
appellieren  nicht  an  die  Gewalt;  aber  wenn  man  dem  Mann,  der 
am  Boden  liegt,  das  Knie  auf  die  Brust  setzt  und  ihn  erdrücken 
will,  dann  darf  man  sich  nicht  wundern,  wenn  er  sich  um  jeden 
Preis  erhebt.  Ich  will  kurz  den  Inhalt  meiner  Rede  in  folgender 
Resolution  zusammenfassen: 

Resolution. 

Die  heutige  Versammlung  verurteilt  aufs  schärfste  die  Hal- 
tung der  drei  großen  Pariamen  tsparteien  in  der  Frage 
der  Wahlreform  und  konstatiert,  daß  die  liberale  Reaktion 
nunmehr  schamlos  ein  unverhülltes  Bündnis  mit  der  klerikalen  und 
feudalen  Reaktion  eingegangen  ist,  und  zwar  zum  Zwecke  der  Be- 
kämpfung des  Volkes,  welches  sein  Recht  fordert.  Die  zahlreichen  An- 
träge zur  Wahlreform,  die  eingebracht  wurden,  sind  lächerliche  Ver- 
suche, die  Wahlreform  zu  verschleppen,  zu  versumpfen  und  das  be- 
stehende Wahlunrecht  zu  konservieren. 

Die  Versammlung  erklärt  weiter,  daß  die  klassenbewußte  Arbeiter- 
schaft dieses  volksfeindliche  Bündnis  der  drei  reaktionären  Parteien 
nicht  fürchtet  und  daß  die  vereinigte  reaktionäre  Masse  die  von  der 
revolutionären  Sozialdemokratie  geführte  Bewegung  des  allgemeinen,, 
gleichen  und  direkten  Wahlrechtes  nicht  aufhalten  wird. 

Möge  die  gegenwärtige  Regierung  oder  irgendeine  ihr  folgende  alle 
Mittel  der  Gewalt  anwenden  —  das  arbeitende  Volk  ist  ent- 
schlossen, rücksichtslos  und  unerschrocken  an  die 
Eroberung  seines  Rechtes  zu  schreiten. 

Mögen  die  Herren  anwenden,  was  sie  wollen  — 
dieser  Satz  steht  nicht  umsonst  hier.  Wenn  wir  diese  neue  Regierung 
bekommen,  ist  sicher,  daß  die  vereinigte  Reaktion  in  der  Macht- 
ausübung  gegenüber  der  Arbeiterklasse  nicht  um  ein  Haar  besser 
sein  wird,  als  das  Regiment  Taaffes.  Wenn  T  a  a  f  f  e  die  Sozial- 
demokraten mit  Ruten  gepeitscht  hat,  wird  eine  liberalfeudal- 
klerikale  Regierung  sie  mit  Skorpionen  züchtigen.  Das  war  immer 
so.  Wenn  wir  ein  feudallilierales  Ministerium  bekommen,  wird  es 
nicht  weniger  Opfer  für  uns  geben,  sondern  wir  müssen  gefaßt  sein 
auf   schärfere  Kämpfe   und  wenn   ich   das   sage,  glaube  ich   damit 

9* 


132  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


keinen  von  euch  abzuschrecken,  oder  einzuschüchtern  (tausend- 
stimmiger Ruf:  Keinen!),  wir  wissen,  daß  ihr  entschlossen  seid, 
dem  neuen  wie  dem  alten  Ministerium  gegenüber  den  Ruf  zu  er- 
heben: Es  lebe  das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht!  Es 
lebe  die  internationale  Sozialdemokratie!  (Begeisterte  Zustimmung 
und  Hochrufe.) 

Genosse  Hofer*)  hat  gesagt,  daß  in  der  österreichischen 
Arbeiterschaft  eine  solche  Erbitterung  herrscht,  daß  eine  solche 
Entschlossenheit  vorwärts  zu  gehen  besteht,  daß  man  nur  auf  das 
Losungswort  derer  wartet,  die  das  Vertrauen  der  Genossen  ge- 
nießen. Glauben  Sie  uns  allen,  daß  wir  das  ganz  genau  wissen. 
Man  nennt  uns  Hetzer  und  Schürer,  während  wir  diejenigen  sind, 
die  zur  Ruhe,  Besonnenheit  und  Klugheit  auffordern  müssen.  Wir 
müssen  kaltes  Blut  bewahren.  Wir  müssen  jetzt  Gewehr  bei  Fuß 
stehen  und  sehen,  was  die  Herren  da  auskochen  werden.  Erst  wenn 
sie  mit  etwas  kommen,  und  die  Frage  sein  wird,  was  wir  dazu 
sagen,  dann  werden  wir  ihnen  eine  deutliche  Antwort  geben. 
H  o  f  e  r  hat  recht,  es  erfaßte  jeden  Erbitterung,  wenn  man  die 
Leute  da  drinnen  debattieren  hörte,  wie  groß  das  Stück  Recht  sein 
dürfe,  das  man  dem  Volke  gibt.  WersinddenndieseLeute, 
daß  sie**)  [über  das  Volk,  über  seine  Reife  oder  über  sein  Recht  ab- 
zuurteilen wagen??  (Ein  Zuhörer  ruft:  Gauner!)  Nein  —  sie  sind 
die  Vertreter  ihrer  Klasseninteressen.  Die  einzige  Gaunerei  besteht 
darin,  daß  sie,  die  Vertreter  der  engherzigsten  Cliqueninteressen, 
sich  als  Vertreter  des  Volkes  ausgeben.  Und  sie  haben  die  Macht 
dazu,  durch  die  Hungerpeitsche,  auf  die  sie  sich  stützen.  Gewiß 
muß  das  entrüsten,  erbittern.  Aber  diese  Entrüstung,  diese  Er- 
bitterung soll  jeder  umsetzen  in  fortwährende  Arbeit  für  die  Auf- 
klärung der  Arbeiterklasse.  Daran  ist  noch  sehr  viel  zu  arbeiten. 
Wir  wissen  sehr  gut,  daß,  so  groß  die  Fortschritte  der  Sozial- 
demokratie sind,  die  Masse  der  Indifferenten  noch  eine  gewaltige 
ist.  Wir  stehen  erst  am  Anfang  unserer  Agitation  und  Organisa- 
tion, wir  sind  noch  nichtbeiderErnte,  sondernerstbei 
der  Aussaat.  Wir  wollen  uns  nicht  selbst  täuschen,  und  aus 
Selbstüberschätzung  unsere  Organisation  gefährden.  Genossen! 
Wir  werden  in  den  nächsten  Tagen  wiederholt  zusammenkommen; 
wir  werden  den  ganzen  Prozeß  verfolgen,  und  lernen;  es  ist  lehr- 
reich, die  Gegner  im  adamitischen  Kostüm  zu  sehen.  Mögen  sie 
sich  weiterhin  mit  irgendwelchem  Flitter  behängen,  dem  Volke 
wird  unvergeßlich  sein,  das  Bild  des  nackten  „Liberalen",  des 
nackten  „Christen",  des  nackten  „Adeligen".  Wir  gehen  an  die 
weitere  Arbeit  der  Agitation,  und  jeder  Akt  der  Verbreitung  von 
Aufklärung  ist  eine  revolutionäre  Tat.  Den  Grimm,  den  Abscheu, 
die  Verachtung  für  das,  was  das  Volk  heute  büttelt  und  knechtet, 

*)  Nach  Adler  hatte  H  o  f  e  r,  der  Vertrauensmann  der  Geschäftsdiener, 
gesprochen.  Nach  ihm  sprach  wieder  Adler. 

"*)  Die  eingeklammerten  Stellen  waren  im  Bericht  der  „Arbeiter- 
Zeitung"  konfisziert. 


Regierung,  Parlament  und  Wahlreform. 

bewahren  wir  uns,  das  häufen  wir  und  die  stunde  kommt],  wo  wir 
es  werden  brauchen  können*).  (Stürmischer  Beifall.) 

Regierung,    Parlament    und    Wahlreform. 

Versammlung  am  5.  November   18  93**). 

Kr  gab  eine  kurze  Darstellung  der  politischen  Situation  und 
konstatierte,  daß  die  Arbeiterschaft  am  Ministerium  Windischgrätz 
ebensowenig  gewinne,  als  sie  am  Ministerium  Taaffe  verloren  habe. 
Die  Koalition  der  drei  reaktionären  Parteien  sei  um  so  schamloser, 
als  sie  einzig  und  allein  von  den  Führern  gemacht  wurde,  die  nicht 
einmal  die  Klubmitglieder  befragten;  die  Wählerschaften  seien  ver- 
schachert worden  wie  die  willenlosen  Schafe.  Daß  sie  sich  das 
gefallen  lassen,  sei  eine  Folge  der  Korruption  und  politischen  Fäul- 
nis, die  durch  die  Parteiführer  gezüchtet  werden.  Insbesondere 
deutlich  sei  der  Verfall  der  liberalen  Partei,  wofür  die  letzten  Er- 
eignisse bei  Ronacher,  die  Redner  eingehend  schildert,  ein  Zeugnis 
seien.  Daß  die  Liberalen  an  der  politischen  Freiheit  Verrat  übten, 
war  längst  bekannt;  seit  14  Tagen  wissen  wir,  daß  sie  für  zwei 
Ministerportefeuilles  ihre  „Schulfreundlichkeit"  opfern  und  mit  den 
Schwarzen  einen  Pakt  schließen;  seit  der  Affäre  Ronacher  haben 
sie  sich  als  P  o  1  i  z  e  i  1  i  b  e  r  a  1  e***)  entpuppt.  Die  Arbeiter  hätten 

*)  Die  „Arbeiter-Zeitung"  schloß  ihren  Bericht  folgendermaßen: 
Genosse  H  lieber  schließt  die  Versammlung  mit  den  Worten:  Gedenken 
Sie  des  Namens  Stadnicki,  Genossen,  der  die  Arbeiter  Österreichs  aufs 
tiefste  beleidigt  hat.  Graf  Stadnicki  hält  heute  die  Peitsche  über  seine 
Untergebenen;  vielleicht  dreht  sich  der  Stiel  einmal  um.  Er  hat  uns  alle 
beleidigt,  und  die  Liberalen,  die  Volksfreunde,  haben  kein  Wort  gefunden 
zur  Verteidigung  der  Rechtlosen.  Dieser  liberalen  Partei  ist  die  Maske 
der  Volksfreundüchkeit  vom  Gesicht  gerissen,  und  hinter  dieser  Maske  wie 
hinter  der  polnischen,  wie  hinter  der  konservativen,  hat  die  Fratze  der 
Ausbeutung  gesteckt.  Wir  sind  froh,  daß  wir  es  einmal  mit  dieser  ver- 
einigten Bande  aufnehmen  können.  Ich  schließe  mit  einem  „Nieder  mit 
der  liberalen  Partei!" 

Die  Tausende  von  Anwesenden  brechen  in  ein  oftmaliges  „Nieder  mit 
den  Liberalen",  „Nieder  mit  der  reaktionären  Bande",  „Hoch  die 
Sozialdemokratie"  aus.  Bei  Verlassen  des  Saales  ertönt  das 
„Wahlrechtslied". 

**)  Sonntag  den  5.  November  fand  in  Hambergers  Saal  „Zur  Wein- 
traube" im  fünften  Wiener  Bezirk  eine  von  mehr  als  zweitausend  Personen 
besuchte  Versammlung  statt,  in  der  Adler  über  das  Thema  „Regierung, 
Parlament  und  Wahlreform"   sprach. 

Wegen  dieser  Rede  wurde  Adler  angeklagt  und  zusammen  mit  der 
Rede  bei  der  Schwender-Versammlung  zu  einem  Monat  Arrest  ver- 
urteilt. (Siehe  Bd.  II,  Seite  111.) 

')  Bei  einer  Versammlung,  die  die  Liberalen  im  „Etablissement 
Ronacher"  gegen  die  Wahireform  abhielten,  hatte  sich  die  Polizei  brutal 
gegen  die  Arbeiter  benommen.  Adler  wurde  geklagt,  weil  er  gesagt  haben 
soll:  „Die  Liberalen  haben  die  Polizei  gekauft."  Darin  erblickte  die  An- 
klage eine  Beleidigung  der  Polizei.  Als  Adler  in  der  Verhandlung  sagte, 
eine   solche   Äußerung   wäre   unsinnig   gewesen,   da   die    Liberalen   es   nicht 


134  Von  Taaffe  bis  Badcni. 


dasselbe  Recht  gehabt,  auf  der  Straße  für  das  Wahlrecht  zu  demon- 
strieren wie  die  feigen  Liberalen  im  Saale  gegen  das  Wahlrecht. 
Die  Demonstration  sei  keineswegs  aus  einer  von  der  Partei 
gegebenen  Losung  entsprungen,  wie  die  feile  Presse  lügt,  sondern 
aus  dem  höchst  begreiflichen,  ganz  spontanen  Wunsche  einzelner, 
und  zwar  nicht  bloß  Arbeiter,  sich  die  liberalen  Herren  einmal  zu 
besehen.  Redner  kritisiert  gebührend  das  Eingreifen  der  Wachleute, 
welche  nach  dem  eigenen  Geständnis  der  bürgerlichen  Presse 
harmlose  Leute  mit  dem  Säbel  traktierten.  Die  Verantwortung  für 
das  vergossene  Blut  habe  nicht  die  Partei  und  nicht  die  auf  der 
Straße  Versammelten  zu  tragen,  sondern  jene  Leute,  welche  die 
Polizisten  herbeiriefen . . .  Das  allgemeine  Wahlrecht  sei  der  Block, 
welchen  die  Arbeiterschaft  auf  den  Weg  jeder  kommenden  Regie- 
rung gewälzt  habe;  keine  könne  darum  herumkommen. 

Unsere  Taktik  müsse  sich  notwendigerweise  danach  richten, 
was  nun  geschehen  werde.  Es  sei  der  neuen  Regierung  und  den 
herrschenden  Parteien  in  ihrem  eigensten  Interesse  zu  raten,  halb- 
wegs vernünftige  Politik  zu  machen.  Die  Arbeiterschaft 
wartet  und  wird  die  entsprechenden  Konsequenzen  zu  ziehen  wissen. 

Der  Berliner  „Vorwärts"  über  Österreich. 

„Arbeiter-Zeitung"  vom  14.  November  1893. 

Die  Geschicke  des  österreichischen  Proletariats,  die  Entschei- 
dungen, welche  von  der  österreichischen  Sozialdemokratie  in  den 
bedeutungsvollen  Zeiten,  die  wir  durchleben,  gefordert  werden, 
lenken  natürlicherweise  die  gespannteste  Aufmerksamkeit  unserer 
Bruderparteien  im  Ausland  auf  sich.  Daß  niemand  mit  wärmerem 
Interesse,  mit  herzlicheren  Wünschen  für  unseren  Erfolg  die  Vor- 
gänge in  Österreich  und  ihre  Wirkungen  auf  das  Proletariat  beob- 
achtet als  unsere  deutschen  Genossen,  ist  selbstverständlich.  Ge- 
rade aber  weil  vom  Ausland  aus  die  Dinge  viel  schwerer  zu 
erkennen  sind,  weil  eine  genaue  und  intime  Kenntnis  aller  Ver- 
hältnisse dazu  gehört,  um  einen  klaren  Blick  zu  erhalten,  weil  ins- 
besondere die  Vorgänge  innerhalb  der  Massen  der  Arbeiterschaft, 
ihre  Stimmungen  und  Willensäußerungen  sehr  schwer  von  den 
außenstehenden,  wenn  auch  noch  so  eng  befreundeten  Genossen 
beurteilt  werden  können,  ist  es  eine  allgemeine  Regel,  deren  Nicht- 
befolgung    sich    gewöhnlich    schwer    straft,   daß    Urteile   über    die 

notwendig  hatten,  die  Polizei  zu  kaufen,  die  ihnen  ganz  umsonst  zur  Ver- 
fügung stehe,  dehnte  der  staatsanwaltschaftliche  Funktionär  die  Anklage 
auf  diese  Äußerung  aus,  denn  die  Polizei  stehe  nur  der  Regierung  zur 
Verfügung.  Doch  wurde  Adler  dann  von  dieser  neuen  Anklage  frei- 
gesprochen, da  die  Anklage  wieder  dem  Landesgericht  hätte  zugewiesen 
werden  müssen  und  das  Gericht  das  vermeiden  wollte.  Hatte  doch  Adler 
verlangt,  daß  er  nicht  wegen  Beleidigung  der  Polizei,  sondern  wegen  Auf- 
reizung zu  Haß  und  Verachtung  geklagt  werde,  welches  Delikt  vor  die 
Geschwornen  gehörte,  und  die  Gefahr  bestand,  daß  am  Ende  doch,  wenn 
.noch  ein  zweites  Delikt  dazu  käme,  das  Ganze  vor  die  Geschwornen  käme. 


Der  Berliner  „Vorwärts"  über  Österreich. 


Taktik  vom  Ausland  aus  nur  mit  größter  Vorsicht  gefällt,  jeder 
Versuch  eines  Eingreifens  aber  vermieden  werden  soll.  Es  ist  gar 
nicht  ZU  umgehen,  daß  man  sich  im  Ausland  vielfach  von  der 
gegnerischen  Presse  dahin  beeinflussen  läßt,  ein  falsches  und  vor 
allem  ein  übertriebenes  Bild  von  den  Vorgängen  zu  bekommen.  Je 
weiter  man  vom  Schauplatz  der  Ereignisse  ist,  um  so  ängstlicher 
wird  man,  und  je  näher  einem  die  Dinge  gehen,  je  ausgesprochener 
das  .Solidaritätsbewußtsein  ist,  um  so  größer  wird  die  freundschaft- 
liche Besorgnis.  So  kann  auch  die  enge  Freundschaft  eine  Quelle 
falscher  Beurteilungen  werden. 

Eine  Illustration  zu  dieser  allgemeinen  Bemerkung  ist  der 
Artikel,  welchen  unser  Bruderorgan,  der  Berliner  „Vorwärts", 
unter  dem  Titel :  „Die  neue  Ära  W  i  n  d  i  s  c  h  g  r  ä  t  z  in 
österreic  h"  bringt.  Nachdem  in  diesem  Artikel  das  Ministerium 
Windischgrätz  und  die  Koalition  der  Parteien  nach  Verdienst 
geschildert  sind,  fährt  der  Artikel  also  fort: 

Warum   gerade  ihm,  warum  gerade  jetzt? 

Äußerlich  richtet  sich  die  Koalition  der  großen  Parteien  gegen  Taaffe, 
aber  ihrem  inneren  Wesen  nach  ist  sie  die  Organisation  der  Besitzenden 
ohne  Unterschied  der  Partei  und  Nationalität  gegen  das  mächtig  auf- 
strebende Proletariat.  Der  Schritt  Taaffes  in  der  Richtung  zum  allgemeinen 
Wahlrecht  brachte  dem  Feudaladel  und  der  Bourgeoisie  zum  Bewußtsein, 
daß  die  Sozialdemokratie  in  Österreich  zu  einer  starken  und  gefährlichen 
Macht  geworden  ist.  Ja,  im  ersten  Schrecken,  der  noch  jetzt  nicht  der 
ruhigen  Überlegung  gewichen  ist,  wurde  die  tatsächliche  Macht  der  öster- 
reichischen Sozialdemokratie  von  den  Gegnern  phantastisch 
überschätzt. 

Die  Furcht  einigte  sie,  die  Furcht  trieb  sie  zu  einem  Windischgrätz, 
die  Furcht  ließ  sie  wünschen,  daß  der  Enkel  seinem  Großvater  nachahme. 

Vierzehn  Jahre  Taaffescher  Versöhnungspolitik  führten  zum  Prager 
Belagerungszustand,  drei  Monate  Windischgrätz'schen  Regimes  werden,  so 
heißt  es  in  parlamentarischen  Wiener  Kreisen,  zum  Belagerungs- 
zustand über  Wien  führen.  Es  handelt  sich  hiebei  um  mehr  als  ein 
Scherzwort. 

Die   Situation  in  Österreich  ist  übermäßig  gespannt. 

Die  Parteienkoalition  will  das  von  Taaffe  den  Arbeitern  gegebene  Ver- 
sprechen nicht  einlösen,  sie  will  die  Sozialdemokraten  mit  einem  Wahl- 
recht der  Krankenkassenmitglieder  oder  etwas  Ähnlichem  abspeisen,  sie 
will  sich  wohl  auch  Garantien  verschaffen,  daß  die  eigentlichen  Vertrauens- 
männer der  Arbeiter  das  passive  Wahlrecht  nicht  erhalten. 

Wer  könnte  es  den  Arbeitern  verübeln,  daß  sie  sich  dieses  Attentat 
nicht  ruhig  gefallen  lassen  wollen?  Ihr  Kampfesmut  wird  entflammt,  ihr 
Haß  wird  erregt,  die  revolutionären  Instinkte  werden  angestachelt.  Dabei 
läuft  so  manche  Phrase  mit  unter,  der  Generalstreik,  niemals  eine 
größere  Utopie  als  zur  Zeit  der  gegenwärtigen  schweren  wirtschaftlichen 
Krise,  wird  den  Arbeitern  empfohlen,  ja,  man  redet  vonOewalt  gegen 
Gewalt.  Sehr  zur  Unzeit,  wie  uns  dünkt.  Wenn  die  Machthaber  die 
Gewalt  provozieren,  wissen  sie  sich  im  Besitz  der  Macht.  Und  für  einen 
gewaltsamen  Konflikt  wird  von  den  Gegnern  der  Moment  gewählt  werden, 
der  ihnen  am  passendsten  scheint.  Daß  aber  die  Bourgeoisie  und  die 
Regierungskreise  gerade  jetzt  nichts  dagegen  hätten,  das  nationale  Mann- 
liehergewehr  an  der  österreiehischen  Arbeiterschaft  zu  versuchen,  dafür 
spricht      die      in       Österreich      unerhörte      Duldung      der 


13b  \  oi!  Taaffe  bis  Badeni. 


schärfsten  Reden  in  den  Versa  m  m  1  u  n  g  e  n,  dafür  spricht  der 
Zusammenschluß  aller  reaktionären  Elemente,  dafür  spricht  nicht  zum 
mindesten  die  Wahl  eines  Windischgrätz  zum  Leiter  der  österreichischen 
Politik.  Der  Enkel  dessen,  der  die  revolutionären  Vorfahren  der  Wiener 
Arbeiter  und  der  Präger  Jungtschechen  standrechtlich  erschießen  ließ, 
wird  von  den  Organen  des  Besitzes  und  Feudalismus  als  der  Retter  in 
der  Not  mit  Hosianna  gepriesen.  Mit  Freuden  würden  sie  es  aufnehmen, 
wenn  der  künftige  Ministerpräsident  an  den  österreichischen  Arbeitern 
das  Exempel  statuieren  würde,  das  die  Kämpfer  für  die  Befreiung  der 
Bourgeoisie  im  Jahre   1848  an  ihrem  Leibe  erdulden  mußten. 

An  den  österreichischen  Arbeitern,  vor  allem  an  denen  von  Wien,  liegt 
es,  ohne  Überstürzung,  kühl  und  ruhig  zu  handeln,  nichts  zu  übereilen,  die 
eigene  Macht  nicht  zu  überschätzen,  die  ihrer  Todfeinde  nicht  zu  unter- 
schätzen, jede  Falle,  die  ihnen  gestellt  wird,  zu  vermeiden,  und  durch 
keine  Herausforderung,  durch  keinen  Appell  an  die  blinde  Leidenschaft  aus 
der  unangreifbaren  Stellung,  die  sie  sich  durch  lange,  mühevolle,  zähe 
Arbeit  errungen  haben,  sich  herauslocken  zu  lassen. 

Es  handelt  sich  heute  um  mehr  als  um  die  Opfer  des  täglichen  Kampfes, 
es  handelt  sich  um  einen  Krieg,  bei  dem  der  Besiegte  aufgerieben  werden 
kann.  Was  wäre  die  Folge  einer  solchen  Niederlage  für  die  österreichischen 
Arbeiter:  die  Verhängung  des  Belagerungszustandes,  die  Unterdrückung 
der  Presse,  die  Auflösung  aller  Organisationen,  die  Unschädlichmachung 
der  Führer.  Kurz,  die  Früchte  jahrelanger  Arbeit  und  Tätigkeit  gingen  zu- 
grunde, und  Jahre  würde  es  dauern,  bis  Neues  geschaffen  wäre. 

Der  Tag  ist  für  die  österreichischen  Arbeiter  noch  nicht  gekommen, 
wo  sie  einen  Sieg  erhoffen  können. 

Wie  man  sieht,  ist  der  Artikel  ein  Beweis  von  dem  intensivsten 
Interesse,  welches  die  deutsche  Bruderpartei  für  die  Entwicklung 
der  österreichischen  Sozialdemokratie  hat.  Er  ist  aber  leider  auch 
ein  Beweis  dafür,  daß  man  draußen  unsere  Verhältnisse  doch  nur 
ungenügend  kennt.  Der  Grundgedanke  des  Artikels  ist  ein  dringen- 
der Rat  an  die  österreichische  Arbeiterschaft,  sich  nicht  provo- 
zieren zu  lassen.  Dieser  Rat  ist  ebenso  dankenswert,  ebenso  wohl- 
gemeint, als  zum  Glück  überflüssig.  Die  österreichische  Sozial- 
demokratie überschätzt  ihre  eigene  Macht  nicht,  sie  unterschätzt 
durchaus  nicht  die  Bajonette  der  Gegner  oder  deren  gute  Absicht, 
sie  rücksichtslos  zu  verwenden.  Andererseits  ist  es  ein  Irrtum,  wenn 
der  „Vorwärts"  davon  spricht,  daß  die  Macht  der  österreichischen 
Sozialdemokratie  von  den  Gegnern  „phantastisch  über- 
schätzt" werde.  Richtig  ist  vielmehr,  daß  gerade  die  Feigheit 
unserer  Gegner  sie  veranlaßt,  die  Sozialdemokratie  „phantastisch" 
zu  unter  schätzen  und  zu  glauben,  sie  könnten  dieselbe  durch 
einige  Akte  roher  Gewalt  unterdrücken.  Sie  drohen  mit  Gewalt, 
aus  Feigheit  und  zugleich  aus  Dummheit. 

Wir  sind  mit  dem  „Vorwärts"  vollständig  darin  einverstanden, 
daß  die  Gegner  gerade  jetzt  einige  Lust  bezeugen,  die  Flinte 
schießen  und  den  Säbel  hauen  zu  lassen:  aber  es  bedeutet  eine  uns 
in  der  Tat  völlig  unerwartete  und  unerklärliche  Unkenntnis  der 
Tatsachen,  wenn  ein  Beweis  für  diese  Lust  der  Gegner,  zu  provo- 
zieren, in  einer  angeblich  „in  Österreich  unerhörten  Redefreiheit" 
gesucht  wird.  Daß  jman  Lust  hat,  zu  provozieren,  ist  richtig,  aber 
man  provoziert  in  Österreich  nicht  durch  Duldung,  sondern  man 


Der  Berliner  „Vorwärts"  über  Österreich.  137 


provoziert  durch  eine  seihst  „in  Österreich  unerhörte"  Unter- 
drückung. Allerdings  ist  die  Beschränkung  der  Redefreiheit  in 

Deutschland  und  Österreich  eine  sehr  verschiedene.  Es  gibt  Dinge, 
die  man  in  Österreich  ungestraft  sagen  kann,  derentwegen  mau  in 
Deutschland  Verfolgt  werden  würde;  es  j^iht  aber  noch  viel  mehr 
Dinge,  die  man  in  Österreich  absolut  nicht  erörtern,  ja  nicht  nennen 
darf,  über  welche  in  Deutschland  ohne  jede  Beanstandung  in  allen 
Versammlungen  und  in  der  Presse  in  offenster  Weise  gesprochen 
wird.  Das  ist  auch  einer  der  Gründe,  welche  die  Beurteilung  von 
außen  her  erschweren.  Aber  man  sollte  meinen,  dal.)  auch  der  Ver- 
fasser jenes  Leitartikels  davon  Kenntnis  haben  müßte,  daß  niemals 
in  Österreich  eine  solche  Razzia  der  gerichtlichen  Verfolgungen  er- 
lebt wurde,  als  gerade  in  den  letzten  Monaten.  Ms  gibt  beinahe 
keinen  Genossen,  der  öffentlich  spricht,  welcher  nicht  mit  einem 
Überfluß  von  Prozessen  gesegnet  wäre.  Die  Verurteilungen  erfolgen 
prompt,  und  trotzdem  wird  noch  lange  nicht  dem  Wunsche  der 
Staatsanwälte,  respektive  der  Regierung,  nachgekommen.  Dazu  der 
Ausnahmezustand  in  Prag,  welcher,  wie  der  „Vorwärts"  sehr  genau 
weiß,  wesentlich  auch  gegen  die  tschechische  Arbeiterschaft  ge- 
richtet ist  und  offiziell  mit  dem  „Mißbrauch  der  Versammlungs- 
freiheit" motiviert  wird.  Es  genügt,  an  die  blutigen  Ereignisse  von 
Brunn  und  Prag  im  letzten  Juni  und  Juli  zu  erinnern,  um  die  „un- 
erhörte Duldung"  genügend  zu  charakterisieren.  Es  hat  niemals  in 
Österreich  eine  Zeit  gegeben,  wo  die  sozialdemokratische  Presse 
einer  solchen  Fülle  von  Konfiskationen  ausgesetzt  war,  und  niemals 
erfolgten  so  viele  subjektive  Verfolgungen,  als  gerade  heute.  Wenn 
der  „Vorwärts"  von  einer  „Falle"  spricht,  die  aufgestellt  werde,  so 
kann  er  versichert  sein,  daß  wir  in  keine  wie  immer  geartete  Falle 
gehen  werden;  aber  er  muß  sich  nicht  die  Vorstellung  machen,  als 
ob  man  Speck  aufrichten  würde,  als  ob  man  uns  hinein  locken 
würde:  nein,  höchstens  will  man  uns  mit  Gewalt  hinein- 
treiben. 

In  dem  Artikel  findet  sich  auch  eine  freundschaftliche  und  milde, 
aber  doch  in  manchen  Punkten  ungerechte  und  vielleicht  nicht  ganz 
zeitgemäße  Kritik  einzelner  Erscheinungen  unserer  Bewegung.  Es 
wird  gesagt,  daß  bei  unserer  Agitation  „so  manche  Phrase  mit 
unterläuft".  Das  können  wir  ohne  weiteres  zugeben;  wer  sich  frei 
fühlt  von  Phrasen,  werfe  den  ersten  Stein  auf  uns.  Die  öster- 
reichische Sozialdemokratie  kann  unmöglich  die  Verantwortung  für 
jede  mehr  oder  minder  kluge,  geschickte  oder  sachgemäße  Rede- 
wendung ihrer  Redner  übernehmen.  Die  Selbstkritik  wird  in  unserer 
Partei  nach  Möglichkeit  und  recht  strenge  geübt.  Was  der  „Vor- 
wärts" hier  meint,  wird  im  Inland  ebenso  scharf  aber  vielleicht 
etwas  wirksamer  bekämpft,  als  dies  vom  Ausland  möglich  ist. 

Wenn  aber  der  „Vorwärts"  den  Generalstreik  eine 
„Phrase"  oder  mindestens  eine  „Utopie"  nennt,  so  scheint  er  uns 
etwas  stark  über  das  Ziel  zu  schießen.  Man  kann  die  verschiedenste 
Ansicht  über  den  Generalstreik  haben,  man  kann  ihn  für  ausführ- 
bar oder  für  unausführbar,  für  nützlich  oder  für  schädlich  halten 
-  aber   eine   „Phrase"   oder   eine   „Utopie"   ist   der   Generalstreik 


138  Von  Taaffe  bis  Badcni. 


niemals.  Es  unterliegt  seit  geraumer  Zeit  in  der  österreichischen 
Arbeiterschaft  der  Diskussion  (und  es  kann  sein,  daß  diese  Dis- 
kussion eine  sehr  aktuelle  wird,  das  hängt  von  unseren  Herren 
Gegnern  ab),  ob  der  Generalstreik  für  unsere  Verhältnisse  ein  ge- 
eignetes Mittel  sei.  Wer  den  Generalstreik  empfiehlt,  kann  vielleicht 
ein  Sanguiniker  sein,  er  mag  die  Schwierigkeiten  unterschätzen, 
aber  man  kann  von  ihm  nicht  sagen,  daß  er  eine  Phrase  mache. 
Die  „schwere  wirtschaftliche  Krise"  als  Hindernis  für  den  General- 
streik anzusehen,  ist  aber  schon  gar  nicht  angebracht.  Vor  allem 
existiert  diese  Krise  in  vielen  Branchen  der  Industrie  in  Österreich 
überhaupt  nicht.  Die  Textilindustrie  zum  Beispiel  ist  sehr  gut  be- 
schäftigt, und  ein  Stillstand  der  Fabriken,  auch  auf  nur  kurze  Zeit, 
würde  den  Herren  Fabrikanten  im  höchsten  Grade  unangenehm 
sein.  Aber  die  Krise  hat  mit  dem  Generalstreik  überhaupt  nichts  zu 
tun.  Ein  Generalstreik  hat  ja  nur  dann  einen  Sinn,  und  kann  nur 
dann  einen  Erfolg  haben,  wenn  nicht  nur  die  Kohlengräber,  die 
Textil-  und  die  Metallarbeiter,  sondern  auch  Bäcker,  Fleischer, 
Schuhmacher,  Schneider  usw.  das  Werkzeug  aus  der  Hand  legen, 
mit  einem  Wort,  wenn  es  möglich  ist,  die  gesamte  Produktion,  ins- 
besondere auch  der  notwendigsten,  unmittelbar  verwendeten  täg- 
lichen Gebrauchsgegenstände,  mit  einem  Male  zu  unterbrechen  und 
unmöglich  zu  machen.  Ein  derartiger  Streik  aber  wäre  selbstver- 
ständlich von  der  wirtschaftlichen  Konjunktur  vollständig  unab- 
hängig; und  der  „Vorwärts"  kann  versichert  sein,  daß  der  General- 
streik in  Österreich,  welcher  der  Diskussion  des  Parteitages  even- 
tuell unterliegen  wird,  nur  dann  proklamiert  werden  wird,  wenn 
diese  Bedingungen  zutreffen.  O  b  sie  zutreffen,  ist  hier  nicht  der 
Ort  zu  untersuchen.  Aber  von  einer  Phrase,  von  einer  Utopie  zu 
sprechen,  ist  eine  tatsächliche  Unrichtigkeit. 

Ebenso  unterschätzt  der  „Vorwärts"  die  Klugheit  der  öster- 
reichischen Sozialdemokraten,  wenn  er  meint,  „man  rede  von  Ge- 
walt gegen  Gewalt".  Wir  wissen  sehr  genau,  daß  die  Gewalt- 
anwendung nur  dann  eine  praktikable  Sache  ist,  wenn  man  die 
Gewalt  hat.  Andererseits  aber  sind  wir  gezwungen,  den  Tatsachen 
ins  Gesicht  zu  sehen,  und  haben  die  Verpflichtung,  unseren  Ge- 
nossen zu  sagen,  daß  sie  sich  auf  alles  gefaßt  machen  müssen,  daß 
von  unseren  Gegnern  alles  zu  erwarten  ist,  sogar  die  Gewalt- 
anwendung. 

Und  wenn  heftige  Worte  fallen,  so  werden  sie  uns  von  der  Ent- 
rüstung, von  der  Verletzung  des  Rechtsgefühls,  von  der  Verachtung 
der  schmählichen  Kampfweise  unserer  Gegner  abgepreßt.  Niemals 
aber  kann  ein  Redner,  und  mögen  dem  „Vorwärts"  seine  Worte 
noch  so  heftig  erscheinen,  niemals  kann  ein  Redner  auch  nur  an- 
nähernd das  Maß  von  Groll,  von  Verbitterung,  von  Haß  gegen  die 
heute  herrschenden  Zustände  ausdrücken,  die  im  österreichischen 
Proletariat  lebendig  sind.  Unsere  deutschen  Freunde  mögen  sich 
einen  Zustand  vorstellen  mit  dem  Sozialistengesetz, 
aber  ohne  Wahlrecht,  und  sie  werden  mehr  Maß  halten  im 
Predigen  der  Mäßigung. 

Der  „Vorwärts"  schließt  seinen  Artikel  mit  den  Worten:  „Der 


Der  Berliner  „Vorwärts"  über  Österreich.  139 


Tag  ist  für  die  österreichischen  Arbeiter  noch  nicht  gekommen,  wo 
sie  einen  Sieg  erhoffen  können."  Wir  müssen  gestehen,  daß  wir 

sehr  überrascht  waren,  als  wir  diesen  Satz  lasen.  Die  österreichi- 
schen Arbeiter  wissen  ganz  genau  (und  wir  denken,  die  Mitarbeiter 
des  „Vorwärts"  müßten  das  auch  wissen),  daß  unser  Sieg,  und 
auch  der  Sieg  der  deutschen  Sozialdemokratie,  überhaupt  nicht  an 
eine  m  Tage  erfochten  werden  wird.  Wir  siegen  täglich  und 
jeder  Sieg  schafft  uns  neue  Aufgaben  und  macht  neue  Kämpfe  not- 
wendig. Daß  der  Tag,  an  welchem  die  österreichischen  Arbeiter  das 
Ziel  ihrer  Kämpfe  erreichen,  noch  nicht  gekommen  ist,  das  wissen 
wir  genau  und  meinen  sogar,  daß  die  deutschen  Genossen  leider 
nicht  in  viel  besserer  Lage  sind.  Die  Erfolge  der  österreichischen 
Arbeiterbewegung  aber,  die  einzelnen  Schritte  nach  vorwärts,  die 
sie  gemacht  hat,  und  die  mit  Notwendigkeit  weitere  Erfolge  und 
weitere  Schritte  nach  sich  ziehen,  die  will  der  „Vorwärts"  gewiß 
am  allerwenigsten  abschwächen,  die  will  er  gewiß  nicht  ver- 
kleinern. In  der  Frage  der  Wahlrechtsbewegung  selbst  hat  die 
österreichische  Sozialdemokratie  bereits  heute  einen  Erfolg  er- 
rungen, welcher  die  Befürchtungen  der  Gegner  bei  weitem  über- 
trifft, und  es  ist  eine  einfache  Verpflichtung  der  österreichischen 
Sozialdemokratie,  sich  den  Erfolg  nicht  aus  den  Händen  winden  zu 
lassen,  weder  durch  allzu  hitziges  Vordringen,  noch  durch  zu  ängst- 
liches Abwägen.  Wir  sind  überzeugt,  daß  der  Pessimismus  des 
„Vorwärts"  nur  der  freundschaftlichsten  Gesinnung  entspringt,  und 
wir  wissen  jene  Art  von  Freundschaft  am  meisten  zu  schätzen,  die 
nicht  die  Fehler  des  Freundes  zu  bemänteln  sucht,  sondern  die 
ehrlich  und  aufrichtig  zu  kritisieren  versteht.  Wir  wissen  ebenso 
Kritik  zu  würdigen,  als  ihre  Motive  anzuerkennen,  aber  wir  möchten 
durchaus  nicht,  daß  unsere  deutschen  Genossen  für  uns  mehr  ängst- 
liche Vorsicht  entwickeln,  als  für  sich  selbst.  Der  Kampf,  den  sie 
geführt  haben,  war  sehr  häufig  auf  einem  Punkte,  der  den  öster- 
reichischen Verhältnissen  von  heute  zum  Verwechseln  ähnlich  sah, 
und  wir  müssen  anerkennen  —  die  deutschen  Genossen  genießen 
gerade  darum  unsere  besondere  Achtung  — ,  daß  sie  sich  in  allen 
diesen  Augenblicken  als  Männer  und  als  echt  revolutionäre  Partei 
bewährt  haben.  Auch  damals  mag  so  manche  Phrase  mit  unter- 
gelaufen sein:  aber  man  schlägt  die  „Phrasen"  nicht  tot,  indem  man 
sie  öffentlich  annagelt  —  im  Gegenteil. 

Wenn  aber  der  besprochene  Artikel  des  „Vorwärts"  von  einer 
gänzlich  falschen  Auffassung  der  Tatsachen  ausgeht,  so  ist  er  nicht 
minder  bei  aller  guten  Absicht  ein  taktischer  Fehler,  weil 
er  der  gegnerischen  Presse  Material  zu  den  infamsten  Fälschungen 
gibt.  So  wenig  wir  mit  jenem  Artikel  einverstanden  sind,  so  sind 
wir  doch  verpflichtet,  an  dieser  Stelle  die  niederträchtige  Aus- 
schlachtung desselben  durch  unser  ordinärstes  Fabrikantenblatt, 
die  „Deutsche  Zeitung",  zu  konstatieren,  und  müssen  den  „Vor- 
wärts" gegen  die  gänzlich  unverdiente  Schmach  in  Schutz 
nehmen,  daß  dieses  Organ  der  österreichischen  Ausbeuterschaft 
frech  genug  ist,  zu  behaupten,  daß  „seine  Auffassung  vom  »Vor- 
wärts* geteilt  werde".  Die  löbliche  „Deutsche  Zeitung"  unterschlägt 


140  Von  Taafic  bis  Badeiii. 


natürlich  vor  allem  die  Kritik,  welche  der  „Vorwärts"  an  der  Koa- 
lition der  Parteien  übt.  Sie  unterschlägt  den  Satz,  daß  sich  um  den 
Fürsten  Windisch  grätz  „bar  aller  Grundsätze  die 
Führer  der  Konservativen,  Liberalen  und  Polen  einträchtig 
scharen",  aber  sie  bringt  mit  gesperrten  Lettern,  was  der  „Vor- 
wärts"  zur  Kritik  unserer  Agitation  sagt.  Sie  fälscht  natürlich 
—  ohne  das  kann  sie  es  nicht  tun  —  und  behauptet,  daß  im  „Vor- 
wärts" ausdrücklich  konstatiert  sei,  daß  „jetzt  in  Österreich  in 
unerhörter  Weise  die  schärfsten  Reden  in  den  Versammlungen  ge- 
duldet werden",  während  der  „Vorwärts",  allerdings  vollständig 
unrichtig,  nur  behauptet,  daß  diese  „Duldung"  in  Österreich 
unerhört  sei.  Die  „Deutsche  Zeitung"  schließt  mit  der  Albernheit, 
ihre  Verwunderung  darüber  auszudrücken,  daß,  obwohl  das  Organ 
der  sozialdemokratischen  Parteileitung  Deutschlands  so  spreche, 
trotzdem  die  österreichische  Partei  von  derselben  Parteileitung 
einen  sehr  erheblichen  Betrag  zur  Befestigung  ihrer  Presse  erhalten 
habe.  Die  verehrliche  „Deutsche  Zeitung"  hat  sich  nämlich  in  die 
Lüge,  daß  der  „Vorwärts"  auf  ihrem  Standpunkt  stehe,  so  voll- 
ständig hineingelogen,  daß  sie  sie  selbst  schon  glaubt.  Daß  eine 
gegenseitige  geschickte  oder  gelegentlich  auch  ungeschickte  Kritik 
die  Freundschaft  und  die  Solidarität  nicht  erschüttern  kann  und 
nichts  gegen  die  Freundschaft  und  Solidarität,  sondern  alles  f  ü  r 
sie  beweist,  das  werden  die  Pensionäre  des  österreichischen 
Montanvereines  freilich  nicht  begreifen.  Wir  haben  allen  Grund, 
der  Kritik  des  „Vorwärts"  eine  Antikritik  entgegenzustellen,  aber 
wir  meinen,  der  Verfasser  jenes  Artikels  ist  damit  zu  schwer  ge- 
straft, daß  sich  ihm  die  „Deutsche  Zeitung"  mit  der  unqualifizier- 
baren  Lüge  an  die  Rockschöße  hängt,  ihre  eigene  verlogene  Haltung 
in  der  Frage  des  Wahlrechtes  werde  von  dem  „Vorwärts"  geteilt. 
Diese  Nebenwirkung  des  „Vorwärts"-Artikels  hat  aber  nicht  einmal 
eine  besondere  Bedeutung,  denn  er  könnte  in  geradezu  entgegen- 
gesetztem Sinne  geschrieben  sein  —  nichts  würde  ihn  davor 
schützen,  von  der  „Deutschen  Zeitung"  umgelogen  zu  werden. 
Immerhin  aber  mag  der  Verfasser  jenes  Artikels  daraus  erkennen, 
daß  es  gut  ist,  in  auswärtigen  Dingen  vorsichtig  zu  sein. 

Abschließend  sagen  wir:  Wir  danken  dem  „Vorwärts"  für  seine 
freundschaftliche  Besorgnis,  wir  können  ihm  aber  zu  seiner  Be- 
ruhigung die  Versicherung  geben,  daß  wir  selbst  es  wissen,  daß 
wir  die  Pflicht  haben,  gerade  unter  den  gegenwärtigen  Umständen 
„ohne  Überstürzung,  kühl  und  ruhig  zu  handeln,  nichts  zu  übereilen 
und  jede  Falle,  die  uns  gestellt  wird,  zu  vermeiden".  Daß  die  öster- 
reichische Sozialdemokratie  ihrer  Aufgabe  vollständig  gewachsen 
ist,  zeigt  gerade  die  namenlose  Wut  unserer  Gegner;  gerade  das 
macht,  daß  ihnen  uns  gegenüber  kein  Mittel  der  Verleumdung  zu 
schlecht  ist.  Die  Koalition  der  reaktionären  Parteien  weiß,  daß 
gerade  die  kaltblütige  Ruhe  der  österreichischen  Sozialdemokratie 
ein  Faktor  ist,  mit  dem  sie  rechnen  muß,  daß  unsere  Partei  keinen 
Schritt  macht,  der  nicht  wohl  überlegt  ist,  daß  sie  aber,  wenn  sie 
ihn  tut,  mit  ihrer  ganzen  Macht  dahinter  steht  und  daß  die  öster- 
reichische Arbeiterschaft  ihrem  Rufe  folgt. 


Massenstreik  und  Organisation.  141 

Massenstreik  und  Organisation. 

Metallarbeiterversam  m  l  u  n g,  9,  D e z e  m  b e r  18  9 3. 

Als  zweiter  Redner*)  legt  Genosse  Dr.  Adler  die  Geschichte  der 
Wahlrechtsbewegung  in  Österreich  dar  und  zeigt,  daß  das,  was  vor 
einem  Jahre  als  Utopie  hingestellt  wurde,  von  jedem  Politiker  als 
unumgänglich  betrachtet  wird.  „Wir  haben  uns  von  vornherein  auf 
einen  langen  Kampf  gefaßt  gemacht;  wenn  die  Herren  meinen, 
uns  zu  ermüden,  sind  sie  im  Irrtum  . . .  Man  hat  den  Wahlreform- 
ausschuß  um  zwölf  Mitglieder  vermehrt,  er  ist  nicht  zusammen- 
getreten. Die  Herren  haben  Wichtigeres  zu  tun,  sie  mußten  die 
Landwehrvorlage  bewilligen  und  dem  Ausnahmezustand  zustimmen. 
Dann  kommen  die  Weihnachtsferien.  Die  Ursache  dieser  Ver- 
schleppung liegt  darin,  daß  die  Regierung  mit  dem  jetzigen  Parla- 
ment sehr  zufrieden  ist,  und  es  auf  jeden  Fall  ausleben  lassen  will. 
Es  hat  noch  bis  Ende  1896  zu  funktionieren;  die  Leute,  die  auf  dem 
Aussterbeetat  sind,  wollen  ihre  Pensionen  noch  so  lange  als  möglich 
verzehren,  und  deshalb  eilt  man  sich  nicht  mit  der  Wahlreform. 
Wir  aber  müssen  uns  sagen,  daß  wir  uns  nicht  immer  allein  mit 
dem  Wahlrecht  beschäftigen  können,  wir  wollen  das  Wahlrecht 
endlich  einmal  haben,  um  uns  anderen  Dingen  zuwenden  zu  können. 
Aber  wir  leben  in  Österreich,  wo  die  klarsten  logischen  Folge- 
rungen mitunter  im  Stich  lassen  können.  Wir  müssen  darum  auch 
für  den  Fall  gefaßt  sein,  daß  die  Herrschaften  an  den  Lehren  der 
letzten  Monate  nicht  genug  haben  und  glauben,  sie  könnten  nicht 
nur  verschleppen,  sondern  auch  beschwindeln.  Und  da  müssen  wir 
uns  vorsehen.  Es  wird  vom  Generalstreik  gesprochen.  Das  bedeutet 
ein  Niederlegen  aller  Arbeit  im  ganzen  Lande,  ein  völliges  Stehen 
der  gesamten  Produktionsmaschinen.  Das  aber  geschieht  nicht. 
(Rufe:  Warum  nicht?)  Ich  zweifle  nicht,  daß  Sie,  die  hier  sind, 
streiken  würden;  aber  glauben  Sie  wirklich,  daß  alle  Arbeiter 
Österreichs  schon  so  weit  sind?  Sehen  Sie  sich  in  Ihren  Werk- 
stätten um,  und  Sie  werden  zugeben,  daß  es  noch  nicht  so  weit 
ist.  (Zustimmung.)  Noch  weniger  bei  anderen  Branchen,  die  durch 
den  Kapitalismus  noch  nicht  so  revolutioniert  sind  wie  die  Metall- 
industrie. Es  kann  nur  von  einem  Massenstreik  die  Rede  sein.  Ein 
solches  Kampfmittel  aber  darf  man  nur  benützen,  wenn  man  des 
Erfolges  sicher  ist.  Die  Sozialdemokratie  hat  ihre  Erfolge  dadurch 
errungen,  daß  sie  immer  weniger  versprochen  hat,  als  sie  wirklich 
geleistet  hat.  Das  wissen  die  Gegner  auch.  Wir  überlegen,  was  wir 

')  In  der  Metallarbeiterversammlung  im  Hernalser  Brauhaus  referierte 
Lischka  über  die  Tagesordnung:  „Das  allgemeine  Wahlrecht  und  der 
Generalstreik".  Er  verwies  darauf,  daß  das  Parlament  bis  zum  Februar 
die  Wahlreform  verschoben  habe.  Da  müsse  man  den  Herrschaften  sagen, 
daß  „wir  mit  der  Fopperei  nicht  einverstanden  sind".  Wir  können  es  nicht 
beim  Reden  belassen,  sondern  müssen  uns  vorbereiten,  eventuell  ernstere 
schritte  zu  unternehmen.  Deshalb  hätte  eigentlich  der  zweite  Punkt  der 
Tagesordnung:  „Die  Organisation  der  Metallarbeiter"  der  erste  sein  sollen. 
Wer  den  Generalstreik  will,  muß  mithelfen,  daß  die  gewerkschaftliche 
Organisation   an   Stärke  gewinnt.   Dann  kam   Adler  zu   Wort. 


142  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


können,  bevor  wir  einen  Entschluß  fassen.  Der  Massenstreik  wird 
erst  angewendet  werden  können,  wenn  er  unbedingt  unausweichlich, 
und  wenn  die  Vorbedingungen  dazu  in  der  Arbeiterschaft  selbst 
vorhanden  sind,  und  wenn  sich  die  Arbeiter  auch  der  Provinz 
darüber  ausgesprochen  haben.  Ich  empfehle  Ihnen,  bereiten  Sie  den 
Generalstreik  vor,  indem  Sie  mithelfen  an  der  Organisation.  Wer 
den  Generalstreik  organisieren  will,  der  organisiere  politisch,  der 
organisiere  gewerkschaftlich.  Wir  haben  jetzt  einen  Kampf  nicht 
mehr  gegen  das  absolute  Nein,  sondern  einen  zähen,  ermüdenden 
Kampf  gegen  die  Verschleppung  zu  führen.  Wir  werden  aber  nicht 
ermüden,  und  wir  sind  entschlossen,  fortwährend  zu  agitieren  und 
zu  organisieren,  und,  wenn  es  nötig  ist,  auch  die  letzten  Mittel  an- 
zuwenden, alle  Mittel,  die  wir  haben.  Zähe  und  nüchtern  gehen  wir 
an  die  Arbeit,  an  die  Organisation  der  Arbeiterschaft,  die  nicht  nur 
die  Möglichkeit  des  Generalstreiks  bedeutet,  sondern  auch  die 
Sicherheit  der  Erringung  der  Ziele  der  Sozialdemokratie."  (Lebhafte 
Zustimmung.) 

Genosse  Dr.  Adler*)  freut  sich,  konstatieren  zu  können,  daß  auch 
Genosse  Hueber,  der  hier  als  Wortführer  der  Ungeduldigen  auf- 
getreten ist,  der  Parteivertretung  das  Zeugnis  ausstellt,  daß  es  ihre 
Pflicht  sei,  besonnen  zu  sein.  Wenn  es  auf  die  Ungeduld  allein  an- 
käme, so  kann  jeder  versichert  sein,  daß  die  Mitglieder  der  Partei- 
vertretung  zu  den  Ungeduldigsten  gehören.  Aber  sie  sind  durch  das 

*)  In  der  weiteren  Debatte  hatte  auch  Hueber  gesprochen,  der  unter 
anderem  sagte,  er  sei  einer  von  denen,  die  schneller  vorwärts  wollen.  Aber 
die  Parteivertretung  habe  recht,  wenn  sie  gut  überlegt,  welche  Mittel 
anzuwenden  sind  und  gute  Kampfmittel  empfiehlt,  zugleich  aber  dafür 
eintritt,  daß  besonnen  vorgegangen  werde.  Adler  habe  heute  ganz  richtig 
den  Standpunkt  gekennzeichnet.  Der  Massenstreik  soll  nicht  überhudelt 
werden,  er  soll  nicht  morgen,  auch  nicht  am  1.  Mai  gemacht  werden,  er 
wird  aber  mit  elementarer  Gewalt  ausbrechen,  wenn  es  notwendig 
sein  wird.  Ich  war  der  Ansicht,  daß  die  Parteileitung  abwiegelt.  Wir 
sehen  aber,  daß  sie  sich  nur  den  Verhältnissen  anpassen  will . . .  Nach 
meiner  Meinung  sollte  es  aber  doch  schneller  gehen  als  es  geht.  Die 
Erbitterung  in  den  Massen  ist  ganz  ungeheuer  und  es  geht  nicht  an,  alles 
vom  rein  politischen  Standpunkt  zu  betrachten.  Der  Parteivertretung  wäre 
nur  zu  empfehlen,  nicht  zu  lange  mit  der  Einberufung  des  Parteitages  zu 
warten.  Der  Parteitag  wird  auch  die  wirtschaftliche  Lage  berücksichtigen 
müssen;  man  kann  ein  guter  Politiker  sein  und  doch  die  Verhältnisse  in 
den  Organisationen  nicht  kennen. 

Es  gibt  Branchen,  wo  das  Elend  ungeheuer  ist.  Die  Perlmutterknopf- 
drechsler sind  in  einer  ganz  verzweifelten  Lage  und  alle  Besonnenheit 
und  Überlegung  hat  an  der  ungeheuren  Not  eine  Grenze.  Wenn  die  Herren 
im  Parlament  mit  uns  spielen  wollen,  dann  sagen  wir  ihnen:  Wir  werden 
den  Generalstreik  machen  und  ihn  durchführen.  (Stürmischer  Beifall.) 
. . .  Die  Leute  in  der  Parteivertretung  sind  überarbeitet  wie  die  Hunde 
und  können  auch  nicht  alles  sehen,  und  genau  wissen,  wie  es  in  manchen 
Schichten  der  Arbeiterschaft  aussieht.  Sie  mögen  die  Überzeugung  haben, 
je  rascher  sie  fortschreiten,  je  energischer  sie  sind,  desto  mehr  werden 
sie  die  gesamte  Arbeiterschaft  auf  ihrer  Seite  haben.  (Lebhafter  Beifall.) 

Dann  kam  wieder  Adler  zu  Wort. 


Massenstreik  und  Organisation.  14^ 


Vertrauen  der  Genossen  und  die  dadurch  auferlegten  Pflichten  in 

einer  ganz  anderen  Lage.  Es  ist  etwas  anderes,  ob  man  als  ein- 
zelner Genosse  in  einer  Versammlung  spricht,  oder  ob  mau  als 
Vertrauensmann  der  Partei  entscheidende  Beschlüsse  faßt.  Wir  sind 
der  Meinung,  daß  wir  dazu  gewählt  wurden,  um  zu  überlegen  und 

nur  nach  Überlegung  ZU  handeln.  Was  den  Parteitag  betrifft,  ist 
es  nicht  richtig,  daß  Genosse  Hueber  eine  Unterscheidung  macht 
zwischen  Politikern  und  Leuten,  die  in  der  Organisation  stehen.  Der 
Parteitag  ist  nur  aus  Genossen  zusammengesetzt,  welche  das  Ver- 
trauen der  Masse  der  Arbeiterschaft  dadurch  erworben  haben,  daß 
sie  in  den  Organisationen  am  tüchtigsten  und  fleißigsten  gearbeitet 
haben.  Die  Besorgnis  Huebers,  daß  der  Parteitag  etwa  zu  Ostern 
zu  spät  kommen  könnte,  ist  nicht  gerechtfertigt,  indem  die  Reichs- 
konferenz im  Oktober  die  Parteivertretung  beauftragt  hat,  wenn  es 
notwendig  würde,  den  Kongreß  auch  früher  einzuberufen,  was  er- 
forderlichenfalls auch  geschehen  werde*).  Zunächst  aber  muß  not- 
wendigerweise gewartet  werden,  welche  Vorschläge  die  Regierung 
machen  wird,  und  Feind  und  Freund  weiß,  daß  die  Arbeiterschaft 
die  entsprechende  Antwort  darauf  finden  wird.  Wenn  angeführt 
wurde,  daß  der  Generalstreik  auch  zur  Erringung  wirtschaftlicher 
Forderungen  eine  geeignete  Waffe  sei,  so  ist  zu  erwägen,  daß  die 
Durchsetzung  wirtschaftlicher  Forderungen  von  wesentlich  anderen 
Bedingungen  abhängt,  indem  in  erster  Linie  die  Konjunktur  eine 
Rolle  spielt.  Es  ist  kein  Zweifel,  daß  es  Branchen  gibt,  die  im 
größten  Elend  leben,  die  aber  gerade  deshalb  am  wenigsten  ent- 
scheidend für  einen  Massenstreik  sind.  Je  mehr  in  einem  Produk- 
tionszweig Arbeitslosigkeit  vorherrscht,  um  so  weniger  kann  ein 
Streik  Aussicht  auf  Erfolg  haben.  Die  Metallarbeiter  sind  nächst  den 
Gruben-  und  den  Nahrungsmittelarbeitern  diejenigen,  auf  welche  es 
beim  Massenstreik  am  meisten  ankommt.  In  allen  diesen  Organi- 
sationen aber  ist  noch  sehr  viel  für  die  Organisation  zu  leisten.  Je 
mehr  die  Metallarbeiter  die  kleine,  alltägliche  Arbeit  der  Organi- 
sation fördern,  wrelche  die  Grundlage  der  Macht  der  politischen 
Partei  ist,  um  so  mehr  nähern  wir  uns  dem  Ziele.  Alles,  was  wir  von 
der  Tribüne  aus  sprechen,  wären  leere  Worte,  wenn  nicht  hinter 
uns  eben  diese,  mit  unendlicher  Mühe  und  in  unscheinbarer,  un- 
bekannter, ruhmloser  Arbeit  aufgebaute  Organisation  stünde.  Die 
Vorredner  haben  Ihnen  geraten,  den  Generalstreik  vorzubereiten; 
tun  Sie  es,  indem  Sie  Ihre  Organisationen  kräftigen,  indem  Sie  die 
Metallarbeiterschaft  wieder  auf  jenen  Standpunkt  bringen,  wo  sie 
einst  stand,  daß  sie  die  Vorhut  und  die  bestgegliederte  und  festeste 
Organisation  der  Sozialdemokratie  ist.  Wenn  Sie  das  tun,  werden 
Sie  nicht  nur  den  Generalstreik  vorbereiten,  sondern  ihn  vielleicht 
überflüssig  machen.  Es  ist  genau  so  wie  beim  Fabrikstreik.  Ist  die 
Arbeiterschaft  einer  Fabrik  gut  organisiert,  dann  kommt  es  viel 
weniger  häufig  zum  Ausbruch  des  Streiks,  als  wenn  die  Organi- 
sation mangelhaft  ist  oder  fehlt.  Die  Unternehmer  wissen  auch  ohne 


*)  Der  Parteitag  fand  dann  vom  25.  bis  31.  März  1894  beim  Schwender 
statt. 


144  Vom  Taaffe  bis  Badeni. 


Streik,  daß  sie  mit  den  organisierten  Arbeitern  nicht  anbinden 
dürfen.  Die  Regierung  und  die  herrschenden  Parteien  fürchten  sich 
nicht  vor  unseren  Worten,  aber  sie  wissen,  daß  sie  Grund  haben, 
die  Tatsache  zu  berücksichtigen,  daß  eine  große  Organisation  hinter 
uns  steht,  schlagfertig  und  bereit.  Daß  diese  noch  weit  schlag- 
fertiger werde,  das  ist  die  Aufgabe,  die  Sie  zu  besorgen  haben,  mit 
oder  ohne  Massenstreik.  (Beifall.) 

Gewerkschaft  und  Wahlrecht. 

Erster  Gewerkschaftskongreß  189 3*). 

Ich  habe  hier  eine  Erklärung  der  Parteivertretung  bezüglich  der 
Blocks  abzugeben.  Es  wurde  darüber  gesprochen,  ob  die  poli- 
tische Partei  es  nicht  als  Nachteil  empfinden  würde,  wenn  auch 
die  Gewerkschaften  die  Blocks  einführen  würden.  Ich  erkläre 
Ihnen,  daß  wir  vollständig  damit  einverstanden  sind,  und  bitte  Sie 
nur.  wie  Genosse  Höger  ja  bemerkte,  sie  etwas  unterschiedlich  zu 
machen. 

In  zweiter  Linie  möchte  ich,  wie  Sie  ja  voraussetzen  werden, 
über  die  politische  Lage  sprechen,  wiewohl  ich  nicht  erfreut  bin 
darüber,  daß  man  hier  über  politische  Angelegenheiten  gesprochen 
hat.  (Richtig!)  Ich  meine,  daß  der  Gewerkschaftskongreß  sehr  viel 
zu  tun  hat,  um  die  Organisationen  zu  fördern.  Über  die  Frage,  ob 
das  Wahlrecht  ein  Recht  erster  Ordnung,  zweiter  Ordnung  oder 
dritter  Ordnung  sei,  gibt  es  keine  Debatte;  denn  wenn  das  in 
Zweifel  gezogen  würde,  wie  hätte  die  Arbeiterschaft  Österreichs 
den  Ruf  nach  dem  Wahlrecht  so  intensiv  erschallen  lassen  können. 
(Sehr  richtig!)  Und  sind  Sie  dessen  versichert,  sollte  die 
Regierung  oder  die  herrschenden  Klassen  das 
Wahlrecht     hintanhalten     wollen,     die    Arbeiter- 


*)  Auf  dem  ersten  Gewerkschaftskongreß,  der  zu  Weihnachten  1893 
stattfand,  und  der  sich  vornehmlich  mit  der  Organisation  befaßte,  hatte 
Ferdinand  S  k  a  r  e  t  das  Referat  über  „Streiks  und  Boykotts".  Er  schlug 
namens  der  Gewerkschaftskommission  die  Einführung  des  Blocksystems 
vor,  durch  das  es  möglich  wäre,  einen  Teil  der  Unterstützungen  auf  die 
Schultern  der  Nichtorganisierten  zu  laden.  Eine  Rede  und  ein  Antrag 
Huebers  brachten  dann  die  Frage  des  Generalstreiks  in  den  Mittelpunkt 
der  Debatte.  Hueber  und  Kofinek  stellten  nämlich  folgenden  Antrag: 

Der  Gewerkschaftskongreß  erklärt,  für  einen  Generalstreik  mit  den 
Forderungen  1.  allgemeines,  gleiches  und  direktes  Wahlrecht  und  2.  Ver- 
kürzung der  Arbeitszeit  auf  täglich  acht  Stunden  einzutreten. 

Es  entspann  sich  nun  eine  aufgeregte  Debatte  darüber,  welche  von 
beiden  Forderungen  in  den  Mittelpunkt  des  Kampfes  zu  stellen  wäre. 
In  der  Debatte  sprach  auch  Adler.  Der  Gewerkschaftskongreß  beschloß 
schließlich,  die  Angelegenheit  des  Generalstreiks  dem  Parteitag  zuzuweisen. 

Über  den  Gewerkschaftskongreß  selbst,  sowie  über  die  Rede,  die 
Dr.  Adler  dort  über  das  Verhältnis  von  Sozialdemokratie  und  Gewerkschaft 
hielt,  siehe  diese  Rede  im  siebenten  Band  dieser  Sammlung  (Bd.  VII, 
Seite  169  f.). 


Gewerkschaft  und  Wahlrecht.  145 

schaft  Österreichs  würde  die  A  ii  t  \v  ort  dar  a  u  I 
geben,  so  oder  so.  (Beifall.)  Diese  feine  Spintisiererei,  ob  das 
Wahlrecht   zuerst   und   dann   die   ökonomische    Verbesserung   und 

wann  der  Achtstundentag  usw.  kommen  soll,  ja  Genossen,  das 
kann  man  sich  zu  Mause  schön  ausmalen,  in  der  lebendigen  Wirk- 
lichkeit aber  ist  politische  Knechtschaft  und  ö  k  o  n  o- 
mische  Ausbeutung  dasselbe,  und  jeder  politische 
Schritt  nach  vorwärts  bringt  uns  auch  ökonomisch  vorwärts.  Sie 
Gewerkschafter  wissen  es  am  besten,  was  die  Gewerkschafts- 
bewegung aufhält.  Das  ist,  daß  wir  keine  politischen  Rechte  haben, 
daß  jede  Bezirkshauptmannschaft  im  Ort  die  Gewerkschafts- 
bewegung unmöglich  machen  kann,  und  wenn  man  ihnen  das 
Handwerk  legen  will,  so  kann  dies  nur  durch  die  politische  Be- 
wegung geschehen.  Wenn  man  im  Parlament  selbst  alles  dies  zur 
Sprache  bringen  kann,  so  ist  dies  nicht  nur  eine  politische,  sondern 
auch  eine  ökonomische  Angelegenheit.  Niemand  war  im  Parlament, 
der  die  Bruderladenfrage  in  geeigneter  Weise  zur  Sprache  gebracht 
hätte.  Wenn  die  Bergarbeiter  im  Parlament  vertreten  wären, 
wäre  das  anders  geworden.  Ist  das  nicht  ökonomisch?  Ich  frage 
die  Bergarbeiter,  ist  es  so  oder  nicht?  (Sehr  richtig!)  Über  diese 
Frage,  glaube  ich,  reden  wir  nicht  weiter.  Die  Frage,  ob  es  not- 
wendig sein  wird,  eine  revolutionäre  Massenbewe- 
gung für  das  Wahlrecht  zu  inszenieren,  wird  nicht  am  grünen 
Beratungstisch  ausgemacht  werden,  das  werden  die  Massen  selbst 
sich  ausmachen,  da  nützt  kein  Beschluß  für  und  wider. 

Aber  eines  muß  ich  noch  sagen.  Ich  möchte  nicht,  daß  eine 
Äußerung  unbeantwortet  bleibt.  Lesen  Sie  die  Bourgeoisblätter  von 
früh  und  nachmittags,  hauptsächlich  die  liberalen.  Die  suchen  nicht 
allein  das,  was  hier  gesprochen  wird,  sondern  den  Gewerkschafts- 
kongreß an  sich  auszubeuten.  Das  eine  oder  das  andere  unklare 
Wort,  das  der  eine  oder  der  andere  Genosse  gesprochen,  die  sind 
sehr  geeignet,  dieser  liberalen  Presse  als  Mittel  gegen  uns  zu 
dienen.  Der  Gewerkschaftskongreß  hat  nicht  die  Aufgabe,  Material 
zu  liefern  für  diejenigen,  die  den  politischen  Fortschritt  des  Prole- 
tariats aufhalten  wollen.  (Beifall.)  Das  wollte  ich  konstatiert  haben. 

Es  wurde  hier  ausgesprochen  vom  Genossen  H  ö  g  e  r,  daß  das 
allgemeine  Wahlrecht  für  die  Bourgeoisie  von  Vorteil  ist.  Ich 
möchte  nur  wünschen,  daß  er  zu  den  Bourgeois  geht  und  ihnen 
dies  plausibel  macht  und  ihnen  auseinandersetzt,  was  für  Vorteile 
es  ihnen  bietet.  Genosse  Höger  sagt,  durch  das  allgemeine  Wahl- 
recht werde  der  Erbitterung  des  Proletariats  ein  Ausweg  ver- 
schafft. Ja,  wenn  jemand  geknebelt  ist,  wird  er  weniger  gefährlich, 
wenn  ich  ihm  den  Knebel  aus  dem  Mund  nehme?  Ich  meine,  daß 
dies  eine  vollständig  neue  Ansicht  ist,  eine  Ansicht,  von  der  ich 
überzeugt  bin,  daß  Genosse  Höger  die  Tragweite  derselben  nicht 
überlegt  hat.  Wenn  er  die  so  gewaltige  geschichtliche  Bewegung 
für  das  Wahlrecht,  in  welcher  das  österreichische  Proletariat  nun 
seit  längerem  steht  und  die  jetzt  ihren  Höhepunkt  erreicht  hat, 
wenn  er  die  damit  abspeist,  daß  er  sagt,  das  allgemeine  Wahlrecht 
sei   für  die  Besitzenden  gut,  dann  kann  ich  sagen,  daß  Genosse 

Adler,  Briefe.  X.  Bd.  10 


146  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


Höger  Worte  fallen  gelassen  hat,  die  er  nicht  überlegte,  die  nicht 
so  gemeint  waren  und  woran  wir  ihn  nicht  festhalten  wollen.  Er 
weiß  gerade  so  wie  wir,  daß  politische  Rechte  notwendig  sind  für 
das  wirtschaftliche  Recht,  daß  der  Achtstundentag  nicht  eine 
Minute  früher  als  das  allgemeine  Wahlrecht  kommt. 

Die  Debatte  hat  gezeigt,  daß  ein  Widerspruch  zwischen  ge- 
werkschaftlicher und  politischer  Bewegung  nicht  besteht;  dieser 
Widerspruch  besteht  nicht  und  der  ihn  sucht  oder  will,  der  ist  ein 
Feind  der  gesamten  Bewegung;  denn  es  gibt  nur  eine  Bewegung, 
nur  eine  Arbeiterbewegung,  und  wer  einen  solchen  Widerspruch 
hineintragen  will,  ist  ein  Feind  der  gesamten  Arbeiterbewegung. 
(Beifall  und  Händeklatschen.) 

Die    Erklärung    der   Koalitionsregierung. 

Versammlung  im  Sofiensaal,  3.  Dezember   18  94*). 

Was  wir  beiläufig  vor  einem  Monat  gefordert  haben,  daß 
nämlich  ein  Wahlrechtsausschuß  mit  der  Wahlreformfrage  sich  be- 
fassen solle,  ist  nun  geschehen.  Die  Regierung  habe  sich  also  doch 

*)  Hier  einige  Daten  über  den  Wahlrechtskampf  im  letzten  Jahre:  Am 
23.  November  1893  hatte  sich  nach  dem  Sturz  Taaffes  die  Regierung 
Windischgrätz  dem  Parlament  als  die  Regierung  der  „Offenheit  und 
Wahrheit"  vorgestellt.  Aber  dieses  Programm  bewies  sie  damit,  daß  sie 
die  versprochene  Wahlreform  zu  verschleppen  suchte.  Am  21.  Februar  1894 
demonstrierten  die  Arbeiter  für  das  allgemeine  Wahlrecht.  Aber  erst  am 
26.  Februar  1894  teilte  die  Regierung  den  Klubobmännern  streng  vertraulich 
ihr  Wahlreformprojekt  mit:  es  sollte  im  Wesen  eine  neue  Kurie  mit  43  Man- 
daten für  die  Krankenkassenmitglieder,  Steuerzahler  und  Absolventen 
einer  Mittelschule  sein.  Am  7.  März  wurden  diese  „Grundsätze"  auch  öffent- 
lich den  koalierten  Parteien  erläutert.  Am  17.  April  begann  der  Wahlreform- 
ausschuß seine  Arbeiten.  Am  19.  April  beantragte  der  Jungtscheche  Doktor 
Brzorad,  dem  Ausschuß  eine  Frist  zur  Berichterstattung  zu  setzen.  Der 
Antrag  wurde  abgelehnt.  Am  17.  Mai  warnte  der  Ackerbauminister  Graf 
Falkenhayn  in  der  Budgetdebatte  vor  der  Agitation  für  das  allgemeine 
Wahlrecht  und  den  Achtstundentag.  Es  gebe  überhaupt  keine  Panazee,  mit 
der  man  den  Leuten  das  Glück  bringen  kann.  Dieses  Glück  bringe  nur  die 
Rückkehr  zu  Gott.  Nachdem  der  Reichsrat  im  Juni  ergebnislos  aus- 
einandergegangen war,  beschloß  die  Partei  in  einer  Ende  Juli  abgehaltenen 
Konferenz,  die  Agitation  im  Sommer  und  Herbst  zu  steigern.  Versammlungen 
im  ganzen  Reiche,  Flugschriftenverteilungen,  Massenspaziergänge  und 
Straßendemonstrationen  in  Wien  und  in  allen  größeren  Orten  folgten.  Am 
12.  August  fand  im  Prater  eine  Massenversammlung  statt,  eine  zweite  am 
30.  September.  Am  16.  Oktober  trat  der  Reichsrat  zusammen  und  P  e  r  n  e  r- 
s  t  o  r  f  e  r  beantragte,  sofort  den  Wahlreformausschuß  zu  beauftragen, 
innerhalb  vier  Wochen  dem  Hause  Bericht  zu  erstatten.  Am  18.  Oktober 
kam  es  nach  der  Riesenversammlung  im  Sofiensaal  zu  schweren  Zu- 
sammenstößen zwischen  der  Polizei  und  den  demonstrierenden 
Massen,  wobei  auch  zahlreiche  Demonstranten  verwundet 
wurden.  Am  nächsten  Tag  kam  der  Antrag  Pernerstorfer  zur  Verhandlung 
und  dabei  brachte  Pernerstorfer  auch  den  brutalen  Überfall  der  Polizei  auf 
die  von  der  Versammlung  heimziehenden  Arbeiter  zur  Sprache.  Der 
Ministerpräsident  Fürst  Windischgrätz  wußte  darauf  keine  Antwort, 


Der  gegenwärtige  stand  der  Wahlreform.  147 

den  Argumenten  von  der  Straße,  denen  sie  am  \{).  Oktober  so  feier- 
lich Trotz  geboten,  beugen  müssen.  Bis  heute  habe  sie  Beratungen 
und  Konventikel  mit  den  Vertrauensmännern  der  Parteien  ge- 
pflogen, um  zum  Schluß  zu  gelangen,  daß  sie  unfähig  zur  Initiative 
sei.  Auch  der  Ausschuß  werde  nicht  in  der  Lage  sein,  etwas  Posi- 
tives zu  schaffen,  denn  die  Parteien  gehen  von  Gesichtspunkten  aus, 
die  dem  beschränktesten  Parteiegoismus  entspringen.  Die  Konser- 
vativen wollen  die  Wahlreform  g  e  g  c  n  die  Liberalen  machen, 
diese  hingegen  wünschen  den  Konservativen  Abbruch  zu  tun. 
Wir  aber  sagen:  Die  Wahlreform  muß  gegen  die  herrschen- 
den Parteien  überhaupt  gemacht  werden;  sie  muß  auf- 
gezwungen werden,  wenn  nicht  von  oben,  so  von  unten!  Die  Ant- 
wort, welche  die  Sozialdemokratie  auf  die  Erklärung  des  Fürsten 
Windischgrätz  geben  müsse,  könne  nicht  anders  lauten  als:  Du, 
Regierung,  du  hast  deine  Aufgabe,  eine  Wahlreform  durchzuführen, 
nicht  erfüllt!  Du  hast  selbst  eingestanden,  daß  du  unfähig 
dazu  bist,  du  hast  also  einfach  abzutreten.  —  Und  dem 
Parlament  müsse  man  zurufen:  „Du,  unfähiges  Parlament,  du  mußt 
verschwinden!"  Diese  Worte  riefen  einen  dröhnenden  Beifallssturm 
hervor. 

Der  gegenwärtige  Stand  der  Wahlreform. 

Schwender-Versammlung,  14.  Dezember  189 4*). 

Wir  haben  nie  einen  raschen  Verlauf  der  Wahlreform,  auch  nie 
ein  vernünftiges  Resultat  erwartet,  aber  einen  solchen  Grad  von 

als  daß  die  Regierung  „der  Argumente  von  der  Straße  nicht 
b  e  d  ü  r  f  e". 

Wie  man  aus  den  von  Brügel  veröffentlichten  Protokollen  weiß  (Brügel 
„Geschichte  der  österreichischen  Sozialdemokratie",  Bd.  IV,  Seite  250),  hat 
Kaiser  Franz  Josef  dem  Ministerpräsidenten  am  21.  Oktober  1894  von 
Budapest  aus   folgende   Zustimmungsdepesche  geschickt: 

Ich  bin  mit  den  mittels  „Wiener  Abendpost"  vorgelegten  Minister- 
reden einverstanden.  Sosehr  ich  die  entschlossene  Inangriffnahme 
und  Fortsetzung  der  Wahlgesetzfragen  notwendig  erachte,  ebensosehr 
empfehle  ich,  daß  mit  unnachsichtlicher  Strenge  und  mit 
mehr  Erfolg  den  Straßendemonstrationen  entgegen- 
getreten werde.  Der  Anschein  einer  Pression  und  der 
Angst  vor  einer  solchen  muß  absolut  vermieden 
werden. 

Aber  am  27.  November  mußte  die  Regierung  doch,  den  Argumenten  der 
Straße  folgend,  dem  Ausschuß  die  Aufgabe  übertragen,  selbst  einen  Entwurf 
auszuarbeiten.  Es  war  also  jetzt  Sache  des  Parlaments,  zu  zeigen,  was  es 
tun  wolle. 

Der  Ausschuß  wählte  ein  S  u  b  k  o  m  i  t  e  e,  das  geheim  beriet  und  erst 
im  Mai   1895  Bericht  erstattete. 

Am  3.  Dezember  fand  nun  im  Sofiensaal  eine  Massenversammlung  statt, 
die  sich  mit  der  Erklärung  der  Regierung  beschäftigte.  Ober  die  Rede 
Adlers  liegt  nur  dieser  unzureichende  Bericht  vor. 

*)  Im  Wahlreformausschuß  hatte  der  Ministerpräsident  neuerlich  erklärt, 
daß  die  Regierung  keinem  Vorschlag  zustimmen  werde,  der  in  irgendeiner 

10* 


148  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


borniertem  Parteiegoismus  und  einen  solchen  Grad  von  Dummheit 
hätten  wir  der  Koalition  doch  nie  zugetraut.  Das  Resultat  der  lang- 
wierigen Beratungen  der  Regierung,  der  Vertrauensmänner  der 
Parteien,  des  Ausschusses  ist  gleich  Null,  nur  über  das  eine  sind 
sich  alle  klar,  daß  der  einzig  vernünftige  Ausweg,  die 
Dekretierung  des  allgemeinen  Wahlrechtes,  nicht  einzu- 
schlagen sei.  Aber  von  einer  Verschleppung  der  Wahlreform 
kann  heute  nicht  mehr  die  Rede  sein.  Denn  mit  derselben  Sicher- 
heit, mit  der  sie  vor  einem  Jahre  geglaubt,  daß  die  Massen  recht- 
los bleiben  müssen,  mit  derselben  Sicherheit  wissen  sie  heute,  daß 
dieser  Zustand  sich  nicht  aufrechterhalten  läßt.  Die  Wahlreform  ist 
es  daher  nicht  mehr,  die  sie  verschleppen  wollen,  sondern  das  Ein- 
geständnis ihrer  Impotenz,  die  Offenbarung  ihres  politischen  Ban- 
krotts. Ihr  Schlagwort  von  der  „Erhaltung  des  Besitzstandes"  kenn- 
zeichnet so  recht,  wie  tief  die  Parteien  gesunken  sind.  Es  gibt  nichts 
Gemeineres  als  dieses  krampfhafte  Anklammern  an  das  Erbeutete, 
sowohl  in  der  politischen  wie  in  der  ökonomischen  Welt;  es  gibt 
nichts  Gemeineres  deshalb,  weil  sie  nichts  besitzen,  was  sie  nicht 
geraubt  hätten.  Redner  schildert  nun  die  Einsetzung  des  Sub- 
komitees  und  die  letzten  Vorgänge  im  Ausschuß.  Schwarzenberg 
habe  dem  Grafen  Taaffe  vorgeworfen,  daß  er  aus  Ängstlichkeit  die 
Wahlreformfrage  zu  früh  und  ohne  Not  aufgerollt  hätte.  So  dumm 
und  feig,  hinter  den  Kanonen  hervor,  könne  nur  ein  Junker 
sprechen.  All  dem  gegenüber  könne  die  Arbeiterschaft  gelassen  und 
ruhig  mit  verschränkten  Armen  dastehen,  denn  binnen  kurzem 
müßten  die  Herren  sich  zu  Ende  blamiert  haben  und  gezwungen 

sein,  abzutreten. 

* 

Zum  Schluß*)  ergriff  Dr.  Adler  noch  einmal  das  Wort.  Er 
wandte  sich  zuerst  gegen  die  Ausführungen  des  Genossen,  welcher 
ein  Zusammengehen  mit  den  Jungtschechen  befürwortet  hatte.  Aller- 
dings widerspreche  es  den  Prinzipien  unserer  Partei  nicht,  mit  einer 
anderen  Partei  gegebenenfalls  ein  Stück  Weges  zusammen  zu 
gehen.  Die  Jungtschechen  seien  aus  der  Schlachtlinie  zurück- 
gewichen. Sollten  wir  zu  ihnen  zurückgehen?  Dazu  haben  wir  keinen 
Anlaß.  Sollten  sie  uns  nachkommen  und  in  die  Reihe  neben  uns 

Weise  auf  dem  allgemeinen,  gleichen  Wahlrecht  fuße.  Nur  eine  solche 
Reform  werde  ihre  Zustimmung  finden,  der  alle  Parteien  der  Koalition  zu- 
stimmen. Darüber  gab  es  nun  eine  lange  Debatte,  in  der  der  Prinz  Karl 
Schwarzenberg  mit  einem  neuen  Entwurf  kam,  der  aber  von  allen 
Parteien  abgelehnt  wurde. 

Am  14.  Dezember  fand  eine  neuerliche  Versammlung  beim  Schwender 
statt,  in  der  Adler  sprach. 

*)  Nach  Adler  hatten  noch  einige  Redner  gesprochen,  unter  anderen 
Reu  mann,  der  meinte,  so  viele  Leute  bei  der  Demonstration  auf  der 
Feuerwerkswiese  im  Prater  auch  waren,  so  habe  sich  doch  gezeigt,  daß  das 
für  einen  wirklichen  Kampf  zu  wenig  seien  und  daß  die  Massen  doch 
fehlten;  dann  ein  Redner,  der  anschließend  daran  ein  Zusammengehen  mit 
den  Jungtschechen  zum  Zwecke  der  Erringung  des  allgemeinen  Wahl- 
rechtes verlangte.  Ihnen  antwortete  Adler. 


Vier  Vorschläge.  149 


treten,  es  würde  uns  zwar  freuen,  aber  wundern.  Das  werde  jedoch 
kaum  geschehen,  denn  im  entscheidenden  Moment  habe  sich  sowohl 
die  jungtschechische  als  auch  die  christlichsoziale  Partei  geduckt. 

Das  Proletariat  sei  auf  sich  selbst  angewiesen  und  werde  allein  zu 
Siegen  wissen.  Reumann  habe  recht,  davor  ZU  warnen,  daß  wir 
unsere  Kraft  überschätzen,  aber  alle  bürgerlichen  Parteien  würden 
sich  glücklich  preisen,  wenn  sie  es  uns  gleichtun  könnten.  Wir  sind 
aber  so  anspruchsvoll  und  nicht  eher  befriedigt,  bis  der  letzte  Mann 
des  Proletariats  in  unseren  Reihen  steht.  Übrigens  sei  sich  die 
Parteileitung  der  Größe  ihrer  Verantwortung  voll  bewußt,  und  zwar 
nicht  nur  der  Verantwortung  im  Falle  einer  unzeitigen  Aktion, 
sondern  auch  der  Verantwortung  im  falle  der  unzeitigen  Unter- 
lassung einer  solchen.  Wenn  es  die  Verhältnisse  erfordern  werden, 
dann  werden  wir  zu  allem  entschlossen  sein. 

Vier  Vorschläge. 

Zehn  Versammlungen,  10.  Februar  189 5*). 

Die  Notwendigkeit  einer  Wahlreform  werde  heute  von  jeder- 
mann anerkannt.  Man  spricht  dies  sogar  öffentlich  aus,  ohne  sich 
aber  einen  Begriff  davon  zu  machen,  sonst  würde  man  nicht  die 
Wahlrechtsfrage  durch  Schaffung  einer  fünften  Kurie  lösen  wollen. 
Die  Liberalen  wünschen,  daß  in  diese  Kurie  die  Fünfguldenmänner 
hineinkommen,  die  Klerikalen,  die  von  den  Antisemiten  vorwärts 
getrieben  werden,  versuchen,  die  direkten  Steuerzahler  in  die  zwei 
bestellenden  Wählerkurien  hineinzubringen.  Der  dritte  Plan,  der 
die  Schaffung  von  Arbeiterkammern  bezweckt,  auf  deren  Umweg 
die  Arbeiter  indirekt  ins  Parlament  wählen  sollten,  ist  nicht  der  Er- 
örterung wert.  Jedermann  weiß,  daß  sich  die  Arbeiterschaft  ein 
solches  Wahlrecht  nicht  bieten  lassen  wird.  Der  vierte  Vorschlag 
ist  eine  Kurie  des  allgemeinen  Wahlrechtes,  in  welche  diejenigen 
wählen,  die  jetzt  kein  Wahlrecht  haben,  und  jene,  die  als  Bürger, 
Großgrundbesitzer,  Handelskammerräte  wählen,  und  die  dadurch 
ein  zweites-  und  drittesmal  wählen  können. 

Es  gibt  keine  größere  Anmaßung  als  diesen  Antrag,  und  doch 
sage  ich,  eine  Kurie,  in  der  wir  mit  diesen  Herren  in  den  Kampf 
kommen,  und  wenn  wir  kein  einziges  Mandat  dabei  erringen,  ist 
mir  lieber  als  eine  Kurie,  in  der  Arbeiter  allein  sind  und  zwanzig 
Mandate  sicher  haben.  (Lebhafter  Beifall.)  Für  die  politische  Bildung 
des  Volkes,  für  unsere  Agitation  ist  ein  Kampf  notwendig,  nicht 
ein  Privileg.  (Sehr  richtig!)  So  niederträchtig  egoistisch  dieser 

*)  Das  Subkomitcc  des  Wahlreformausschusses  tagte  noch  immer  als 
ein  geheimes  Konventikel  von  zehn  Vertretern  der  Regierungsparteien.  Ver- 
gebens verlangte  die  gesamte  Opposition,  daß  die  Mitglieder  des  Aus- 
schusses den  Sitzungen  des  Subkomitecs  beiwohnen  durften.  Inzwischen 
hatten  vier  Vorschläge  sich  allmählich  in  den  Vordergrund  gedrängt.  Da 
nahm  die  Wiener  Sozialdemokratie  am  10.  Februar  1895  wieder  mit  zehn 
Volksversammlungen  den  Kampf  auf.  In  Schwenders  Florasaal  sprach 
Adler. 


150  Von  Taaffe  bis  Backm. 


Plan  ist,  so  wie  er  das  Finbekenntnis  der  krassesten  politischen 
Selbstsucht  ist,  unter  allen  schlechten  Wahlreformen  ist  er  der- 
jenige, welcher  am  wenigsten  verrückt  und  am  wenig- 
sten unmöglich  ist.  Aber  gerade  darum  wird  dieser  Plan 
kaum  durchdringen,  denn  die  Herren  fürchten  nicht  nur  um  ihre 
Mandate,  sondern  sie  fürchten  auch  das  politische  Leben  an  sich. 

Der  Wahlreformausschuß  war  unfähig,  etwas  zu  arbeiten;  es 
wurde  nicht  diskutiert,  es  wurden  Monologe  gehalten.  Die  Leute 
beschlossen  daher,  ihre  Tätigkeit  an  einen  Ort  zu  verlegen,  wo  man 
sie  nicht  kontrollieren  kann.  Sie  wählen  ein  Subkomitee,  dessen 
erste  Handlung  ist,  daß  es  sich  für  geheim  erklärt,  dem  kein  Auf- 
trag gegeben  wurde,  welches  freie  Hand  hat,  das  heißt  leere  Köpfe, 
und  mit  seiner  Qeheimerklärung  endet  die  letzte  Sitzung. 

Wenn  wir  nun  an  das  Parlament  herantreten  und  fragen:  Was 
hast  du  getan?  (Vielstimmige  Rufe:  Nichts!  Nichts!)  und  an  die 
Regierung:  Was  hast  du  getan?  (Nichts!  Nichts!)  Ja,  Genossen,  Sie 
sagen  die  Wahrheit,  aber  das  Parlament  wird  sagen,  wir  haben  alles 
getan,  wir  haben  die  Besprechungen  der  Vertrauensmänner  ge- 
halten, wir  haben  einen  Wahlreformausschuß  gewählt  und  ein  Sub- 
komitee, das  wird  es  schon  machen.  Gewiß  werden  sie  etwas 
machen,  nicht  aber,  weil  s  i  e  es  wollen,  sondern  weil  w  i  r  es  wollen 
und  wann  wir  es  wollen.  Wenn  die  Arbeiterschaft  sich  auf  die 
Regierung,  auf  das  Parlament  verläßt,  dann  wird  nicht  nur  der 
Sommer,  sondern  auch  Herbst  und  Winter  vergehen,  und  sie 
würden  noch  immer  in  den  Dunkelkammern  des  Subkomitees  sitzen 
und  sich  die  angeblichen  Köpfe  zerbrechen.  Wir  müssen  in  unserer 
Agitation  sehr  fest  und  energisch,  aber  sehr  ruhig  und  vorsichtig 
vorgehen.  Wir  haben  sie  aus  einem  Schlupfwinkel  in  den  anderen 
gejagt.  Jetzt  sind  sie  in  der  Sackgasse,  aus  der  sie  nicht  mehr 
herauskönnen.  Wir  haben  die  Regierug  sich  blamieren  lassen,  wir 
haben  den  Ausschuß  sich  blamieren  lassen,  und  jetzt,  Genossen,  muß 
unsere  Politik  darauf  gerichtet  sein,  daß  auch  das  Subkomitee 
zu  Ende  sich  blamiere.  Wenn  die  Herren  glauben,  daß  sie 
die  Arbeiterschaft  werden  foppen  können,  so  irren  sie  sich.  D  i  e 
Arbeiterschaft  ist  nicht  gesonnen,  die  allge- 
meinen Wahlen  nochmals  anzusehen  und  dabei- 
zustehen. In  einigen  Wochen  findet  im  III.  Bezirk  eine  Nach- 
wahl statt.  Von  hundert  volljährigen  Männern,  die  wahlberechtigt 
wären,  sind  noch  nicht  dreißig  an  die  Urne  berufen.  Wir  werden 
dafür  sorgen,  daß  die  übrigen  siebzig  wissen,  daß  sie  eigentlich  auch 
wahlberechtigt  sind.  Heute  würden  Neuwahlen  nach  dem  alten 
System  von  jedem  einzelnen  als  ein  Faustschlag  gegen  seine  Person 
empfunden  werden,  und  wir  werden  diesen  Faustschlag  nicht  ruhig 
einstecken.  Die  Koalition  hat  sich  das  Verdienst  verschafft,  daß  den 
Arbeitern  die  Binden  von  den  Augen  gefallen  sind.  Die  „liberale" 
Lüge  haben  wir  abwirtschaften  sehen  und  abgewirtschaftet  hat  die 
„christliche"  Lüge,  die  „nationale"  Lüge.  Aber  nicht  nur  in  der 
Arbeiterschaft  ist  diese  Erkenntnis  eingezogen,  sondern  auch  in 
vielen  Kreisen  des  Kleinbauerntums  und  Kleinbürgertums.  Jeder 
Ehrliche  muß  sich  sagen,  wenn  die  Sozialdemokraten  auch  nicht 


Die  Koalitionssoiree.  '51 


recht  haben,  die  anderen  haben  auf  jeden  Fall  unrecht.  Dieses  Ge- 
fühl verbreitet  sich  in  weiten  Schichten,  heute  mehr  als  je.  Wir  sind 
tuif  dem  Platze  und  sind  auf  jede  Eventualität,  auf  jeden  Zufall  ge- 
faßt. Wir  verstehen,  ruhig  abzuwarten,  aber  wir  verstehen  auch 
anzugreifen,  wenn  man  nicht  verstehen  will.  Das  ist  die  Situation. 
Die  Arbeiterschaft  braucht  das  Wahlrecht,  und  koste  es,  was  es 
wolle.  Wir  haben  nicht  seinen  Preis  zu  bestimmen,  das  hängt  von 
den  Gegnern  ab,  aber  kein  Preis  wird  uns  zu  hoch  sein.  In  diesem 
Sinne  fordere  ich  Sie  auf,  einzustimmen  in  ein  dreimaliges  Hoch  auf 
das  allgemeine  Wahlrecht!  (Anhaltende  stürmische  Hochrufe.) 


Die  Koalitionssoiree. 

Zwölf  Versammlungen  am  19.  Februar  189 5*). 

Wir  haben  die  heutigen  Versammlungen  einberufen,  um  den 
Reichsrat,  der  wieder  seine  „Arbeit  aufgenommen"  hat,  und  die 
Koalition  der  Volksfeinde  zu  begrüßen.  Die  Soiree  der  Regierung 
ist  zwar  abgesagt  worden,  aber  wir  haben  keinen  Grund,  deshalb 
auch  unsere  Versammlungen  abzusagen.  (Beifall.)  Die  ganze  Arbeit 
der  Regierung  wird  darin  bestehen,  sich  am  Leben  zu  erhalten. 
Das  Subkomitee,  so  heiße  es,  werde  noch  diese  Woche  eine  Sitzung 
abhalten,  und  warte  nur  noch  auf  statistisches  Material,  das  die 
Regierung  zur  Verfügung  stellen  solle.  Was  können  sie  aber  aus 
den  Ziffern  lernen,  was  die  Arbeiterschaft  nicht  schon  längst  wisse, 
nämlich  wie  groß  das  Wahlunrecht  in  Österreich  sei.  Das  sei 
ihnen  aber  schon  allen  klar,  daß  eine  Wahlreform  noch  vor  den 
Neuwahlen  ins  Werk  gesetzt  werden  müsse,  das  wissen  sie,  daß 
es  nicht  mehr  möglich  sei,  an  den  Wahltagen  noch  einmal  das 
Unrecht   unseres   Wahlsystems    greifbar   den   Massen   deutlich   zu 


*)  Dienstag  den  19.  Februar  1895  fanden  in  Wien  zwölf  Volksver- 
sammlungen statt,  die  am  14.  Februar  mit  folgendem  Aufruf  angekündigt 
waren: 

Dienstag  den  19.  Februar  vormittags  wird  der  Reichrat  wieder  er- 
öffnet, jener  Reichsrat,  der  die  Wahlreform  seit  sechzehn  Monaten 
verschleppt. 

Am  Abend  desselben  Tages  versammelt  der  Ministerpräsident  die 
Mitglieder  der  reaktionären  Koalition  zu  einer  „Soiree";  geladen  sind 
alle  Stützen  jener  Koalition,  die  mit  aller  Gewalt  und  mit  allen 
Künsten  des  raffiniertesten  Parlamentarismus  sich  dem  allgemeinen 
Wahlrecht  widersetzt. 

Parteigenossen  und  -genossinnen!  Auch  wir  wollen  an  jenem  Diens- 
tag „Soireen"  geben.  Zu  derselben  Zeit,  wo  die  Bevorrechteten 
und  Privilegierten  in  ihren  Prachträumen  gedankenlos  Feste 
feiern,  wollen  wir,  die  Rechtlosen,  bekunden,  daß  wir  nicht  vergessen, 
was  unsere  Pflicht  ist,  unser  Recht  durchzusetzen. 

Die  Tagesordnung  der  Versammlungen  lautete:  „Die  Koalitions- 
soiree und  die  Wahlreform."  In  der  Versammlung  beim  „Golde- 
nen Widder"  in  der  Taborstraße  sprach  Adler. 


152  Von  Taaffe  bis  Badcni. 


machen.  Redner  übt  nun  scharfe  Kritik  an  der  bisherigen  Tätigkeit 
der  Koalition.  Alle  Kreise  der  schaffenden  Bevölkerung  seien  mit 
dieser  reaktionären  Verbindung  unzufrieden;  selbst  in  der  niederen 
Geistlichkeit  beginne  sich  eine  Art  Auflehnung  gegen  die  Autorität 
bemerkbar  zu  machen.  Die  Wahlreform  habe  die  Regierung  zu 
ihrer  „ersten  und  dringendsten  Aufgabe"  gemacht,  und  heute  stehe 
sie  ihr  gerade  so  ratlos  gegenüber  wie  vor  anderthalb  Jahren.  Mit 
keinem  der  Vorschläge  könne  die  Arbeiterschaft  einverstanden  sein, 
am  allerwenigsten  mit  den  Arbeiterkammern.  Denn  obwohl  ihr  da 
die  Mandate  sicher  seien,  würde  sie  sich  eher  noch  für  die  Kurie 
des  allgemeinen  Wahlrechtes  entscheiden,  weil  sie  den  Kampf  nicht 
scheut,  den  die  anderen  fürchten,  weil  die  Agitation  das  Element 
der  Sozialdemokratie  ist.  Die  Sozialdemokratie  stehe  in  diesem 
Kampfe  um  das  Wahlrecht  ganz  allein,  und  das  rechtlose  Volk 
blicke  auf  sie.  Denn  auch  die  Jungtschechen  und  Antisemiten  seien 
fahnenflüchtig  geworden,  auch  sie  seien  um  ihre  Mandate  und  um 
engherzige  Klassenprivilegien  besorgt.  Die  Sozialdemokratie  aber 
werde  ausharren,  sie  wird  nicht  aufhören,  den  Ruf  ertönen  zu 
lassen:  Heraus  mit  dem  Wahlrecht!  (Andauernder  Beifall.) 

Die  Bilanz  der  Koalition. 

Versammlung  am  2  4.  Juni  189 5*). 

Die  einzige  Partei,  die  es  wagt,  die  Bilanz  der  Koalitionsära  zu 
ziehen,  ist  die  Sozialdemokratie,  denn  die  anderen  Parteien  dürfen 
nichts  anderes  tun,  als  ihre  Schmach  verhüllen.  Die  Sozialdemo- 
kratie sei  die  einzige  Partei,  deren  Fahne  in  diesen  zwei  Jahren 
unbefleckt  blieb  und  die  trotz  allen  Bedrückungen  vorwärts- 
gekommen ist.  Die  Koalition  war  die  Ralliierung  der  Besitzenden 
gegen  die  besitzlosen  Klassen,  ihr  Zweck  war  es,  zu  verhindern, 
daß  das  Volk  zu  seinem  Rechte  kommt.  Und  diese  Vereinigung  ist 


*)  Die  Versammlung,  in  der  Adler  am  24.  Juni  sprach,  fand  in  den 
Drei-Engel-Sälen  auf  der  Wieden  statt. 

Das  Subkomitee  hatte  am  3.  Juni  1895  endlich  das  Machwerk,  das  in  den 
geheimen  Sitzungen  verbrochen  worden  war,  veröffentlicht:  Zu  den  be- 
stehenden vier  privilegierten  Kurien  sollte  eine  fünfte  der  neuen  Wahl- 
berechtigten hinzukommen,  die  aber  wieder  aus  zwei  Wahlkörpern  bestand, 
der  erste  Wahlkörper  aus  den  Steuerzahlern,  die  weniger  als  fünf  Gulden 
Steuer  zahlten,  der  zweite  aus  den  der  Krankenversicherungspflicht  unter- 
worfenen Industriearbeitern  und  aus  anderen  Personen,  denen  außerdem 
das  Wahlrecht  erteilt  werden  sollte.  Beide  Wahlkörper  sollten  47  neue 
Mandate  erhalten.  Die  Regierung  sollte  dazu  erst  eine  Wahlkreiseinteilung 
ausarbeiten.  Im  Ausschuß  erklärte  sich  der  Ministerpräsident  Fürst 
Windischgrätz  mit  diesem  Entwurf  solidarisch,  doch  wollte  er  einer 
kleinen  Erhöhung  der  Mandatszahl  nicht  entgegentreten. 

Es  war  klar,  daß  die  Regierung  der  Koalition,  die  nicht  einmal  eine 
Wahlreform  zustande  brachte,  nicht  weiter  leben  könne.  Dazu  kam  noch, 
daß  sie  auch  die  einfachsten  nationalen  Fragen  nicht  zu  lösen  vermochte. 


I  He  Bilanz  der  Koalition.  153 


schmählich  an  ihrer  inneren  Unmöglichkeit  gescheitert.  Der  Redner 

bespricht  nun  die  Rolle,  die  den  einzelnen  Parteien  innerhalb  der 
Koalition  zufiel,  und  charakterisiert  in  scharfen  Worten  die  Männer 
der  Koalitionsregierung,  wobei  er  dem  Grafen  Palkenhayn,  diesem 
geschwomen  Feinde  des  arbeitenden  Volkes,  ein  besonderes  Kapitel 
widmet.  Alle  „Reformen"  seien  der  Koalition  mißlungen.  Sie  miß- 
langen ihr,  weil  sie  kein  Recht  hatte,  sie  zu  machen,  weil  die 
koalierten  Parteien  wußten,  daß  sie  dieses  Recht  nicht  haben,  daß 
ihr  Parlament  ein  Rumpfparlament  sei.  Auch  ohne  die  Obstruktion 
der  Jungtschechen  wäre  die  Steuerreform  gescheitert,  weil  in  ihren 
letzten  Teilen  die  Wahlreformfrage  aufgerollt  erscheint,  und  die 
mußten  die  koalierten  Parteien  meiden  wie  die  Pest.  Ohne  Er- 
weiterung des  Wahlrechtes  kommt  man  in  Österreich  nicht  mehr 
weiter.  Die  herrschenden  Klassen  sind  total  versumpft,  sie  wissen 
nicht  mehr,  was  politische  Arbeit  heißt,  sie  lassen  durch  ihr  privi- 
legierendes  Wahlrecht  und  durch  Gendarmen  das  verrichten,  was 
sie  politische  Arbeit  nennen.  Das  politische  Resümee  dieser  Ära 
gipfelt  in  den  Worten  „Wahlreform  und  Subkomitee",  das  öko- 
nomische in  den  Worten  „Falkenau,  Ostrau,  Karwin".  Jetzt 
jammern  die  Herren  von  der  Linken  über  das  Mißgeschick,  das 
ihnen  ein  Beamtenministerium  gespendet  hat,  ihnen,  die  niemals 
fähig  waren,  ein  starkes  parlamentarisches  Ministerium  auf  die 
Beine  zu  stellen.  Bevor  ein  parlamentarisches  Ministerium  da  ist, 
muß  ein  echtes  Parlament  da  sein,  und  weil  dieses  jetzt  fehlt,  ist 
das  Beamtenministerium  eine  verhältnismäßig  vernünftige  Regie- 
rungsform. Ein  Beamtenministerium  kann  die  Wahlreform  machen, 
wann  es  will,  weil  es  sie  auch  gegen  die  Parteien  machen  darf. 
Wir  werden  abwarten,  wie  sich  diese  neuen  Männer  zu  dieser 
Möglichkeit  stellen  werden.  Wir  werden  die  Wahlreform  jedenfalls 
nicht  einschlafen  lassen.  Wenn  die  Abgeordneten  im  Hause  zu- 
sammentreten, wird  die  Frage  der  Wahlreform  wieder  riesengroß 
vor  ihnen  stehen.  Nun  mögen  sie  in  die  Ferien  gehen.  Für  uns  gibt 
es  keine  Ferien,  wir  werden  den  Sommer  zu  einer  ruhigen  und 
stetigen  Organisationsarbeit,  zur  inneren  Stärkung  benützen,  um 
dann  im  Herbst  mit  verstärkter  Wucht  den  Ruf  anzustimmen:  Was 
ist's  mit  der  Wahlreform? 


Am  11.  Juni  wurde  im  Budgetausschuß  über  die  Post  von  1500  Gulden  für 
die  slowenischen  Parallelklassen  am  deutschen  Gymnasium  in  dem  unter- 
steirischen  (jetzt  zu  Jugoslawien  gehörenden)  C  i  1 1  i  abgestimmt.  Obwohl 
der  liberale  Finanzminister  Ernst  v.  Plener  selbst  diese  Post  in  sein 
Budget  eingestellt  hatte,  stimmten  die  Deutschliberalen,  aber  auch  die 
Christlichsozialen,  Deutschnationalen  und  Italiener  dagegen.  Trotzdem 
wurde  die  Post  mit  19  gegen  15  Stimmen  beschlossen.  Die  Regierung,  die 
seit  dem  23.  November  1893  im  Amte  war  und  die  kleine  Zwistigkeit  in  ihrer 
Mehrheit  nicht  hatte  beilegen  können,  mußte  am  19.  Juni  zurücktreten.  An 
ihre  Stelle  trat  ein  provisorisches  Heamtcnkabinctt  des  niederösterrcichi- 
schen  Statthalters  Grafen  Erich  Kielmansegg,  das  allerdings  nur  ein 
Lückenbüßer  für  das  Kabinett  des  „starken  Mannes",  des  galizischen  Statt- 
halters Grafen  Kasimir  B  a  d e  ni  sein  sollte,  der  noch  die  galizischen 
Wahlen  durchführen  und  dann  an  die  Spitze  des  Staates  treten  sollte. 


154  Von  Taaffe  bis  Badcni. 


Die  starke  Faust  Badenis. 

Die  Massenversammlung  am   15.   September    1895 

verschöbe  n*). 

Genossen!  Wir  wären  am  Platze  zahlreich  genug,  wenn  wir 
uns  mit  dieser  Zahl  begnügen  wollten.  Wir  sind  noch  immer  mehr 
Leute  beisammen,  als  alle  bürgerlichen  Parteien  zusammen- 
genommen aufbringen  könnten.  Aber  wir  Sozialdemokraten  sind 
anspruchsvoller,  wenn  es  gilt,  einer  neuen  Situation  gegenüber 
Stellung  zu  nehmen.  Gestern  hat  sich  die  neue  Regierung  an- 
gekündigt, und  zwar  durch  ein  Diner*).  Wir  wünschen  den  Herren 
dazu  guten  Appetit,  wir  bemerken  aber  gleich,  daß  wir  ihnen  Ge- 
legenheit geben  werden,  auch  etwas  anderes  als  Appetit  zu  ent- 
wickeln. Dieser  Regierung  geht  der  Ruf  voraus,  daß  sie  eine 
starke  Faust  besitzt.  Das  mag  sein,  aber  wenn  sie  nebst  der 
Faust  nicht  auch  Hirn  besitzen  sollte,  wird  ihr  dasselbe  Schicksal 
bereitet  werden  wie  der  Koalitionsregierung.  Die  „starke  Faust" 
ist  in  Österreich  nichts  Neues.  Sie  brauchen  nur  das  heutige 
massenhafte  Aufgebot  an  Wache  zu  sehen,  um  sich  dessen  zu  er- 
innern. Aber  nach  wie  vor:  die  Säbel  schrecken  uns  nicht!  Wir 
wußten,  als  wir  in  den  Kampf  um  unser  Recht  traten,  daß  er  große 
Opfer  kosten  werde,  wir  wußten,  daß  dieser  Kampf  nicht  mit  einem 
Schlage  zu  beenden  ist.  Wir  sind  aber  um  so  fester  entschlossen, 
diesen  Kampf  weiterzukämpfen;  wir  werden  nicht  aufhören, 
darauf  hinzuweisen,  daß  die  Männer,  die  für  die  Herrschenden  das 
Gewehr  tragen  müssen,  rechtlos  sind,  während  die  bornierte  Horde, 
die  sich  reife  Bürgerschaft  nennt  und  jetzt  im  Kampf  um  den 
Gemeinderat  ihre  Reife  so  glänzend  bekundet,  im  Alleinbesitz  aller 
politischen  Rechte  ist.  Die  Koalition  hat  gezeigt,  daß  das  Bürger- 
tum unfähig  ist,  zu  herrschen,  die  Ereignisse  dieser  Tage  zeigen 
uns,  daß  es  nicht  einmal  fähig  ist,  von  seinen  politischen  Rechten 

*)  Für  den  15.  September  war  zur  Begrüßung  Badenis,  der  schon  als 
Ministerpräsident  bestimmt  war,  eine  Massenversammlung  auf  die  Feuer- 
werkswiese im  Prater  einberufen  worden.  Aber  das  Wetter  war  so  schlecht, 
daß  kaum  aus  den  benachbarten  Bezirken  die  Arbeiter  kommen  konnten. 
Vom  frühen  Morgen  an  regnete  es  in  Strömen,  der  Prater  war  ein  Kotmeer. 
Die  Versammlung  mußte  also  auf  den  nächsten  Sonntag  verschoben  werden. 
(Siehe  unten,  Seite  155  f.)  Immerhin  waren  etwa  dreitausend  Personen  er- 
schienen und  zu  ihnen  hielt  Adler  eine  kurze  Ansprache. 

Trotz  dem  elenden  Wetter,  das  die  Versammlung  unmöglich  machte, 
war  doch  Polizei  in  Massen  aufgeboten.  Der  Prater  war  voll  von 
Wachleuten,  das  Parlament  war  ein  Polizeilager.  Die  Zugänge  zur  Stadt 
waren  durch  dichte  Polizeiketten  abgesperrt.  Der  Rückmarsch  der  Massen 
vom  Prater  vollzog  sich  unter  ständigen  Behelligungen  durch  die  berittene 
Polizei,  die  unter  dem  Kommando  des  wegen  seiner  Heldentaten  vom  9.  Juni 
zum  Oberinspektor  ernannten  Tobias  Anger  immer  wieder  in  die  Arbeiter 
hineinritt. 

'*)  Von  den  Zeitungen  wurde  gemeldet,  daß  Samstag  im  „Hofratszimmer" 
der  Westbahnhofrestauration  die  Mitglieder  der  Regierung  zusammen- 
gekommen seien,  und  es  wurde  sogar  das  Menü,  das  sie  zu  sich  nahmen, 
mitgeteilt. 


Die  starke  Paust  Badenis.       Begrüßung  Badenis.  I  -  ' 

Gebrauch  zu  machen.  Wir  haben  die  Aufgabe,  sie  es  zu  lehren,  und 

wir  werden  auch  der  neuen  Regierung  deutlich  sagen,  was  sie  ZU 
tun  hat.  Es  gibt  für  sie  heute  keine  Ausrede  mehr,  sie  allein  ist 
verantwortlich  für  alles  Kommende.  Wir  werden  den  Kampf  für 
das  mite  Recht  des  Volkes  führen  bis  ans  Ende.  Hoch  das  all- 
gemeine, gleiche  und  direkte  Wahlrecht!  (Stürmische  Hochrufe.) 
Genossen,  der  mächtigste  Mann  Deutschlands  hat  unsere  Freunde 
im  Reiche  eine  „Rotte*)"  genannt;  wir  nehmen  den  Namen  auf:  die 
Rotte  dort,  die  Rotte  hier,  sie  kämpfen  geeint  für  dasselbe  Ziel: 
Hoch  die  internationale  Rotte!  (Brausende,  dreimal  wiederholte 
Hochrufe.) 


Begrüßung  Badenis. 


Massenversammlung    auf    der    Feuerwerkswiese, 

22.  September  189  5**). 

Werte  Parteigenossen!  Wir  sind  versammelt,  um  die  neue  Re- 
gierung, die  uns  aus  Lemberg  herüberkommt,  festlich  zu  empfan- 
gen, um  ihr  im  vorhinein  zu  sagen,  nicht  nur  was  wir  wollen, 
sondern  auch  daß  wir  entschlossen  sind,  es  zu  erreichen.  Mehr 
als  drei  Jahre  sind  es,  seit  wir  einen  opfervollen,  mühevollen  Kampf 

*)  Am  Sedantag  hat  Kaiser  Wilhelm  II.  davon  gesprochen,  in  die 
Festesfreude  schlage  ein  Ton  hinein,  der  nicht  dazu  gehöre.  „Eine  Rotte 
von  Menschen,  nicht  wert,  den  Namen  Deutsche  zu 
tragen,  wagt  es,  das  deutsche  Volk  zu  schmähen,  wagt  es,  die  uns  ge- 
heiligte Person  des  allverehrten,  verewigten  Kaisers  in  den  Staub  zu 
ziehen." 

**)  Am  18.  August  1895,  an  seinem  Geburtstag,  hatte  Kaiser  Franz  Josef 
in  Ischl  den  galizischen  Statthalter  Grafen  Kasimir  B  a  d  e  n  i  mit  der 
Bildung  der  Regierung  betraut.  Schon  lange  vorher  hatte  der  Kaiser  dem 
Manne,  der  in  Galizien  gegen  die  Opposition  eine  „starke  Faust"  gezeigt 
hatte,  die  Regierung  übergeben  wollen.  Als  Graf  Kielmanscgg  mit  der 
Bildung  einer  Beamtenregierung  betraut  wurde,  wurde  ausdrücklich  in  Aus- 
sicht genommen,  daß  er  nur  so  lange  bleiben  solle,  bis  die  Wahlen  für  den 
galizischen  Landtag  vorüber  seien,  bei  denen  man  den  Grafen  Badeni  noch 
brauchte.  Aber  die  Verhandlungen  zur  Bildung  der  Regierung  dauerten 
länger,  so  daß  erst  am  29.  September  die  Ernennung  der  Minister  erfolgen 
konnte. 

Die  Wiener  Arbeiter  begrüßten  den  neuen  Ministerpräsidenten  durch  eine 
Massenversammlung  auf  der  Feuerwerkswiese  im  P  r  a  t  e  r,  an  der  gut 
dreißigtausend  Menschen  teilnahmen.  Hatte  schon  beim  Aufmarsch  der 
Massen  die  Polizei  einzelne  Versuche  der  Behinderung  gemacht,  so  sperrte 
sie  dann  plötzlich  den  heimziehenden  Massen  die  Praterstraße  ab  und  der 
Oherinspektor  Tobias  Anger  machte  sich  berühmt  durch  seine  Reiter- 
kunststücke, mit  denen  er  an  der  Spitze  seiner  Polizisten  immer  in  die 
Massen  hineinsprengte,  wobei  aufs  Geratewohl  Arbeiter  verwundet  und 
verhaftet  wurden. 

In  der  Versammlung  sprachen  Adler,  Reumann  und  N  e  m  e  c. 
Jakob  Reumann,  der  erste  sozialdemokratische  Bürgermeister  von 
Wien,  Anton  N  e  m  e  c,  der  Redakteur  der  „Delnicke  Listy",  des  Wiener 
Organs  der  tschechischen  Sozialdemokratie,  nachmaliger  Abgeordneter 
von   Prag. 


156  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


führen  für  nichts  als  was  unser  einfaches  Recht  ist,  gegen  die 
Brutalität  derjenigen,  die  der  Masse  des  Volkes  das  Recht  ent- 
ziehen, das  ihr  gebührt.  Dreieinhalb  Jahre  plagen  wir  uns  mit 
einem  Parlament  herum,  das  nicht  hören  will,  das  nicht  verstehen 
kann,  das  nichts  will,  als  sitzen,  sitzen  und  sitzen.  Als  am  10.  Ok- 
tober 1893  die  Wahlreform  des  Grafen  Taaffe  eingebracht  wurde, 
da  erhob  sich  in  unseren  Reihen  nicht  etwa  ein  Schrei  des  Ent- 
zückens, aber  doch  ein  Gefühl  der  Befriedigung  und  der  Hoffnung, 
daß  man  da  oben  doch  wenigstens  eine  Ahnung  davon  hat,  was 
Recht  ist.  Und  gegen  diesen  Anfang  von  Beseitigung  des  aller- 
gröbsten  Unrechtes  erhoben  sich  die  Vertreter  der  Bourgeoisie, 
die  Vertreter  des  polnischen  Adels,  die  Vertreter  der  deutschen 
Pfaffen,  die  Plener,  Stadnicki,  Hohenwart.  (Pfuirufe.)  Eine  mächti- 
gere Koalition  hat  die  parlamentarische  Geschichte  Österreichs 
nicht  gesehen.  Alles  vereinigte  sie,  was  Intelligenz,  Reichtum, 
Macht  und  politische  Bildung,  Einfluß  bei  Hof  bedeutete,  auf  einem 
Fleck,  um  das  Volksrecht  zu  unterdrücken.  Und  wir  sahen,  wie 
dieser  mächtigen  Koalition  Fetzen  für  Fetzen  abgerissen  wurde, 
was  etwa  noch  an  Respekt,  Achtung  vor  den  großen  Parteien  vor- 
handen war.  Die  Koalition  hat  sich  blutig  an  ihnen  allen  gerächt. 
Wo  sind  ihre  Plener,  ihre  Richter,  ihre  Grübl?  Schmach  und 
Schande  ist  über  die  Liberalen  gekommen.  Sehen  Sie  den  Grafen 
Hohenwart,  der  einst  Österreich  beherrschte,  wie  in  seinem  eigenen 
Lager  Zwietracht  aufwächst,  weil  es  sich  herausstellt,  daß  die 
Gläubigen  und  Frommen  auch  essen  müssen.  Und  die  Stadnickis! 
Ich  begrüße  es  als  eine  der  wichtigsten  Tatsachen,  daß  in  Galizien 
die  Ärmsten  der  Armen,  die  Ausgebeutetsten  der  Ausgebeuteten, 
die  Geknechtetsten  der  Geknechteten,  die  galizischen  Bauern,  sich 
zu  rühren  anfangen.  Alle  drei  Parteien  kamen  aus  der  Koalition 
mit  Schmach  und  Schande  bedeckt  heraus,  sie  haben  sich  ganz  und 
gar  unfähig  erwiesen,  dem  heute  in  seinen  Bürgern  europäischen, 
aber  in  seinen  Zuständen,  Regierungen  und  Verwaltungen  asiati- 
schen Lande  das  zu  geben,  was  es  am  dringendsten  braucht,  sie 
haben  sich  als  unfähig  erwiesen,  über  eine  Wahlreform,  und  wäre 
sie  noch  so  schlecht,  sich  zu  einigen.  Aber  sie  waren  nicht  im- 
stande, die  Bewegung  für  die  Wahlreform  zu  unterdrücken  oder 
auch  nur  zu  ermüden.  Nun  kommt  eine  neue  Regierung  ans  Ruder. 
Diese  Regierung  hat  eine  sehr  leichte  Aufgabe:  Wenn  sie  will, 
kann  sie  in  vier  Wochen  die  Wahlreform  fertig 
machen.  Widerstand  von  den  bürgerlichen  Parteien  gibt  es 
nicht  mehr;  das  Parlament  hat  sich  selbst  vernichtet,  es  steht  dort, 
wo  es  einem  solchen  Parlament  gebührt.  Es  ist  ohnmächtig,  un- 
fähig zu  jedem  Widerstand,  sowohl  gegen  das  Schlechte  als  gegen 
das  Gute.  Vom  Grafen  Badeni  sagt  man,  daß  er  eine  starke  Faust 
besitze.  Wenn  er  seine  starke  Faust  von  seinem  Hirn  lenken  läßt, 
kann  es  uns  recht  sein,  wenn  er  mit  diesem  Parlament  umgeht,  wie 
es  das  verdient.  Wenn  Graf  Badeni  aber  die  Sitten  von  Lemberg 
nach  Wien  übertragen  will,  dem  Volke  gegenüber,  dann  sagen  wir 
ihm  kühl:  Wir  sind  auf  alles  gefaßt.  Wir  haben  in  Wien  jahrelang 


• 

Die  Antwort  des  (inilui   Badenl.  l-'tf 


einen  Ausnahmezustand    gehabt    und    die    Polizeibüttelei    in    der 

schlechtesten  Form,  und  ans  dein  Ausnahmezustand  Ist  die  Sozial- 
demokratie kräftiger,  mächtiger,  jünger,  tüchtiger  und  lebendiger 
herausgegangen.  (Brausende  Zustimmung.)  Wir  haben  zahllose 
Bezirkshauptleute,  die  eine  „eiserne  Faust"  hatten,  erzogen.  Und 
wir  sagen  es  nach  Lemberg  hinüber:  Wir  fühlen  erzieherische  Kraft 
genug  in  uns,  auch  den  polnischen  Ministerpräsidenten  zu  erziehen. 
Möge  er  von  vornherein  als  Europäer  kommen,  sonst  werden  die 
europäischen  Arbeiter  ihn  Gesittung  lehren  und  Gesetzlichkeit  zu 
lehren  wissen.  Im  Februar  oder  März  1897  müssen  spätestens  die 
Neuwahlen  für  das  Parlament  stattfinden;  wir  wissen,  daß  man 
dieses  Parlament  früher  auflösen  müssen  wird,  und  wir  wissen, 
daß  in  Österreich  unter  diesem  verrotteten  Wahlgesetz,  das  zwei 
Drittel  des  Volkes  ausschließt,  nicht  mehr  gewählt  werden 
wird.  Wir  sind  heute  hier,  um  diese  Überzeugung  auszusprechen. 
Davon  werden  wir  nicht  abweichen. 

Die  Leute  da  oben,  die  meinen,  daß  die  Arbeiterschaft  tot  und 
müde,  des  Kampfes  um  das  Wahlrecht  satt  sei,  würden  sich  furcht- 
bar täuschen.  Satt  sind  wir,  aber  in  dem  Sinne  nicht,  daß  wir  den 
Kampf  aufgeben,  bevor  er  beendet  ist.  Während  wir,  die  an  der 
Spitze  sind,  von  euch  die  Prügel  kriegen,  weil  wir  nach  eurer 
Meinung  nicht  genug  nach  vorwärts  gehen,  glauben  die  Leute 
oben,  daß  wir  euch  peitschen  müssen,  und  daß  i  h  r  nicht  gehen 
wollt.  (Zwischenruf:  Wir  sind  ja  keine  Liberalen!)  Wenn  die 
Gegner  es  vorziehen,  anstatt  die  Wirklichkeit  zu  sehen,  sich  in  den 
eigenen  Sack  hineinzulügen,  mit  verbundenen  Augen  zu  kämpfen, 
uns  kann  es  recht  sein;  wir  kennen  unsere  Gegner,  wir  zählen 
ihnen  ihre  Bajonette  nach,  wir  berechnen  ihre  Stärke  genau  und 
erwägen,  wozu  sie  nicht  aus  Schlechtigkeit,  sondern  aus  plumper 
Dummheit  fähig  sind.  Die  österreichischen  Arbeiter  haben  Asien 
-satt.  Mit  Stolz,  mit  Ruhe,  mit  Festigkeit  erwarten  wir  die  Badeni, 
wir  führen  den  Kampf  bis  ans  Ende.  In  nächster  Zeit  werden  in 
Galizien  die  Landtagswahlen  sein  und  ebenso  in  Böhmen.  Wir 
rufen  den  Arbeitern,  den  Bauern,  die  sich  als  Teile  des  Volkes 
fühlen  und  rühren,  herzliche  Glückwünsche  zu  und  versichern 
ihnen,  daß  wir  nicht  nur  für  uns,  sondern  auch  für  sie  kämpfen  und 
kämpfen  werden  bis  ans  Ende.  Es  lebe  die  internationale  Sozial- 
demokratie, es  lebe  das  allgemeine,  gleiche,  direkte  und  geheime 
Wahlrecht.  (Brausende  Hochrufe  erschallen  dreimal  nacheinander, 
Hüte  und  Tücher  werden  geschwenkt.) 

Die  Antwort  des  Grafen  Badeni. 

Versammlung  im  Florasaal,   14.  Dezember   18  95*). 

Nachdem  der  Redner  in  wenigen  Sätzen  die  Geschichte  der 
Wahlreform  seit  der  Taaffeschen  Vorlage  rekapituliert  hatte,  erklärt 

*)  Am  22.  Oktober  hatte  Badeni  versprochen  in  der  nächsten  Zeit  einen 
Wahlreformentwurf  vorzuleben.  Am  6.  Dezember  erinnerte  ihn  P  e  r  n  e  r- 


i 

158  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


er,  daß  wir  gegenwärtig  vor  einer  ganz  neuen  Situation  stehen. 
Das  haben  wir  bisher  noch  nie  gehabt:  Eine  Regierung,  die  sagt: 
Ich  weiß  nicht  nur,  daß  eine  Wahlreform  notwendig  ist,  sondern 
ich  habe  schon  ein  Projekt  fertiggebraut,  aber  —  ich  behalte  es  im 
Sack.  Warum  veröffentlicht  er  sie  nicht  jetzt?  Er  meint,  das  wäre 
unpraktisch.  Während  der  Weihnachtsferien  könne  das  Parlament 
damit  nichts  anfangen,  dafür  würden  die  Arbeiter  kritisieren, 
sie  würden  am  Ende  kein  gutes  Haar  an  dem  Entwurf  lassen,  und 
das  paßt  ihm  nicht.  Er  will  den  Entwurf  unbeschädigt  und  unzer- 
zaust vor  das  Haus  bringen.  Die  Kritik  wird  ihm  jedenfalls  nicht 
wohltun.  Der  Standpunkt  des  Badeni  ist  für  ihn  begreiflich,  aber 
das  Gegenteil  von  unserem  Standpunkt.  Für  ihn  ist  die  Bequem- 
lichkeit der  Regierung  maßgebend,  für  uns  die  Frage:  „Wie  kommt 
ein  besseres  Gesetz  zustande?"  Wenn  wir  eine  Regierung  hätten, 
die  ehrlich  ist,  auch  die  hätte  große  Schwierigkeiten,  diesem  Parla- 
ment eine  vernünftige  Wahlreform  abzuringen.  Die  würde  aber 
einfach  dieses  Parlament  nach  Hause  schicken  und  die  Taaffesche 
Wahlreform  oktroyieren.  Das  ist  verfassungsmäßig  sehr  gut  mög- 
lich, und  es  ist  nicht  einzusehen,  warum  der  Ausweg  der  Aus- 
nahmegesetze immer  nur  gegen  die  Arbeiter  angewendet  werden 
soll,  warum  man  sie  nicht  auch  einmal  im  Interesse  einer  ver- 
nünftigen Sache  anwenden  soll.  Ja,  qietschen  die  „Verfassungs- 
treuen", aber  das  wäre  eine  Vergewaltigung  der  Verfassung,  ein 
Staatsstreich!  Nun,  was  weiter!  Die  Verfassung  ist,  so  lange  sie 
mit  dem  bisherigen  Wahlsystem  verknüpft  ist,  ein  beständiger 
Rechtsbruch,  und  es  wächst  kein  Recht  aus  ihr,  bevor  sie 
selbst  zerbrochen  ist. 

Graf  Badeni  veröffentlicht  also  seinen  Entwurf  nicht,  weil  er 
das  Licht  der  Kritik  scheut.  Wir  wissen  genau,  daß  sie  wirklich 
bereits  gedruckt  ist  und  darum  glauben  wir  es  dem  Badeni.  Man 
weiß  beiläufig  wie  sie  aussehen  wird.  Wir  sind  daher  in  der  Lage 
uns  schon  heute,  so  unangenehm  das  auch  dem  Grafen  Badeni  sein 
mag,  mit  der  Wahlreform  kritisch  zu  beschäftigen. 

Die  Wahlreform  bringt  das  allgemeine,  gleiche  und 
zum  Teil  direkte  Wahlrecht.  (Ohorufe!)  Darüber  sollten 
Sie  sich  alle  freuen.  Gewiß,  so  ist  einmal  der  Badeni!  Jeder 
24jährige  Bürger  soll  das  Wahlrecht  erhalten,  die  neuen  wählen 
mit  den  alten  Wählern  zusammen,  es  soll  eine  wirkliche  Volksver- 
tretung gewählt  werden,  die  aus  dem  allgemeinen  und  gleichen 
Wahlrecht  hervorgegangen  ist.  Diese  Vertretung  besteht  aus 
7  5  Volksvertretern,  es  ist  die  einzige  berechtigte  wirkliche 
Volksvertretung.  Allein,  dann  treten  die  heute  privilegierten 
Wähler  nochmals  an  die  Urne  und  wählen  die  Interessenvertretung 
von  353  Abgeordneten,  die  die  Volksvertretung  majorisieren.  Trotz- 

storfer  daran  und  forderte  ihn  auf,  sofort  nach  Beendigung  der  Debatte 
über  das  Bergbaugesetz  die  Wahlrechtsvorlage  einzubringen.  Die  Regierung 
sagte  die  Einbringung  der  Vorlage  nach  den  Weihnachtsferien  zu.  In- 
zwischen verlautete  mancherlei  über  die  Vorlage,  die  Badeni  einbringen 
wollte. 


Die  Antwort  des  Grafen  Badeni.  159 

dem  können  wir  offen  zugeben,  daß  dieser  Vorschlag  unter  allen 
bisherigen  —  mit  Ausnahme  der  Taaffeschen  Wahlreform  —  der 
am  wenigsten  niederträchtige  ist,  weil  die  Arbeiterschaft  Gelegen- 
heit hat,  mit  sämtlichen  bürgerlichen  Klassen  in  den  Wahlkampf 
einzutreten.  Auf  je  300.000  Einwohner  soll  in  der  neuen  Kurie  ein 
Abgeordneter  gewählt  werden.  Da  ist  es  auch  zu  befürchten,  daß 
ein  großer  Teil  der  neuen  Abgeordneten  durch  indirekte  Wahl  ins 
Parlament  entsendet  werden  soll.  Gegen  die  Versuche,  die  länd- 
liche Arbeiterschaft  vom  Wahlrecht  auszuschließen,  wird  die  sozial- 
demokratische Partei  mit  aller  Kraft  der  Agitation  eintreten. 

Wenn  es  ein  Vorzug  des  Entwurfes  ist,  daß  man  die  Arbeiter- 
schaft nicht  in  einen  separaten  Käfig  sperren  wird  und  ihr  theore- 
tisch die  Möglichkeit  des  Kampfes  gibt,  so  verwerflich  ist  er  nach 
allen  übrigen  Richtungen;  die  wahnsinnige  Ungerechtigkeit  unseres 
Wahlsystems  wird  durch  ihn  noch  deutlicher  werden,  als  dies  bis- 
her der  Fall  war.  Vier  Millionen  Wähler  sollen  75  Mandate 
bekommen,  während  5000  Großgrundbesitzer  85  Abgeordnete 
wählen.  (Pfuirufe.) 

Der  Redner  bespricht  nun  die  mutmaßliche  Stellungnahme  der 
Parteien  zur  Wahlreform.  Von  den  Liberalen  weist  er  nach,  daß  sie 
bei  der  Taaffeschen  Wahlreform  viel  besser  daran  gewesen  wären 
und  mit  ihrer  Abweisung  sich  selbst  schwer  geschädigt  haben.  Sie 
haben  ihre  Lumpereien  begangen  ohne  jeden  Vorteil,  gratis.  Werde 
diese  Wahlreform  Gesetz,  dann  sei  die  Wahlreformfrage  keineswegs 
aus  der  Welt  geschafft.  Im  Gegenteil,  eine  solche  Wahlreform 
schaffe  ein  Parlament,  das  unerhört  sei  in  Europa.  Es  würden  damit 
Gegensätze  geschaffen,  die  den  Rahmen  zerreißen  müssen,  in  den 
man  sie  bannt,  und  man  dürfe  überzeugt  sein,  daß  ein  zweitesmal 
nach  einem  solchen  Gesetz  nicht  gewählt  werden  wird. 

Der  Redner  erörtert  darauf  das  Wahlunrecht  in  der  Gemeinde 
Wien,  wo  L  u  e  g  e  r  als  ausschließlich  privilegierter  Volksmann  das 
„Volk  von  Wien'4,  das  heißt  die  privilegierten  Wähler  des  dritten 
und  zweiten  Wahlkörpers  vertrete.  Auch  für  die  Gemeinde  fordert 
das  wirkliche  Volk  das  Wahlrecht,  damit  endlich  einmal  der  Cliquen- 
kampf durch  den  Klassenkampf  ersetzt  werde,  damit  an  Stelle  der 
persönlichen  Zänkereien  ein  ernstes  Kommunalprogramm  trete. 
Der  Redner  legt  dar,  wie  viel  es  gerade  in  der  Kommune  für  ernste 
Arbeitervertreter  zu  tun  gebe,  und  wie  erst,  wenn  sie  im  Gemeinde- 
rat sitzen,  ernstliche  Erörterungen  kommunaler  Fragen  an  der 
Tagesordnung  sein  werden.  Wir  brauchen  eine  Wahlreform  nicht 
nur  für  das  Parlament,  sondern  auch  für  die  Gemeinde  und  das 
Land.  Letzteres  haben  die  galizischen  Landtagswahlen  gezeigt. 
Jetzt  eben  ist  eine  Deputation  hier,  die  sich  über  die  schänd- 
lichen Wahlbeeinflussungen  beklagen  will,  die  unter  dem  Regiment 
Badenis  in  Galizien  die  Regel  waren.  Diese  armen  Bauern,  die  voll 
Vertrauen  und  Zuversicht  nach  Wien  kommen,  sie  sind  die  Opfer 
der  Schlachta,  deren  Häuptling  Graf  Badeni  war  und  ist.  Diesen 
Bauern  wird  nur  geholfen  werden,  wenn  sie  ihren  heutigen,  zum 
Teil    sehr    zweideutigen    Führern    sich    entwinden    und    sich    der 


160  Von  Taaffe  bis  Badcni. 


radikalen  Partei  anschließen,  die  schon  besteht  und  von  der 
einige  wenige  Vertreter  auch  nach  Wien  gekommen  sind;  wenn 
sie  gelernt  haben  werden,  sich  auf  eigene  Füße  zu  stellen,  werden 
sie  nicht  mehr  zu  bitten  brauchen,  sie  werden  ihr  Recht  for- 
dern und  durchsetzen  können*). 

Badenis 
Schlagwort  von  der  Gerechtigkeit. 

17  Versammlungen  am  2  1.  Februar  189  6**). 

Graf  Badenis  Schlagwort  von  der  Gerechtigkeit  bedeutet  nichts 
anderes,  als  daß  er  doch  jenes  Minimum  von  Gehirn  hat,  das  dazu 
gehört,  um  sich  dem  Notwendigen  und  Unabänderlichen  einiger- 

*)  Über  diese  Ruthenen-Deputation,  die  aus  250  Bauern  und 
Geistlichen  bestand  und  die  den  Kaiser  um  Schutz  gegen  die  Übergriffe  der 
Schlachta  und  der  Behörden  anflehen  wollte,  sowie  über  ihre  Erlebnisse  bei 
der  Audienz  ist  in  dem  Artikel  Adlers  vom  17.  Dezember  1895  in  der 
„Arbeiter-Zeitung",  der  im  achten  Bande  dieser  Sammlung  („Öster- 
reichische Politik",  Bd.  VIII,  Seite  173  ff.)  abgedruckt  ist,  sowie  in  den  dort 
beigegebenen  Bemerkungen  Näheres  erzählt. 

Während  der  letzten  Sätze  des  Redners  traten  plötzlich  unter  brausen- 
den Hochrufen  der  Versammelten  einige  Mitglieder  der  ruthenischen  Depu- 
tation in  den  Saal,  und  zwar  der  Landtagsabgeordnete  Stephan  N  o  w  a- 
kowski,  die  Bauern  Danilo  Mekelita  und  Hryc  Hrabar.  Der  Vor- 
sitzende, Genosse  Witzmann,  begrüßte  die  Gäste,  worauf  der  Bauer 
Mekelita  eine  kurze  Ansprache  hielt,  die  nach  den  Angaben  ihres  Be- 
gleiters von  Genossen  Dr.  Adler  folgendermaßen  übertragen  wurde:  „Ihr, 
die  wir  hier  begrüßen,  seid  Besitzlose.  Wir  heißen  Besitzende,  aber  wir 
sind  vielleicht  noch  ärmer  als  ihr.  Wir  werden  genau  so  unterdrückt  wie 
ihr,  unsere  Interessen  sind  daher  die  euren.  Wir  machen  den  Reichen  alles 
und  leben  selbst  von  elendem  Brote  wir  ihr.  Ihr  und  wir,  wir  ge- 
hören zusammen!"  Unter  stürmischen  Hochrufen  endete  der  Redner, 
worauf  der  Vorsitzende  die  Versammlung  schloß.  Die  Versammelten  ent- 
fernten sich  unter  Absingung  des  „Liedes  der  Arbeit". 

Die  abziehenden  Genossen  gingen  begreiflicherweise  auf  der  Straße 
nicht  gleich  auseinander,  sondern  begleiteten  die  Ruthenen  eine  Strecke 
und  suchten  ihnen  durch  Rufe  ihre  Sympathie  kundzugeben.  Die  Polizei 
verhielt  sich  anfänglich  ruhig,  änderte  jedoch  plötzlich  ihre  Taktik  und 
verhaftete  einige  jüngere  Arbeiter,  die  nichts  getan  hatten,  als  etwas 
temperamentvoll  ihren  Gefühlen  Ausdruck  zu  geben.  Dadurch  kam 
es  zu  lebhaften  Kontroversen  zwischen  den  Wachleuten  und 
der  Menge,  die  ein  größeres  Wacheaufgebot  zur  Folge  hatten.  Die  Menge 
wurde  durch  den  provozierenden  Anblick  der  Wachleute  längere  Zeit 
festgehalten  und  zerstreute  sich  nur  langsam. 

**)  Badeni  hatte  am  22.  Oktober  1895  in  seiner  programmatischen  Er- 
klärung gesagt,  die  Regierung  werde  als  oberstes  Prinzip  ihrer  Wirksam- 
keit, als  unverrückbare  Richtschnur  ihres  Tuns  und  Lassens  die  G  e- 
rechtigkeit  betrachten.  In  diesem  Zeichen  werde  sie  siegen. 

Am  15.  Februar  1896,  nach  den  Weihnachtsferien,  legte  er  dem  Parla- 
ment seine  Wahlreform  vor.  Sie  enthielt  bereits  die  fünfte  Kurie  des  all- 
gemeinen Wahlrechts  mit  72  Mandaten,  die  an  die  353  Mandate  der  privile- 


Badenis  Schlagwort  von  der  Gerechtigkeit.  Ml 


maßen  zu  fügen.  Die  Koalition  hat  nicht  einmal  jenes  Minimum 
besessen.  Der  Redner  schildert  hierauf  den  Wahlrcformcntwurf  der 
Regierung  und  unterzieht  ihn  einer  vernichtenden  Kritik.  Er  weist 
nach,  daß  der  Ausschluß  des  (iesindes  nicht  nur  ungerecht,  sondern 
auch  für  die  „Staatserhaltenden"  unpraktisch  ist,  weil  er  die 
Chancen  der  Sozialdemokratie  auf  dem  Lande  noch  vermehrt. 
Ebenso  ungerecht  sei  es,  das  Wahlrecht  vorn  sechsmonatigen 
Aufenthalt  abhängig  zu  machen.  Der  Entwurf  sei  im  allgemeinen 
ebenso  aufreizend,  wie  es  die  Rechtlosigkeit  war.  Im  Entwurf  werde 
auch  die  g  e  h  e  i  m  e  Wahl  nicht  festgesetzt.  Die  Parteien  hätten 
ohne  Verletzung  ihres  Klasseninteresses  den 
Fehler  der  Ablehnung  der  Taaffeschen  Wahlreform  gutmachen 
können.  Aber  sie  wollen  einmal  nicht  um  ihre  Mandate  kämpfen. 
Wir  erwarteten  von  Badeni  weder  Gerechtigkeit  noch  Vernunft. 
Was  uns  seine  fünfte  Kurie  absolut  unannehmbar  macht,  ist  der 
Umstand,  daß  sie  dem  Zwecke  des  Wahlrechtes  widerspricht.  Wir 
betrachten  das  Wahlrecht  nicht  als  eine  Maschine  zur  Abgeord- 
netenfabrikation, sondern  als  Mittel  der  Agitation,  und 
die  Agitation  wird  bei  so  ausgedehnten  Wahlbezirken  fast  unmög- 
lich. Wenn  die  Taaffesche  Wahlreform  ungenügend  war,  so  ist  die 

gierten  Kurien  (85  des  Großgrundbesitzes,  21  der  Handelskammern,  117  der 
Steuerzahler  der  Städte  und  136  der  Landgemeinden)  angefügt  wurden.  Das 
ländliche  Gesinde,  das  im  Haushalt  des  Bauern  wohnte,  sollte  vom  Wahl- 
recht ausgeschlossen  sein.  (Diese  Bestimmung  wurde  später  fallen  gelassen.) 
Am  20.  Februar  fand  die  erste  Lesung  statt,  in  der  außer  Pernerstorfer 
auch  die  Tschechen,  Ruthenen  und  im  Namen  der  Christlichsozialen  Prinz 
Liechtenstein  für  das  allgemeine,  gleiche  Wahlrecht  eintraten. 

Die  Vorlage  wurde  dann  dem  Wahlreformausschuß  zugewiesen.  Am 
20.  April  begann  dann  die  zweite  Lesung. 

Am  21.  Februar  gaben  die  Wiener  Arbeiter  in  siebzehn  Massenversamm- 
lungen ihr  Urteil  über  die  Badenische  Wahlreform  ab.  In  der  Resolution, 
die  in  allen  diesen  Versammlungen  beschlossen  wurde,  wurde  erklärt,  daß 
die  Vorlage  in  keiner  Weise  den  Wünschen  der  Arbeiterklasse  entspreche, 
daß  sie  das  allgemeine,  gleiche  Wahlrecht  mißbrauche  und  fälsche.  Dann 
heißt  es: 

Die  Regierungsvorlage  bietet  also  eine  Karikatur  des  gerechten 
Prinzips  des  allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Wahlrechtes  und  liefert 
aas  Volksinteresse  an  die  Borniertheit  und  den  Egoismus  der  Privi- 
legierten aus.  Die  Versammlung  protestiert  daher  entschieden  gegen 
den  Wahlreformvorschlag  des  Ministeriums  Badeni  als  eine  ungeheuer- 
liche Verzerrung  der  Forderungen  der  Arbeiterklasse;  sie  protestiert 
dagegen,  daß  das  gute  Recht  der  großen  Mehrheit  des  Volkes  gebeugt 
werde  zugunsten  der  Ausbeuterklassen,  und  erklärt,  daß  die  Wahl- 
rechtsbewegung unter  allen  Umständen  unermüdlich 
weitergeführt  werden  muß,  bis  das  Ziel  erreicht  ist.  Die  Ver- 
sammlung brandmarkt  aber  zugleich  die  Absicht  der  alten  Koalitions- 
parteien, die  selbst  diese  Schattenreform  zur  Befestigung  ihres  wider- 
rechtlichen Privilegiums  auszunützen  und  die  Verhandlungen  abermals 
zu  verschleppen  versuchen. 

In  der  Versammlung  beim  Dreher  auf  der  Landstraße  referierte  Doktor 
Adler. 

Adler,  Briefe.  X.  Bd.  11 


162  Von  Taaffe  bis  Baden  f. 


Badenische  ein  Spott,  eine  Parodie  aufs  allgemeine  Wahlrecht.  Der 
Redner  erörtert  nun  die  Stellung  der  Parteien  zum  Entwurf.  Er  ver- 
wahrt sich  gesell  einen  eventuellen  nochmaligen  Verschleppungs- 
versuch  der  Wahlreform,  der  unter  den  obwaltenden  Umständen 
ein  Verbrechen  wäre.  Die  Parteien  würden  uns  zu  Dank  ver- 
pflichten, wenn  sie  den  Entwurf  ablehnten.  Dann  wäre  die  Regierung 
gezwungen,  das  Vernünftige  zu  tun;  die  Taaffesche  Wahlreform  zu 
oktroyieren.  Es  wäre  einmal  zur  Abwechslung  ein  Verfassungs- 
bruch, der  nicht  das  Recht,  sondern  das  Unrecht  bricht.  Wie  wir 
das  Parlament  bis  zur  Badenischen  Vorlage  vorwärtsgetrieben 
haben,  so  werden  wir  es  weitertreiben,  bis  wir  unser  Recht  er- 
langen. Wir  haben  weniger  Erfolge,  als  wir  verdienen;  aber  der 
Schlußerfolg  wird  unser  sein,  der  Sozialdemokratie.  (Lebhafter  Bei- 
fall.) 

Die  Badenische  Wahlreform- 
Referat  —  Parteitag  in  Prag  189 6*). 

Wir  haben  die  Aufgabe,  wieder  über  die  Wahlreform  zu  sprechen, 
aber  unsere  Lage  ist  wesentlich  anders,  als  sie  vor  zwei  Jahren 
im  Saale  bei  Schwender  in  Wien  war.  Als  wir  vor  zwei  Jahren 
über  die  Wahlreform  gesprochen  haben,  sind  wir  einer  anderen 
Regierung  gegenübergestanden,  welche  die  Wahlreform  im  Munde 


*)  Auf  dem  Parteitag  auf  der  Schützeninsel  in  Prag,  der  vom  5.  bis 
11.  April  1896  stattfand,  referierten  Adler  und  Vanek  (tschechisch)  über 
die  Wahl  reform.  Der  Parteitag  zu  Ostern  1894  hatte  die  Partei- 
vertretung  angewiesen,  die  gesamte  äußere  Tätigkeit  der  Partei  zunächst 
auf  die  Erringung  des  Wahlrechtes  zu  konzentrieren  und  die  innere  Organi- 
sation möglichst  rasch  zu  fördern,  um  die  Partei  schlagfertig  zu  machen 
und,  wenn  nötig,  ihre  ganze  Kraft  vereinigen  zu  können.  Im  Sommer  und 
Herbst  wurden  dann  im  ganzen  Reiche  Versammlungen,  „Massenspazier- 
gänge" und  Straßendemonstrationen  sowie  Flugschriften-Verteilungen  ver- 
anstaltet. Die  Massenversammlung  vom  18.  Oktober  im  Sofiensaal  beauf- 
tragte den  Abgeordneten  Pernerstorfer,  einen  Dringlichkeitsantrag  einzu- 
bringen, daß  der  Wahlreformausschuß  binnen  drei  Wochen  zu  berichten 
habe.  Der  Antrag  wurde  zwar  niedergestimmt,  wobei  der  Ministerpräsident 
Windischgrätz  die  bekannte  Erklärung  abgab,  daß  er  „der  Argumente  von 
der  Straße  nicht  bedürfe".  Aber  am  27.  November  übertrug  die  Regierung 
selbst  dem  Ausschuß  die  Aufgabe,  einen  Entwurf  auszuarbeiten.  Aber  der 
Ausschuß  wählte  ein  Subk-omitee.  Am  21.  Mai  1895  brachten  die  Jung- 
tschechen, die  Christlichsozialen,  die  Südslawen  und  die  Deutschnationalen 
einen  Dringlichkeitsantrag  ein,  der  die  unverzügliche  Berichterstattung  des 
Ausschusses  forderte.  Erst  Anfang  Juni  wurden  die  Pläne  des  Subkomitees 
bekannt:  13  Mandate  für  die  Krankenkassenmitglieder  und  34  Mandate  für 
die  kleinen  Steuerzahler.  Aber  am  19.  Juni  1895  mußte  die  Regierung 
Windischgrätz-Plener  zurücktreten:  sie  fiel  über  die  von  der  Regierung 
bewilligten  slowenischen  Parallelklassen  am  Gymnasium  in  Cilli.  An  ihre 
Stelle  kam  ein  Beamtenkabinett  des  niederösterreichischen  Statthalters 
Grafen  Kielmansegg,  das  aber  schon  am  22.  Oktober  1895  von  einem 
Ministerium  des  galizischen  Statthalters  Grafen  Badeni  abgelöst  wurde.  Als 
am  15.  Februar  1896  das  Parlament  zusammentrat,  legte  ihm  Badeni,  dem 
Versprechen  seiner  Programmrede   entsprechend,   einen  Wahlreform- 


Die  Badenische  Wahlreform.  lf;:> 


führte,  die  aber  alles  darangesetzt  hat,  um  die  Wahlreform  zu  ver- 
eiteln. Es  war  klar,  daß  die  Regierung  des  Fürsten  Windischgrätz, 
der  Geschäftsausschuß  aller  besitzenden  Klassen  in  Österreich, 
seine  Aufgabe  aussschließlich  darin  sah,  womöglich  überhaupt  keine 

Walilrefonn  zustande  kommen  zu  lassen.  Daraus  ergab  sieh  für 
die  Sozialdemokratie  der  Schluß,  diese  Regierung  muß 
weg,  daraus  ergab  sich  für  uns  die  Notwendigkeit,  die  Wahl- 
reform  mit  einem  solchen  Ungestüm  zu  verlangen,  daß  es  jeder- 
mann klar  werde,  daß  es  nicht  möglich  sei,  zu  regieren,  wenn  man 
die  Walilrefonn  auf  die  lange  Bank  schiebt.  Wollen  wir  mit 
wenigen  Worten  uns  nochmals  Rechenschaft  geben,  warum  die 
Sozialdemokratie  die  Wahlreform  derart  in  den  Mittelpunkt  stellen 
mußte,  daß  in  sehr  weiten  Kreisen  außerhalb  der  Sozialdemokratie 
dieselbe  eine  Zeitlang  für  eine  einfache  Wahlrechtspartei  angesehen 
wurde.  Wir  mußten  mit  aller  Gewalt  die  Wahlreform  durchsetzen, 
weil  ohne  Wahlrecht  die  politische  Entwicklung  der  Partei  weiter- 
hin nicht  mehr  möglich  war.  Die  politische  Bedeutung  der  Partei 
war  riesig  gewachsen,  im  Verhältnis  zur  Möglichkeit,  sich  zu 
betätigen.  Der  Rahmen  der  Partei  war  einfach  zu  eng  geworden, 
wir  mußten  ihn  sprengen.  Das  war  eine  Lebensfrage  für  die  Partei. 
Ich  sehe  hier  von  allen  Erwägungen  der  Gerechtigkeit  ab,  ich 
sehe  ab  von  der  Erwägung  der  Sittlichkeit,  der  politischen  Ver- 
nunft usw.  Ich  sehe  ab  von  der  furchtbaren  Tatsache,  daß 
zwei  Drittel  der  Bevölkerung  in  Österreich  rechtlos  sind,  ich 
sehe  ab  von  dem  Kuriensystem  und  all  der  Schmach,  die  es  im 
Gefolge  hat,  alle  diese  Dinge  lasse  ich  beiseite.  Wir  haben  hier  eine 
parteitaktische  Frage  zu  erwägen,  wir  müssen  sagen:  wie  kommt 
es,  daß  die  Partei,  für  welche  das  Wahlrecht  schon  seit  vielen 
Jahren,  neben  sehr  vielen  anderen  Forderungen,  auf  das  Programm 
gestellt  ist,  gerade  jetzt  sich  auf  diese  Frage  mit  solcher  Wucht 
werfen  mußte.  Es  war  notwendig,  weil  die  Partei  ohne  Wahlrecht 
nicht  mehr  vorwärts  kommen  kann  und  weil  das  Bewußtsein,  daß 
der  Arbeiterschaft  ein  Wahlrecht  gebühre,  auch  bei  den  anderen 
Klassen  bereits  in  einem  hohen  Grade  Platz  gegriffen  hat.  Also 
nicht  nur  w  i  r  wußten  es,  sondern  auch  die  anderen  wußten  es 
und  das  war  das  Moment,  warum  wir  losschlagen  mußten. 

Ich  will  nicht  ausführlich  berichten,  welcher  Kampf  um  das 
Wahlrecht  geführt  wurde.  Dies  ist  nicht  meine  Aufgabe  und  hätte 
allenfalls  zu  dem  vorigen  Punkt  der  Tagesordnung  gehört.  Sie 
werden  es  alle  wissen:  Seit  dem  1.  Mai  1893  hat  die  Partei  in 
Österreich  einen  Kampf  geführt,  wie  demselben  wenige  politische 
Feldzüge  zur  Seite  gestellt  werden  können.  Was  haben  die  Gegner 
getan?    Von  Anfang  an  war  die  Antwort    auf  die  Forderung  des 

entwuxf  vor,  der  eine  allgemeine  Kurie  mit  72  Mandaten  den  privile- 
gierten vier  Kurien  mit  ihren  353  Mandaten  anfügte.  Das  Wahlrecht  hatten 
alle  24jähritfen  Staatsbürger  männlichen  Geschlechts,  die  sechs  Monate  in 
einem  Wahlbezirk  wohnten.  Das  ist  die  sogenannte  Seßhaftigkeit. 
Ausgeschlossen  sollte  aber  das  ländliche  Gesinde  sein,  eine  Bestimmung, 
iter  fallen  gelassen  wurde.  Die  erste  Lesung  fand  noch  im  Februar 
".  Bald  nach  dem  Parteitag,  am  20.  April  1H96,  begann  die  zweite  LesUng. 

11* 


164  Von  Taaffc  bis  Badeni. 


allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Wahlrechtes  immer  die:  Ja,  den 
industriellen  Arbeitern  gebührt  ein  Wahlrecht  und  denen  wollen 
wir  es  geben,  und  zwar  den  besser  gestellten,  den  höher  quali- 
fizierten Arbeitern.  Diese  Antwort  haben  uns  die  Liberalen  schon 
seit  den  siebziger  Jahren  gegeben,  sie  hat  sich  in  dem  alten 
Arbeiterkammerentwurf  und  in  jenem  des  Jahres  1886  kristallisiert 
und  sich  im  Jahre  1891  wiederholt.  Nachdem  die  Wahlbewegung 
kräftiger  geworden  war,  tauchte  gegenüber  dem  Wahlreform- 
projekt des  Grafen  Taaffe  sofort  wieder  das  spezifische  Arbeiter- 
wahlrecht mit  mehr  oder  weniger  Mandaten,  mehr  oder  minder 
nach  unten  abgegrenzt,  aus  der  Versenkung.  Dem  liegt  immer  der 
Gedanke  zugrunde,  die  Arbeiter,  denen  man  ein  Wahlrecht  gibt, 
von  den  anderen  Klassen  abzusondern,  sie  politisch  zu  isolieren. 
Die  Arbeiterschaft  hat  diese  Abschließung  mit  der  größten  Energie 
zurückgewiesen,  sie  hat  sie  für  absolut  unmöglich  und  als  etwas 
den  Arbeitern  unter  den  heutigen  Verhältnissen  nicht  mehr 
Oktroyierbares  erklärt.  Und  die  Träger  dieser  Anträge,  insbesondere 
die  Koalitionsregierung  war  eine  so  schwache  Regierung,  daß  wir 
in  der  Tat  in  der  Lage  waren,  sie  mitsamt  ihren  Anträgen  über 
den  Haufen  zu  werfen.  Mit  dem  Sturz  der  Koalitionsregierung  war 
der  Versuch,  den  Arbeitern  ein  abgegrenztes  Wahlrecht  zu  geben, 
was  nichts  anderes  bedeutet  hätte,  als  aus  dem  Wahlkampf  das 
Moment  des  Klassenkampfes  herauszunehmen  und  die  Arbeiter 
nur  unter  sich  wählen  zu  lassen,  ihnen  nur  Mandate  zu 
geben,  nicht  aber  ein  Wahlrecht,  an  Stelle  eines  Wahl- 
rechtes nur  die  Ernennung  von  einer  Anzahl  von  Abgeordneten, 
dieser  Versuch,  sage  ich,  war  beseitigt.  Die  Antwort  der  Arbeiter 
lautete  damals:  Es  handelt  sich  uns  in  erster  Linie  nicht  um  die 
Zahl  der  Mandate  —  man  hat  uns  bis  zu  25  Mandaten  geboten, 
das  war,  glaube  ich,  das  höchste  Anbot  —  sondern  es  handelt  sich 
uns  darum,  daß  wir  wählen,  daß  wir  der  Arbeiterklasse  den 
Klassenkampf  in  der  Form  des  politischen  Kampfes  und  des  Wahl- 
kampfes ermöglichen.  Was  nun  folgte,  ist  ja  in  lebhafter  Erinnerung. 
Ich  will  mich  nunmehr  mit  dem  beschäftigen,  was  vor  uns  liegt, 
und  nicht  mehr  mit  der  Geschichte. 

Nachdem  die  Koalitionsregierung  unter  allgemeinem  Hohn- 
gelächter  gefallen  war,  da  kam  die  Regierung  des  Grafen  Badeni 
nach  einer  kurzen  Pause  an  die  Reihe,  eine  Regierung,  die  man  uns 
als  die  Regierung  der  starken  Faust  und  einer  ganz  besonderen 
Intelligenz  angepriesen  hatte.  Für  Letzteres  erwarten  wir  aller- 
dings noch  die  Beweise.  (Heiterkeit.)  Es  wurde  offiziös  ange- 
kündigt, die  Regierung  werde  die  Wahlreform  um  jeden  Preis 
machen.  Wir  müssen  sagen:  insofern  hat  sie  Wort  gehalten,  eine 
Wahlreform  hat  sie  gemacht,  hat  sie,  man  kann  sagen,  dem  Par- 
lament aufoktroyiert.  Die  Wahlreform  liegt  dem  Ausschuß  fertig 
vor  und  es  ist  kein  Zweifel,  daß  dieser  Entwurf  mit  ganz  uner- 
heblichen Änderungen  auch  vom  Parlament  angenommen 
werden  wird.  Etwas  anderes  aber  ist  es,  ob  diese  Wahlreform, 
wie  sie  vorliegt,    ein  Beweis  für  die  politische  Vernunft  oder  gar 


Die  Badenische  W;ililrcform.  165 


für  die  „Gerechtigkeit"  der  Regierung  ist  Das  ist  sie  nicht;  die 
Walilrefonn,  die  vorliegt,  ist  vielmehr  ein  Auskünftsmittel 
schlechtester  Art.  Sie  ist  etwas,  was  Unmöglich  ist  in  der  Aus- 
führung, unklar  im  Gedanken,  und  etwas,  was  allen  Prinzipien 
sowohl  der  Gerechtigkeit  als  der  politischen  Vernunft  geradezu  ins 
Gesicht  schlägt.  Das  Prinzip  des  allgemeinen  Wahlrechtes  wird 
wohl  faktisch  mit  unbeträchtlichen  Ausnahmen  proklamiert,  wie  es 
auch  der  Antrag  Taaffe  lange  nicht  wollte;  es  bekommt  das 
arbeitende  Volk  in  seiner  Gesamtheit  das  Wahlrecht,  aber  nur  zu 
dem  Zwecke,  um  dieses  Wahlrecht  respektive  dasjenige,  was  dabei 
herauskommen  soll,  sofort  vernichten  zu  lassen  von 
den  alten  privilegierten  Kurien.  (Beifall.) 

Es  wird  ein  neues  Recht  geschaffen,  dieses  Recht  aber  sofort 
zum  Unrecht  gemacht,  indem  das  alte  Unrecht  weiter  bestehen 
bleibt.  Vergessen  Sie  nicht,  Genossen,  daß  das  Wahlrecht  für  uns 
nicht  allein  eine  Maschine  ist,  um  Abgeordnete  zu  erzeugen,  daß 
das  Wahlrecht  nicht  eine  Mandatfabrik  ist  für  die  Sozialdemo- 
kraten, wie  sie  das  ist  für  die  anderen  Parteien;  für  uns,  Genossen, 
hat  das  Wahlrecht  soviel  Wert,  weil  es  uns  ein  Mittel  der  Agitation 
und  vor  allem  der  Organisation  ist.  Weit  mehr  noch  als  die  Ver- 
treter im  Abgeordnetenhaus  haben  wir  ja  die  Agitationskraft  ent- 
behrt, die  im  Wahlrecht  liegt  und  hat  uns  die  Grundlage  für  die 
Organisation  gefehlt,  die  jedes  allgemeine  Wahlrecht  bildet.  Wir 
betrachten  das  Wahlrecht  vor  allem  als  eines  der  besten  Mittel 
zur  Vertretung  unserer  Grundsätze,  als  eines  der  besten  Mittel,  um 
die  Arbeiterklasse  zu  erziehen,  um  sie  zu  organisieren.  Erst  in 
zweiter  Linie  ist  es  uns  ein  Mittel  zu  einer  parlamentarischen 
Vertretung,  so  wenig  wir  das  unterschätzen  wollen.  Wir  wissen 
ja  gerade  in  Österreich  sehr  gut  die  Vorteile  zu  schätzen,  um  so 
mehr,  als  wir  in  der  Lage  waren,  uns  eines  oder  zweier  Abgeord- 
neten*) gleichsam  als  Sprachrohr  zu  bedienen,  um  gewisse  Dinge  im 
Abgeordnetenhaus  zur  Sprache  zu  bringen,  die  niemals  mit  dieser 
Wirkung  durch  unsere  Presse  und  durch  unsere  Redner  in  die 
Öffentlichkeit  hätten  gebracht  werden  können.  Das  wichtigste 
Moment  für  das  Wahlrecht  ist  aber  das  Moment  der  Erziehung 
des  Volkes,  das  Moment  der  politischen  Bildung,  und  sehen  Sie, 
gerade  dieses  Moment  wird  in  der  Badenischen  Wahlreform  wohl 
nicht  gänzlich  vernichtet,  aber  es  wird  eingeschränkt,  verdünnt, 
vermindert,  so  daß  man  sich  wirklich  fragen  muß,  ob  noch  etwas 
übrig  bleibt.  Es  ist  kein  Zweifel,  es  ist  ein  Behelf  für  die  Organi- 
sation, ein  Behelf  für  die  Agitation,  wenn  Leute  zusammengerufen 
werden,  um  sich  politisch  zu  äußern  und  zu  wählen.  Wenn  das 
aber,  wie  hier,  in  Wahlkreisen  geschieht,  die  eine  halbe  Million 
Einwohner  haben,  wenn,  wie  dies  ja  vorkommt,  ein  ganzes  Land 
einen  einzigen  Wahlkreis  bildet,  da  werden  Sie  zugeben,  daß  es 
unter  diesen  Umständen  ungeheuer  schwer  wird,  für  die  Organi- 
sation sowohl  als  für  die  Agitation  das  Wahlrecht  auszunutzen 
und   daß   der  Wert   dieser  Agitationsmittel   ungeheuer  vermindert 

')   K  r  on  a  wetter  und  Pernerstorfer. 


166  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


wird.  Und  wenn  ich  die  anderen  Seiten  dieses  Wahlrechtes  be- 
trachte, dann  kommt  ein  noch  viel  kläglicheres  Bild  heraus.  Es 
handelt  sich  hier  um  12  Mandate.  Mögen  wir  uns  nun  anstellen, 
wie  wir  wollen,  wir  müssen  zugeben,  daß  wir  auch  beim  allge- 
meinen, gleichen  und  direkten  Wahlrecht  einen  ziemlich  geringen 
Einfluß  ausgeübt  hätten,  insofern  die  Majorität  im  Parlament  in 
Frage  kommt.  Wir  können  nicht  einmal  sagen,  ob  wir  nicht  bei 
einem  der  Kurienwahlrechte  viel  mehr  Mandate  bekommen  hätten. 
Das  ist  aber  eine  andere  Frage. 

Das  trifft  nicht  nur  uns,  das  trifft  auch  das  Bürgertum  und  die 
Bauernschaft,  die  heute  im  Parlament  sitzen  und  die  sich  gefallen 
lassen,  daß  5lA  Millionen  Wähler  zusammen  12  Abgeordnete  und 
die  5000  Herren  Großgrundbesitzer  nach  wie  vor  85  Abgeordnete 
bekommen.  Während  diese  Leute  in  der  Lage  gewesen  wären,  und 
ich  klage  hier  die  bürgerlichen  Parteien  an,  nicht,  weil  ich  glaube, 
daß  sie  besserungsfähig  sind,  ich  klage  sie  hier  an,  daß  sie  in  diesem 
Moment,  in  welchem  die  Arbeiterschaft  in  Österreich  den  Kampf 
angefangen  hat,  wo  sie  in  der  Lage  gewesen  wären,  nachzuholen, 
was  die  feigen  Kerle  im  Jahre  1848  und  1867  versäumt  haben  und 
sich  in  unser  Gefolge  begeben  hätten  können,  wieder  verraten 
haben  nicht  nur  unsere  Interessen,  aber  auch  ihre  eigenen  Inter- 
essen. (Lebhafte  Zustimmung.)  Hätten  sie  sich  uns  angeschlossen, 
dann  wäre  man  in  Österreich  in  der  Lage  gewesen,  einmal  mit 
den  alten  feudalen  Überresten  aufzuräumen.  Und  dabei  —  ich  bin 
Deutscher  und  sage  dies  mit  großem  Schmerze  —  sind  unsere 
deutschen  Liberalen  noch  um  ein  gutes  Stück  schlechter  als  die 
Jungtschechen.  (Beifall.) 

Wir  nehmen  den  jungtschechischen  Antrag  auf  allgemeines  und 
direktes  Wahlrecht  nicht  so  ernst,  wie  die  Jungtschechen  es 
vielleicht  wünschen.  Ich  meine,  daß,  wenn  der  Antrag  Aussicht 
gehabt  hätte,  durchzudringen,  sich  vielleicht  in  dem  jung- 
tschechischen Lager  selbst  allenthalben  Stimmen  dagegen  geltend 
gemacht  hätten.  Nehmen  wir  aber  selbst  an,  der  ganze  Antrag  sei 
eine  leere  Demonstration,  nicht  einmal  zu  dieser  leeren  Demon- 
stration hat  die  deutschliberale  Partei  Kraft  und  Courage  gehabt. 
(Sehr  richtig!)  Wir  sind  gezwungen,  das  hier  zu  sagen,  wir  sind 
verpflichtet,  der  Öffentlichkeit  und  uns  selber  klar  zu  machen,  daß 
wir  in  diesem  Kampfe  vollständig  allein  stehen,  daß  die  bürger- 
lichen Klassen  ihre  eigenen  Interessen  verraten,  weil  sie  vor  uns 
Furcht  haben.  Weil  die  Klassengegensätze  in  den  tschechischen 
Bezirken  noch  nicht  so  weit  entwickelt  sind,  als  in  den  deutschen 
Bezirken,  darum  getrauen  sich  die  Tschechen  noch,  mit  dem  Feuer 
zu  spielen,  während  sich  die  Deutschen  nicht  mehr  getrauen,  weil 
da  die  Gegensätze  schon  zu  weit  entwickelt  sind.  Es  muß  heraus- 
gesagt werden,  daß  wir  in  allen  diesen  politischen  Kämpfen  voll- 
ständig allein  stehen,  daß  die  Arbeiterklasse  auf  sich  selbst  an- 
gewiesen ist.  Wir  haben  also  eine  Wahlreform  vor  uns,  die 
5%  Millionen  12  Mandate  gibt,  den  Kurienschwindel  aufrecht  hält; 
wir   bekommen   ein   Haus   von  353  + 12   Abgeordneten,   und   nun 


Die  Badenische  Wahlreform.  167 

fragen  wir  uns:  Ja,  warum  haben  denn  die  einzelnen  Parteien  das 
^etan?  leli  kann  nicht  anders,  ich  muß  mich  wieder  in  erster  Linie 
mit  der  deutschliberalen  Partei  beschäftigen;  ich  muß  fragen: 
Warum  hat  diese  Partei,  welche  die  entscheidende  in  dieser  Präge 
war,  gerade  diesem  elenden  Entwurf  zum  Durchbruch  verholien? 
Sie  selbst  profitiert  bei  dieser  Kurie  Kar  nichts,  Es  ist  sicher,  daß 
sie  in  der  neuen  Kurie  kein  einziges  Mandat  bekommen  wird.  Die 
deutschliberale  Partei  ist  für  diesen  Entwurf  deshalb  eingetreten, 
weil  sie  die  richtige  und  klassenbewußte  Vertretung  der  Bour- 
geoisie ist.  Sie  hat  immer  ihre  politischen  Interessen  auf  dem  Altar 
der  Interessen  ihres  üeldsacks  zu  opfern  gewußt.  (Beifall.)  Sie  hat 
sich  geopfert,  sie  will  viel  lieber  ein  paar  Mandate  verlieren,  nur 
die  Sozialdemokratie  soll  davon  keinen  Vorteil  haben.  Daraus  bitte 
ich  auch  den  Schluß  zu  ziehen,  warum  wir  gerade  diese  Partei  für 
den  klassenbewußtesten,  für  den  gefährlichsten  Gegner  halten. 

Darum  richtet  sich  unsere  ganze  Kraft  von  jeher  gegen  die 
Liberalen,  als  die  eigentliche  bewußte  kapitalistische  Partei  in 
Österreich.  Aber  trösten  Sie  sich;  was  die  Deutschliberalen  heute 
sind,  werden  die  „tschechischen  Liberalen"  sehr  bald  sein.  Die 
Industrie  schreitet  auch  in  den  böhmischen  Bezirken  ausgezeichnet 
vor,  die  wirtschaftliche  Entwicklung  drängt  vorwärts,  und  das  war 
vielleicht  das  Belehrendste  aus  allen  Berichten.  So  wie  in  Ostrau 
sich  Deutsche  und  Jungtschechen  verbunden  haben  gegen  die  Ar- 
beiterschaft, so  hat  in  Triest  die  schwarzgelbe  kaisertreue  Polizei 
sich  ruhig  mit  den  Irredentisten  verbunden,  als  es  gegen  die  Ar- 
beiter ging. 

Man  gibt  also  den  Leuten  einen  Stimmzettel  in  die  Hand, 
betrachtet  es  aber  als  gleichgültig,  welches  Gewicht  dieser  Stimm- 
zettel hat.  Dem  Stimmzettel  wird  seine  Wirkung  genommen,  indem 
man  ihn  so  leicht  ausprägt,  indem  man  ihn  in  ein  Meer  hineinwerfen 
läßt,  indem  man  Wahlbezirke  von  80.000  und  mehr  Wählern  schafft 
und  Wahlbezirke,  die  ein  halbes  Kronland  und  mehr  umfassen. 
Nehmen  wir  Böhmen  und  Niederösterreich  —  und  ich  wähle  diese 
Kronländer,  weil  sie  die  meistentwickelten  sind  und  hier  die  Ar- 
beiterschaft eine  Macht  repräsentiert  — ,  welche  ungeheure  Bezirke 
werden  da  geschaffen,  Bezirke,  die  agitatorisch  von  uns  zu  bewäl- 
tigen beinahe  unmöglich  ist,  allerdings  zum  Glück,  von  den 
anderen  noch  weniger.  (Heiterkeit.)  Weiter  wird  das  indirekte 
Wahlrecht  zur  Regel  gemacht.  Graf  Badeni  hatte  die  Schlauheit, 
die  eines  polnischen  Stanczyken  wirklich  würdig  ist;  ich  muß 
sagen,  die  Pfiffigkeit  dieses  Stanczyken  kommt  mir  vor,  als  wenn 
sie  eine  Kreuzung  wäre  zwischen  polnischen  Edelleuten  und 
polnischen  Juden.  (Lebhafte  Heiterkeit.) 

Wenn  er  vor  der  furchtbar  schwierigen  Frage  des  direkten 
Wahlsystems  steht,  das  er  für  Galizien  nicht  will  und  welches  er 
aber  für  die  bereits  europäisierte  Bevölkerung  nicht  verhindern 
kann,  wie  zieht  er  sich  da  aus  der  Schlinge?  Er  sagt:  Hängt  ihr 
euch  gefälligst  selbst  auf  (Heiterkeit),  ich  wasche  meine  Hände  in 
Unschuld;  ich  gestatte  euch,  euch  auf  eueren  Landtagen  die  Köpfe 


168  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


wund  zu  schlagen  über  die  direkten  Wahlen;  Qalizien  wird  mir 
kein  direktes  Wahlrecht  einführen.  (Heiterkeit.)  Die  Frage  des 
direkten  Wahlrechtes  ist  eine  der  wichtigsten  Lebensfragen  bei 
der  Wahlreform  und  wir  müssen  in  dieser  Beziehung  eine  sehr  leb- 
hafte Agitation  entwickeln,  die,  wenn  das  Gesetz  angenommen 
wird,  gegen  die  Landtage  gerichtet  sein  wird,  um  die  indirekten 
Wahlen  zu  beseitigen. 

Dann  kommt  aber  ein  dritter  Punkt,  von  dem  man  nicht  viel 
spricht,  weil  man  davon  nicht  viel  weiß,  der  aber  nicht  unwichtig 
ist.  Die  einzelnen  Wahlbezirke  sind  mit  dem  größten  Raffinement 
zugeschnitten,  es  wird  die  industrielle  Arbeiterschaft  zwischen 
großen  Massen  der  bäuerlichen  Bevölkerung  eingeteilt,  um  wo- 
möglich von  ihr  erdrückt  zu  werden;  das  ist  in  einer  großen  Reihe 
von  Wahlbezirken  der  Fall.  Das  ist  nun  freilich  etwas,  worauf  man 
gefaßt  sein  mußte.  Wir  haben  keine  Änderung  der  Wahlbezirke 
in  Österreich  seit  Schmerling,  und  Herr  Graf  Badeni  oder  vielmehr 
Herr  v.  Rittner,  der  den  Wahlreformentwurf  im  Schweiße  seines 
Angesichts  in  Meran  zusammengeflickt  hat,  wird  es  sich  doch  nicht 
nachsagen  lassen,  daß  er  die  Wahlgeometrie  nicht  ebensogut  ver- 
steht, wie  sein  erlauchter  Vorgänger  Schmerling.  Und  so  wie 
Schmerling  seinerzeit  als  Vater  der  Verfassung  angesehen  wurde 
und  wie  er  bejubelt  wurde  von  der  ganzen  Bourgeoisie  —  nicht 
von  der  tschechischen,  denn  sie  hatte  dazu  keine  Ursache  —  als 
Stütze  der  Verfassung,  geradeso  haben  Graf  Badeni  und  sein 
Rittner  alle  Aussicht,  demnächst  heilig  gesprochen  zu  werden. 

Es  ist  gar  kein  Zweifel,  die  herrschenden  Parteien  sind  auf  eine 
perfide,  aber  sehr  geschickte  Weise  um  eine  gründliche  Wrahlreform 
für  den  Augenblick  herumgekommen.  Diese  Leute  haben  nämlich 
von  der  Arbeiterklasse  ihre  eigentümliche  Vorstellung:  Sie  glauben, 
die  Arbeiter  wollen  ihr  Wahlrecht  nur  haben,  um  ein  paar  Mandate 
zu  haben:  „Schmeißen  wir  ihnen  ein  paar  Mandate  zu;  da  habt  ihr 
den  Knochen,  dann  werdet  ihr  uns  einige  Zeit  unseres  Weges 
ziehen  lassen!"  Das  ist  die  Rechnung,  die  sie  machen.  Die  Leute 
vergessen  aber,  daß  der  ganze  Kampf  um  das  Wahlrecht  für  die 
Arbeiter  nur  ein  Bestandteil,  nur  ein  verhältnismäßig  kleines  Rad 
in  dem  großen  Getriebe  ihrer  Bewegung  ist;  daß  der  Kampf  um  das 
Wahlrecht  gar  nichts  anderes  ist,  als  der  Kampf  um  eines  der 
Mittel,  ihre  Ideen,  die  weit  über  das  Wahlrecht  hinausliegen,  zu  er- 
zwingen; daß  der  Kampf  um  das  Wahlrecht  einfach  nicht  zur  Ruhe 
kommen  kann,  bevor  er  seinen  Zweck  erfüllt  hat.  Es  ist  lächerlich, 
wenn  man  davon  spricht,  ob  die  Arbeiter  sich  mit  diesen  paar  Man- 
daten „zufrieden"  geben  würden.  Man  fragt,  ob  wir  die  Wahlreform 
Badeni  „annehmen"  wollen,  das  ist  Unsinn! 

Parteigenossen!  Für  uns  steht  die  Frage  so:  Wir  stehen  im 
Kampf  gegen  ein  feindliches  Heer  und  sind  in  der  Lage,  einen 
Schritt  nach  vorwärts  zu  machen  und  weiter  vorne  unsere  Fahnen 
aufzupflanzen.  Das  ist  aber  noch  lange  nicht  unser  Ziel.  Wir  fassen 
von  neuem  Fuß,  um  unsere  Batterien  aufzustellen  und  erst  recht 
hineinzufeuern.  Nicht  um  einen  Vertrag,  nicht  um  einen  Waffen- 


Die  Badenische  Walilrdoim.  169 


stillstand  handelt  es  sich,  geschweige  um  Frieden  auch  nur  ihr 
einen  einzigen  Augenblick.  Vielmehr  ist  ganz  kühl  zu  erwägen,  was 

ist  der  Sache  der  Sozialdemokratie,  was  ist  der  Sache  der  Pe- 
volutionierung  des  Proletariats  nützlich?  Wie  können  wir  die 
jetzige  Situation  am  besten  verwerten?  Für  uns  steht  die  Frage 
so:  Die  Wahlreform  Badeni  ist  in  den  Augen  eines  jeden  ver- 
nünftigen politisch  klaren  Menschen  gerichtet  sowohl  vom  Stand- 
punkt der  politischen  Gerechtigkeit,  als  auch  von  dem  Standpunkt, 
daß  diese  Wahlreform  niemals  ein  Abschluß  der  Wahlrechts- 
bewegung sein  kann.  (Sehr  richtig!)  Im  Gegenteil,  diese  Wahlreform 
kann  nichts  anderes  sein,  als  der  Ausgangspunkt  einer 
neuen  W  a  h  1  r  e  c  h  t  s  b  e  w  e  g  u  n  g,  als  ein  Mittel,  das  all- 
gemeine, gleiche  und  direkte  Wahlrecht  zu  erkämpfen.  Es  ist  auch 
in  Genossenkreisen  hie  und  da  das  W'ort  gefallen,  ob  wir  diese 
Wahlreform  „anerkennen"  sollen  oder  nicht.  Da  habe  ich  nur  die 
eine  Frage:  Gibt  es  einen  unter  Ihnen,  der  unser  Vereinsrecht, 
unser  Versammlungsrecht,  unser  Preßgesetz  „anerkennt"?  (Rufe: 
..Nein!")  Nein!  Wir  wissen,  wras  wir  von  dem  allen  zu  halten 
haben,  und  gerade  indem  wir  es  bis  aufs  äußerste  ausnützen, 
protestieren  wir  am  allerschärfsten  gegen  seinen  Bestand.  Wenn 
man  an  der  Kette  zerrt,  so  daß  man  sie  zerreißt,  so  ist  das  ja  gewiß 
im  gewissen  Sinne  eine  „Anerkennung"  der  Fessel;  aber  wir  an- 
erkennen sie  nur,  um  sie  zu  beseitigen!  Wir  haben  auch  nicht  auf 
diese  fünfte  Kurie  gewartet.  Im  Jahre  1891  sind  wir,  gerade  um 
gegen  das  geltende  Wahlrecht  zu  protestieren,  in  den  Wahlkampf 
eingetreten;  und  Sie  werden  sich  erinnern,  daß  gerade  dieser  Ein- 
tritt das  Mittel,  der  Ausgangspunkt  der  späteren  großen  Wahl- 
rechtsbewegung  geworden  ist.  Niemand  von  uns  hätte  gesagt: 
„Indem  du  dich  als  Kandidaten  aufstellen  lassest  —  als  unmöglichen 
und  aussichtslosen  —  erkennst  du  den  Fünf-Gulden-Zensus  an." 
Davon  kann  also  gar  keine  Rede  sein.  Wir  stehen  heute  vor  einer 
rein  praktischen  Frage.  Nachdem  wir  unser  Urteil  gefällt  haben, 
müssen  wir  uns  fragen:  Was  werden  wir  mit  dem  neuen 
Dinge  machen? 

Parteigenossen!  Wir  hätten  uns  ja  ganz  gut  auf  den  Standpunkt 
stellen  können,  zu  sagen,  die  Wahlreform  des  Grafen  Badeni  liegt 
jetzt  noch  dem  Reichsrat  vor.  Am  20.  April  wird  die  erste  Verhand- 
lung im  Plenum  beginnen  und  am  28.  April  oder  irgendeinem  an- 
dern Tage  wird  sie  fertig  sein  und  sanktioniert  wird  sie  vielleicht 
erst  im  Juli.  Wir  konnten  also  ganz  gut  dem  Parteitag  vorschlagen, 
sich  auf  den  Standpunkt  zu  stellen,  diese  Wahlreform  zu  ver- 
urteilen und  gegen  sie  zu  protestieren,  ja  sie  zu  verhindern,  obgleich 
wir  wissen,  daß  wir  es  nicht  können.  Das  hätte  freilich  nach 
außen  sehr  hübsch  ausgesehen;  aber  ich  glaube,  daß  wir  damit 
unsere  Pflicht  nicht  erfüllt  hätten,  die  nicht  nur  darin  besteht,  ein 
Urteil  zu  fällen,  sondern  aus  den  Tatsachen  Schlüsse  zu  ziehen 
und  uns  nicht  durch  Äußerlichkeiten  blenden  zu  lassen.  Nach 
unseren  Schlüssen  müssen  wir  dann  unsere  Haltung  nüchtern  und 
praktisch  einrichten.  Unter  den  Jungtschechen  besteht  heute  ein 
großer  Streit  darüber,  ob  sie  bei  der  dritten  Lesung  für  oder  gegen 


170  Von  Taurfc  bis  Badeni. 


die  Wahlreform  Badeni  stimmen  sollen.  Nun,  wir  haben  ja  den 
Jungtschechen  nicht  Ratschläge  zu  erteilen;  aber  wenn  sie  ernst- 
lich etwas  für  die  Wahlreform  tun  wollen,  dann  sollten  sie  sich 
nicht  um  die  dritte  Lesung,  sondern  hauptsächlich  um  die  zweite 
Lesung  des  Entwurfes  im  Parlament  kümmern.  Bei  dieser  läßt  sich 
eine  große  Menge  der  gröbsten  Dinge  ausmerzen,  und  wenn  die 
Jungtschechen  bei  derselben  mit  den  Antisemiten,  mit  Perner- 
storfer,  Kronawetter  und  noch  ein  paar  anderen  Wildlingen  sich 
gehörig  einsetzen  würden,  so  könnten  sie  vielleicht  eine  Reihe  von 
scheinbar  unbedeutenden,  tatsächlich  aber  schwerwiegenden 
Fehlern  beseitigen.  Ich  erwähne  beispielsweise  nur  einen  Punkt, 
der  viel  zu  wenig  beachtet  wird,  daß  nämlich  der  Sonntag*)  zum 
Wahltag  erklärt  wird.  Es  ist  anerkennenswert,  daß  die  Jung- 
tschechen so  klug  waren,  nochmals  den  Slavikschen  Antrag  auf 
Einführung  des  allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Wahlrechtes  als 
Minoritätsantrag  einzubringen.  Dadurch  sind  sie  in  die  Lage  ge- 
setzt, nochmals  für  das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht 
zu  stimmen,  und  wenn  dieses  abgelehnt  wird,  sich  einfach  für  das 
zu  entscheiden,  was  vorhanden  ist.  Es  war  das  ganz  klug,  aber 
nicht  entscheidend.  Uns  handelt  es  sich  nicht  darum,  wie  die  Partei 
dem  Volke  gegenüber  feiner  und  eleganter  aussieht,  wie  sie  sich 
leichter  einen  Glorienschein  verleiht,  sondern  wie  das  Wahlrecht 
aussehen  wird.  Und  da  ist  vor  allem  für  uns  von  Bedeutung,  daß 
bei  diesem  wichtigen  Punkte  energisch  eingesetzt  werde. 

Es  liegt  auch  ein  Minoritätsantrag  vor,  in  bezug  auf  die  Seß- 
haftigkeit, denn  die  sechsmonatige  Seßhaftigkeit  wird  so  manchen 
Arbeiter  vom  Wahlrecht  ausschließen  und  es  wird  schließlich  — 
wie  in  Deutschland  —  darauf  ankommen,  zu  welcher  Jahreszeit 
gewählt  wird,  ob  ein  Arbeiter  gerade  anwesend  oder  auf  der 
Wanderschaft  auswärts  als  Arbeiter  beschäftigt  ist.  Alle  diese 
Dinge  könnten  noch  in  der  Spezialdebatte  verbessert  werden. 
Aber  darüber  müssen  wir  uns  klar  sein:  das  heutige  Parlament 
bringt  einen  Widerstand  gegen  das  Ministerium  Badeni  nicht  mehr 
auf,  weder  zum  Guten,  noch  zum  Schlechten.  Dieses  Parlament 
kann  und  wird  diese  Wahlreform  nicht  mehr  verhindern. 

Ein  zweiter  Umstand,  auf  den  wir  nicht  vergessen  dürfen,  ist, 
selbst  wenn  die  Wahlreform  nicht  zustande  käme,  der,  daß  der 
Parteitag  mit  Rücksicht  darauf,  daß  wir  spätestens  im  Februar 
nächsten  Jahres  Neuwahlen  unbedingt  haben  müssen,  verpflichtet 
ist,  diese  Neuwahlen  und  seine  Haltung  zu  ihnen  in  ruhige  und 
objektive  Erwägung  zu  ziehen. 

Der  schärfste  Protest  gegen  die  Badenische  Wahlreform  ist  be- 
rechtigt; sie  ist  ein  Produkt,  das  würdig  ist  derer,  die  es  erzeugt 
haben.  Sie  ist  heuchlerisch  bis  in  das  Mark  hinein,  sie  anerkennt 
ein  Prinzip,  nur  um  es  herabzuzerren  und  es  zu  vernichten. 

Wenn  wir  aber  diesen  Protest  ausgesprochen  haben,  dann  — 

*)  Der  Sonntag  wurde  erst  nach  dem  Umsturz  überall  zum  Wahltag. 
Vorher  wurde  eine  solche  Forderung  geradezu  als  Versuch  einer  Sonntags- 
schändung abgelehnt. 


l  >le  Badenische  Wahlreform.  I71 

glaube  ich     -  haben  wir  die  Verpflichtung,  den  Tatsachen  ins  Auge 

ZU   sehen   und   ZU   sagen:   Was   werden  wir   mit  diesem   Monstrum, 
mit  dieser  Mißgeburt  anfangen? 

Parteigenossen!  r;s  liegt  eine  Anzahl  von  Anträgen  aus  den 
Organisationen  vor  und  icli  erwähne  daraus  als  ersten  den  Antrag 
der  mittelmährischen  Kreisorganisation,  welcher  lautet  (liest): 

„Per  Parteitag  möge  beschließen:  Die  Regierungsvorlage  betreffend 
die  Wahlreform  sei  auf  das  entschiedenste  zu  bekämpfen  und  mit  allen 
Mitteln  müsse  versucht  werden,  sie   unmöglich  zu   machen." 

Ich  bin  vollständig  dieser  Ansicht  und  wenn  es  jemanden  auf 
diesem  Parteitag  gibt,  der  uns  ein  Mittel  nennen  kann,  noch  in 
diesem  Moment  die  Badenische  Wahlreform  zu  verhindern  und 
anstatt  ihrer  eine  bessere  Wahlreform  zu  schaffen,  so  werden  wir 
mit  Freuden  bereit  sein,  dieses  Mittel  anzuwenden.  Nachdem  wir 
dies  aber  für  eine  Illusion  halten,  sind  wir  gezwungen,  die  vor- 
liegende Wahlreform  als  fertige  Tatsache  anzusehen. 

Der  Antrag  der  Parteivertretung  geht  also  dahin  (liest) : 
„1.  Der  Parteitag  beschließt:  Die  Wahlreform,  die  von  der  Sozial- 
demokratie der  Regierung  und  dem  Parlament  abgezwungen  wurde, 
liegt  abgeschlossen  dem  Parlament  vor  und  ihre  Annahme  ist  un- 
zweifelhaft. Sie  gewährt  dem  arbeitenden  Volke  das  allgemeine  Wahl- 
recht, nur,  um  die  Wirkung  seines  Stimmrechtes  zu  vernichten.  Der  ge- 
samte Besitzstand  der  österreichischen  Verfassung  an  Vergewaltigung, 
Unterdrückung  und  Korruption  wird  unverkürzt  erhalten  und  die  fünfte 
Kurie  den  Vertretern  der  besitzenden  Klassen  zur  Majorisierung  aus- 
geliefert. Die  ungeheuerliche  Größe  der  Wahlbezirke,  das  indirekte 
Wahlrecht,  die  Bedingung  der  sechsmonatigen  Seßhaftigkeit  gestaltet 
die  Wahlreform  zu  einem  wahren  Monstrum.  Die  Badenische  Wahl- 
reform entspricht  darum  in  keiner  Weise  dem  Willen  und  dem  Bedürfnis 
des  arbeitenden  Volkes,  sondern  ist  ein  von  der  Not  des  Moments  ein- 
gegebenes elendes  Flickwerk.  Der  Parteitag  protestiert  entschieden  da- 
gegen, daß  in  der  Anflickung  einer  fünften  Kurie  die  Erfüllung  der  in 
der  Wahlrechtsbewegung  ausgesprochenen  Forderung  gesehen  werde. 
Der  Kampf  zur  Erringung  des  allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Wahl- 
rechtes muß  darum  auch  fernerhin  mit  aller  Energie  fortgeführt  werden. 

2.  Der  Parteitag  beschließt  weiter:  Nachdem  die  Vergewaltigung  durch 
die  fünfte  Kurie  eine  so  gut  wie  vollendete  Tatsache  geworden,  ist  es 
die  Pflicht  der  Partei  und  ihrer  Vertreter,  aus  diesen  gegebenen  Tat- 
sachen den  größtmöglichen  Nutzen  zu  ziehen  und  das  neue  Wahl- 
unrecht als  Mittel  der  Agitation  und  Organisation,  wie  insbesondere  als 
Waffe  zur  Erringung  des  allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Wahl- 
rechtes, gründlich  auszunützen.  Die  Parteivertretung  wird  darum  beauf- 
tragt, nicht  erst  die  Ausschreibung  von  Neuwahlen  abzuwarten,  sondern 
gleich  nach  dem  Inslebentreten  der  neuen  Wahlordnung  die  Ver- 
trauensmänner einzuladen,  an  einem  geeigneten  Orte  des  Wahlkreises 
zusammenzutreten,  um  die  Wahlagitation  in  die  Hand  zu  nehmen  und 
Kreiswahlkomitees  zu  bilden. 

3.  In  allen  Kronländern  ist  eine  kräftige  Agitation  zu  entfalten,  um  die 
Landtage  zu  veranlassen,  die  indirekten  Wahlen  zu   beseitigen*)." 

*)  Dieser  Antrag  wurde  dann  auch  mit  101  gegen  9  Stimmen  ange- 
nommen, nur  der  dritte  Punkt  wurde  mit  Zustimmung  des  Refe- 
renten in  folgender  von  Resel  (Graz)  beantragten  Fassung  angenommen: 


172  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


Es  sind  nun  auch  Anträge  von  mehreren  Organisationen  ein- 
gelaufen und  insbesondere  ein  Antrag  der  Organisation  Wien  III, 
welcher  im  wesentlichen  mit  dem  Antrag  der  Parteivertretung 
übereinstimmt.  Er  lautet  (liest): 

„Der  Parteitag  erklärt  das  Wahlreformprojekt  des  Grafen  Badeni 
für  unsinnig  und  ungerecht.  Es  bedeutet  nicht  im  geringsten  eine  Er- 
füllung der  Arbeiterforderungen,  sondern  verschärft  noch  den  Gegen- 
satz zwischen  Besitzlosen  und  Kapitalisten,  indem  es  den  erstercn  ein 
Scheinrecht  gibt,  unbrauchbar  in  jeder  Beziehung.  Sollte  jedoch  dieses 
Projekt  trotz  des  einmütigen  Widerstandes  der  organisierten  Arbeiter- 
schaft Gesetz  werden,  so  beschließt  der  Parteitag,  daß  in  diesem  Falle 
die  Wahlrechtsagitation  ungeschwächt  fortzusetzen  ist.  Die  vornehmste 
Parole  bei  einer  etwaigen  Wahl  hat  nach  wie  vor  zu  lauten:  Beseitigung 
der  Kurien,  allgemeines,  gleiches  und  direktes  Wahlrecht!" 

Die  Organisation  Wien  III  faßt  also  nur  die  Eventualität  einer 
Wahl  ins  Auge.  Die  Parteivertretung  ist  aber  der  Ansicht,  daß 
dieses  nicht  genüge.  Da  wir  nicht  in  drei  Monaten  wieder  einen 
Parteitag  abhalten  können,  dürfen  wir  hier  nicht  bloß  eine 
prinzipielle  Erklärung  abgeben,  sondern  müssen  ganz  klar  be- 
schließen, was  wir  tun  wollen.  Heute  sind  wir  beisammen,  wir 
stellen  klar  und  konkret  fest,  was  wir  wollen  und  wTelche  Mittel 
hiezu  in  die  Hand  zu  nehmen  sind.  Darum  haben  wir  beantragt,  daß 
auch  Kreiswahlkomitees  zu  wählen  sind,  die  sich  zunächst  an  die 
Wahlkreise  der  fünften  Kurie  anschließen. 

Ein  weiterer  Antrag  der  Bezirksorganisation  des  9.  Bezirkes 
Wien  liegt  vor,  welcher  lautet  (liest): 

a)  „Es  seien  Kandidaten  für  die  Reichsratswahlen  aufzustellen." 

Nach  dem,  was  ich  gesagt  habe,  versteht  sich  das  von  selbst. 
Es  kommt  aber  noch  Eines  dazu.  Die  Parteien,  die  heute  die  fünfte 
Kurie  schaffen,  sagen  sich:  „Wenn  wir  die  Leute  in  der  fünften 
Kurie  beschäftigen,  so  werden  sie  uns  in  der  dritten  und  vierten 
Kurie  Ruhe  geben."  Aber  wir  sind  ihnen  auch  in  der  dritten  und 
vierten  Kurie,  trotz  des  Zensus,  recht  unangenehm  geworden.  Wir 
lassen  uns  von  unseren  Gegnern  nicht  foppen  und  wollen  auch  sie 
nicht  foppen.  Edelmütig  wie  wir  sind,  können  wir  ihnen  gleich 
heute  sagen,  daß  wir,  weil  wir  in  der  fünften  Kurie  ein  so  lumpiges 
Wahlrecht  haben,  den  Kampf  um  die  anderen  Kurien  nicht  etwa 
aufgeben  werden.  (Zustimmung.) 

Dieselbe  Organisation  beantragt  (liest): 

b)  „Sämtliche  Kandidaten  haben  das  sozialdemokratische  Programm 
(Hainfelder  Programm)  zu  akzeptieren." 


3.  In  allen  Kronländern  ist  eine  kräftige  Agitation  zur  Beseitigung  des 
indirekten  Wahlrechtes  zu  entfalten  und  ist  hiezu  auch  in  den  Landtags- 
wahlkampf einzutreten. 

Nach  dem  Regierungsentwurf  sollte  in  den  Landgemeinden  das  Wahl- 
recht durch  Wahlmänner,  also  indirekt,  und  überdies  mündlich  vor- 
genommen werden,  außer  wo  der  Landtag  diese  Wahlart  auch  für  die 
privilegierte  Landgemeindenkurie  abschaffte. 


Die  Badenische  Wahlreform.  l7^ 


Das  ist  ein  Antrag,  der  sich  meiner  Ansicht  nach  ganz  von 
selbst  verstellt.  Die  sozialdemokratische  Partei  stellt  selbstver- 
ständlich mir  Sozialdemokraten  als  Kandidaten  auf.  Wer  Sozial- 
demokrat ist,  das  sagt  ja  unser  Parteiprogramm,  und  die  Sache 
wäre  damit  einfach  erledigt,  wenn  wir  nicht  genau  wüßten  —  und 
ich  will  der  Präge  von  vornherein  nicht  aus  dem  Wege  gehen  - 
daß  dieser  Antrag  sich  um  eine  bestimmte  Person  dreht.  (Rute: 
„Pernerstorf  er  1")  Ich  bedauere  sehr,  daß  der  Abgeordnete  Perner- 
storfer,  der  die  Absicht  gehabt  hat,  herzukommen,  nicht  hier  ist 
und  hören  kann,  was  die  Genossen  darüber  zu  sagen  haben.  Meines 
Erachtens  ist  es  nicht  die  Aufgabe  des  Parteitages,  sich  mit  ein- 
zelnen Kandidaturen  zu  beschäftigen.  (Sehr  richtig!)  Dies  würde 
nur  eine  Störung  in  die  Diskussion  bringen.  Wir  können  diese  Sache 
mit  voller  Beruhigung  den  Parteigenossen  überlassen;  aber  diesen 
Antrag  muß  jeder  als  einen  ganz  selbstverständlichen  und  darum 
überflüssigen  ansehen. 

Weiter    liegt    ein    Antrag    der    Kreisvertretung   West- 
böhmens vor  (liest): 

„Im  Falle  die  Badenische  Wahlreform  Gesetz  werden  sollte,  wolle  die 
Parteivertretung  ein  leichtverständliches  Handbuch  herausgeben,  welches 
der  Arbeiterschaft  eine  Anleitung  und  das  Verhalten  über  und  zu  den 
Reichsratswahlen  klarlegen  soll,  und  zwar  zu  einem  billigen  Preis." 

Das  können  wir  ja  tun.  Es  ist  zwar  etwas  verfrüht,  aber  wir 
können  dagegen  gar  nichts  einwenden. 

Nun  der  Antrag  des  Genossen  F  e  ig  1*)  (liest): 
„Bei  Zustandekommen  irgendeines  Wahlreformgesetzes  haben  sofort 
die  Kreisvertretungen  Konferenzen  einzuberufen,  den  Wahlkampf  bei 
denselben  auf  die  Tagesordnung  zu  setzen  und  je  einen  Vertreter  zu 
einer  Reichskonferenz  zu  delegieren,  welche  von  der  Parteivertretung 
einzuberufen  ist  Diese  Reichskonferenz  hat  die  notwendige  Vorsorge 
für  die  Wahlagitation  des  gesamten  Reiches  zu  treffen." 

Dagegen  läßt  sich  natürlich  absolut  nichts  einwenden;  ich  meine 
aber,  das  Wesentlichste  von  dem,  wTas  die  Kreisvertretungen  da 
mit  der  Reichskonferenz  zusammen  beschließen  sollen,  das  können 
wir  auch  heute  schon  beschließen.  Wir  haben  —  ich  sage  es  offen  — 
zu  einer  Zeit,  wo  man  noch  nicht  wußte,  in  welches  Stadium  zu 
Ostern  die  Badenische  Wahlreform  gekommen  sein  wird,  einen 
ähnlichen  Antrag  selbst  beschlossen  gehabt.  Heute  sehen  wir  die 
Situation  klar,  und  ich  meine,  daß  es  überflüssig  ist,  dies  erst 
wieder  einer  solchen  Konferenz  zu  überlassen. 

Wichtiger  als  diese  Konferenz  ist  es,  daß  der  Parteitag  deutlich 
erklärt,  was  er  will.  Das  ist  in  unserem  Antrag  ausgesprochen. 
Mögen  Sie  ihn  nun  annehmen  oder  ablehnen,  wir  waren  ver- 
pflichtet, Ihnen  unsere  Meinung  zu  sagen. 

Und  nun  erlauben  Sie  mir,  Eines  zu  bemerken:  Die  Wahlreform 
Badenis  ist  ganz  niederträchtig!  Das,  was  dabei  herauskommt,  geht 

*)  Feigl,  ein  Wiener,  vertrat  damals  die  Organisation  Gloggnitz.  Er 
ist  seither  aus  der  Partei  ausgetreten. 


174  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


darauf  hin,  der  Arbeiterklasse  möglichst  wenig  zu  geben  und  mög- 
lichst viel  zu  nehmen.  Aber  wir  müssen  uns  sagen,  das  sehen  wi  r. 
die  wir  den  ganzen  Kampf  mitgemacht  haben,  die  wir  wissen,  was 
das  Wahlrecht  sein  soll;  die  großen  Massen  sehen  das  aber  nicht; 
für  die  große  Masse  der  bisher  Rechtlosen  —  und  das  sind 
3,600.000  Menschen  —  wird  die  Tatsache,  daß  sie  einen  Stimm- 
zettel in  die  Hand  bekommen,  daß  sie  ein  politisches  Recht  aus- 
üben dürfen,  das  Neue  und  Wichtige  sein.  Das  weiß  aber  jeder: 
Die  Wahlreform  hat  nicht  Badeni  und  hat  nicht  das  Parlament 
gemacht;  diese  haben  nur  das  am  Gewissen,  was  an  ihr  ver- 
pfuscht, schlecht  und  niederträchtig  ist.  Das  ist  ihr  Werk.  Die 
einzige  Tatsache,  die  daran  gut  ist,  daß  diese  Rechtlosen  ein 
kleines,  beschränktes,  verdorbenes,  aber  immerhin  ein  Wahlrecht 
bekommen,  diese  Tatsache  verdanken  sie  weder  der  Regierung 
noch  dem  Parlament,  und  das  wird  das  ganze  arbeitende  Volk  in 
Österreich  wissen,  das  Recht  verdanken  sie  einzig  und  allein  der 
Sozialdemokratie  aller  Nationen  Österreichs.  (Beifall.)  Mögen  sie 
dieses  Recht  noch  so  sehr  einschränken;  indem  sie  uns  dieses 
elende  Papier  in  die  Hand  gegeben  haben,  haben  sie  uns  gleichzeitig 
die  Waffe  in  die  Hand  gegeben,  zu  sagen:  Daß  ihr  das  Wahlrecht 
habt,  das  verdankt  ihr  uns.  Daß  ihr  ein  so  schlechtes  Wahlrecht 
habt,  das  verdankt  ihr  den  anderen.  Wenn  ihr  ein  besseres  haben 
wollt,  so  müßt  ihr  mit  uns  gehen. 

In  dem  ursprünglichen  Badenischen  Wahlreformentwurf  hatten 
die  ländlichen  Dienstboten  kein  Wahlrecht.  Das  waren  angeblich 
210.000  Menschen,  wahrscheinlich  sind  es  viel  mehr.  Da  haben  wir 
aber  gesagt:  Ihr  könnt  das  schon  machen,  das  ist  ganz  gut,  wenn 
ihr  denen  kein  Wahlrecht  gebt.  Dann  brechen  wir  aber  in  die 
Dörfer  ein,  wie  die  hungrigen  Wölfe,  und  werden  den  Bauern- 
knechten erzählen:  „Ihr  seid  die  einzigen  Leute  in  Österreich,  die 
kein  Wahlrecht  haben,  weil  ihr  so  stumpfe,  treue  Untertanen  seid! 
Macht  doch  den  Schädel  auf!"  Diese  Drohung  hat  selbst  die  Linke 
und  Graf  Badeni  verstanden,  und  nur  der  Falkenhayn  ist  so  dumm, 
daß  er  es  nicht  verstanden  hat.  (Rufe:  „Der  Hagenhofer  auch 
nicht!")  Dem  nehme  ich  es  nicht  so  übel.  (Heiterkeit.) 

Also,  Parteigenossen:  Wir  schließen  die  Wahlreformbewegung 
nicht,  wir  nehmen  nicht  an,  wir  geben  uns  nicht  zufrieden,  wir 
akzeptieren  keine  Abschlagszahlung,  sondern,  wenn  man  uns  einen 
Stein  anstatt  eines  Brotes  hinwirft,  dann  nehmen  wir  den  Stein 
auf,  gehen  mit  dem  Stein  vorwärts  und  schleudern  ihn  dem  Feind 
ins  Gesicht.  (Lebhafter  Beifall.)  Das  ist  die  Taktik,  die  wir  ein- 
schlagen müssen,  das  ist  die  einzige  wirkliche  revolutionäre  Taktik, 
die  jedes  Moment  benützt,  das  benützt  werden  kann,  um  der 
Arbeiterklasse  mehr  politische  Macht  zu  geben  und  diese  Taktik 
wird,  so  hoffe  ich  auch,  von  der  großen  Majorität  des  Parteitages 
als  richtig  erklärt  werden.  (Lebhafter  Beifall.) 

Schlußwort. 
Die  Debatte  war  lang,  aber  es  ist  sehr  notwendig,  daß  der  Par- 
teitag mit  dem  Bewußtsein  auseinandergeht,  daß  hier  nichts  ver- 


Die  Badenische  Wahlreform.  175 

borgen  geblieben  Ist,  daß  niemand  im  letzten  Winkel  .seines  Herzens 
etwas  verborgen  habe,  was  hier  nielit  zum  Ausdruck  gebrachl 
werden  konnte.  Wir  sind  es  den  Genössen  und  uns  schuldig,  daß 
volle  Klarheit  geschaffen  werde.  Die  Anwürfe,  welche  gegen  das 
Referat  und  gegen  die  Anträge  der  Parteivertretung  erhöhen 
wurden,  sind  alle  eigentlich  auf  einen  Punkt  zurückzuführen:  Die 
Wahlreform  sei  schlecht  sie  sei  eine  Beleidigung  für  die  Arbeiter- 
klasse und  es  sei  unserer  unwürdig,  sieh  mit  ihr  zu  beschäftigen 
Diejenigen,  welche  ineinen,  und  es  gibt  auch  solche  hier,  daß  man 
die  Badenische  Wahlreform  noch  verhindern  kann  —  das 
bezweckt  der  Antrag  aus  Mittelmähren  und  der  Antrag  des  Ge- 
nossen Be  rs  t*),  —  sagen,  daß  wir  alle  Mittel  in  Bewegung  setzen 
müssen,  um  diese  Wahlreform  zu  verhindern.  Ich  habe  schon  in 
der  Einleitung  gesagt:  Wenn  uns  jemand  ein  Mittel  dazu  angeben 
kann,  so  werden  wir  es  anwenden.  Aber  mit  großen  Worten  ist 
nichts  getan.  Wenn  Genosse  Berstl  die  14  Tage  oder  4  Wochen 
—  so  lange  wrird  es  dauern,  bis  der  Entwurf  das  Abgeordneten- 
haus passiert  hat  —  auch  noch  so  sehr  ausnützt,  um  seine  Rede 
zu  wiederholen,  so  wird  dadurch  die  Wahlreform  Badenis  nicht 
verhindert  werden.  Da  die  Wahlreform  nicht  zu  verhindern  ist,  so 
wird  ihnen  der  Parteitag  auf  diesem  Wege  nicht  folgen.  Wir  stehen 
vor  einer  harten,  vor  einer  unangenehmen  Tatsache,  aber  vor  einer 
Tatsache.  Und  daraus  müssen  wir  die  Konsequenzen  ziehen.  Das 
hat  die  Parteivertretung  gewußt  und  darum  hat  sie  den  Antrag 
eingebracht,  der,  wie  ich  überzeugt  bin,  auch  angenommen  werden 
wird. 

Der  Antrag  der  Genossen  des  3.  Wiener  Bezirkes  besagt 
im  wesentlichen  dasselbe.  Der  Vertreter  dieses  Bezirkes  hat  mich 
beauftragt,  hier  zu  erklären,  daß  er  seinen  Antrag  zurück- 
ziehe, wenn  unserem  Antrag  beigefügt  werde,  daß  in  die  Wahl- 
rechtsbewegung unter  der  Parole  der  Beseitigung  der 
Kurien  eingetreten  werden  soll.  Ich  finde,  daß  dies  selbstver- 
ständlich ist,  und  wir  sind  gern  bereit,  den  Genossen  in  dieser  Be- 
ziehung entgegenzukommen. 

Es  ist  weiters  eine  Reihe  von  Anträgen  eingebracht  worden,  die 
allerdings  die  Badenische  Wahlreform  als  eine  Tatsache  ansehen, 
aber  zu  einem  anderen  Schluß  kommen  als  wir.  Genosse  Ger  in**) 
wünscht,  daß  wir  die  Mandate  niederlegen,  wenn  wir  sie  haben. 
Ich  meine,  wenn  wir  sie  haben  werden,  dann  werden  wir  darüber 
weiter  reden.  Wir  können  doch  nicht  über  Mandate,  die  vorläufig 
noch  andere  haben,  beschließen.  Andere  Anträge  decken  sich  mit 
dem,  was  die  Parteivertretung  beantragt  hat,  oder  unterscheiden 
sich  nur  wenig.  Wir  haben  gesagt,  daß  unmittelbar  nach  Annahme 
des  Gesetzes  die  Parteivertretung  alle  Organisationen  der  zu- 
künftigen Wahlkreise  auffordern  soll,  ihre  Vertrauensmänner  zu 
einer   Konferenz   einzuberufen.   Es    ist   selbstverständlich,   daß   das 


)   Ein  Advokat  in  Neunkirchen,  der  diesen  Bezirk  vertrat. 

)   Anton   fierin,  der  italienische   Vertreter  von   Meran  und  Rovercto. 


176  Von  Taatfe  bis  Badeni. 


nicht  anders  möglich  ist  als  durch  unsere  Bezirksorganisationen. 
Aber  unsere  Kreisorganisationen,  wie  wir  sie  heute  haben,  ent- 
sprechen nicht  den  neuen  Wahlkreisen.  Es  muß  speziell  für  die 
Wahlorganisation  der  Kreise  ein  W'ahlkomitee  eingesetzt  werden, 
damit  die  Organisation  ausschließlich  für  den  Wahlkampf 
zentralisiert  ist.  Diese  sind  also  nicht  mit  den  Kreisvertretungen, 
die  wir  heute  haben,  zu  verwechseln.  Das  ist  eine  Notorgani- 
sation, eine  momentane  Organisation,  die  geschaffen  werden 
muß.  Die  zukünftige  Parteivertretung  wird  sich  an  die  Kreisver- 
tretungen zu  wenden  haben.  Aber  ausgehen  soll  die  Sache  von  der 
Parteivertretung.  Diese  hat  den  Moment  zu  bestimmen,  in  welchem 
eingegriffen  werden  muß  und  es  ist  unmöglich,  dies  den  einzelnen 
Kreisvertretungen  zu  überlassen. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  diese  Wahlkreiskomitees,  die 
da  gebildet  werden  sollen,  autonom  sind  und  nicht  unter  der 
Euchtel  dieser  Parteivertretung,  die  man  schrecklich  zu  fürchten 
scheint,  obwohl  ihr  der  Vorwurf  gemacht  wird,  daß  sie  nichts  tut 
(Heiterkeit),  sondern  die  Kandidaten  aufstellen  werden,  die  sie 
wollen;  es  versteht  sich  ebenso  von  selbst,  daß  sie  das  tun  müssen 
im  Einvernehmen  mit  der  Parteivertretung  wegen  der  Einheitlich- 
keit der  Aktion.  Die  Parteivertretung  ist  nicht  dazu  da,  Ihnen 
Kandidaten  zu  oktroyieren,  und  selbst,  wenn  sie  das  tun  wollte,  so 
glaube  ich,  hat  die  Energie  der  heutigen  Verhandlung  bewiesen,  daß 
Sie  kräftig  genug  sind,  um  das  zu  verhindern.  Aber  die  Parteiver- 
tretung hat  die  Pflicht,  einheitlich  die  Sache  zu  organisieren,  zu 
vermitteln,  wo  sich  Widersprüche  zeigen  —  das  ist  ihre  Aufgabe 
und  darum  ist  der  Antrag  Daszynski*)  notwendig.  Der  Antrag 
Beer**),  der  noch  vorliegt,  spricht  von  einer  Kronlandsleitung.  Die 
gibt  es  aber  nicht.  (Genosse  Beer:  Das  ist  ein  Irrtum.)  Das  meine  ich 
auch!  Ich  möchte  bitten,  daß  der  Genosse  seinen  Antrag  zurück- 
zieht, weil  er  nur  Verwirrung  schafft. 

Es  liegt  sodann  eine  Reihe  von  Anträgen  in  bezug  auf  die 
Agitation  vor.  Zwei  oder  drei  Anträge  wünschen,  daß  man  in  die 
Landtagswahlen  eingreift,  um  für  die  Beseitigung  der  indirekten 
Wahlen  zu  agitieren.  Ja,  Genossen,  es  gibt  aber  einige  Kronländer, 
wo  in  der  nächsten  Zeit  Landtagswahlen  gar  nicht  sein  werden,  so 
in  Böhmen  und  Galizien.  Wir  haben  unsere  Anträge  deshalb  etwas 
allgemein  gefaßt  und  ursprünglich  gesagt:  Man  soll  einfach  in  der 
nächsten  Zeit  überhaupt  auf  die  Landtage  agitatorischen  Einfluß 
nehmen.  Der  Zusatzantrag  des  Genossen  Resel***)  sagt,  man  soll 
außerdem   bei  den  Landtags  wählen  das  machen;  wir  sind  damit 

*)  Ignaz  Daszynski,  der  derzeitige  polnische  Sejm-Marschall,  damals 
Delegierter  von  Krakau,  beantragte,  die  Aufstellung  der  Kandidaten  sei 
Sache  der  Kreisorganisationen,  die  sich  darüber  mit  der  Reichspartei- 
vertretung ins  Einvernehmen  setzen  sollen;  sollte  dieses  Einvernehmen 
nicht  erzielt  werden,  so  solle  die  Reichskonferenz  entscheiden. 

'*)  Heinrich  Beer,  der  Redakteur  des  „Metallarbeiters",  von  1907  bis 
1911  Abgeordneter  von  Dux. 

**)  Hans  Resel,  der  nachmalige  Abgeordnete  von  Graz. 


Die  Badenische  Wahlreform.  177 


einverstanden1,  wenn  irgendwo  Landtagswahlen  sind.  Ein  weiterer 
Antrag  wünscht,  daß  für  die  Bestimmung  des  Sonntags  als 

Wahltag  eine  besondere  Agitation  eingeleitet  werde.  Es  ist  sehr 
wünschenswert,  daß  dies  geschehe;  ich  möchte  Sie  aber  bitten,  dal.'. 
Sie  sich  damit  sehr  beeilen,  denn  wenn  Sie  sich  14  Tage  oder  drei 
Wochen  Zeit  lassen,  würde  es  zu  spät  sein. 

Es  liegt  schließlich  ein  Antrag  vor,  welcher  sagt,  daß  man  an 
jenem  Tage,  wo  im  Abgeordnetenhaus  die  Abstimmung  über  den 
Wahlreformentwurf  stattfindet,  überall  große  Versammlungen  ab- 
halten soll,  welche  gegen  diese  Wahlreform  Protest  erheben.  Da- 
gegen läßt  sich  absolut  nichts  sagen.  Aber  wollen  Sie  die  Ver- 
sammlungen nicht  überschätzen.  Die  Versammlungen  werden  wohl 
sehr  hübsch  sein,  aber  die  Abstimmung  über  die  Wahlreform  im 
Abgeordnetenhaus  beeinflussen  sie  dadurch  nicht.  Und  wenn  Sie 
in  diesem  Sinne  die  Versammlungen  einleiten,  ist  es  sehr  gut,  daß 
wir  formell  an  diesem  Tage  sagen:  „Heute  beweist  du  Regierung 
und  du  Abgeordnetenhaus,  was  ihr  für  Leute  seid  und  wir  er- 
klären euch  heute:  Ihr  gebt  uns  eine  Wahlreform,  wir  kennen 
euch  aber,  wer  ihr  seid  und  wie  euere  Wahlreform  aussieht." 
Kinen  weiteren  Einfluß  auf  das  Schicksal  der  Wahlreform  hat  dies 
aber  nicht. 

Ich  hätte  mich  noch  mit  dem  Antrag  Mornik*)  zu  beschäftigen, 
aber  verzeihen  Sie,  Parteigenossen,  daß  ich  das  nur  sehr  kurz 
machen  werde.  Es  ist  eine  alte  Erfahrung,  daß  man  nach  zwei 
Jahren  viel  klüger  ist  über  die  Dinge,  die  vor  zwei  Jahren  waren, 
als  man  es  früher  war,  und  der  Genosse  Mornik  und  noch  eine 
sehr  kleine  Anzahl  Genossen  im  1.  Bezirk  in  Wien,  die  meinen,  daß 
sie  heute  unser  Verhalten  tadeln  dürfen,  werden  nach  zwei  Jahren 
ebenso  überzeugt  sein,  daß  ihr  Urteil,  das  sie  heute  fällen,  falsch 
war.  Sie  werden  auch  gescheiter  werden,  ich  verzweifle  an  ihnen 
durchaus  nicht.  (Heiterkeit.)  Parteigenossen!  Ich  würde  über  den 
Antrag  Mornik  mich  ungeheuer  echauffieren,  wenn  ich  glauben 
würde,  daß  er  sehr  ernst  zu  nehmen  sei.  Er  ist  wirklich  gar  nicht 
ernst  zu  nehmen.  (Genosse  Mornik:  Also  ein  Spaß!)  Kein  Spaß, 
er  ist  Ihnen  heute  heiliger  Ernst,  aber  auch  Sie  werden  vom  Apfel 
der  Erkenntnis  essen,  wenn  er  Ihnen  auch  heute  noch  zu  sauer  ist. 
(Lebhafte  Heiterkeit.) 

Parteigenossen!  Die  Parteivertretung  war  sich  vollständig  be- 
wußt, daß  sie  nicht  nur  die  Pflicht  hat,  die  Partei  zu  führen  und 
die  Geschäfte  der  Partei  zu  verwalten,  sondern  auch  die  Aufgabe 
hat,  der  Prügelknabe  zu  sein  für  alle  Schicksale,  welche  die  Partei 
während  der  Zeit  erleidet.  Wenn  wir  eine  schlechte  Wahlreform 
kriegen,  ist  das  natürlich  die  Schuld  der  Parteivertretung.  Wenn 

*)  Mornik  hatte  beantragt,  der  Parteivertretung  „wegen  des  zweifel- 
haften Verhaltens  dem  Badenischen  Wahlreformentwurf  gegenüber"  das 
Mißtrauen  auszusprechen.  Der  Antrag  wurde  mit  allen  gegen  zwei  Stimmen 
abgelehnt.  Die  Anträge  der  Parteivertretung  wurden  übrigens  in  nament- 
licher Abstimmung  mit  101  gegen  9  Stimmen  hei  acht  Sfimmenenthaltungeh 
angenommen.  Mornik  vertrat  den  ersten  Wiener  Bezirk.  Der  Sonntag  wurde 
erst  naeh  dem  Umsturz  Wahltag. 

Adler,  Briefe.  X.  Dd.  V2 


178  Von  Taaffe  bis  H a d c 1 1  i . 


wir  etwa  in  der  Preßgesetzgebung  einen  Fortschritt  machen,  wenn 
wir  etwas  in  der  Berggesetzgebung  durchsetzen,  ist  nicht  die 
Parteivertretung  daran  schuld,  sondern  die  Genossen.  Was  ver- 
nünftig ist,  das  machen  Sie,  was  ungeschickt  ist,  das  machen  wir. 
(Lebhafte  Heiterkeit.)  Wer  diese  Teilung  der  Arbeit  nicht  über- 
nehmen will  (Heiterkeit),  der  soll  sich  an  die  Spitze  einer  Partei, 
wie  die  unsrige  ist,  überhaupt  nicht  stellen. 

Nun  erlauben  Sie,  daß  ich  mich  jetzt  mit  einem  Moment  befasse, 
das  in  der  Debatte  wiederholt  und  in  sehr  merkwürdiger  Weise 
zum  Ausdruck  gekommen  ist.  Mitunter  dieselben  Genossen,  welche 
die  Parteivertretung  beschuldigen,  daß  sie  den  Wahlrechtskampf 
nicht  auch  im  letzten  halben  Jahre  mit  demselben  Eifer  fortgeführt 
habe,  wie  unter  der  Koalition  —  und  von  dieser  Ära  hätte  man 
sprechen  sollen  und  nicht  von  der  Zeit  der  Taaffeschen  Vorlage  — , 
dieselben  Genossen  sagen:  „Glaubt  ihr  denn,  man  kann  immer  mit 
dem  Wahlrecht  kommen?  Wir  haben  ja  auch  wirtschaftliche 
Interessen."  Dieselben  Genossen,  und  auch  Dr.  Berstl,  die  ver- 
langen, daß  wir  Himmel  und  Erde  in  Bewegung  setzen  sollen,  um 
den  Badenischen  Reformentwurf  unmöglich  zu  machen.  Ich  nehme 
zu  seiner  Ehre  an,  daß  er  so  viel  Vernunft  hat,  um  zu  wissen,  daß 
wir  diesen  Entwurf  nicht  verhindern  können,  anderseits  aber  wirft 
er  uns  vor,  daß  wir  die  wirtschaftliche  Bewegung  vernachlässigen 
und  reine  Politiker  sind.  Das  sind  wir  eben  nicht.  Wir  nehmen 
die  Arbeiterklasse  als  das,  was  sie  ist,  als  eine  zu  politischen 
Dingen  durchaus  durch  ökonomische  Momente  bewegte  Klasse. 
Wir  wissen  genau,  warum  die  Wahlrechtsbewegung  bis  zu  einem 
gewissen  Punkte  zu  treiben  war,  wissen  aber  auch,  warum  sie 
nicht  weiter  zu  treiben  war;  die  Arbeiterklasse  in  Österreich  hat 
das  ganz  instinktive  Bewußtsein  gehabt,  daß  in  ihr  die  Kraft  ruht, 
ein  Wahlrecht  überhaupt  zu  bekommen,  aber  daß  sie  ohne  parla- 
mentarische Vertretung  nicht  fähig  ist,  so  weit  zu  kommen,  das 
Aussehen  dieser  Wahlreform  zu  bestimmen.  In  dem  Moment,  wo 
die  Badenische  Wahlreform  ihr  gesagt  hat:  Mag  sein  was  will, 
Stimmzettel  bekommt  ihr  alle,  in  demselben  Moment  war  die 
Heftigkeit  und  Kraft  der  Wahlrechtsbewegung  gebrochen.  (Zu- 
stimmung.) Glauben  Sie  mir,  das  haben  nicht  wir  gemacht.  Wir 
wären  ja  dann  Herrgötter,  was  wir  wirklich  nicht  sind,  aber  die 
Genossen  von  der  Opposition,  wenn  ich  so  sagen  darf,  halten  uns 
dafür.  Wir  können  nicht  eine  Bewegung  machen,  wir  können  nur 
als  Sprachrohr  aussprechen,  was  in  den  Arbeiterinassen  steckt,  und 
wenn  Sie  sagen,  daß  wir  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  weniger  gesagt 
haben,  als  was  die  Arbeiterklasse  denkt,  dann  wagen  Sie  einmal 
diese  Behauptung!  Jch  glaube,  wenn  wir  uns  eines  Fehlers  schuldig 
gemacht  haben,  so  haben  wir  eher,  und  das  wird  jeder  zugeben 
müssen,  in  dieser  Beziehung  den  Wahlrechtskampf  schärfer  in  dem 
Blatte  geführt,  als  er  in  den  Organisationen  und  in  den  Massen  der 
Arbeiterschaft  lebendig  war.  Das  ist  selbstverständlich,  in  dem 
einzelnen  Gehirn  hat  die  eine  Frage  oder  die  andere  die  Vorhand. 
Es    ist   psychologisch   und   physisch    unmöglich,    mit    einer    Frage 


Die  Badenische  Wahlreform.  179 


jahrelang  die  Massen  in  Bewegung  zu  halten;  wir  mußten  es,  um 
eine  politische  Wirkung  zu  erzielen,  aber  wir  mußten  uns  auch 
endlich  sagen:  Das  kommt,  das  können  wir  nicht  verhindern,  dar- 
über hinauszugehen  wäre  heute  eine  Kraftvergeudung.  Da  sagt  mir 
freilich  Genosse  Berstl,  und  er  hat  da  ungefähr  gesprochen,  nicht 
wie  ein  sehr  radikaler  Genosse,  sondern  wie  man  das  in  Bourgeois- 
blättern zu  lesen  bekommt  und  wie  es  die  Fabrikanten  uns  Sozial- 
demokraten nachsagen,  daß  wir  hinausgehen  aufs  Land,  die  Leute 
entflammen  und  dann  kommt  es  zu  Streiks,  die  wir  dann  nicht 
unterstützen  können.  Genosse  Berstl  hat  am  allerwenigsten 
Ursache,  in  diesem  Tone  zu  sprechen  und  Genosse  Berstl  weiß 
sehr  wohl,  er  weiß  es  ganz  genau,  daß  die  Streiktaktik  zu  ver- 
treten nicht  unser  Beruf,  aber  sein  Geschäft  ist.  (Sehr  gut!  Ge- 
nosse Dr.  Berstl:  Wir  sprechen  uns  noch*)!)  So  stehen  die  Dinge, 
und  ich  halte  es  der  Öffentlichkeit  gegenüber  für  notwendig,  die 
Parteivertretung  gegen  solche  Beschuldigungen  zu  verwahren 
(Beifall),  die  einfach  mit  den  Tatsachen  in  gröbstem  Widerspruch 
stehen,  die  den  Kern  unserer  Agitation  mißverständlich  auslegen 
und  die  Massen,  die  noch  unorganisiert  sind,  irreleiten.  Wenn  Sie 
unseren  Genossen  solche  Dinge  vorerzählen,  müssen  wir  auf  das 
energischeste  dagegen  protestieren,  damit  die  Arbeiterschaft  nicht 
irregeführt  werde  über  uns  und  unsere  Ziele.  (Lebhafter  Beifall.) 

Parteigenossen!  Man  hat  uns  schon  vor  zwei  Jahren  den  Vor- 
wurf gemacht,  daß  wir  im  Oktober  des  Jahres  1893  dem  Grafen 
Taaffe  nicht  aus  der  Patsche  geholfen  haben  und  daß  wir  für  seine 
Wahlreform  nicht  genug  Spektakel  gemacht  haben**).  (Rufe:  Die  wir 
jetzt  haben  wollen.)  Ganz  richtig!  Heute  können  wir  dafür  sein, 
weil  sie  die  Regierung  nicht  will  (Heiterkeit),  das  ist  ganz  klar.  Als 
die  Reform  des  Grafen  Taaffe  gekommen  ist,  was  haben  wir 
getan?  Wir  haben  in  einer  Resolution  erklärt:  Diese  Wahlreform 
ist  eine  unvollständige,  sie  enthält  nicht  das  allgemeine,  gleiche 
und  direkte  Wahlrecht,  aber  sie  ist  eine  Abschlagszahlung,  die 
wir  annehmen  und  für  die  wir  sind.  Weiter  zu  gehen  und  dem 
Grafen  Taaffe  durch  Straßenkrawalle  etwa  gegen  den  Plener  zu 
helfen,  dazu  haben  wir  gar  keine  Lust  gehabt.  Ich  sage  Ihnen  ganz 
offen  —  es  wurde  uns  das  von  gewissen  Politikern  zugemutet  und 
ich  habe  darauf  zur  Antwort  gegeben:  Dem  Grafen  Taaffe  sollen 
wir  die  Kastanien  aus  dem  Feuer  holen,  der  uns  dann  auf  der 
Straße  vor  dem  Parlament  abfangen  wird,  der  sagen  wird:  „Jetzt 
kommt  ihr?  Ja,  blutige  Köpfe,  Ausnahmszustand  und  keine  Wahl- 
reform! Ihr  habt  euch  ihrer  unwürdig  gemacht."  In  solche  Fallen 
geht  die  sozialdemokratische  Parteivertretung  nicht.  Wenn  von 
dem  kräftigen  Widerstand  gesprochen  wurde,  so  ist  dieser  Wider- 

*)  Adler  hat  noch  in  dieser  Rede  diese  Bemerkung  abgeschwächt. 
)  Siehe  darüber  im  siebenten  Band  der  Adler-Sehritten  die  Rede  auf  dem 
Parteitag  1894  („Die  Taaffcsehe  Wahlreform  und  der  Generalstreik",  Bd.  VII, 
Seite  SO)  und  den  Artikel  in  der  „Neuen  Zeit",  1894,  Nr.  33  und  34  („Die 
La«e  in  Österreich  und  der  sozialdemokratische  Parteitag**,  Bd.  VII, 
Seite  91). 

12* 


180  \  on  TaaJfe  bis  Badeni. 


stand  nicht  gegen  die  Wahlreform  des  Grafen  Taaffe  gemacht 
worden,  das  ist  nicht  wahr,  er  ist  gemacht  worden  gegen  die 
Wahlreform  der  Koalition  und  gegen  alle  Reformen,  die  unter  der 
Koalition  aufgetaucht  sind.  Der  Widerstand  gegen  die  Entwürfe 
der  Koalition  war  größer  als  gegen  den  des  Grafen  Badeni,  weil 
während  der  Koalition  keine  feste  Wahlreform  in  der  deutlichen 
Absicht,  sie  durchzuführen,  aufgetaucht  ist.  Nicht  ein  einzigesmal 
haben  Regierung  und  Parlament  gesagt:  Diese  Wahlreform  wollen 
wir,  diese  machen  wir.  Wir  haben  uns  auch  nicht  gegen  eine  einzelne 
oder  für  eine  einzelne  echauffiert,  wir  haben  die  Leute  vorwärts- 
gepeitscht, bis  sie  mit  ihrem  Latein  fertig  wraren  und  sich  unfähig 
erklären  mußten,  etwas  zu  machen.  Ein  anderer  Grund  war  der,  weil 
alle  diese  Wahlreformen  zur  Grundlage  gehabt  haben  die  Absper- 
rung der  Arbeiter  in  eine  separate  Kurie  und  heute  nach  dieser  lan- 
gen Debatte,  nachdem  über  die  Badenische  Wahlreform  und  von  mir 
nicht  zum  mindesten  gehörig  geschimpft  worden  ist,  erkläre  ich, 
daß  der  große  Vorzug  der  Badenischen  Wahlreform  vor  allen 
andern  Reformen  —  auch  der  Taaffeschen  —  welche  alle  gesagt 
haben:  Das  Wahlrecht  haben  1.  die  Fünfguldenmänner,  2.  die  beim 
Militär  gedient  haben,  3.  die  zwei  Jahre  Krankenkasse  haben  usw. 
—  der  ist,  daß  sie  zum  erstenmal  sagt:  Das  Wahlrecht  hat  jeder 
vierundzwanzigjährige  Mann  mit  den  und  den  kleinen  Ausnahmen. 
Das  ist  der  große  Unterschied.  Und  zweitens  ist  diese  Wahlreform 
die  erste,  welche  es  uns  möglich  macht,  die  Wahlbewregung  als 
Klassenkampf  auszunützen,  die  uns  nicht  Mandate,  sondern  ein 
Wahlrecht  gibt.  Die  Sache  liegt  einfach  so:  Alle  Wahlreform- 
entwürfe, die  von  Plener  abstammen  —  und  das  waren  ja  die 
Entwürfe  der  Koalition  alle  — ,  alle  wollten  uns  Mandate  geben, 
aber  kein  Wahlrecht.  Die  Badenische  Wahlreform  gibt  uns  ein 
Wahlrecht,  aber  freilich  keine  Mandate.  Wir  haben  in  der  Badeni- 
schen Wahlreform  auf  viel  weniger  Mandate  zu  rechnen  als  in 
irgendeiner  anderen  Wahlreform,  die  wir  von  der  Koalition  be- 
kommen hätten.  Aber  wir  haben  einen  Wahlkampf  mit  allen  andern 
Parteien,  sie  müssen  sich  uns  stellen  zum  Gefechte  und  das  ist  ein 
großer  Vorzug;  wir  haben  das  Recht,  in  die  Hütten  einzubrechen, 
wie  Graf  Hohenwart  gesagt  hat,  und  wir  werden  in  ihre  Hütten 
einbrechen.  Das  ist  der  Grund,  warum  die  Parteivertretung  etwas 
den  Kampf  gemildert  hat,  das  ist  der  Grund,  der  die  ganze  Ar- 
beiterschaft Österreichs  veranlaßt  hat,  ganz  anders  über  die  Lage 
zu  denken. 

Wenn  die  Haltung  der  „Arbeiter-Zeitung"  angefochten  wurde, 
erlaube  ich  mir  zu  bemerken,  daß  wir  beim  Punkt  „Presse"  noch 
darauf  zurückkommen  können.  Die  „Arbeiter-Zeitung"  ist  das 
Reservoir,  aus  dem  alle  Argumente  gegen  die  Badenische  Wahl- 
reform geschöpft  wurden.  (Widerspruch  des  Genossen  R  e  s  e  1.) 

Es  tut  mir  leid,  aber  ich  habe  hier  auf  dem  Parteitag  und  auch 
früher  kein  Argument  gehört,  das  ich  nicht  vorher  in  der 
„Arbeiter-Zeitung"  gelesen  hätte.  (Oho-Rufe.)  Ich  bitte,  es  wird  mir 
lieb    sein,   wenn    Sie    mich    darüber    berichtigen.     Die    „Arbeiter- 


Die  Badenische  Wahlreform,  INI 


Zeitung"   hat   nicht  ein  einziges  Argument  gegen  die  Badenische 

Walilreform  ausgelassen  und  es  ist  nicht  richtig,  wenn  Sic  ihr 
darin  einen  Vorwurf  machen.  Ich  glaube,  daß  wir  es  mit  jeden) 
anderen  Blatte* in  der  Bekämpfung  des  Badeni  aufnehmen  können. 

Und  nun,  Parteigenossen,  erlauben  Sie  mir  eine  Bemerkung. 
Die  Sozialdemokratie  ist  eine  Partei  ganz  eigentümlicher  Art.  Ihre 
Wirksamkeit  beruht  nicht  allein  darauf,  was  sie  tut,  sondern  vor 
allem  darauf,  was  sie  ist.  Das  Vorhandensein  der  Sozialdemokratie, 
daß  es  so  viele  Sozialdemokraten  gibt,  das  ist  das  Wirksame.  Und, 
Parteigenossen,  diejenigen  von  Ihnen,  die  mit  einer  höchst  begreif- 
lichen Ungeduld  eine  jede  Woche,  wo  die  Partei  nicht  eine  grolle 
Aktion  veranstaltet,  für  eine  verlorene  halten,  werden  sich  über- 
zeugen, daß  die  Partei  oft  in  der  Stille  mehr  wächst  als  während 
der  größten  und  lärmendsten  Aktion.  (Zustimmung.)  Die  gewerk- 
schaftliche Organisation  ist  sehr  rasch  gewachsen,  hat  vielfach  nur 
äußerlich  die  Grenzen  abgesteckt,  aber  den  Rahmen  der  Organi- 
sation noch  nicht  ausgefüllt.  Die  nötigen  Kräfte  für  die  Wahlbewe- 
gung  aufzubringen,  wird  sehr  schwer  sein.  Wir  dürfen  nicht  glauben, 
daß  wir  mit  denselben  Mitteln  arbeiten  können,  mit  denen  bisher 
gearbeitet  wurde  oder  mit  welchen  andere  Parteien  bei  der  Wahl- 
agitation arbeiten.  Unsere  Agitation  wird  eine  lange  vorbereitete 
sein  müssen.  Vergessen  Sie  das  nicht.  (Zustimmung.)  Wir  können 
auch  die  Organisation  für  die  Wahlen  nur  dort  suchen,  wo  sie  ge- 
schaffen ward,  nicht  von  uns,  sondern  durch  die  kapitalistische 
Entwicklung.  Diese  Organisation  werden  sie  uns  nicht  nehmen 
können.  Ich  wreiß  nicht,  welche  Absichten  und  Pläne  Sie  beim 
Punkt  Organisation  haben.  Aber  das  sage  ich  Ihnen  schon  jetzt, 
daß  ich  es  für  eine  große  Gefahr  halten  wTürde,  wenn  Sie  wesent- 
liche und  einschneidende  Änderungen  in  der  Organisation  in  einem 
Moment  vornehmen  würden,  wo  wir  vor  einer  großen  und  um- 
fassenden Aktion  stehen.  Ich  meine,  solche  Änderungen  müssen 
verschoben  werden. 

Eine  persönliche  Bemerkung:  Es  wurde  mir  soeben  mitgeteilt, 
daß  ich  vom  Genossen  Dr.  B  e  r  s  1 1  behauptet  hätte,  es  sei  sein 
„Geschäft",  die  Streiks  zu  machen.  Das  wollte  ich  nicht  sagen.  Das 
versteht  sich  ja  von  selbst.  Ich  wrollte  dem  Charakter  des  Doktor 
B  e  r  s  1 1  durchaus  nicht  nahetreten,  sondern  habe  gemeint,  daß  er 
sich  damit  beschäftigt.  (Genosse  Dr.  Berstl:  Das  ist  nicht 
wahr!)  Das  ist  etwas  anderes,  aber  es  ist  meine  Meinung.  Ich  sage 
also:  Er  beschäftigt  sich  damit,  Streiks  zu  organisieren,  da  er  weit 
mehr  von  ihrer  Wirksamkeit  hält  als  wir,  die  er  beschuldigt,  für 
gut  halten.  Damit  ist  die  Sache  für  mich  erledigt. 

Nun  hat  eine  Anzahl  von  nordböhmischen  Genossen  hier  gesagt: 
Das,  was  ihr  wollt,  ist  vielleicht  eine  sehr  notwendige  Sache.  Aber 
wartet  doch,  bis  die  Wahlreform  Gesetz  ist.  Das  geht  nicht.  Der 
Parteitag  ist  dazu  da,  um  bindende  Entschlüsse  zu  fassen  und  den 
Genossen,  die  uns  hiehergeschickt  haben,  auch  etwas  Bestimmtes 
und   Präzises  zu  sagen.  (Zustimmung.) 


182  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


Wir  können  die  Wahlreform  nicht  erst  anerkennen,  wenn  sie 
von  beiden  Häusern  des  Reichsrates  angenommen  und  von  der 
Krone  unterschrieben  ist.  Wir  wissen,  daß  sehr  viele  Dinge,  die 
unterschrieben  sind,  nicht  Gesetz  werden  und  andere  Dinge,  die 
noch  nicht  unterschrieben  sind,  Gesetz  werden;  und  diese  Einsicht 
wollen  wir  hier  benützen. 

Es  wird  der  Parteivertretung  vorgeworfen,  daß  sie  schon  im 
August  oder  September  gewußt  hat,  wie  die  Wahlreform  Badenis 
aussehen  werde.  Ich  hatte,  wie  Pernerstorf  er  ganz  richtig 
erraten  hat,  meine  Kenntnisse  nur  aus  den  „Närodni  Listy*)".  Wenn 
aber  die  Genossen  glauben,  daß  wir  so  gescheit  sein  müssen,  daß 
wir  alles  lange  zuvor  wissen,  dann  sollten  sie  uns  auch  glauben, 
daß  wir  heute  bereits  wissen,  was  alle  Welt  weiß  und  was  die 
Spatzen  auf  den  Dächern  pfeifen,  daß  die  Wahlreformvorlage  in 
ein  paar  Wochen  Gesetz  sein  wird.  Man  sagt  uns  einerseits,  wir 
sind  zu  vorsichtig  gewesen  und  heute  will  man  von  uns,  wir  sollen 
kurzsichtig  sein. 

Mit  dem  Beschluß,  den  der  Parteitag  unzweifelhaft  fassen  wird, 
tritt  die  sozialdemokratische  Partei  in  Österreich  in  eine  neue 
Epoche,  zum  erstenmal  in  einen  modernen  politischen  Kampf  mit 
modernen  politischen  Mitteln.  Ich  gebe  zu,  daß  diese  Mittel  ver- 
kümmert sind;  sie  sind  nicht  so  wirksam  wie  das  gleiche  und  direkte 
Wahlrecht.  Es  wird  uns  schwer  gemacht,  sie  zu  handhaben,  durch 
die  Ausdehnung  der  Wahlbezirke;  aber  es  ist  denn  doch  zum  ersten- 
mal ein  wirklicher  politischer  Kampf.  Für  diesen  Kampf,  Partei- 
genossen, gilt  es,  uns  zu  rüsten,  für  diesen  Kampf  gilt  es,  mit  Be- 
stimmtheit und  Entschlossenheit  die  Vorkehrungen  zu  treffen,  nicht 
zu  fackeln,  nicht  Hasen  nachzulaufen,  die  wir  nicht  fangen  können. 
Für  uns  steht  die  Frage  so:  Sollen  wir  zum  Kampfe  für  das  allge- 
meine, gleiche  und  direkte  Wahlrecht  auch  die  Wahlagitation  in 
der  fünften  Kurie  benützen  oder  nicht?  Wir  sagen,  das  müssen 
wir  tun.  Ich  glaube,  wir  können  ohne  Unbescheidenheit  sagen,  wenn 
wir  bei  unseren  elenden  Zuständen,  wTenn  wir  mit  der  Preßgesetz- 
gebung, die  wir  haben,  wenn  wir  mit  unserm  Versammlungsrecht, 
mit  unserm  Vereinsgesetz  und  ohne  jedes  Wahlrecht  so  weit  ge- 
kommen sind,  als  wir  heute  sind,  so  werden  wir  mit  dem  neuen 
Mittel  keinen  Rückschritt  machen.  (Lebhafte  Zustimmung.) 

Hier  sitzt  eine  Reihe  von  Genossen,  die  schon  einmal  in  Prag 
waren,  seitdem  aber  nicht  mehr;  es  sitzt  hier  eine  Reihe  von  Aus- 
gewiesenen, die  man  nur  aus  Prag  ausweisen  konnte,  weil  man  sie 
erst  in  Ketten  hiehergeschleppt  hatte,  es  sitzt  hier  eine  Anzahl  von 
Leuten,  die  monatelang  in  Untersuchungshaft  gehalten  wurden  und 
dann  mitunter  nur  zu  einem  Monat  oder  nur  zu  ein  paar  Tagen 
verurteilt  wurden,  nur  um  sie  ausweisen  zu  können.  Da  sitzen  Ge- 
nossen, die  auf  Grund  einer  Anklage  verurteilt  wurden,  die,  wenn 
man  sie  heute  liest,  wie  eine  Geschichte  aus  dem  Mittelalter  klingt 
und  das  ist  doch  nur  12  bis  14  Jahre  her.    Gerade    diese  Partei- 


)  „Närodni  Listy",  das  jungtschechische  Hauptorgan. 


Die  Wahlreformdebatte  Im  Parlament.  183 

genossen  werden  mir  zugeben,  wenn  sie  damals  gedacht  hätten, 
daü  sie  im  Jahre  1896  liier  in  Prag  als  Delegierte  ZU  einem  Partei- 
tag erscheinen  werden,  daß  die  Kerle,  die  sie  verurteilt  haben,  und 
die  heute  noch  leben,  es  dulden  müssen,  daß  wir  hier  aussprechen, 
daß  es  in  Osterreich  nur  eine  vernünftige,  zielbewußte  und  prak- 
tische Partei  gibt,  die  Sozialdemokratie,  so  würden  sie  im  (iefäng- 
nis  gesagt  haben,  wir  sitzen  nicht  umsonst  da.  Es  sitzt  hier  ein 
(ienosse,  von  dem  schon  die  Rede  war,  er  ist  10  Jahre  im  Kerker 
gesessen*).  Sagen  wir  es  offen  und  er  wird  es  nicht  leugnen,  er  ist 
mit  ganz  andern  Anschauungen  von  der  Welt  hineingegangen,  als 
er  heute  hat.  Er  hat  dem  sogenannten  „radikalen"  Flügel  der  Partei 
angehört  und  er  wird  selbst  einsehen,  daß  diese  Ansichten  irrige 
waren.  Wenn  man  ihm  gesagt  hätte,  daß  nach  ein  paar  Monaten, 
nachdem  er  herausgekommen  ist,  hier  ein  sozialistischer  Parteitag 
sein  wird,  wären  ihm  die  10  Jahre  ein  wenig  leichter  geworden. 
Wir  lassen  uns  durch  die  Geschichte  erziehen  und  das  befähigt 
uns  auch,  Geschichte  zu  machen.  Die  Sozialdemokratie  ist  eine 
Partei,  der  es  nicht  darum  zu  tun  ist,  von  der  Revolution  zu  reden, 
sondern  die  Revolution  zu  machen.  Wenn  man  sie  aber  machen 
will,  dann  muß  man  die  Massen  bereitstellen  für  den  Kampf,  und 
dazu  muß  man  jedes  Mittel  benützen,  und  wir  müssen  auch  den 
Vorwurf  auf  uns  nehmen,  den  uns  die  Träumer  machen,  daß  wir 
zu  praktische  Leute  sind.  Ja,  wir  sind  nüchtern  und  praktisch;  aber 
wir  wissen,  daß,  wenn  wir  einen  kühlen  Kopf  haben,  dies  nicht 
hindert,  daß  wir  ein  warmes  Herz  haben.  Der  kühle  Kopf  wird  aber 
das  warme  Herz  regieren,  und  so  kommen  wir  zum  Siege.  (Leb- 
hafter Beifall.) 

Die  Wahlreformdebatte  im  Parlament. 

Versammlung  bei  der  „B  r  e  t  z  e  n",  22,  April   189  6**). 

Wenn  man  sieht,  wie  die  bisherigen  Volksvertreter  sich  be- 
nehmen, wenn  sie  darangehen,  den  Wunsch  des  Volkes  in  ihrer 
Weise  zu  erfüllen,  dann  wird  man  sich  erst  klar  wrerden,  mit 
welchen  Schwierigkeiten  wir  hier  in  Österreich  zu  kämpfen  haben. 
Nicht  das  ist  Gegenstand  der  Debatte,  daß  die  Herren  sich  sagen: 
Wir  begreifen,  daß  das  arbeitende  Volk  das  allgemeine  Wahlrecht 
will,  wir  haben  aber  Gründe,  nur  ein  beschränktes  Wahlrecht  zu  ge- 
währen. Sie  stehen  nicht  einmal  auf  diesem  Standpunkt;  in  jedem 
Worte  zeigen  sie,   daß   ihnen   das  elende  Zugeständnis   abgepreßt 

*)  Schon  Schuhmeier  hatte  beim  Parteibericht  darauf  verwiesen.  Es  ist 
das  der  Schuhmachergehilfe  Franz  Göpfhardt,  der  mit  Rißmann  zu- 
sammen um  die  Mitte  der  achtziger  Jahre  in  Graz  der  Gruppe  der  „Radi- 
kalen" angehörte  und  dann  zu  zehn  Jahren  Kerker  verurteilt 
wurde.  (Siehe  Brügel,  III.  Bd.,  Seite  380.) 

**)  Am  20.  April  1896  hatte  die  zweite  Lesung  der  Badenischen  Wahl- 
reiorm  begonnen.  Den  Bericht  des  Ausschusses  erstattete  der  Liberale  Dok- 
tor (iötz.  In  der  Debatte  sprach  auch  der  Feudale  Graf  Falkenhayn, 


184  Von  Taufte  bis  Badcni. 


werden  muß.  Das  wenige,  was  sie  tun  werden  müssen,  ist  ein 
widerwilliger  Bückling  vor  der  Majestät  des  Volkes.  Was  an  dieser 
Wahlreform  gut  ist,  ist  das  Werk  der  Arbeiterschaft,  was  schlecht 
an  ihr  ist,  ist  das  niederträchtige  Machwerk  der  Vertreter  der  be- 
sitzenden Klassen.  Die  Herren  entschuldigen  sich  in  der  Debatte 
—  nicht  etwa  für  das,  was  schlecht  ist  an  der  Wahlreform  — ,  son- 
dern für  das,  was  gut  ist  daran.  Was  fürchten  denn  diese  Leute 
eigentlich?  Diese  Wahlreform  ist  absolut  nicht  imstande,  das 
Majoritätsverhältnis  zu  verschieben.  Sie  hat  nichts  Gutes,  als  daß 
sie  den  Beginn  einer  politischen  Erziehung  der  Massen  bedeuten 
wird.  Aber  das  ist  es  eben,  was  den  Herren  ein  Dorn  im  Auge  ist, 
und  um  das  möglichst  hinauszuschieben  oder  zu  verhindern,  dazu 
lebt  wieder  die  Koalition  auf.  Man  könnte  glauben,  daß  wenigstens 
auf  diese  fünfte  Kurie  jene  Formen  angewendet  werden  würden, 
die  jeder  Einsichtsvolle  als  das  notwendige  Requisit  der  Wahl- 
ausübung betrachtet.  Aber  das  ist  nicht  der  Fall.  Früher  war  der 
„Kampf"  um  das  direkte  Wahlrecht  sogar  ein  Programmpunkt 
der  Liberalen,  und  wie  schmählich  verraten  sie  jetzt  ihr  eigenes 
Programm!  Durch  die  indirekten  Wahlen  verliert  das  Wahlrecht 
als  Mittel  der  politischen  Erziehung  sehr  viel.  Außerdem  ist  die 
Nominierung  der  Wahlmänner  notwendig,  und  man  kann  sich  vor- 
stellen, wie  viel  Maßregelungen  daraus  fließen  werden,  wie  das 
der  Fälschung  Tür  und  Tor  öffnen  wird.  Die  halbwegs  anständigen 
Leute  werden  sich  sagen  müssen :  Wir  stimmen  für  dieses 
schlechte  Gesetz  nur  dann,  wenn  die  kleinlichen 
Beschränkungen  fallen,  wenn  vor  allem  das 
Wahlrecht  ein  direktes  ist.  Die  Jungtschechen  müssen, 
wenn  sie  wirklich  Demokraten  sind,  sagen,  daß  sie  jeden  einzelnen 
Liberalen  in  seinem  Wahlbezirk  annageln  werden,  wenn  er  es 
wagt,  für  das  indirekte  Wahlrecht  zu  stimmen.  Der  Redner 
charakterisiert  nun  die  Verhältnisse  in  Galizien,  wo  die  besitzlose 
ländliche  Bevölkerung  rettungslos  ihrer  Schlachta  ausgeliefert  sei. 
Er  charakterisiert  die  Heuchelei  und  bodenlose  Niederträchtigkeit 
des  Polenklubs,  die  sich  gestern  im  Parlament  wieder  im  vollen 
Lichte  gezeigt  habe.  Ein  ekelhafteres  Schauspiel  gebe  es  nicht,  als 
wenn  diese  korrupte  Bande  Sittlichkeit  predigt  und  sich  dabei  ge- 
bärdet wie  verrückt  gewordene  Staatsanwälte.  Hierauf  charakteri- 
siert er  das  Verhalten  der  Liberalen,  die  immer  für  die  direkten 
Wahlen  vor  ihren  Wählern  deklamiert  haben,  wogegen  jetzt 
Dr.  Ruß   die  Frechheit  hat,  gegen   das  direkte  Wahlrecht  aufzu- 


der  dagegen  polemisierte,  daß  die  Sozialdemokraten  den  Volkswillen  für  die 
Quelle  des  Rechtes  erklären.  Die  Quelle  des  Rechtes  sei  einerseits  Gott, 
andererseits  die  Gesetzgebung  des  Staates,  in  letzter  Linie  der  Monarch... 

Am  23.  April  war  die  Generaldebatte  zu  Ende  und  es  wurde  über  das 
Prinzip  der  fünften  Kurie  abgestimmt.  Nur  61  Abgeordnete  erklärten  sich 
für  das  allgemeine,  gleiche  Wahlrecht,  173  dagegen.  Am  Abend  vor  dieser 
Abstimmung  wurden  nun  in  Wien  zwei  Massenversammlungen  abgehalten. 
Bei  der  „Bretzen"  in  Ottakring  sprachen  Dr.  Ellenbogen.  Adler  und 
Schuh  meier. 


Die   neue   Waffe.  I  3 


treten.  Man  kann  aber  die  Herren  mit  Energie  zwingen.  Wenn 
man  ihnen  droht,  daß  man  ihren  Wählern  enthüllen  wird,  was  ihre 
Mandatare  für  Kerle  sind,  werden  sie  hoffentlich  doch  zur  Raison 
kommen.  Der  Redner  charakterisiert  nun  den  Modus  der  münd- 
lichen Wahl.  Es  wäre  möglich,  dieses  elende  Gesetz  noch  ein 
wenig  zu  verbessern,  wenn  die  richtigen  Männer  da  wären  mit  der 
erforderlichen  Energie.  Mit  solch  rücksichtsloser  Energie,  wie  sie- 
dle Klerikalen  gegen  das  Gesetz  entwickeln.  Das  sind  die  ehrlich- 
sten Gegner  der  Wahlreform;  sie  gestehen  frank  und  frei,  dal.»  sie 
sich  vor  dem  Eindringen  der  Sozialdemokratie  fürchten.  Ealken- 
hayn  sagt,  die  Quelle  des  Rechtes  ist  nicht  das  Volk,  sondern  (iott. 
Man  kann  über  Religion  denken,  wie  man  will,  aber  das  ist  Läste- 
rung, ein  Mißbrauch  des  Gottesbegriffes  zur  brutalsten  Volks- 
unterdrückung.  Wir  gestehen  es  dem  Falkenhayn  zu,  daß  wir 
politische  Macht  wollen.  Wir  haben  uns  auch  unter  harten  Kämpfen 
ein  Stückchen  davon  errungen.  Möge  diese  Wahlreform  ausfallen 
wie  sie  will,  Parteigenossen,  für  uns  ist  die  Wahlreform,  die  uns 
die  Gegner  gewähren,  nichts  als  ein  Stein,  den  man  uns  statt  Brot 
gibt,  aber  ein  Stein,  den  wir  den  Spendern  ins  Gesicht  schleudern 
werden,  um  sie  zu  zerschmettern.  (Beifall.) 

Die  neue  Waffe. 

Versam  m  lang  beim  Dreher,  1  1.  M  a  i  189  6*). 

Adler  weist  beim  ersten  Punkt  der  Tagesordnung  darauf  hin, 
daß  wir  eine  Anzahl  glaubwürdiger  Zeugen  haben,  denen  zufolge 
die  Vorfälle  im  Prater  von  den  Antisemiten  in  gemeiner  Weise 
provoziert  wurden.  Leider  hat  es  auch  unter  uns  Leute  gegeben, 
die  nicht  die  nötige  Verachtung  für  dieses  Gesindel  hatten  und  sich 
provozieren  ließen.  Die  antisemitischen  Blätter  verraten  die  Ab- 


*)  Am  7.  Mai  1896  war  die  Badenische  Wahlreform  im  Abgeordneten- 
haus in  namentlicher  Abstimmung  mit  234  gegen  19  Stimmen  angenommen 
worden  und  es  war  kein  Zweifel,  daß  sie  nun  Gesetz  werden  würde. 

Tatsächlich  wurde  sie  am  28.  Mai  auch  vorn  Herrenhaus  angenommen 
und  am  14.  Juni  sanktioniert.  Am  10.  Mai  forderte  die  Parteivertretung  zu 
den  Vorbereitungen  für  die  Wahlen  auf,  die  unter  der  Parole  stattfinden 
sollten:  „Weg  mit  den  privilegierten  Kurien!  Weg  mit  der  Interessen- 
vertretung!" Am  11.  Mai  fanden  aueh  bereits  mehrere  Versammlungen  statt, 
die  zu  dem  neuen  Wahlrecht  Stellung  nahmen.  Zugleich  wurde  aber  auch 
über  die  Vorfälle  bei  der  Maifeier  im  Prater  gesprochen,  was  der  erste 
Punkt  der  Tagesordnung  war.  Am  1.  Mai  hatten  sich  nämlich  im  Gasthaus 
„Swoboda"  im  Prater  die  Christlichsozialen  eingenistet  und  provozierten 
von  dort  aus  die  Arbeiter,  die  ihre  Maifeier  wie  gewöhnlich  im  Prater 
begingen.  r:s  kam  schließlich  zu  einem  Steinbombardement,  berittene  Polizei, 
mit  dem  bekannten  Tobias  A  n  ge  r  an  der  Spitze,  ritt  in  die  Arbeiter  hinein 
und  Bosniaken  marschierten  auf.  Die  bürgerliche  Presse  hatte  die 
Arbeiter  in  der  unerhörtesten  Weise  beschimpft,  so  daß  sogar  bei  zwei 
Blättern  die  Setzer  sich  weigerten,  die  Beschimpfungen,  die  sich  auch  gegen 
sie  richteten,  zu  setzen.  Auch  zu  diesen  Verleumdungen  und  Beschimpfungen 


1H6  Von  Taaffe  bis  Baden i. 


sieht  der  Provokation,  indem  sie  behaupten,  das  sei  die  letzte  Mai- 
feier gewesen.  Aber  die  Maifeier  hängt  nicht  ab  von  der  gnädigen 
Erlaubnis  von  oben.  Die  Antisemiten  von  heute  unterscheiden  sich 
überhaupt  von  denen  vor  vier  Wochen,  sie  haben  eben  gelernt, 
daß  man  in  manchen  Vorzimmern  die  Löwenhäute  ablegen  muß. 
Lueger  ist  regierungsfähig,  die  antisemitische  Presse  ist,  wie  es 
die  liberale  schon  früher  war,  polizeifähig  geworden.  Dieselben 
Antisemiten,  die  im  Vorjahr  so  entrüstet  waren,  daß  bei  der 
Bürgermeisterwahl  das  Militär  konsigniert  war,  finden  es  gerecht- 
fertigt, daß  man  Ulanen  und  Bosniaken  in  den  Prater  marschieren 
ließ.  Aber  eine  Lehre  haben  wir  aus  alledem  gezogen.  Wenn  viele 
Parteigenossen  uns  vorwerfen,  daß  die  Maifeier  einen  zu  harm- 
losen Charakter  angenommen  habe,  wenn  die  Polizeipresse  uns 
höhnt,  daß  sich  die  revolutionäre,  internationale  Maifeier  in 
Spaziergänge  auflöse,  so  werden  wir  dafür  sorgen,  daß  die 
nächsten  Spaziergänge  einen  schneidigeren  Charakter  haben 
werden.  —  Zum  zweiten  Punkte  (Wahlreform)  erklärt  Genosse 
Adler,  daß  diese  Mißgeburt  ihre  Unmöglichkeit  bei  der  ersten 
und  letzten  Wahl  beweisen  werde.  Wir  werden  das  Wahlrecht 
benützen,  wie  wir  das  Versammlungsgesetz  trotz  dem  Polizei- 
kommissär, das  Preßgesetz  trotz  dem  Staatsanwalt  benützen,  um 
unsere  Organisation  zu  kräftigen.  Graf  Badeni  wird  das  Haus  so 
lange  weiterbestehen  lassen,  als  er  kann.  Trotzdem  müssen  wir 
bereits  jetzt  zu  arbeiten  beginnen.  Mit  Annahme  der  Wahlreform 
schließt  ein  bewegtes  Kapitel  der  Geschichte  der  österreichischen 
Arbeiterpartei  vorläufig  ab;  benützen  sie  die  neue  Waffe,  die  uns 
da  geboten  wird,  und  der  endliche  Sieg  wird  nicht  ausbleiben. 

Bericht  an  die  Internationale. 

An    den    internationalen    sozialistischen    Arbeiter-    und    Gewerk- 
schaftskongreß in  London  1896*). 

Die  geschichtliche  Aufgabe  der  österreichischen  Sozialdemokratie 
ist  eine  weit  schwierigere  als  die  der  meisten  internationalen  Bruder- 

wurde  in  den  Versammlungen  Stellung  genommen.  Die  Ereignisse  beim 
„Swoboda"  hatten  auch  den  Staatsanwalt  in  Bewegung  gesetzt  und 
47  Arbeiter  wurden  zu  insgesamt  2  4  .1  a  h  r  e  n,  1  1  K>  Monaten  Kerker 
oder  Arrest  verurteilt. 

In  der  Versammlung,  die  beim  „Dreher"  auf  der  Landstraße  stattfand, 
referierte  Adler.  Leider  ist  der  Bericht,  der  über  seine  Rede  erschien,  nur 
sehr  kurz. 

*)  Der  internationale  Kongreß  in  London  hat  vom  27.  Juli  bis  1.  August 
1896  stattgefunden.  (Siehe  in  den  Adler-Schriften,  Heft  VII,  Seite  69  f.)  Der 
internationale  Sozialistenkongreß  in  Brüssel  hat  vom  14.  bis  22.  August 
1891,  der  in  Zürich  vom  6.  bis  12.  August  1893  getagt.  Die  Berichte  über 
diese  beiden  internationalen  Kongresse  sind  bereits  oben  auf  den  Seiten  80 
bis  97  abgedruckt,  weil  sie  über  die  Anfänge  der  Wahlrechtsbewe- 
gung Aufschluß  geben,  während  der  Bericht  an  den  Kongreß  in  London 
sich  auf  das  Endstadium  bezieht. 


Bericht  an  die  Internationale.  1N7 

Parteien.  Klassen  und  Einrichtungen,  die  anderswo  längst  über- 
wunden sind,  spielen  hier  noch  eine  einflußreiche,  ja  vielfach  aus- 
schlaggebende Rolle,  und  die  Sozialdemokratie  hat  nicht  nur  die 
Arbeiterschaft  zum  Bewußtsein  ihrer  Interessen  zu  erziehen,  sondern 
auch  noch  die  gewaltige  Aufgabe  zu  leisten,  die  Reste  feudaler 
Herrschaft  aus  dem  Wege  zu  räumen,  die  Macht  des  Polizeigeistes 
zu  brechen,  die  aus  ökonomisch  längst  überwundenen  Zeiten  in 
die  österreichische  Gegenwart  hineinragen.  Darum  hat  die  öster- 
reichische Sozialdemokratie  vor  allem  gegen  die  politische  Recht- 
losigkeit zu  kämpfen.  Ein  freies  politisches  Leben  ist  die  unerläß- 
liche Grundlage  für  den  ökonomischen  Existenzkampf  des 
Proletariats. 

Dem  Züricher  Kongreß  wurde  über  den  Beginn  des  Kampfes 
um  das  politische  Wahlrecht  berichtet.  Mit  leidenschaftlicher  Kraft 
wurde  dieser  Kampf  begonnen.  Schon  dem  ersten  Ansturm  der 
Sozialdemokratie  gelang  es,  die  Teilnahmslosigkeit  der  öffentlichen 
Meinung  zu  überwinden  und  das  allgemeine,  gleiche  und  direkte 
Wahlrecht  auf  die  Tagesordnung  der  öffentlichen  Diskussion  zu 
setzen.  Der  Erfolg  war,  daß  im  Oktober  1893  die  Regierung  des 
reaktionären  Grafen  Taaffe  sich  veranlaßt  sah,  einen  Wahlreform- 
entwurf einzubringen,  der  zwar  die  Vorrechte  des  Grundbesitzes 
bestehen  ließ,  aber  ein  allgemeines  Wahlrecht  vorschlug,  das  die 
bisher  Rechtlosen  den  Bürgern  und  Bauern  gleichsetzte.  Das  war 
die  Quittung  für  die  großartige  Agitationsarbeit,  die  die  Arbeiter- 
schaft zugunsten  ihres  obersten  politischen  Rechtes  entfaltet  hatte. 

Die  Kampfesorganisation  aller  reaktionären  Klassen  gegen  die 
Sozialdemokratie  war  zunächst  niedergebrochen,  und  mehr  als  je 
war  die  Erteilung  des  Wahlrechtes  zu  einer  politischen  Notwendig- 
keit der  allernächsten  Zeit  geworden,  sollte  nicht  die  politische 
Maschine  in  Österreich  gänzlich  zum  Stillstand  gebracht  werden. 

Die  Verblüffung,  die  Wut,  die  Verzweiflung,  die  sich  des  öster- 
reichischen Parlaments  sofort  bemächtigten,  waren  nur  zu  erklär- 
lich. Empört  erhoben  sich  die  drei  großen  reaktionären  Parteien, 
die  des  Adels,  des  Klerus  und  der  Großbourgeoisie,  und  verbanden 
sich  zu  einer  Koalition  gegen  den  Urheber  eines  ernsten  politischen 
Gedankens.  Graf  Taaffe  wurde  gestürzt,  und  die  bisher  einander 
spinnefeindlichen  Parteien  vereinigten  sich  als  „reaktionäre  Masse" 
gegen  die  Forderungen  der  Arbeiterschaft. 

Am  23.  November  1893  trat  das  Ministerium  der  Koalition  vor 
die  Öffentlichkeit.  Entstanden  aus  dem  instinktiven  Haß  der 
privilegierten  Klasse  gegen  die  besitz-  und  rechtlose  und  dem 
Verlangen,  die  Erfüllung  des  Wunsches  der  letzteren  nach 
politischen  Rechten  zu  verweigern,  stand  diese  Koalition  ander- 
seits vor  der  der  gesamten  Öffentlichkeit  klargewordenen  Not- 
wendigkeit, eine  Wahlreform  zu  schaffen.  Von  vornherein  war 
somit  das  Ministerium  Windischgrätz  zu  einer  tückischen,  ver- 
logenen, lendenlahmen  und  unfruchtbaren  Politik  verurteilt.  Die 
Arbeiterschaft  steigerte  die  Zähigkeit  und  Heftigkeit  ihres  Kampfes, 


188  Von  Taaffe  bis  Badcni. 


sie  versah  ihn  mit  Akzenten,  deren  Leidenschaft  bis  dahin  in 
Österreich  unerhört  war,  wenn  man  bedenkt,  daß  sie  dem  Ziel- 
bewußtsein auch  nicht  einen  Hauch  seiner  Klarheit  raubte.  Eine 
Ära  der  maßlosesten  Verfolgungen  begann.  Die  Sozialdemokratie 
antwortete  mit  der  Drohung  des  Generalstreiks,  ohne  sich  über 
die  Grenzen  ihrer  Kraft  Illusionen  hinzugeben.  In  der  heim- 
tückischesten Weise  suchten  Ministerium  und  Parlament  die  Ent- 
scheidung in  der  Wahlrechtsfrage  hinauszuschieben,  sie  schleppten 
sie  vom  Ministerrat  ins  Plenum  des  Hauses,  vom  Plenum  in  den 
Ausschuß,  vom  Ausschuß  in  ein  Subkomitee,  sie  erklärten  auch 
dessen  Beratungen  für  geheim,  nichtssagende  und  unmögliche  Ent- 
würfe wurden  fabriziert  und  publiziert,  die  Sitzungen  des  Parla- 
ments mit  der  Beratung  der  folgenschwersten  und  umfangreichsten 
Gesetzentwürfe  vertrödelt.  Indessen  eilte  die  Agitation  der  Arbeiter- 
schaft von  Versammlung  zu  Versammlung.  Stellenweise  kam  es 
zu  blutigen  Scharmützeln  zwischen  Arbeitern  und  Polizei  in  den 
Straßen  der  Hauptstädte.  Zugleich  aber  trat  der  tötliche  Volkshaß 
der  Koalition  an  allen  Ecken  zutage.  Die  Organisationsbestrebungen 
der  maßlos  gedrückten  Bergarbeiterschaft  suchte  sie  durch  er- 
barmungsloses Niederknallen  der  Streikenden  in  Falkenau  und 
Ostrau*)  im  Blute  zu  ersticken.  Das  furchtbare  Grubenunglück  von 
Karwin,  wobei  über  200  Bergarbeiter  ums  Leben  kamen,  deckte 
die  mörderische  Schlamperei  in  den  Betrieben  der  reichsten  Grund- 
herren auf,  kurz  die  öffentliche  Meinung  wurde  auf  allen  Seiten 
von  einer  unaufhörlich  sich  steigernden  Erbitterung  gegen  diese 
schmählichste  aller  österreichischen  Regierungen  erfüllt.  Und  als 
alle  Verschleppungstaktik  nichts  mehr  half,  als  das  Ministerium, 
von  oben  und  unten  zu  einer  Entscheidung  gedrängt,  den  im  ge- 


*)  Siehe  Bd.  VII,  Seite  113,  und  Bd.  VIII,  Seite  403.  In  Falkenau  wurden 
am  4.  Mai  1894  drei  Bergarbeiter  von  den  Gendarmen  getötet  und 
acht  verwundet,  und  in  Polnisch-Ostrau  wurden  am  9.  Mai  vier- 
zehn Arbeiter  getötet,  über  zwanzig  schwer  verletzt.  Wegen  einer 
Rede  über  die  Schüsse  in  Falkenau  und  Ostrau  wurde  Adler  am  18.  De- 
zember 1894  vom  Bezirksgericht  Ottakring  zu  einem  Monat  Arrest 
verurteilt.  (Siehe  den  Bericht  darüber  im  Band  „Adler  vor  Gericht". 
Bd.  II,  Seite  210.) 

Die  Grubenkatastrophe  in  Karwin  erfolgte  am  15.  Juni  1894  auf  den 
Schächten  des  Grafen  Larisch  durch  schlagende  Wetter.  Die  Opfer  waren: 
235  Tote  und  fünf  Schwerverwundete.  Das  Ostrau-Karwiner  Revier  war 
überaus  reich  an  großen  Katastrophen;  gehörten  doch  die  Gruben  den 
reichsten  Aristokraten  und  dem  Erzherzog  Friedrich,  so  daß  die  Behörden 
nicht  gegen  die  Übertretung  der  Sicherheitsvorschriften  aufzutreten  wagten. 
Die  letzten  Katastrophen  waren  folgende:  1885  Johann-Schacht  des  Grafen 
Larisch  und  Bettina-Schacht  des  Freiherrn  v.  Rothschild,  167  Tote; 
1887  Guttmannscher  Sophien-Schacht,  14  Tote:  1888  Rothschild- 
scher Tiefbauschacht,  10  Tote;  3.  Jänner  1891  Dreifaltigkeits-Schacht  des 
Grafen  W  i  1  c  z  e  k,  61  Tote;  16.  März  1895  erzherzoglicher  Hohen- 
egger-Schacht,  52  Tote;  14.  Jänner  1896  Feuersbrunst  im  Hermenegild- 
Schacht  der  Nordbahn,  16  Tote,  18  Schwerverletzte.  (Ernst  Berner: 
„Die  Steinkohlengräber  im  Ostrau-Karwiner  Bergrevier.") 


Bericht  an  die  Internationale.  w 


heimen     Subkomitee    ausgebrüteten     Gesetzentwurf     publizieren 

mußte,   war   seine  Schande  offenbar,   da    brach   die   Koalition    unter 

dem    aligemeinen    Holm    und    der    Verachtung   der    Bevölkerung 
zusammen. 

Das  nun  folgende  Ministerium  fand  sieh  mit  dieser  Notwendig- 
keit mittels  einer  Halbheit  ab.  Das  allgemeine  Wahlrecht  wurde 
gewährt,  aber  als  Anhängsel  zum  Privilegienwahlrecht:  eine  Kurie 
des  allgemeinen  Wahlrechts  von  12  Sitzen  wurde  den  alten  vier 
Kurien  mit  353  Sitzen  angeflickt.  Badeni  gab  so  wenig  als  möglich. 
Aber  so  widersinnig  einzelne  Bestimmungen  seiner  Wahlreform 
sind,  so  ungeheuerlich  groß  die  Wahlkreise,  so  verfälscht  und  ver- 
dünnt das  Wahlrecht  ist,  einen  Vorzug  hat  sie:  sie  erkennt  das 
Prinzip  der  Allgemeinheit  des  Wahlrechts  an  und  bedeutet 
damit  einen  Fortschritt.  Die  Arbeiterschaft  hat  die  Ausnützung 
dieses  Rechts  zum  Beschluß  erhoben.  Ihre  unermüdliche  Zähigkeit, 
die  opfermutige  und  zielbewußte  Begeisterung,  die  sie  bisher  an 
den  Tag  gelegt,  sind  verläßliche  Bürgschaften  dafür,  daß  sie  mit 
Hilfe  des  ihr  widerwillig,  aber  notgedrungen  gewährten  Zugeständ- 
nisses sich  in  nicht  allzulanger  Zeit  das  echte  allgemeine,  gleiche, 
direkte  und  geheime  Wahlrecht  erobern  wird. 

In  wenigen  Monaten  wird  die  österreichische  Sozialdemokratie 
zum  ersten  Male  im  Wahlkampf  stehen,  den  sie  unter  den 
schwierigsten  Verhältnissen  zu  führen  haben  wird.  Aber  sie  hofft 
trotzdem  Erfolge  zu  erringen  und  rechnet  auf  die  tatkräftige 
Sympathie  aller  Bruderparteien  des  Auslandes. 

Der  Kampf  ums  Wahlrecht  hat  die  Kraft  des  österreichischen 
Proletariats  erhöht  und  sein  politisches  Gewicht  vermehrt.  Davon 
gibt  auch  die  Tatsache  Zeugnis,  daß  die  politische  Verwaltung  all- 
mählich gezwungen  ist,  zu  einer  europäischen  Praxis  überzugehen. 
Stand  früher  die  brutale  Unterdrückung  der  Arbeiterschaft  auf  der 
Tagesordnung,  sobald  sie  von  einem  politischen  oder  wirtschaft- 
lichen Rechte  Gebrauch  machen  wollte,  so  hat  man  sich  heute 
schon  im  allgemeinen  an  den  Gedanken  gewöhnt,  daß  die  Arbeiter 
ihre  Vereine  haben  und  ihre  Versammlungen  veranstalten,  man 
konfisziert  ihre  Presse  nicht  mehr  so  häufig  wie  früher,  ja  selbst 
bei  Streiks  finden  sich  schon  manchenorts  die  Behörden  in  eine 
mehr  zusehende  und  vermittelnde  Rolle  und  der  große  Ziegel- 
arbeiterstreik*) im  Jahre  1895  in  der  Umgebung  von  Wien  erlebte 
am  Schlüsse  sogar  das  merkwürdige  Schauspiel,  daß  sich  Re- 
gierung und  Parlament  gegen  die  Unternehmer  erklärten  —  freilich 
ein  Ausnahmsfall,  der  nur  durch  die  geradezu  scheußlichen  Ver- 
hältnisse, in  denen  die  Unternehmer  die  Ziegelarbeiter  schmachten 
ließen  und  wiederum  durch  die  beispiellose  Energie,  mit  der  die 
Gesamtarbeiterschaft  sich  für  ihre  Brüder  einsetzte,  zu  erklären  ist. 

Der  Kampf  der  österreichischen  Sozialdemokratie  ist  aber  auch 


')  Vom  16.  April  an.  (Siehe  Deutsch:  „Geschichte  der  österreichischen 
Gewerkschaftsbewegung",  erste  Auflage,  Seite  221  f.) 


190  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


wesentlich  erschwert  durch  die  nationalen  Verhältnisse  des 
Landes.  Zwar  haben  die  albernen  Zwistigkeiten,  die  die  nationalen 
Bourgeoisgruppen  auszeichnen,  in  der  österreichischen  Arbeiter- 
schaft nie  eine  Rolle  gespielt.  Der  internationale  Gedanke  war 
immer  in  ihr  so  lebhaft,  daß  alle  Bemühungen  der  nationalen 
Parteien,  die  Arbeiter  für  ihre  Sonderzwecke  zu  mißbrauchen, 
regelmäßig  kläglich  gescheitert  sind.  Aber  die  sprachlichen  Ver- 
schiedenheiten bestehen  einmal,  und  sie  werden  verschärft  durch 
geographische,  intellektuelle  und  vor  allem  ökonomische 
Differenzen.  Die  deutschen  Gebiete  sind  industriell  am  weitesten 
entwickelt.  Langsam  bildet  sich  aus  dem  tschechischen  Klein- 
bürgertum eine  Großindustrie  heraus.  Die  Alpenländer  sind  meist 
der  Sitz  einer  bäuerlichen  Parzellenwirtschaft,  die  italienischen 
Arbeiter  sind  zumeist  nomadisierende  und  taglöhnernde  Erd- 
arbeiter, das  polnische  Bauern-  und  Industrieproletariat  schmachtet 
in  Unwissenheit  und  tiefster  Knechtschaft  unter  den  polnischen 
Schlachzizen  dahin,  die  kleineren  Nationen,  Slowenen,  Serbo- 
kroaten  usw.  stehen  auf  der  tiefsten  Stufe  der  Intelligenz  und  sind 
eine  billige  Beute  des  Klerikalismus.  Und  dennoch  ist  es  der  von 
dem  hohen  Idealismus  ihrer  Ziele  erfüllten  Sozialdemokratie  ge- 
lungen, selbst  diese  ungeheuren  Schwierigkeiten  zu  überwinden 
und  die  volle  Autonomie  und  Selbständigkeit  aller  nationalen 
Gruppen  des  Proletariats  zu  sichern  und  trotzdem  eine  ganz  Öster- 
reich umfassende  geschlossene,  einheitliche,  schlagfertige  Armee 
zu  bilden.  Der  letzte  Parteitag  in  Prag  (April  1896)  hat  dieser  Tat- 
sache durch  eine  Organisationsbestimmung  Ausdruck  verliehen, 
wonach  die  großen  nationalen  Gruppen  ihre  Exekutivkomitees 
bilden,  die  zum  Behufe  gemeinsamer  Aktionen  zur  Gesamtpartei- 
vertretung der  österreichischen  Sozialdemokratie  sich  vereinigen. 

Von  den  Fortschritten  der  sozialdemokratischen  Propaganda 
gibt  die  Verbreitung  unserer  Presse  deutlichen  Ausdruck.  Die 
Partei  verfügt  gegenwärtig  über  65  Blätter  politischen  und  ge- 
werkschaftlichen Charakters  in  sechs  verschiedenen  Sprachen  mit 
einer  Auflage  von  zusammen  229.000  Exemplaren,  darunter  über 
den  großen  Gewinn  eines  Tagblattes  („Arbeiter-Zeitung"),  wras  bei 
den  österreichischen  Preßverhältnissen  ein  gewiß  ehrenvoller 
Beweis  für  die  Entwicklung  der  österreichischen  Arbeiter- 
bewegung ist. 

Auch  die  Frauenbewegung  schreitet  rüstig  vorwärts, 
und  zwar  sowohl  auf  politischem  als  insbesondere  auch  auf  ge- 
werkschaftlichem Gebiet. 

Die  Maifeier  hat  von  Jahr  zu  Jahr  an  Ausbreitung  ge- 
wonnen. Der  1.  Mai  wird  heute  in  ganz  Österreich  als  regel- 
mäßiger Feiertag  behandelt.  Die  Unternehmerschaft  geht  zwar 
noch  vielfach  mit  Maßregelungen  vor,  doch  vermochte  das  der 
Kraft  und  Einmütigkeit  der  Demonstration  bisher  keinen  Eintrag 
zu  tun.  Die  österreichische  Arbeiterschaft,  die  den  Arbeiterfeiertag 
bisher,  wie  sie  mit  Stolz  von  sich  sagen  kann,  am  imposantesten 


Bericht  an  die  Internationale.  l-*1 


gefeiert  hat,  hält  fest  an  Ihm,  sie  hat  ihm  einen  großen  Teil  ihrer 
Entwicklung  zu   verdanken. 

Auf  dem  ( iebiet  der  g  e  w  e  r  k  s  c  h  a  M  I  i  c  h  e  n  O  r  g  a  n  i- 
sation  ist  die  Partei  um  ein  ganz  gewaltiges  Stück  nach  vor- 
wärts gegangen.  Am  Ende  des  Jahres  1895  hatten  wir  zirka 
750  Gewerkschaftsvereine  mit  einem  Mitgliederstand  von  etwa 
90.000  zu  verzeichnen,  was  gegen  den  Stand  zwei  Jahre  vorher 
einen  Zuwachs  von  weit  über  100  Prozent  bedeutet.  Sämtliche 
Gewerkschaften  haben  sich  in  der  Ge  wer  k  seh  af  ts- 
kontfmis  sion  und  ihrem  Sekretariat  eine  gemeinsame  Ver- 
tretung gegeben  und  die  Möglichkeit  planmäßiger,  einheitlicher 
Arbeit  gesichert.  Diese  starke  Entwicklung  der  gewerkschaftlichen 
Bewegung  ist  in  erster  Linie  dem  durch  die  politische  Bewegung 
erwachten  Klassenbewußtsein  der  Arbeiter  zu  verdanken.  Denn 
in  Österreich  arbeiten  die  beiden  Ausdrucksformen  der  prole- 
tarischen Bewegung  harmonisch  miteinander  und  füreinander.  Die 
Frage,  ob  nur  gewerkschaftlich  oder  nur  politisch,  existiert  nicht 
mehr  bei  uns.  Es  ist  der  Arbeiterschaft  zum  klaren  Bewußtsein 
gekommen,  daß  nur  ein  Hand-in-Hand-Arbeiten,  ein  unaufhörliches 
Ineinandergreifen  der  beiden  Organisationsformen  den  Zwecken 
der  Organisation  förderlich  sein  kann.  So  ist  es  denn  auch  ge- 
lungen, die  Bergarbeiter,  die  früher  der  politischen  Bewegung 
mißtrauisch  und  feindselig  gegenüberstanden,  von  der  Notwendig- 
keit der  politischen  Betätigung  zu  überzeugen  und  sie  der  Gesamt- 
organisation als  treue  Mitkämpfer  anzuschließen.  Freilich  hat  dabei 
die  Rückständigkeit  und  die  Unvernunft  der  österreichischen  Be- 
hörden wacker  mitgeholfen.  Die  Schüsse  von  Falkenau  und  Ostrau 
haben  mit  ihrem  Donner  das  schlafende  politische  Bewußtsein  der 
Bergarbeiter  geweckt,  und  die  grausame  Anwendung  des  Heimats- 
gesetzes, auf  Grund  dessen  jeder  um  die  Verbesserung  seiner  Lage 
Ringende,  jeder  Streikende  als  Vagabund  behandelt  und  aller 
Existenzbedingungen  beraubt  wird,  erhält  fortwährend  in  der 
Gesamtarbeiterschaft  das  Bewußtsein  der  Notwendigkeit  des  Zu- 
sammenschlusses zum  Zwecke  der  Erkämpfung  politischer  Rechte 
und  wirtschaftlicher  Bewegungsfreiheit. 

So  hat  die  sozialdemokratische  Bewegung  in  den  abgelaufenen 
drei  Jahren  dem  Gedanken  der  Befreiung  der  Gesamtheit  auf  dem 
Wege  des  proletarischen  Klassenkampfes  durch  unermüdliche,  zähe 
und  opfermutige  Arbeit  gedient.  Sie  war  in  ihrem  schwierigen 
Kampfe  gegen  die  überlieferte  österreichische  Borniertheit,  gegen 
die  Engherzigkeit  der  besitzenden  Klasse  und  den  Stumpfsinn  der 
öffentlichen  Meinung  erhoben  von  dem  großartigen  Gedanken  der 
internationalen  Solidarität  des  Gesamtproletariats.  Wiederholt  hatte 
sie  Gelegenheit,  diesem  Gedanken  Ausdruck  zu  verleihen.  Sie  er- 
wartet auch  von  dem  Londoner  Kongreß  eine  neuerliche  tatkräftige 
Förderung  der  internationalen  Beziehungen  unter  den  Bruder- 
parteien. 

Hoch    die    internationale    Sozialdemokratie! 


192  Von  Taafie  bis  Badcni. 


Die   Eröffnung   des   Parlaments   und   die 

Reichsratswahlen. 

Versammlung  beim  Dreher,  13.  September  189  6*). 

Über  die  Aufgaben  des  nächsten  Parlaments  zu  sprechen,  ist 
schwer;  denn  das  Parlament  hat  nur  eine  Aufgabe,  das  ist.  zu  ver- 
schwinden. Ein  Parlament,  das  selbst  anerkennen  mußte,  allerdings 
weil  man  von  außen  seiner  Einsicht  etwas  nachhalf,  daß  es  nicht 
zu  Recht  bestehe,  hat  nach  dieser  Anerkennung  nichts  zu  tun,  als 
abzutreten.  Aber  bei  uns  in  Österreich  gehen  die  Dinge  nicht  nach 
Vernunft,  sondern  nach  der  Einsicht  einer  jeweiligen  Regierung, 
und  an  der  Spitze  dieser  Regierung  steht  heute  ein  Minister,  der 
seine  Kraft  zieht  nicht  aus  der  eigenen  Einsicht  und  politischen 
Erkenntnis,  sondern  aus  dem  Unverständnis  der  Parteien,  nicht 
aus  der  eigenen  Energie,  sondern  aus  der  Schwachköpfigkeit  und 
Schwachmütigkeit  der  Parteien.  Darum  wird  dieses  Parlament  so 
lange  konserviert,  weil  es  ein  bequemeres  Werkzeug  für  eine 
Regierung  gar  nicht  mehr  gibt.  Wir  haben  schon  seit  jeher  die 
Inhaltslosigkeit  der  Schlagworte  aller  großen  Parteien  erkannt. 
WTir  haben  den  Liberalen  nie  geglaubt,  daß  sie  für  Fortschritt  und 
Freiheit  kämpfen,  wir  erwarten  aber  auch  nicht  von  der  „christ- 
lichen" Partei,  daß  sie  für  jene  Grundsätze  des  Christentums  ein- 
trete, die  sie  stets  im  Munde  führt.  Aber  das  Bürgertum  hat  auch 
seine  eigenen  Interessen  bei  jeder  Gelegenheit  an  die  Adeligen, 
an  die  Klerikalen  verraten,  bei  jeder  Gelegenheit  der  Regierung  einen 
Bückling  gemacht.  Österreich  ist  das  einzige  Land  in  Europa, 
wo  es  keine  bürgerliche  Partei  mehr  gibt,  die  auch  nur  den  immer 
steigenden  Anforderungen  des  Militarismus  entgegenzutreten 
wagte.  Wenn  ein  paar  Gendarmen  bei  einem  Streik  schießen 
können,  so  ist  das  Gefühl  der  Beruhigung,  das  Gefühl  der  Dankbar- 
keit bei  unseren  Ausbeutern  so  groß,  daß  sie  schon  deshalb  das 
ganze  Armeebudget  mit  Vergnügen  annehmen,  um  so  mehr,  als 
sie  ja  bei  der  Lieferung  der  Kanonen,  Flinten,  Kleider.  Stiefel,  selbst 
die  besten  Geschäfte  machen.  Es  ist  uns  gelungen,  ein  Wahlgesetz 
zu  erzwingen,  das  aus  diesem  Parlament  gewiß  noch  keine  Volks- 
vertretung macht,  das  aber  doch  die  Aussicht  bietet,  daß  etwas 
Hefe,  etwas  Sauerteig  hineinkommt,  daß  im  Parlament  ein  Spiegel 
aufgestellt  werden  wird,  worin  sich  die  Herren  werden  besehen 
können.  Und  da  sie  fürchten,  daß  sie  darin  eine  sehr  schlechte  Figur 
machen  werden,  und  da  sie  vermuten,  daß  einsichtige  Leute  bereits 
vor  den  Wahlen  das  erkennen,  darum  fürchten  sie  sich  vor  diesen 
Wahlen,  und  darum,  wie  in  jeder  Not,  buhlen  sie  vor  allem  um  die 
Gunst  der  Regierung.  Heute  können  wir  in  der  ganzen  liberalen 
Presse  ein  Jammergeheul  bemerken;  sie  haben  nämlich  entdeckt, 
der  Badeni  ist  ein  Klerikaler.  Redner  bespricht  nun  das  Kompromiß 

*)  Am  1.  Oktober  1896  trat  das  Parlament  wieder  zusammen  und  des- 
halb wurde  in  den  Garten  von  Dreher  auf  der  Landstraße  eine  Versamm- 
lung einberufen,  in  der  Adler  sprach. 


Die  Eröffnung  des  Parlaments  und  die  Reichsratswahlen.  193 


in  Oberösterreich*),  das  darin  bestehe,  daß  die  „liberalen"  Groß- 
grundbesitzer erklären  mußten,  klerikal  ZU  sein.  Nun  schreien  die 
Liberalen:  „Das  hat  der  Baden]  zustande  gebracht,  und  wir  dachten, 
er  ist  unser  Freund?"  Natürlich,  dieses  (iesindel,  das  in  der  Koa- 
lition mit  den  Klerikalen  zusammenging,  um  eine  ehrliche  Wahl- 
reform  zu  verhindern,  dieses  Gesindel  hat,  wie  da  einer  aus  (ializien 
kam  mit  dem  Kufe  des  schlauen  Staatsmannes,  der  verbindliche 
Händedrücke  nach  allen  Seiten  wechselte,  gedacht,  Händedrücke, 
das  ist  etwas  Liberales;  da  hofften  sie,  er  werde  Rücksicht  auf 
sie  nehmen.  Er  sucht  sich  seine  Majorität,  wo  er  sie  findet,  ihm 
ist  vollständig  gleichgültig,  wer  ihm  sein  Budget  apportiert  usw. 
und  wenn  er  die  alte,  verläßliche  schwarze  Schar  hat,  ist  ihm  das 
lieber  als  jede  andere.  Bei  uns  ist  die  Macht  der  Regierung  bei 
den  Wahlen  eine  ungeheure,  nicht  nur  in  Qalizien  machen  die 
Bezirkshauptleute  die  Wahlen,  daher  möchte  sich  keine  Partei  die 
Gunst  der  Regierung  verscherzen.  Da  existiert  eine  große,  angeb- 
lich oppositionelle  bürgerliche  Partei,  eine  Partei,  die  das  ganze 
christliche  Volk  mit  gleicher  Liebe  umfängt.  Erinnern  wir  uns,  wie 
vor  einem  Jahre,  wie  noch  vor  sechs  Monaten  die  Haltung  der 
Lueger-Partei  gegenüber  der  Regierung  war,  wie  sie  damals  sich 
auf  die  Verfolgte  hinausspielte,  wie  man  gegen  Badeni  das  Klein- 
bürgertum aufbot.  Es  ist  noch  kein  halbes  Jahr  vergangen,  und 
die  Leute  kommen  sehr  gut  aus  mit  Badeni.  Badeni  hat  in  Wien 
sehr  viel  gelernt,  vor  allem,  daß  der  Lueger  ein  besseres  Werk- 
zeug ist  als  die  alten  Liberalen.  Redner  bespricht  nun  den  Bauern- 
tag, der  den  Bauern  die  Macht  der  antisemitischen  Partei  und  ihren 
guten  WrHen,  ihnen  zu  helfen,  zeigen  und  ihnen  die  Parole  für  die 
Wahlen  geben  solle.  Da  kommt  ihnen  nun  der  Badeni,  soweit  er 
kann,  entgegen.  Will  der  Badeni  vielleicht  auch,  wie  der  Lueger, 
der  jüdischen  Ausbeutung  ein  Ende  machen?  Das  fällt  dem  Badeni 
wirklich  nicht  ein.  Aber  er  weiß,  daß  der  Lueger  der  jüdischen  und 
christlichen  oder  sonst  einer  Ausbeutung  auch  nicht  ein  Haar 
krümmen  wird,  und  darum  sein  Entgegenkommen;  er  ist  gescheit 
genug,  zu  wissen,  daß  die  Bauern  da  zusammengeführt  werden,  um 
in  Regimenter  und  Kompanien  eingeteilt  und  unter  klerikalen 
Korporalen  und  Leutnants  zu  den  Wahlen  geführt  zu  werden.  Für 
die  nächste  Zeit  sind  die  Bauern  für  diese  Politik  gewonnen,  aber 


*)  Für  die  Landtagswahlen  in  Oberösterreich  war  durch  Vermittlung 
der  Regierung  zwischen  liberalen  und  klerikalen  Großgrundbesitzern  eine 
Wahlvereinbarung  zustande  gekommen,  wonach  von  den  zehn  Mandaten 
der  Großgrundbesitzerkurie  zwei  den  Liberalen  zugestanden  wurden,  unter 
der  Bedingung,  daß  nur  „gemäßigte  Liberale"  gewählt  werden  dürften.  Da- 
für verpflichteten  sich  die  liberalen  Großgrundbesitzer,  auf  den  seit  zehn 
Jahren  immer  wiederholten  Protest  gegen  das  —  vom  Reichsgericht  als 
ungesetzlich  erklärte  —  Wahlrecht  der  geistlichen  Pfründenbesitzer  zu  ver- 
zichten und  die  beiden  zu  wählenden  Abgeordneten  mußten  sich  ver- 
pflichten, „die  Autorität  der  katholischen  Kirche  jeder- 
zeit zu  wahren"  und  besonders  in  konfessionellen  Fragen  den  Konser- 
vativen nicht  entgegenzutreten.  Auch  im  niederösterreichischen  Landtag 
wurde  dann  in  der  Großgrundbesitzerkurie  eine  gemeinsame  Liste  gewählt. 

Adicr,  Briefe.  X.  Bd.  13 


194  Von  Taaffe  bis  Badeni. 


die  rapide  wirtschaftliche  Entwicklung  wird  sie  dazu  bringen,  zu 
erkennen,  daß  sie  nur  hintergangen  wurden,  und  daß  auf  diesem 
Wege  keine  Hilfe  zu  finden  ist.  Wäre  beim  Bauerntag  eine  Dis- 
kussion möglich,  dann  würden  wohl  viele  schon  heute  auf  die 
Gegensätze  aufmerksam.  Redner  erörtert  die  Frage  des  Heimat- 
rechtes und  der  landwirtschaftlichen  Zwangsgenossenschaften.  Die 
Christlichsozialen  und  Klerikalen  werden  die  Bauern  und  Klein- 
gewerbetreibenden so  lange  hinter  sich  haben,  solange  diese  im 
Rausche  sind;  die  Sozialdemokratie  wird  die  Leute  haben,  wenn 
sie  zu  Verstand  kommen,  wenn  sie  nüchtern  geworden  sind,  wenn 
sie  erkannt  haben  werden,  daß  der  heutige  Bauerntag  nur  ein 
Schwindel  war,  nichts  als  wirklicher  Bauernfang.  Während  die 
Christlichsozialen  früher  nur  den  Badeni  bekämpften,  haben  sie 
jetzt  einen  anderen  Feind  entdeckt:  die  Sozialdemokraten.  Die 
christlichsoziale  Partei  wird  sich  nach  und  nach  die  Sympathien 
des  ganzen  Bürgertums  erwerben.  Das  Geldsackjudentum  ist  heute 
schon  wesentlich  beruhigt,  und  es  wird  eine  Zeit  kommen,  wo  die 
Antiliberalen  werden  erkannt  und  gewürdigt  werden  als  viel 
bessere,  als  viel  schneidigere  Vertreter  des  internationalen  be- 
schnittenen und  unbeschnittenen  Geldsackes,  als  die  alten  Liberalen 
es  waren.  Bei  allen  Lohnkämpfen  der  letzten  Zeit,  auch  dort,  wo 
sich  (wie  in  Reichenberg)  nur  arische  Arbeiter  und  jüdische  Aus- 
beuter gegenüberstanden,  standen  sie  auf  seiten  der  Ausbeuter. 
Lueger  weiß,  daß  er  seine  Leute  nur  ohne  Programm  zusammen- 
halten kann,  es  handelt  sich  ihm  nur  darum,  das  Volk  nicht  zur 
Besinnung  kommen  zu  lassen.  Bei  den  nächsten  Reichsratswahlen 
handelt  es  sich  uns  nicht  darum,  die  zünftlerischen  Kleingewerbe- 
treibenden und  Kleinbauern  herüberzubekommen,  sondern  darum, 
daß  die  Arbeiterschaft  selbst  ihre  Pflicht  tut.  Die  Schwierigkeit  der 
Organisation  der  Arbeiterschaft  ist  groß,  aber  unsere  Organisation 
hat  ihren  Stützpunkt  dort,  wo  das  Kapital  die  Arbeiter  organisiert 
und  in  eine  gemeinsame  Tretmühle  hineinsteckt,  damit  sie  für  sie 
fronen.  Die  Arbeiter  werden  in  geschlossenen  Zügen  von  den 
Fabriken  zur  Wahlurne  gehen  und  dort  zeigen,  daß  sie  mit  vollem 
Bewußtsein  eintreten  für  die  einzige  Partei,  die  für  sie  kämpft,  für 
die  Sozialdemokratie.  (Beifall.) 


Die  Sozialdemokratie  und  die  Gemeinderatswahlen.  195 


Der   Kampf   um    das    Gemeinde- 
und  Landtagswahlrecht. 

Die  Sozialdemokratie  und  die  Gemeinde- 
ratswahlen. 

Versammlung  beim  Stalehner,  8.  September 

1895*). 

Alle  Tage  hören  wir  von  den  wilden  Kämpfen,  welche  die 
„reifen"  Bürger  Wiens  in  ihren  Wählerversammlungen  ausfechten. 
Der  Kampf  dreht  sich  um  Dinge,  die  die  Arbeiterschaft  kalt  lassen, 


*)  Ende  Februar  1894  war  der  liberale  Bürgermeister  von  Wien  Doktor 
Johann  Prix,  der  nach  der  Vereinigung  Wiens  mit  den  Vororten  am 
23.  Juli  1891  zum  Bürgermeister  von  „Groß-Wien"  gewählt  worden  war, 
plötzlich  gestorben.  Er  erlitt  infolge  der  von  L  u  e  g  e  r  gegen  ihn  erhobenen 
Beschuldigungen  und  Andeutungen,  als  ob  er  eine  Million  Gulden  defrau- 
diert hätte  —  eine  Beschuldigung,  die  sich  darauf  reduzierte,  daß  er  eine 
Million  für  einen  anderen  Zweck,  als  den  im  Budget  bestimmten,  ver- 
wendet hatte  —  einen  Schlaganfall.  Unter  seinem  Nachfolger  Dr.  Raimund 
G  r  ü  b  1  vollzog  sich  der  Niedergang  der  liberalen  Herrschaft.  Bei  den 
Ersatzwahlen  Ende  März  1895  hatten  die  Liberalen  wieder  eine  Niederlage 
erlitten,  so  daß  ihre  Mehrheit  nur  noch  zehn  Stimmen  betrug.  Überdies  war 
die  Partei  durch  innere  Streitigkeiten  geschwächt,  so  daß  bei  der  Wahl 
des  ersten  Vizebürgermeisters  am  14.  Mai  der  Liberale  Dr.  Albrecht 
Richter  nur  noch  mit  70  gegen  66  Stimmen,  die  auf  Dr.  Karl  L  u  e  g  e  r 
entfielen,  gewählt  wurde,  obwohl  der  Bürgermeister  Dr.  G  r  ü  b  1  und  der 
zweite  Vizebürgermeister  Josef  Matze  nauer  mit  dem  Rücktritt  ge- 
droht hatten.  Darauf  lehnte  Richter  die  Wahl  ab  und  Lueger  wurde  mit 
65  gegen  2  Stimmen,  die  auf  Richter  entfielen,  und  gegen  69  leere  Stimm- 
zettel gewählt.  Lueger  versprach  in  seiner  Antrittsrede  eine  durch- 
greifende Änderung  des  Gemeindewahlrechtes.  Gleich  nach  der  Wahl 
legten  Grübl  und  Matzenauer  ihre  Stellen  zurück  und  am  29.  Mai  wurde 
Lueger  im  dritten  Wahlgang  zum  Bürgermeister  gewählt.  Er  lehnte  aber 
ab.  Darauf  wurde  der  Gemeinderat  aufgelöst,  der  Bezirkshaupt- 
mann Dr.  Hans  v.  Friebeis  mit  der  Besorgung  der  Geschäfte  betraut 
und  ihm  ein  Beirat  von  15  Gemeinderäten  beigegeben.  Bei  den  Wahlen 
im  September  eroberten  die  Christlichsozialen  den  ganzen  dritten  Wahl- 
körper, den  Wahlkörper  der  kleinen  Steuerzahler,  und  durch  die  Hilfe  der 
Beamten  den  größten  Teil  des  zweiten  Wahlkörpers  —  des  Wahlkörpers 
der  mittleren  Steuerzahler  und  der  Intelligenz,  der  Lehrer  und  Beamten» 

13* 


196  Der   Kampf   um   das  Gemeinde-  und  Landtagswahlrecht. 

wenigstens  solange  sie  nichts  dreinzureden  hat.  Das  ist  aber  heute 
noch  immer  der  Fall.  Von  280.000  Männern  Wiens  im  wahlfähigen 
Alter  ist  kaum  ein  Drittel  wahlberechtigt.  Darum  besteht  auch  die 
verrottete  Cliquenwirtschaft.  Man  streitet  nicht  darüber,  wie  die 
großen  kommunalen  Arbeiten  zu  machen  sind,  sondern  wer  sie 
machen,  wer  den  Profit  einsacken  soll.  Der  Kampf  um  die  Macht 
im  Gemeinderat  von  Wien  stellt  sich  dar  als  ein  Kampf  zwischen 
dem  Kleinbürgertum  und  dem  Großbürgertum.  Die  Lage  des  Klein- 
bürgertums ist  bei  uns  wie  überall  eine  sehr  prekäre.  Der  Klein- 
gewerbetreibende ist  zu  gleicher  Zeit  Lohnarbeiter  und  Ausbeuter; 
dem  Druck,  den  er  von  oben  zu  erleiden  hat,  gesellt  sich  der  Druck 
zu,  den  ihm  die  organisierte  Arbeiterschaft  entgegensetzt,  und  ohne 
Zweifel  ist  sein  Schicksal  der  Untergang.  Die  Kleinbürger  sind  auch 
heute  gar  nicht  mehr  fähig,  einen  ernstlichen  wirtschaftlichen  Kampf 
zu  führen,  sie  verstehen  es  nicht  einmal  mehr,  sich  der  Kampfmittel, 
die  ihnen  das  Gesetz  darbietet,  zu  bedienen.  Mittels  der  Genossen- 
schaften hätten  sich  beispielsweise  die  Arbeiter,  wenn  die  Gesetz- 
gebung sie  für  sie  geschaffen  hätte,  eine  riesige  Organisation  auf- 
gebaut. In  der  Meisterversammlung  sind  die  Gehilfenvertreter  völlig 
ohnmächtig,  und  die  ganze  Gehilfenschaft  fungiert  in  den  Genossen- 
schaften als  Staffage.  Und  dennoch  haben  die  Meister  mit  diesem 
ausgezeichneten  Organisationsmittel,  das  ihnen  die  Gesetzgebung 
lieferte,  nichts  anzufangen  gewußt,  während  die  Arbeiterschaft  diese 
eigentlich  arbeiterfeindliche  Institution  auf  das  äußerste  auszu- 
nutzen verstanden  hat.  Die  Meister* gehören  eben  einer  Klasse  an, 
die  nicht  mehr  zum  Kampfe  fähig  ist.  Sie  sind  aber,  wenigstens  bei 
uns,  auch  unfähig,  sich  aufzuraffen  und  sich  zu  sagen:  „Prole- 
tarier sind  wir  morgen,  darum  wollen  wir  schon  heute  mit 
den  Proletariern  gehen!"  Aus  dem  Bestreben  der  Kleingewerbe- 
treibenden, sich  doch  als  Klasse  zu  erhalten,  erklärt  sich  ihre  Sym- 
pathie für  den  Antisemitismus.  Sie  denken  zu  borniert,  um  die  ganze 
gegenwärtige  Wirtschaftsordnung  für  ihren  Niedergang  verant- 
wortlich zu  machen,  und  deswegen  helfen  sie  sich  mit  den  Schlag- 
wörtern des  Antisemitismus.  Der  Jude  erscheint  ihnen  als  Personi- 


während  der  erste  Wahlkörper,  der  Wahlkörper  der  größten  Steuerzahler, 
noch  im  Besitz  der  Liberalen  blieb.  Bei  diesen  Wahlen  wurden  in  allen 
drei  Wahlkörpern  für  die  Antisemiten  —  die  vereinigten  Christlich- 
sozialen und  Deutschnationalen  —  43.776,  für  die  Liberalen  22.868  Stimmen 
abgegeben.  Während  die  Antisemiten  die  Versammlungen  der  Liberalen 
sprengten,  suchten  die  Liberalen  ihre  wirtschaftliche  Macht  auszunützen. 
So  hat  ein  von  der  „Arbeiter-Zeitung"  enthülltes  Zirkular  des  Dr.  Richter, 
der  Obmann  des  deutschfortschrittlichen  Zentralkomitees  war,  großes  Auf- 
sehen erregt,  weil  er  darin  die  großen  Firmen  aufforderte,  die  von  ihnen 
abhängigen  Kleinmeister  und  Lieferanten  zur  Wahl  der  Liberalen  zu 
zwingen.  Über  das  Gemeindewahlrecht  siehe  Seite  40  f. 

Um  den  Standpunkt  der  Arbeiter  zu  den  Gemeindewahlen  zu  kenn- 
zeichnen, wurde  für  den  8.  September  eine  Versammlung  zum  Stalehner 
-einberufen,  in  der  Adler  über  das  Thema  „Die  Sozialdemokratie 
und  die  Gemeindewahlen"  sprach. 


Die  Sozialdemokratie   mul  die  Qemeinderatswahien.  197 


fikatiotl  ihres  Unglücks,  während  wir  genau  wissen,  dal.'»,  wenn  alle 
.luden  auf  einmal  vom  Schauplatz  verschwänden,  damit  kein  Stein 
aus  dem  herrschenden  Qesellschaftsgebäude  gefallen  wäre.  Der 
Redner  schildert  nun  die  Versumpfung  und  den  Verfall  der  liberalen 
Partei,  die  es  heute  nicht  einmal  mehr  wagen  darf, 
unter  ihrem  Namen  vor  die  Massen  zu  treten.  Sie 
sind  womöglich  noch  bornierter  als  ihre  deiner.  Ihre  ganze  Weis- 
heit liest  in  ihrem  ewigen  Geschimpfe  auf  die  Antisemiten.  „Die 
Antisemiten  sind  dumm,  roh,  Verleumder",  das  ist  ihr  ewiges  Ge- 
fasel, mehr  wissen  sie  von  ihren  Gegnern  nicht  zu  erzählen.  Der 
Redner  charakterisiert  nun  die  sogenannte  „fortschrittliche  Ge- 
werbepartei" und  die  Gruppe  der  Sozialpolitiker.  Die  „Gewerbe- 
partei" bestehe  aus  Leuten,  die  der  Antisemitismus  schließlich  an- 
widert, die  sich  aber  unter  dem  Namen  Liberale  ebensowenig 
hinauswagen,  wie  Leute,  die  bloß  Schwimmhosen  anhaben,  auf  die 
Gasse  gehen  würden.  Den  Sozialpolitikern,  den  Leuten  aus  ihren 
Reihen,  die  Geist  und  Wissen  besitzen,  verweigert  die  Bourgeoisie 
den  Einfluß,  um  die  Macht  ihrer  bornierten  Größen  nicht  zu  beein- 
trächtigen. Es  ist  ein  trauriges  Zeichen  des  Niederganges  der  herr- 
schenden Klassen,  daß  Leute,  die,  wie  der  bekannte  Professor 
Philippovich*),  den  Mut  haben,  das  zu  sagen,  was  sie  wissen,  sich 
zurückziehen  müssen,  um  das  Feld  den  Richters  zu  räumen. 
Unsere  Stellung  zu  diesem  Wahlkampfe  ist  bald  gegeben.  Uns  kann 
es  gleichgültig  sein,  ob  die  Liberalen  oder  die  Antisemiten  als  Sieger 
daraus  hervorgehen.  Siegen  die  Antisemiten,  so  werden  sie  ebenso- 
wenig wie  irgendwer  anderer  imstande  sein,  die  wirtschaftliche 
Entwicklung  zu  hemmen.  Aus  erzieherischen  Gründen 
wäre  es  aber  sogar  sehr  wünschenswert,  daß  Lueger  Bürgermeister 
wird.  Der  Redner  schildert  nun  das  Gemeindewahlsystem,  das  wo- 
möglich noch  verrotteter  und  ungerechter  sei  als  die  Reichsrats- 
wrahlordnung.  Auch  in  der  Gemeinde  sei  die  Arbeiterschaft  von  der 
Gesetzgebung  ausgeschlossen,  obwohl  auch  die  Gemeinde  gerade 
von  den  Steuerleistungen  der  „NichtSteuerzahler"  lebe.  Die  Arbeiter 
erhalten  die  Gemeinde  mit  den  Zinskreuzern  und  den  Steuerzu- 
schlägen, und  der  Ruf  nach  dem  allgemeinen  Wahlrecht  werde  sich 
daher  in  absehbarer  Zeit  auch  in  der  Gemeindepolitik  geltend 
machen.  Heute  sei  niemand  da,  der  energisch  für  die  Erweiterung 
des  Gemeindewahlrechtes  eintrete.  Die  Antisemiten  tun  zwar  sehr 
demokratisch  und  erklären  bei  jeder  Gelegenheit  mit  Pathos,  daß 
sie  das  allgemeine  Wahlrecht  für  den  Reichsrat  fordern,  allein  wir 
wissen,  was  wir  davon  zu  halten  haben.  Sie  würden  am  liebsten 
lebenslänglich  für  das  allgemeine  Wahlrecht  eintreten. 
(Heiterkeit.) 

Fragen  wir  nun,  welche  Stellung  die  Kommune  der  Arbeiter- 
schaft   gegenüber    einnimmt.    Als  Unternehmerin    beute    sie    den 


)  Dr.  ringen  v.  Philippovich,  Professor  der  Nationalökonomie  an 
der  Wiener  Universität,  der  später  auch  als  „Soziaipolitiker"  in  den  nieder- 
österreichischen  Landtag  gewählt   wurde. 


198  Der   Kampf   um   das  Gemeinde-  und  Landtagswahlrecht. 

Arbeiter  aus  wie  andere  Kapitalisten,  sie  lebe  von  seinen  Steuer- 
kreuzern und  gewähre  ihm  nicht  einmal  das  Heimatsrecht.  Die 
meisten  Arbeiter  seien  Fremdlinge  in  der  Stadt,  die  von  ihnen 
lebe.  Es  sei  das  sehr  wichtig  zu  konstatieren  in  einer  Zeit,  wo  man 
der  sozialdemokratischen  Arbeiterschaft  so  laut  und  so  heftig 
„Vaterlandslosigkeit"  vorwirft.  Die  heutige  Gesellschaft  bietet  dei 
Arbeiterschaft  kein  Vaterland  und  bringt  sie  in  die  Lage,  es  sich 
erst  erkämpfen  zu  müssen.  Aber  wir  werden  es  uns  auch  zu  er- 
kämpfen wissen.  Kaiser  Wilhelm  hat  uns  in  seinem  Zorn  eine  Rotte*) 
von  Menschen  genannt.  Wir  akzeptieren  diese  Bezeichnung,  trotz 
des  feindseligen  Beigeschmacks,  den  ihr  unser  gekrönter  Gegner 
gegeben  hat.  Ja,  wir  sind  eine  Rotte,  wir  werden  uns  zusammen- 
rotten,  um  wegzufegen  diejenigen,  die  heute  im  Alleinbesitz  des 
Vaterlandes  sind,  um  d  e  n  Anteil  am  Vaterland  zu  gewinnen,  der 
uns  gebührt.  Wir  führen  heute  den  Kampf  um  das  allgemeine  Wahl- 
recht. Er  ist  zu  wichtig,  als  daß  wir  uns  durch  den  Kampf  um  den 
Gemeinderat  in  Wien  davon  ablenken  lassen  sollten.  Es  wird  die 
Zeit  kommen,  wo  wir  mit  einem  selbständigen  Kommunalprogramm 
hervortreten  werden.  Heute  läßt  uns  dieser  Kampf  kalt,  und  wir 
können  es  nur  mißbilligen,  wenn  sich  Leute  wie  Genosse  Bar- 
d  o  r  f**)  von  einer  oder  der  anderen  Partei  als  „Würzen"  mißbrauchen 
lassen.  In  unserem  Kampfe  um  das  Wahlrecht  ist  jetzt  mit  Rück- 
sicht auf  die  Folge  der  Ereignisse  eine  notwendige  Pause  ein- 
getreten, aber  in  kurzer  Zeit  werden  wir  wieder  auf  dem  Platze  sein 
müssen.  Wir  werden  den  Badeni  ebensowenig  fürchten  und  mög- 
licherweise ebenso  schroff  zu  bekämpfen  haben  wie  den  Windisch- 
grätz.  (Rufe:  Pfui  Windischgrätz!)  Genossen,  lassen  Sie  die  Toten 
ruhen***),  sparen  Sie  Ihre  Pfuirufe,  Sie  werden  sie  vielleicht  noch 
brauchen.  Am  nächsten  Sonntag  schon  wrerden  wir  auf  der  Feuer- 
werkswieset) Gelegenheit  haben,  dem  „kommenden  Mann"  die 
nötigen  Winke  zu  geben,  und  er  mag  im  voraus  überzeugt  sein,  daß 
die  Arbeiterschaft  entschlossen  ist,  unentwegt  für  die  Forderung 
des  allgemeinen  Wahlrechtes  weiterzukämpfen. 


-;•:• 


*)  Am  2.  September  1895  hatte  Kaiser  Wilhelm  die  Sozialdemokraten 
eine  Rotte  von  Menschen  genannt,  nicht  wert,  den  Namen 
Deutscher  zu  trage  n. 

**)  Josef  B  a  r  d  o  r  f,  seinerzeit  ein  Führer  der  „Gemäßigten",  hat  sich 
von  den  Liberalen  eine  Stelle  in  der  Arbeitsvermittlung  der  Gemeinde 
geben  lassen  und  sich  eingeredet,  daß  das  eine  sozialpolitische  Tat  der 
Liberalen  sei.  Deshalb  ist  er  in  den  Kämpfen  zwischen  Christlichsozialen 
und  Liberalen  für  die  Liberalen  eingetreten,  die  sich  übrigens  „fortschritt- 
lich" nannten. 

***)   Das   Koalitionsministerium   Windischgrätz    hat    am    29.    September 
Badeni  Platz  gemacht. 

t)  Die  Versammlung  vom  15.  September  mußte  wegen  des  schlechten 
Wetters  verschoben  werden;  sie  fand  dann  am  22.  September  statt.  (Siehe 
Adlers  Reden  „Die  starke  Faust  B  a  d  e  n  i  s"  und  „Begrüßung 
Badeni  s",  Seite  154  f.) 


Weder  Lueger  noch  Badeni.  i'''» 


Weder  Lueger  noch  Badeni. 

V  e  r  s  a  m  m  1  u  n  g  h  e  i  der  „B  r  e  t  z  e  n",  26.  D  e  z  e  m  i>  e  r 

l  895*). 

Es  hat,  wie  wir  wissen,  Verwunderung  erregt,  daß  die  Sozial- 
demokraten plötzlich  mit  Versammlungen  hervortreten,  wo  von 
Gemeinderatswahlen    gesprochen  werde.    Es    ist    aber    eigentlich 

*)  Am  29.  Oktober  1895  wurde  Lueger  mit  93  von  137  Stimmen  zum 
Bürgermeister  gewählt.  Aber  Graf  Badeni,  der  am  29.  September  die 
Regierung  gebildet  hatte,  verweigerte  die  Bestätigung,  solange  er  das 
Reichsratsmandat  habe.  Am  13,  November  wurde  aber  Lueger  neuerlich 
zum  Bürgermeister  gewählt  und  darauf  der  Gemeinderat  wieder  auf- 
gelöst. Die  Christlichsozialen  zogen  demonstrierend  in  den  Burghof. 
Ihre  kaisertreue  Gesinnung  hinderte  sie  nicht,  gegen  den  Kaiser  zu  demon- 
strieren, um  ihn  zum  Nachgeben  zu  zwingen. 

Im  Februar  1896  fanden  neuerlich  Gemeindewahlen  statt,  und  am 
18.  April  wurde  Lueger  mit  96  Stimmen  zum  drittenmal  zum 
Bürgermeister  gewählt.  Am  27.  April  wurde  er  vom  Kaiser  in 
Audienz  empfangen,  worauf  er  „vorläufig"  auf  sein  Bürgermeisteramt  ver- 
zichtete. Nun  wurde  am  6.  Mai  1896  Josef  S  t  r  o  b  a  c  h  als  sein  Platz- 
halter zum  Bürgermeister  und  am  22.  Mai  Dr.  Lueger  zum  ersten  und 
Dr.  Neumayer  —  ein  sogenannter  Deutschnationaler,  der  sich  aber 
schon  damals  und  erst  recht  später  in  nichts  von  den  Christlichsozialen 
unterschied;  er  wurde  nach  Luegers  Tod  bekanntlich  selbst  Bürger- 
meister, mußte  aber  schließlich  Weiskirchner  Platz  machen  —  zum 
zweiten  Vizebürgermeister  gewählt.  Am  11.  März  1897,  nach  den  ersten 
Wahlen  der  fünften  Kurie,  trat  Strobach  zurück  und  am  8.  April  wurde 
Lueger  zum  Bürgermeister  gewählt  und  rasch  bestätigt. 

Bei  den  Wahlen  vom  Februar  1896  griff  gleich  nach  der  Auflösung  des 
Gemeinderates  die  Sozialdemokratie  ein,  um  gegen  das  Wahlunrecht,  das 
die  Arbeiter  ausschloß,  zu  protestieren  und  beide  Parteien  anzuklagen. 
Für  den  26.  Dezember  1895  wurden  elf  Volksversammlungen  einberufen 
mit  der  Tagesordnung  „Die  Gemeinderatswahlen  und  die  Sozialdemo- 
kratie". In  einer  Resolution,  die  in  diesen  Versammlungen  beschlossen 
wurde,  hieß  es  unter  anderem: 

Angesichts  der  neuerlich  bevorstehenden  Gemeinderatswahlen 
protestiert  die  Arbeiterschaft  von  Wien  dagegen,  daß  mehr  als  zwei 
Drittel  der  Bevölkerung  rechtlos  sind  in  der  Gemeinde,  wie  sie  es 
im  Staate  sind.  Der  zu  wählende  Gemeinderat  kann  nichts  anderes 
sein  als  die  Vertretung  einer  privilegierten  Minorität  und  wird  wie 
bisher  die  Gemeindeverwaltung  ausschließlich  im  Interesse  der  Be- 
sitzenden führen.  Die  Wiener  Arbeiterschaft  hat  mit  Genugtuung  die 
endgültige  und  unwiderrufliche  Beseitigung  des  liberalen  Gemeinde- 
regiments, der  Willkürherrschaft  einer  kleinen  Clique  gesehen,  aber 
sie  protestiert  mit  Entschiedenheit  dagegen,  daß  die  größere  anti- 
semitische Clique,  die  nun  definitiv  ans  Ruder  gelangt  ist,  sich  als 
„Volk  von  Wien"  aufspielt,  wozu  ihr  jede  Berechtigung  mangelt.  Das 
wirkliche  Volk  von  Wien,  die  Ausgebeuteten  aller  Art  und  jeden 
Grades,  wird  die  kommenden  Gemeinderatswahlen  dazu  ausnützen,  um 
laut  und  deutlich  sein  Recht  zu  verlangen.  Die  Arbeiter  wollen  in  der 
Gemeinde,  deren  Lasten  sie  zu  tragen  haben  und  deren  Größe  ihr 
Werk  ist,  als  heimatsberechtigte  Vollbürger  den  ihnen  gebührenden 
Anteil  an   der  Verwaltung  durch   Beseitigung  der  Wahlkörper  und   Ge- 


200  Der   Kampf   um   das   Gemeinde-   und   Landtagswahlrecht. 

verwunderlich,  daß  sie  nicht  schon  lange  in  einen  Gemeinderats- 
wahlkampf  eingetreten  sind.  Man  hat  geglaubt,  daß  es  für  Wien 
und  Österreich  keine  wichtigere  Frage  gebe,  als  ob  Dr.  Lueger 
Bürgermeister  werde  oder  nicht;  es  ist  so  weit  gekommen,  daß 
man  in  letzter  Zeit  allen  Ernstes  davon  gesprochen  hat,  hinter 
Lueger  und  seinen  Leuten  stehe  das  ganze  christliche  Volk.  Es 
wäre  an  der  Zeit,  daß  das  wirkliche  Volk  von  Wien  sich  wehre 
und  sage :  „Ihr,  die  ihr  das  Volk  gespielt,  ihr  seid 
nicht  das  Volk,  ihr  seid  eine  kleine  Minorität,  ihr 
habt  ebensowenig  das  Recht,  im  Namen  des 
Volkes  zu  sprechen,  wie  die  Liberalen,  die  ihr  aus 
der  Ratsstube  verdrängt  hab  t."  (Beifall.)  Die  Sozial- 
demokraten haben  sich  nicht  in  die  Qemeinderatswahlen  ein- 
gemischt, weil  der  Kampf  zwischen  Liberalen  und  Antisemiten 
noch  nicht  entschieden  war.  Die  Sozialdemokraten  wünschten 
einen  Sieg  der  Antisemiten,  damit  diese  öffentlich  be- 
weisen, wie  es  mit  ihren  Versprechungen  in  der  Praxis  aussehe. 
Allein  Graf  Badeni  habe  einen  Strich  durch  die  Rechnung  gemacht, 
eine  Torheit  und  ein  Unrecht  begangen,  Dr.  Lueger  die  Bestäti- 
gung versagt,  welcher  nunmehr  als  Märtyrer  aufzutreten  in  der 
Lage  sei.  Graf  Badeni  mußte  wissen,  daß  diese  Partei  am  Ruder 
nichts  zu  leisten  weiß  und  hat  ihr  Gelegenheit  gegeben,  Lärm  zu 
machen  und  eine  Agitation  zu  entfalten  mit  dem  Motto:  „Gegen 
Badeni,  welcher  dem  vom  Volke  gewählten  Bürgermeister  die 
Bestätigung  verweigert  hat."  In  ihrem  Übermut  haben  die  Anti- 
semiten sich  als  Vertreter  des  Volkes  von  Wien  aufgespielt,  und 
da  war  für  die  Sozialdemokraten  der  Moment  gekommen,  in  den 
Wahlkampf  einzugreifen  und  zu  beweisen,  daß  hinter  den  Anti- 
semiten nur  ein  kleiner  Bruchteil  des  Volkes  marschiere.  Man 
wird  uns  von  den  Antisemiten  verübeln,  daß  wir  in  den  Wahl- 
kampf eintreten;  aber  ob  wir  in  den  Wahlkampf  eintreten  oder 
nicht,  verkauft  an  die  Juden  sind  wir  immer.  (Heiterkeit.)  Man 
wird  uns  einwenden :  „ W arum  seid  ihr  im  August  nicht 
in  den  Wahlkampf  eingetreten,  und  warum  erst 
jetzt?"  Im  August  in  den  Wahlkampf  einzutreten,  wäre  nicht 
klug  gewesen,  weil  es  sich  um  eine  Machtfrage  zwischen  Anti- 
semiten und  Liberalen  handelte.  Heute  steht  die  Sache  anders,  die 


Währung  des  Wahlrechtes  für  jeden  in  Wien  wohnenden  Inländer . . . 
(Dann  wurden  die  Forderungen  an  die  Gemeinde  angeführt  und  zum 
Schluß  gesagt:)  Angesichts  der  Nichtbestätigung  eines  vom  Gemeinde- 
rat gewählten  Bürgermeisters  fordern  wir  vor  allem:  Erweiterung  der 
Gemeindeautonomie  nach  der  Richtung,  daß  alle  gesetzlichen  Bestim- 
mungen aufgehoben  werden,  die  die  Gültigkeit  der  Wahl  der  Gemeinde- 
funktionäre einschränken  und  von  der  kaiserlichen  Bestätigung  und 
dem  Wohlwollen  der  Regierung  abhängig  machen.  Die  Arbeiterschaft 
Wiens  protestiert  energisch  gegen  die  Verschleppung  der  Wahlreform 
und  wird  auch  anläßlich  der  Gemeinderatswahlen-  ihre  Forderung 
nach  dem  allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Wahlrecht  erheben,  nach 
der  Beseitigung  jedes  Wahlunrechts  in  Reich,  Land  und  Gemeinde. 
Bei  der  „Bretzen"  sprach  Dr.  Adler.  (Siehe  Seite  40  f.) 


Weder  Lueser  noch  Badeni.  201 

Antisemiten  haben  die  Herrschaft  definitiv,  die  Majorität  ist  für 
die  Liberalen  vollständig  ausgeschlossen,  jetzt  ist  das  eine  Kapitel 
ans,   es   kommt   ein    anderes.     Die    Sozialdemokraten     werden    den 

Schlagworten  der  Antisemiten  ein  Programm  entgegenstellen. 
Jetzt  müssen  wir  den  Leuten  sagen,  was  das  Volk  will.  Wir  wer- 
den Antisemiten  und  Liberale  zwingen,  Farbe  zu  bekennen,  und 
deshalb  hat  die  Partei  beschlossen,  sich  am  Wahlkampf  zu  beteili- 
gen. Wenn  die  Antisemiten  eine  Volkspartei  sind,  müssen  sie  die 
Wahlkörper  abschaffen  und  das  allgemeine  Wahlrecht  für  den 
Gemeinderat  einführen.  Wir  glauben,  daß  der  Schuhtnachergehilfe 
heute  geradeso  reif  ist  wie  sein  Meister.  Das  Interesse  für  die  Be- 
seitigung des  Wuchers  ist  bei  beiden  gleich.  In  den  Provinzen 
sitzen  schon  zahlreiche  Parteigenossen  in  den  Gemeindevertretun- 
gen, auch  wir  in  Wien  müssen  uns  einsetzen,  daß  Hechte  in  den 
Karpfenteich  gelangen.  Dr.  Lueger  hat  sich  oft  als  Demokrat  de- 
klariert, aber  nie  klar.  Wir  glauben  auch,  daß  er  für  die  Aufhebung 
der  Wahlkörper  sein  würde.  Aber  ob  er  dafür  ist,  daß  jeder 
24jährige  Staatsbürger  mit  gleichem  Rechte  wählt,  ist  eine  andere 
Frage.  Wir  zweifeln,  daß  er  für  das  allgemeine  und  gleiche  Wahl- 
recht sein  wird.  Liberale  und  Antiliberale  proklamieren  stets:  Wir 
Wiener!  Und  doch  sind  zwei  Drittel  der  Bevölkerung  W^iens 
Fremde  und  werden  als  solche  behandelt.  Die  bisherigen  liberalen 
Gemeindevertreter  haben  die  Frechheit  gehabt,  gegen  eine  Reform 
des  Heimatsrechtes*)  Stellung  zu  nehmen.  Und  doch  ist  diese  Reform 
für  die  Arbeiter  höchst  wichtig.  Sie  wissen  ja,  wie  man  die  Arbeiter, 
nachdem  man  sie  ausgenützt,  in  ihre  Heimatsgemeinden  abschiebt, 
wo  sie  ihr  Armenrecht  haben,  das  Recht  zum  Betteln.  Wie  hat  sich 
die  Gemeindevertretung  in  anderen  die  Interessen  der  Arbeiter 
berührenden  Angelegenheiten  verhalten?  Sie  wissen,  daß  der 
Magistrat  richterliche  Funktionen  in  Gewerbeangelegenheiten  aus- 
übt. Haben  Sie  gefunden,  daß  der  Magistrat  unparteiisch  war? 
(Stürmisches  Nein!)  Der  Magistrat  hat  als  Gewerbebehörde  erster 
Instanz  die  Übelstände  in  den  Werkstätten  zu  beseitigen,  hat  die 
A>rbeiterschutzgesetze  zur  Durchführung  zu  bringen.  Haben  Sie 
gehört,  daß  er  seine  Pflicht  und  Schuldigkeit  getan  hat?  (Allge- 
meines Nein!)  Wir  verlangen,  daß  die  Gemeinde  eine  kommu- 
nale Ge  Werbeinspektion  errichtet.  Auch  die  Lösung  der 
Lebensmittelversorgungsfrage  ist  brennend  für  die  Arbeiter.  Ihrer 
Lösung  stehen  zwei  Faktoren  entgegen.  Nämlich  erstens  die  großen 
Fleisch-  und  Mehlwucherer,  die  Grundbesitzer  und  Mühlenbesitzer, 
und   zweitens   die   kleinen   Wucherer:    die   Fleischer   und   Bäcker. 


)  Im  Jahre  1894  hatte  die  Regierung  eine  Vorlage  eingebracht,  die 
das  Heimatsgesetz  vom  Jahre  1863  abänderte,  indem  sie  jedem  nach 
zehnjährigem  Aufenthalt  in  der  Gemeinde  das  Recht  gab,  die  Zuständig- 
keit zu  verlangen.  Als  das  Gesetz  endlich  im  Jahre  1896  beschlossen 
wurde,  geschah  es  nicht  nur  gegen  den  Widerstand  der  Liberalen, 
sondern  auch  der  Christlichsozialen,  wenn  auch  diese  den  eigentlichen 
Kampf  mehr  den  Liberalen  überließen  und  sich  mit  der  Abstimmung  für 
den   Schubwagen    beifügten.   Das   (iesetz   ist   erst   1S99   in    Kraft   getreten. 


202  Der   Kampf   um   das   Gemeinde-   und   Landtagswahlrecht. 

Zwischen  diese  Lebensmittelproduzenten  und  die  Konsumenten 
schieben  sich  als  dritte  Ausbeutergruppe,  als  Parasiten,  die 
Zwischenhändler  ein.  Alle  drei  Gruppen  haben  ein  Interesse  daran, 
daß  die  Arbeiter  keine  billigen  und  guten  Lebensmittel  bekom- 
men. Alle  diese  Ausbeuter  sind  Wähler  in  der  Gemeinde,  die  Ar- 
beiter sind  es  nicht.  Die  Kommune  hat  das  Recht,  den  Preis  des 
Brotes  und  Fleisches  zu  bestimmen,  wagt  es  aber  mit  Rücksicht 
auf  ihre  jetzigen  Verhältnisse  nicht  zu  tun.  Die  Kommune  hat  Ge- 
meindeschlachthäuser und  Gemeindebäckereien  zu  errichten  und 
Brot  und  Fleisch  mit  Umgehung  der  Zwischenhändler  zu  liefern. 
Da  würden  aber  die  Meister  Schaden  haben!  Heute  hat  die  ganze 
Wiener  Bevölkerung  den  Schaden.  Und  wie  könnte  die  Kommune 
die  Mittel  für  diese  Institutionen  aufbringen?  Die  Gemeinde  läßt 
reiche  Ausbeutergesellschaften,  wie  die  Gas-,  die  Tramway-  und 
die  Transportgesellschaft,  sich  die  Säcke  füllen.  Wer  zahlt  die  Haus- 
zinssteuer und  die  Zuschläge?  Der  Hausbesitzer  nicht.  Es  ist  die 
Masse  des  arbeitenden  Volkes.  Auch  da  treibt  man  Wucher.  Wir 
sind  für  eine  progressive  Einkommen-  und  Vermögenssteuer.  Auch 
als  Arbeitgeber  ist  die  Kommune  heute  schäbig,  und  doch  sollte 
sie  mit  gutem  Beispiel  vorangehen.  Wir  wünschen  auch,  daß  die 
Kommune  gemeinsam  mit  den  Gewerkschaften  die  Arbeits- 
vermittlung besorgt.  Nachdem  Genosse  Dr.  Adler  noch 
die  mangelhafte  Sanitäts-  und  Wohnungspolizei  der  bisherigen 
Gemeindevertretung  besprochen,  erwähnt  er  die  Nichtbestätigung 
Dr.  Luegers,  die  er  als  eine  Verletzung  der  Autonomie 
bezeichnet.  Was  haben  die  Antisemiten  dagegen  getan?  Sie  haben 
einigen  Lärm  gemacht,  aber  sonst  nichts.  Die  Antisemiten  müßten, 
wenn  sie  Demokraten  wären,  jetzt  sagen:  Weg  mit  dem  §  25 
des  Gemeindestatuts*)!  Die  Sozialdemokraten  werden  dafür 
sorgen,  ihr  kommunales  Programm  zur  Diskussion  zu  bringen. 
(Lebhafter  Beifall.) 

Die  Rechtlosigkeit  in  der  Gemeinde. 

Versammlung  im  Katharinensaal,  2  0.  Jänner 

1896**). 

Wir  müssen  in  dem  Moment,  wo  die  Erteilung  des  Wahlrechtes 
im  Reiche  nur  verschleppt,  aber  nicht  mehr  bezweifelt  werde, 
auch  die  Verhältnisse  der  Gemeinde  zu  beeinflussen  suchen.  Der 
Redner  erörtert  das  Wahlrecht  für  den  Gemeinderat  und  bezeichnet 
die  antisemitische  Bewegung  als  die  Emanzipation  der  kleinen 
Leute  und  ihren  Versuch,    sich  auf  die  eigenen  Füße    zu    stellen. 

-r)  Dieser  Paragraph  bestimmte,  daß  der  Bürgermeister  von  Wien  der 
Genehmigung  des  Kaisers  bedürfe. 

'*)  Mit  sechzehn  Volksversammlungen  trat  am  20.  Jänner  1896  die 
Wiener  Arbeiterschaft  in  die  Gemeinderatswahlen  ein.  Die  Tagesordnung 
lautete:  „Unsere  Rechtlosigkeit  in  der  Gemeinde."  Im 
Katharinensaal  im  ersten  Bezirk  sprach  Dr.  Adler. 


i 


I  )ie  ( iemeinderatswahlen.  ~()-* 


Nur  wissen  sie  nielit,  wie  sie  es  anzupacken  haben.  Die  anti- 
semitische   Qemeinderatsmajorität    bedeutet    die    Herrschaft    der 

Majorität  der  Wähler,  und  diese  wollen  wir  fragen,  ob  sie  auch 
wünschen,  daß  der  Wille  der  wirklichen  Majorität  des  Volkes 
zur  Geltung  gelange.  Wir  stellen  diese  Frage  durch  unsere  Beteili- 
gung am  Wahlkampf  erst  jetzt,  weil  die  Macht  der  Liberalen 
gebrochen  ist,  und  weil  wir  uns  in  den  Streit  der  Liberalen  mit 
den  Antisemiten  nicht  einmischen  wollten.  Bei  der  notwendigen 
Regelung  des  Heimatsrechtes  wird  es  sich  zeigen,  was  die  Anti- 
semiten unter  den  Interessen  des  Volkes  verstehen.  Wie  bisher 
werden  in  der  Gemeinde  die  Hausagrarier  das  Heft  in  Händen 
behalten,  wie  im  Parlament  die  Großgrundbesitzer.  Die  Wahlaktion 
wird  sicher  den  Erfolg  haben,  daß  man  sich  mit  der  liberalen  Phrase 
von  „Freiheit  und  Fortschritt"  und  der  antisemitischen  Phrase  vorn 
..christlichen  Volk"  nicht  wird  fortfretten  können.  (Lebhafter  Beifall.) 

Die  Gemeinderatswahlen. 

Versammlung  im  Hotel  „Union",  4.  Februar  18  96*). 

Dr.  Adler  als  Referent  verwies  darauf,  daß  die  Genossen  in 
der  Provinz  schon  früher  sich  an  Gemeinderatswahlen  beteiligten. 
Daß  dies  in  Wien  bisher  nicht  geschehen  sei,  habe  darin  seinen 
Grund,  daß  wir  um  das  Reichsratswahlrecht  kämpften.  Nun  soll 
aber  auf  sechs  Jahre  gewählt  werden,  und  wir  wollen  nicht  so 
lange  warten,  bis  wir  das  politische  Wahlrecht  erlangt  haben,  um 
dann  erst  das  Gemeindewahlrecht  anzustreben.  Ferner  wollten  wir 
die  Antisemiten  in  der  Bekämpfung  der  Liberalen  nicht  hemmen. 
Jetzt  aber,  da  die  Antiliberalen  die  Sieger  sind,  präsentieren  wir 
unser  Programm.  Es  gibt  viele  Wähler,  welche  wissen,  daß  die 
Antisemiten  nur  schreien,  daß  aber  das  Programm  der  Sozial- 
demokraten das  Richtige  enthält.  Wir  rechnen  indes  nicht  darauf, 
daß  es  so  viele  sind,  daß  wir  ein  Mandat  erringen  werden.  Unser 
Programm  entspricht  den  tatsächlichen  Verhältnissen;  Kom- 
promisse enthält  es  nicht.  Alles,  was  unmittelbar  auf  den 
Menschen  einwirkt,  geht  durch  die  Hand  der  Gemeinde;  sie  hat 
für  die  Gesundheit  der  Einwohner  zu  sorgen.  Es  genügt  voll- 
kommen, daß  das,  was  die  Gesundheitswissenschaft  verlangt,  ge- 
schieht. Jetzt  sieht  man  bei  uns  nur  dann  auf  Reinlichkeit,  wenn 
Epidemien  drohen.  Wir  verlangen,  daß  ein  gesundes  Wohnen 
möglich  werde,  daß  nur  Häuser  mit  gesunden  Wohnungen  gebaut 
werden  und  daß  eine  Übervölkerung  derselben  verhindert  werde. 

*)  Siehe  die  Bemerkungen  zu  der  Rede  Adlers  bei  den  Gemeinderats- 
wahlen  in  der  Versammlung  bei  der  „Bretzen"  am  26.  Dezember  1895. 
Am  4.  Februar  fanden  eine  Reihe  von  Versammlungen  statt.  Im  Hotel 
.,Union"  auf  dem   Aisergrund  sprach  Dr.  Adler. 

Eine  Rede,  die  Adler  am  3.  Februar  1896  über  das  kommunale  Pro- 
gramm der  Sozialdemokratie  gehalten  hat,  ist  im  dritten  Heft  dieser 
Schriften  unter  dem  Titel  „Über  kommunale  G  e  s  u  n  d  h  e  i  t  s- 
pflege"  abgedruckt.  (J3d.  III,  Seite  77.) 


204  Der   Kampf   um   das  Gemeinde-  und  Landtagswahlrecht. 

Die  schwerste  Verzehrungssteuer  ist  nicht  die  auf  Fleisch  und 
Wein,  sondern  die  auf  Luft,  die  wir  einatmen.  Wenn  wir  in  Wien 
eine  nennenswerte  Grundsteuer  hätten,  die  gezahlt  werden  muß, 
ob  der  Grund  verbaut  ist  oder  nicht,  so  würden  viele  Häuser 
gebaut  werden,  während  jetzt  die  Bauplätze  Gegenstand  der  Spe- 
kulation sind.  Die  Gemeinde  wäre  in  der  Lage,  auf  den  ihr 
gehörenden  Grundstücken  Wohnungen  zu  bauen,  statt  sie  an 
Private  zu  verkaufen,  die  mit  denselben  glänzende  Geschäfte 
machen.  Wenn  die  Gemeinde  heute  überfüllte  Wohnungen  antrifft, 
delogiert  und  schubiert  sie  die  Bewohner.  In  das  städtische  Werk- 
haus werden  nur  Zuständige  aufgenommen.  In  den  Arbeiter- 
bezirken sterben  von  den  Kindern  bis  zu  einem  Jahre  dreimal 
soviel  wie  in  den  reichen,  die  überlebenden  werden  die  „hun- 
gernden Schulkinder".  Es  ist  eine  Schande,  daß  in  einer  so  reichen 
Stadt  viele  Kinder  auf  eine  Bettelsuppe  angewiesen  sind.  (Stür- 
mischer Beifall.)  Die  Stadt  hat  die  P  f  1  i  c  h  t,  die  Schulkinder  zu 
verköstigen;  in  Frankreich  geschieht  dies  jetzt  schon  in  denjenigen 
Städten,  wo  die  Sozialisten  die  Majorität  haben.  Der  Referent 
spricht  seine  Verwunderung  darüber  aus,  daß  Dr.  Lueger  für  das 
Wahlrecht  von  dreißig  Jahren  an  eintrete.  Der  Arbeiter  altert  mit 
dreißig  Jahren  bereits,  und  wie  wenige  werden  wirklich  alt!  Nur 
wenn  die  Arbeiter  in  den  Gemeihderat  kommen  werden,  wird 
auch  ihr  Programm  verwirklicht  werden.  Jetzt  ist  es  aber  die 
Elle,  nach  der  die  Kandidaten  der  Gegner  gemessen  werden.  (Leb- 
hafter Beifall.) 

Kandidat  im   privilegierten  Wahlkörper. 

Deutschfortschrittliche  Versammlung, 
2  4.  Februar  18  96*). 

Dr.  Adler  erklärt,  er  wolle  sich  hier  als  Kandidat  vorstellen, 
obwohl  er  bei  den  Anwesenden  kaum  Aussicht  habe,  Stimmen  zu 
erhalten.    Er    sei    auch  verpflichtet,  zu  antworten    auf    die  vielen 

*)  Am  13.  November  1895  war  der  Wiener  Gemeinderat  aufgelöst 
worden  und  die  Wahlen  fanden  im  Februar  und  März  1896  statt.  Nun 
errangen  die  Christlichsozialen  einen  noch  größeren  Sieg  als  im  Sep- 
tember. Am  20.  Februar  wählte  der  dritte  Wahlkörper  und  die  Anti- 
semiten gewannen  3000,  die  Liberalen  verloren  2000  Stimmen;  die  Sozial- 
demokraten, die  ebenfalls  mit  einem  eigenen  Kommunalprogramm  in  den 
Kampf  gezogen  waren,  erhielten  1100  Stimmen.  Am  2.  März  wählte  der 
zweite,  am  5.  März  der  erste  Wahlkörper;  im  zweiten  Wahlkörper  er- 
hielten die  Antisemiten  32  gegen  14  liberale  Mandate,  im  ersten  die 
Liberalen  28  gegen  18  antisemitische  Mandate.  Die  Antisemiten  gewannen 
im  ersten  Wahlkörper  vier  Mandate.  Am  18.  April  wurde  Lueger  wieder 
zum  Bürgermeister  gewählt. 

Für  den  24.  Februar  hatte  nun  das  deutschfortschrittliche  Wahlkomitee 
der  Innern  Stadt  eine  Wählerversammlung  des  ersten  und  zweiten  Wahl- 
körpers einberufen  und  die  Kandidaten  beschäftigten  sich  vornehmlich  mit 
dem  sozialdemokratischen  Kommunalprogramm.  Dann  begründete  Doktor 
Heinrich  F  r  i  e  d  j  u  n  g,  warum  er  auf  eine  Wiederwahl  verzichte.  Er  habe 


Kandidat  Im  privilegierten  Wahlkörper.  205 

Äußerungen  über  das  kommunale  Programm  der  Sozialdemokratie. 
Er  wäre  eigentlich  der  Mühe  weiterer  Ausführungen  Überhoben 
durch  die  Ausführungen  des  Dr.  Fried  jung,  der  mit  seiner 
„sozialpolitischen  Vereinigung"  einen  Teil  unserer  Programmpunkte, 
allerdings  in  wesentlich  abgeschwächter  Weise,  im  Qemeinderal 
vertreten  wollte,  aber  —  und  das  war  sein  Fehler  —  mit  der 
liberalen  Partei,  während  jeder  Fortschritt  nur  zu  erzielen  ist  im 
Kampfe  gegen  die  liberale  Partei.  Die  Sozialdemokratie  vertritt 
die  Interessen  der  Besitzlosen,  im  klaren  Bewußtsein,  daß  die  Klasse 
der  Besitzenden,  deren  Ausdruck  die  bürgerlichen  Parteien  sind, 
dem  sozialpolitischen  Fortschritt  Widerstand  leisten  werde.  Die 
Liberalen  haben  unser  Programm  sehr  gelobt,  aber  zugleich  erklärt, 
mit  seinen  politischen  Forderungen  seien  sie  nicht  einverstanden 
und  seine  sozialen  Forderungen  seien  undurchführbar.  Wenn  man 
behauptet,  es  sei  kein  Geld  da,  um  hungernden  Kindern  zu  essen  zu 
geben,  so  sei  das  einfach  eine  Bankrotterklärung.  (Wähler  Heit*): 
Es  gibt  keine  hungernden  Kinder  in  Wien.)  Doktor 
Adler  fortsetzend :  Das  sagen  Sie,  obgleich  Sie  wissen, 
daß  gerade  Kinder  von  Leuten,  die  von  Ihnen  ab- 
hängig sind,  hungern  müssen.  (Wähler  Heit:  Ich  weiß 
mehr  über  das  Elend  in  Wien  wie  Sie.)  Dr.  Adler:  Dann  fällt 
auch  die  letzte  Entschuldigung  für  Sie  weg,  die 
Ihnen  noch  Ihre  eventuelle  Unkenntnis  geboten  hätte.  (Langanhalten- 
der Lärm,  Schlußrufe.)  Mich  stören  Sie  damit  gar  nicht,  ich  werde 
genau  so  lange  sprechen,  als  ich  es  für  notwendig  halte.  —  Redner 
setzt  nun  auseinander,  daß  die  besitzlosen  Klassen  weder  von  den 
Liberalen  noch  von  den  Antisemiten  etwas  erwarten.  (Rufe:  Aber 
den  Antisemiten  helfen  Sie.)  Dr.  Adler:  Denen  hat  nur  Ihre 
Unfähigkeit    geholfen...     Wir  wünschen,    daß   die  Anti- 

als  wichtigsten  Punkt  eines  sozialpolitischen  Kommunalprogramms  ver- 
langt, daß  sich  die  Gemeinde  an  der  Erbauung  billiger  Arbeiter- 
wohnungen beteilige  und  das  sei  trotz  dem  Wohnungselend  nicht 
durchzusetzen.  Dr.  Friedjung,  der  bekannte  Geschichtsschreiber,  der  nach- 
mals so  schwarzgelb  offiziös  wurde,  war  damals  noch  Sozialpolitiker. 
—  Dann  sprach  Adler. 

*)  Ein  großer  liberaler  Geschäftsmann  im  Großhandelsviertel  der 
Inneren  Stadt. 

Der  Zwischenruf  dieses  Wählers  mußte  um  so  sonderbarer  wirken, 
als  gerade  damals  der  „Zentralverein  zur  Beköstigung  armer  Schul- 
kinder" eine  Mitteilung  veröffentlicht  hatte,  daß  er  im  Schuljahr  1893/94 
wohl  5292  Schulkinder  gespeist  hatte,  daß  aber  Anmeldungen  von  12.404 
Kindern  vorgelegen  hatten,  so  daß  er  also  mehr  als  7000  hungernde 
Schulkinder  abgewiesen  hatte.  Die  Forderung  des  sozialdemo- 
kratischen Kommunalprogramms  nach  Schulausspeisung  hatte  bei  den 
Bürgerlichen  allgemeine  Entrüstung  hervorgerufen  und  im  Gemeinderat 
hatte  bereits  am  11.  Jänner  1895  der  liberale  Gemeinderat  Boschan 
dagegen  mit  dem  Argument  polemisiert,  daß  „nicht  bloß  die  Schulkinder 
hungrig  seien,  sondern  auch  die  anderen  Leute,  so  daß  der  Gemeinderat 
die  ganze  Bevölkerung  ernähren  müßte".  Bis  zum  Umsturz  war  die 
öffentliche  unentgeltliche  Ausspeisung  von  Schulkindern  von  den  Bürger- 
lichen als  Utopie  hingestellt  worden. 


206  Der   Kampf   um   das   Gemeinde-  und  Landtagswahlrecht. 

semiten  in  den  Sattel  kommen,  damit  sie  bald  dort  anlangen,  wo 
Sie  heute  schon  stehen,  bei  der  definitiven  Blamage.  Sie  haben  gar 
kein  Recht,  sich  über  die  Kampfmethode  der  Gegner  zu  beschweren, 
Sie,  eine  Partei,  die  mit  „Zirkularen*)"  arbeitet.  (Furchtbares  Ge- 
schrei: Frechheit!  Schluß!  Hinaus!)  Aber  regen  Sie  sich  nicht  so 
auf,  ich  bin  bald  zu  Ende.  Der  Redner  schließt  nun  mit  folgenden 
Worten:  Fürchten  Sie  nichts,  falls  Sie  es  erleben  sollten,  daß  Leute 
aus  Ihren  Kreisen  für  uns  stimmen.  Sie  tun  es  nur,  weil  sie  die 
liberale  und  antisemitische  Partei  gleichmäßig  anwidert,  und  nur 
so  lange,  als  unsere  einschneidenden  wirtschaftlichen  Forderungen 
noch  entfernt  und  nicht  aktuell  sind.  Im  Augenblick,  wo  es  sich 
darum  handeln  wird,  den  Interessenkampf  zwischen  Besitzenden 
und  Besitzlosen  ernsthaft  auszufechten,  werden  alle  Mitglieder  Ihrer 
Klasse  wissen,  daß  der  aufrichtige  und  bleibende  Anwalt  des  Geld- 
sackes doch  nur  die  Liberalen  sind. 

* 

Ich  muß  es  als  eine  Beleidigung  zurückweisen,  daß  Herr  Doktor 
Richter**)  sich  erlaubt  hat,  seine  Kampfesweise  mit  Zirkularen  mit 
den  Lohnkämpfen  der  Arbeiter  auch  nur  zu  vergleichen.  Wenn 
Arbeiter  und  Unternehmer,  um  wirtschaftliche  Vorteile  zu  erringen, 
wirtschaftliche  Pressionen  anwenden,  so  ist  das  etwas  an- 
deres, als  wenn  das  wirtschaftliche  Übergewicht 
mißbraucht  wird,  um  abhängige  Leute  zur  Ver- 
leugnung ihrer  politischen  Überzeugung  zu  zwin- 
gen. Empfinden  Sie  nicht  den  Unterschied?  (Stürmische  Rufe: 
Nein!  Nein!  Nein!  Das  ist  genau  dasselbe!)  —  Doktor 
Adler:  Dann  stehen  Sie  auf  einem  unglaublich 
niedrigen  sittlichen  Niveau,  meine  Herren,  und  sind 
somit  gerichtet. 

Die   Landtagswahlreform  der   Christlich- 
sozialen. 

Versammlung  beim  „Heu  rix",  2.  März  1899***). 

Die  Wichtigkeit  des  Landtagswahlrechtes  ist  für  die  Arbeiter 
nicht  so  sinnfällig  wie  etwa  die  des  Reichsrats-  und  Gemeinde- 
wahlrechtes. Aber  das  Landtagswahlrecht  ist  durchaus  nicht  eine 

*)  Von  den  Richterschen  „Zirkularen",  worin  die  großen  Firmen  auf- 
gefordert wurden,  die  von  ihnen  abhängigen  Kleinmeister  zur  Wahl  der 
Liberalen  zu  zwingen,  ist  oben  bei  der  Versammlung  vom  8.  September 
1895  die  Rede. 

**)  Nach  Adler  hatte  Dr.  Richter  gesprochen  und  seine  „Zirkulare"  mit 
dem  „Terrorismus"  der  Arbeiter  zu  vergleichen  versucht.  Mit  Mühe 
konnte  dann  Dr.  Adler  das  Wort  zu  einer  Berichtigung  erhalten. 

***)  Am  25.  Februar  1899  hatte  der  christlichsoziale  Landesausschuß 
Monsignore  Dr.  Scheicher  dem  Landtag  den  Entwurf  einer  Landtags- 
wahlreform vorgelegt,   der   entgegen   den   Versprechungen   der  Christlich- 


Die  Landtagswahlreform  der  Christlichsozialen.  207 


SO  gleichgültige  Sache,  wie  sie  gewöhnlich  von  uns  allen  emp- 
funden wird.  Es  ist  für  uns  schon  deshalb  wichtig,  weil  der 
Schwerpunkt  der  S  chu  1  ve  rwa  1 1  ung  in  den  Landtagen  lic^t 
respektive  in  den  von  ihnen  gewählten  Landesausschüsscii.  Heute 
herrscht  in  Niederösterreich  eine  Verwaltung,  die  geradezu 
gemeingefährlich  ist,  weil  sie  uns  gerade  an  den  empfindlichsten 
Punkten  trifft,  an  dem  Punkte,  der  hier  wichtiger  ist  als  die 
Gegenwart,  das  ist  die  Zukunft,  wichtiger  als  wir  selbst,  das  sind 
unsere  Kinder.  (Beifall.)  Aber  außer  der  Schule  liegt  auch  das 
Armen-  und  das  S  a  n  i  t  ä  t  s  w  e  s  e  n  in  den  Händen  des  Land- 
tages und  des  Landesausschusses.  Die  gegenwärtige  Rechtlosigkeit 
der  breiten  Massen  des  Volkes  war  nicht  mehr  festzuhalten.  Das 
Problem,  das  den  Christlichsozialen  gestellt  war,  war  nun,  einer- 
seits den  Schein  zu  erwecken,  als  ob  sie  das  Unrecht  beseitigen 
wollten,  und  andererseits  das  Recht  doch  nicht  zur  Geltung 
kommen  zu  lassen.  Man  muß  gestehen,  daß  die  Herren  diese  Auf- 
gabe glänzend  gelöst  haben.  Sie  haben  den  Arbeitern  einen 
Brocken  Rechtes  in  Aussicht  gestellt,  aber  gleichzeitig  in  die  Vor- 
lage eine  Reihe  von  Bestimmungen  aufgenommen,  von  denen  sie 
wissen,  daß  sie  die  Liberalen  nicht  annehmen  werden,  so  daß 
daran  die  ganze  Vorlage  scheitern  muß.  Als  Taaffe  seinen  Wahl- 
reformantrag einbrachte,  da  haben  die  Christlichsozialen  dafür 
sehr  geschwärmt,  allerdings  vielleicht  nur  deshalb,  weil  sie 
wußten,  daß  er  nicht  angenommen  werden  würde,  aber  sie  haben 
damals  die  Liberalen  und  die  Klerikalen  auf  das  schärfste  ange- 
griffen, weil  sie  diese  Wahlreform  bekämpften.  Heute,  wo  sie 
selbst  eine  Wahlreform  machen  sollen,  haben  sie  sich  vollständig 
zu  den  Anschauungen  der  Liberalen  und  der  Klerikalen,  zu  den 
Anschauungen  der  Koalition  bekehrt.  (Pfuirufe.)  Das,  was  sie  heute 
den  Arbeitern  geben  wollen,  ist  weit  schlechter  als  die  Badenische 
Wahlreform.  Alle  Fehler  und  Schlechtigkeiten,  die  der  Badeni 
begangen  hat,  sind  darin,  und  alle,  die  er  nicht  zu  begehen  wagte. 
WTenn    wir  das    allgemeine,    gleiche    Wahlrecht    ver- 


sozialen  das  allgemeine  Wahlrecht  fallen  ließ,  aber  die  Zahl  der  Abge- 
ordneten von  78  auf  90  erhöhte;  die  drei  Virilstimmen,  ebenso  die  16  Man- 
date des  Großgrundbesitzes  sollten  bleiben,  desgleichen  die  Städte-  und  Land- 
gemeindenkurie der  Steuerzahler.  Nur  war  in  den  Städten  eine  kleine 
Verschiebung  geplant.  Wien  und  die  Handelskammer  sollten  zusammen 
25  Abgeordnete  wählen,  die  übrigen  Städte-  und  die  Landgemeinden  (die 
bisher  gesondert,  die  Städte  13,  die  Landgemeinden  21  Abgeordnete  ge- 
wählt hatten)  sollten  nun  in  gemeinsamer  Kurie  34  Mandate  erhalten. 
Dazu  sollte  eine  vierte  Kurie  des  allgemeinen  Wahlrechts  mit  12  Man- 
daten geschaffen  werden.  In  dieser  sollte  jeder  Steuerzahler,  der  drei 
Jahre  seßhaft  und  24  Jahre  alt  war,  das  Wahlrecht  haben.  In  der  Wiener 
Städtekurie  sollten  die  Einkommensteuerzahler  entrechtet  werden  und 
der  Zensus  von  8  Kronen  nur  für  die  Erwerbsteuerzahler  gelten.  Diese 
Lnndtagswahlreform  ist  allerdings  dann  nicht  zustande  gekommen.  Der 
Entwurf  wurde  auf  Antrag  Weiskirchners  am  2.  Juni  abgelehnt  und  der 
Landesausschuß  beauftragt,  einen  neuen  Entwurf  auszuarbeiten.  Aber 
einige  Tage  danach  wurde  der  Landtag  geschlossen. 


208  Der   Kampf   um   das   Gemeinde-  und  Landtagswahlrecht. 

langen,  dann  sagt  man  uns:  „Nur  Schritt  für  Schritt!  Man  kann 
das  alte  Unrecht  nicht  auf  einmal  zusammenreißen."  Gut,  stellen 
wir  uns  auf  diesen  Standpunkt;  aber  dann  muß  die  Ware,  die  uns 
da  verkauft  werden  soll,  wenigstens  echt  sein,  und  sie  muß  vor 
allem  so  sein,  daß  wir  sie  überhaupt  bekommen  können.  Wenn 
man  uns  aber  eine  schlechte  Reform  gibt  und  noch  dazu  in  einer 
Art,  daß  wir  sie  gar  nicht  bekommen  können,  so  ist  das  nichts  als 
eine  dumme  und  frivole  Demagogie.  Wenn  man  den  Dr.  Lueger 
fragte,  was  es  denn  mit  der  Landtags-  und  Qemeindewahlreform 
ist  —  und  man  mußte  sich  an  den  Lueger  wenden,  denn  er  ist  der 
Herr  der  Partei,  oder  vielmehr  er  ist  nur  nach  außenhin  der  Herr, 
in  Wirklichkeit  ist  er  nur  der  gehorsame  Knecht  jener  Pfaffen  und 
Feudalen,  die  Niederösterreich  in  ihren  Klauen  halten  — ,  dann 
antwortete  er  lustig  und  g'spassig,  wie  er  immer  ist:  „Ihr  werdet 
es  schon  erwarten,  daß  ihr  eure  Hiebe  bekommt."  Mögen  die 
Herren  aber  noch  so  übermütig  mit  ihrem  Sieg  vom  9.  März*) 
protzen,  sie  fürchten  uns  nach  der  Niederlage  mehr,  als  sie  uns 
je  gefürchtet  haben.  Wenn  sie  sich  nicht  so  fürchteten,  könnten  sie 
sich  den  Luxus  der  Gerechtigkeit  gönnen.  So  schlecht  sind  sie 
nicht,  daß  sie  bloß  der  Schlechtigkeit  wegen  schlecht  wären,  sie 
sind  es  nur  dann,  wenn  sie  etwas  dabei  profitieren.  Mit  der 
Gerechtigkeit  protzen,  wäre  schon  schön,  aber  gescheiter  ist  es 
doch,  wenn  die  Sozialdemokraten  nicht  wählen  können.  Sicher  ist 
sicher! 

Wir  werden  uns  diese  Wahlreform  nicht  ruhig  gefallen  lassen.  Die 
Arbeiter  müssen  jetzt  in  ganz  Niederösterreich  klar  aussprechen* 
daß  sie  den  jesuitischen  Schwindel  durchschauten,  und  zwar  den 
christlichsozialen  wie  den  liberalen  Jesuitismus.  Die  liberalen 
Jesuiten  werden  jetzt  sagen,  daß  sie  ja  sehr  gern  den  Arbeitern 
zu  ihrem  Rechte  verholfen  hätten,  aber  man  könne  doch  nicht  von 
ihnen  verlangen,  daß  sie  sich  aufhängen.  Das  kann  man  von  ihnen 
gewiß  nicht  verlangen,  aber  was  wir  verlangen,  ist,  daß  im  Land- 
tag die  Reform  in  den  alten  Kurien  von  der  Er- 
weiterung des  Wahlrechtes  getrennt  werde. 
Zuerst  muß  von  der  Erweiterung  des  Wahlrechtes  gesprochen 
werden.  Wenn  das  erledigt  ist,  mögen  die  Herren  darum  raufen, 
wie  sie  die  alten  Kurien  reformieren.  Allerdings  werden  wir  uns 
auch  erlauben,  zu  den  Vorlagen  des  Pater  Scheicher  noch  einige 
Amendements  zu  stellen.  Aber  das  müssen  wir  klar  sagen:  Wer 
die  Ausdehnung  des  Wahlrechtes  in  Verbindung 
bringt  mit  der  Änderung  des  Wahlrechtes  in  den 
alten  Kurien,  der  ist  ein  Heuchler  und  Pharisäer, 
der  den  Arbeitern  das  Wahlrecht  vorenthalten 
will.  (Lebhafter  Beifall.)  Die  Arbeiter  müssen  den  Kampf,  der 
ihnen  jetzt  bevorsteht,  mit  derselben  Zähigkeit,  Energie  und  Un- 
ermüdlichkeit führen,  wie  sie  den  Kampf  um  das  Reichstagswahl- 
recht geführt  haben.  (Stürmischer  Beifall.) 

*)  Die  ersten  Wahlen  der  fünften  Kurie  am  9.  März  1897,  wo  die  Christ- 
lichsozialen alle  fünf  Wiener  Mandate  eroberten.  (Siehe  Bd.  VIII,  Seite  367  f.) 


Das  arbeitende  Volk  gegen  die  Luegerei.  209 

Das  arbeitende  Volk  gegen  die  Luegerei. 

Versam  m  1  u  n  g  im  Sofien  s  a  a  I,  5.  März  18  9 9*). 

Wenn  es  notwendig  gewesen  wäre,  eine  Begründung  voraus- 
zuschicken, warum  wir  uns  für  das  Landtags-  und  Gemeindewahl- 
recht so  einsetzen  wollen,  wäre  sie  durch  die  Darlegungen  meines 
Vorredners  vollauf  gegeben.  Wir  haben  liier  an  ein  paar  Stich- 
proben erfahren,  wie  die  wichtigsten  Garantien  der  Zukunft  bedroht 
sind  von  Leuten,  von  denen  man  nicht  sagen  kann,  daß  sie  voreilig 
wären,  daß  sie  zu  viel  versprechen  und  zu  wenig  halten  dort,  wo 
sie  die  Hand  nach  der  Schule  ausstrecken.  Die  Auslieferung  der 
Schule  an  die  Klerikalen,  die  Maßregelung  von  Lehrpersonen,  die 
sich  dem  widersetzen,  die  systematische  Korruption  der  Lehrer 
schon  vom  Seminar  aus,  das  ist  nicht  der  Abschluß,  das  ist  bloß 
der  Anfang  dessen,  was  uns  an  reaktionären  Schulmaßnahmen  zu- 
gedacht ist.  So  schleichen  sie  bloß  heran,  die  klerikalen  Reaktionäre. 
Dieses  wichtige  Gebiet  ist  aber  nicht  einmal  das  einzige,  das  in  der 
Kompetenz  des  Landtages  steht.  Da  haben  wir  noch  die  Armen- 
pflege, da  haben  wir  ferner  die  Gesundheitspflege.  Wie  wird  die 
besorgt  werden  von  Leuten,  deren  wissenschaftliche  Einsicht  zur 
Zeit  der  Pestfälle  sich  in  einem  solchen  Lichte  gezeigt  hat,  daß  es 
eine  Schande  vor  Europa  war! 

Es  wird  immer  der  Gegensatz  zwischen  Wien  und  dem  flachen 
Lande  ins  Treffen  geführt,  und  da  das  Land  noch  mehr  unter  dem 
Einfluß  der  geistlichen  Herren  steht  als  die  Wiener  Spießer,  so 
sucht  man  es  gegen  die  Bevölkerung  von  Wien  auszuspielen.  Ja, 
heißt  es,  da  draußen  walten  ganz  andere  Interessen.  Wien  hat  eine 
viel  größere  Bevölkerung  und  fällt  daher  mehr  ins  Gewicht  als  das 
ganze  übrige  Niederösterreich,  aber  auch  dort  ist  die  Bauernschaft 

*)  Während  die  Christlichsozialen  ihre  Landtagswahlreform  einleiteten, 
die  die  auf  Grund  des  neuen  Einkommensteuergesetzes  zu  Wählern  ge- 
wordenen Arbeiter  entrechten  sollte,  planten  sie  das  gleiche  auch  für  die 
Gemeinde.  Aber  zur  Luegerei  gehörte  auch  noch  der  Mißbrauch  der 
Macht  gegen  die  Lehrer  und  die  Klerikalisierung  der  Schule.  Für  Freitag 
den  5.  März  hatte  die  Sozialdemokratie  in  den  Sofiensaal  eine  Massen- 
versammlung einberufen  mit  der  Tagesordnung:  1.  Das  Attentat  der 
Christlichsozialen  auf  die  Schule  und  die  Stellung  der  Arbeiter  dazu. 
2.  D  i  e  neue  Wahlordnung  in  Niederösterreich  für  Landtag  und  Ge- 
meinde. Zu  gleicher  Zeit  fand  übrigens  auch  im  Ronachersaal  eine  Protest- 
versammlung der  niederösterreichischen  Lehrer  gegen  ihre  Bedrückung 
statt.  Zu  der  gleichen  Zeit  hatte  Lueger  aber  auch  in  die  Volkshalle  eine 
Bauernversammlung  einberufen,  die  für  die  Herabsetzung  der  Schulpflicht 
eintreten  sollte. 

Die  Versammlung  im  Sofiensaal  war  massenhaft  besucht.  Die  Arbeiter 
zogen  in  großen  Zügen  zur  Versammlung  und  von  der  Versammlung. 
Polizei  war  in  Massen  aufgeboten,  um  die  Aufmärsche  der  Arbeiter  zu 
stören. 

In  der  Versammlung  referierte  über  den  ersten  Punkt  Schuhmeier, 
über  den  zweiten  Adler. 

Adler,  Briefe.  X.  Bd.  14 


10  Der   Kampf   um   das  Gemeinde-  und  Landtagswahlrecht. 

nicht  die  einzige  maßgebende  Bevölkerungsschicht,  die  industrielle 
Arbeiterschaft  hat  auch  dort  ein  gewichtiges  Wort  dreinzureden. 
Diese  Leute,  die  ihren  Kindern  eine  mangelhafte  Schule  bieten 
wollen,  arbeiten  an  der  Herabdrückung  des  Niveaus  nicht  bloß  der 
ländlichen,  sondern  auch  der  industriellen,  in  letzter  Linie  aber 
unserer  großstädtischen  Bevölkerung,  denn  viele  Tausende  von 
Landbewohnern  wandern  alljährlich  in  Wien  ein,  um  sich  hier 
dauernd  niederzulassen. 

Die  Christlichsozialen  fragen:  Wie  kommt  es  denn,  daß  ihr  euch 
heute  erst  so  sehr  um  die  Angelegenheiten  des  Landes  und  der 
Gemeinde  kümmert,  warum  nicht  schon,  solange  die  Liberalen 
am  Ruder  waren?  Das  erklärt  sich  sehr  einfach.  Die  Sozialdemo- 
kratie ist  seit  zehn  Jahren  kolossal  gewachsen,  eine  Menge  Fragen 
mußten  ihr  anfangs  ziemlich  fernliegen  und  konnten  nur  eine  nach 
der  anderen  für  sie  aktuell  werden.  Sie  hatte  ja  genug  zu  tun  mit  dem 
Ausbau  ihrer  Organisation  und  vor  allem  mit  der  Eroberung  aller 
politischen  Rechte,  die  uns  das  Gesetz  gewährleistete,  deren  An- 
erkennung wir  aber  dennoch  erst  der  Verwaltung  in  jahrelangen 
Kämpfen  mühsam  abringen  mußten.  Heute  aber  sind  wir  genug 
vorgeschritten,  um  uns  auch  auf  dem  Gebiete  der  Landes-  und 
Gemeindepolitik  zu  betätigen.  Wir  haben  einen  jahrelangen  Kampf 
um  ein  Stückchen  Reichsratswahlrecht  führen  müssen,  es  steht 
uns  noch  ein  schwerer  Kampf  bevor.  Der  wird  aber  doch  einiger- 
maßen erleichtert  werden  dadurch,  daß  alle  Welt  einsehen  muß, 
daß  man  mit  der  Badenischen  Wahlreform  nichts  getan  hat,  daß 
das  Parlament  nun  erst  recht  lebensunfähig  ist.  Wenn  die  Thun 
und  Kaizl*)  am  Ende  ihres  Latein  sein  werden,  wird  man  sich  ent- 
schließen müssen,  wieder  an  eine  Volksvertretung  zu  appellieren, 
und  die  wird  nicht  auf  dieses  verrottete  Kuriensystem  begründet 
sein  können,  wenn  sie  in  ersprießlicher  Weise  funktionieren  soll. 

Die  Frage  des  Landtags-  und  Gemeindewahlrechtes  ist  lange 
genug  herumgeschoben  worden  und  alt  geworden.  Sie  war  reif 
in  dem  Moment,  als  für  den  Reichsrat  das  allgemeine  Wahlrecht 
eingeführt  wurde,  und  sie  ist  akut  geworden  und  unaufschiebbar 
heute,  wo  der  Landtag  beisammen  ist  und  ihm  vom  Landesaus- 
schuß ein  Entwurf  vorgelegt  wurde.  Der  Redner  bespricht  nun  die 
einzelnen  Bestimmungen  des  Wahlreformentwurfes.  Wenn  die 
fünfte  Kurie  des  Badeni  schon  eine  Erfindung  war,  nicht  für  das 
Volk,  sondern  gegen  das  Volk,  wenn  sie  ein  ungenügendes  Sur- 
rogat war,  wenn  sie  ein  riesiger  Volksbetrug  war,  so  ist  dies,  was 


*)  Am  7.  März  1898  war  nach  dem  Rücktritt  von  Gautsch  Graf  Franz 
Thun  Ministerpräsident  geworden,  in  dessen  Ministerium  als  Finanz- 
minister der  Jungtscheche  Dr.  Josef  Kaizl,  als  Handelsminister  der 
Deutschliberale  Dr.  Josef  Maria  v.  Baernreither  waren.  Baernreither 
trat  schon  am  3.  Oktober  1898  zurück  und  sein  Nachfolger  wurde  der 
klerikale  Tiroler  Weingutsbesitzer  Baron  D  i  p  a  u  1  i.  Dieses  Ministerium 
Thun-Kaizl  regierte  vornehmlich,  da  es  die  Obstruktion  nicht  zu  bannen 
vermochte,  mit  dem  §  14. 


Das  arbeitende  Volk  gegen  die  Luegeri  ^D 


Pater  Scheicher,  der  alte  demokratische  Katholik4),  wie  er  sieh 
genannt  hat,  gemacht  hat,  noch  zehnmal  schlechter  und  verwerf- 
licher. Es  ist  schlechter  schon  im  Ausmalt,  weil  die  zwölf  Mandate 
ja  nicht  einmal  relativ  so  viel  Gewicht  besitzen  wie  die  12,  des 
Badeni.  Dazu  kommt  aber  noch  etwas.  Als  Taaffe  seine  Wahl- 
reform  vorlegte,  da  haben  die  Liberalen,  Klerikalen  und  Polen 
geschrien,  daß  ihr  politischer  Besitzstand  angegriffen  sei;  und  die 
Badenische  Reform  ist  nur  deshalb  glatt  durchgegangen,  weil  der 
Besitzstand  der  alten  Parteien  nicht  angetastet  wurde.  Aber  was 
tun  diesmal  die  Christlichsozialen?  Sie  wollen  die  Gelegenheit 
benützen,  um  ihren  Besitzstand  nicht  etwa  nur  zu  erhalten,  sondern 
um  ihn  noch  erheblich  zu  vermehren.  Sie  wollen  die  Herrschaft, 
die  sie  bereits  im  Landtage  innehaben,  zu  einer  Alleinherrschaft 
machen,  und  sie  wollen  damit  das  alte  Wahlunrecht  verewigen. 
Wenn  der  Herr  Dr.  Lueger  einen  Augenblick  sich  seiner  demokra- 
tischen Vergangenheit  erinnert  und  für  den  Landtag  das  allgemeine, 
gleiche  Wahlrecht  oder  die  Taaffesche  Wahlreform  vorgeschlagen 
hätte,  so  hätte  das  nicht  auf  mehr  Hindernisse  stoßen  können  als 
diese  erbärmliche  Fälschung.  Man  hat  heute  die  Vorlage  so 
gemacht,  daß  nicht  einmal  der  elende  Brocken,  den  man  dem  Volke 
gibt,  durchgehen  kann.  Hätte  man  aber  eine  ehrliche  Wahlreform 
gemacht,  dann  wäre  hinter  diesem  Antrag  ein  Sturm  von  Seite 
der  Bevölkerung  gekommen,  der  eine  Abweisung  unmöglich 
gemacht  hätte.  Die  Mandate  der  fünften  Kurie  sind  in  Niederöster- 
reich ohne  Ausnahme  in  die.  Hände  der  Christlichsozialen  gefallen. 
Und  der  Herr  Dr.  Lueger  hat  uns  oft,  wenn  wir  vom  Wahlrecht 
sprachen,  siegesgewiß  zugerufen:  „Könnt  ihr  es  denn  nicht  er- 
warten, daß  ihr  wieder  eure  Hiebe  kriegt?"  Warum  sind  die 
Herren  jetzt  plötzlich  so  ängstlich?  Sollten  sie  am  Ende  fürchten, 
daß  ihre  Herrschaft  über  die  Wählerschaft  nicht  mehr  auf  so  festen 
Füßen  ruht  wie  vor  zwei  Jahren?  Jetzt  hat  Herr  Dr.  Lueger  die 
Möglichkeit,  uns  neue  Hiebe  zu  versetzen.  Warum  die  Angst?  Mit 
allem  Raffinement  hat  man  alles  so  eingerichtet,  daß  nur  ja  die 
Arbeiterschaft  möglichst  um  ihr  Recht  gebracht  wird.  Die  Wahl- 
kreise sind  so  eingeteilt,  daß  die  industrielle  Arbeiterschaft  nirgends 
die  Majorität  haben  kann.  Man  hat  sogar  aus  dem  Wahlkreise 
Wiener-Neustadt  zwei  industrielle  Bezirke,  Mödling  und  Baden, 
herausgerissen  und  in  einen  mehr  ländlichen  Wahlkreis  hinein- 
gesteckt, nur  damit  die  industriellen  Arbeiter  in  beiden  Wahlkreisen 
unterliegen. 

Das  stärkste  Stück  aber  ist,  daß  diese  schlechte  Wahlordnung 
auf  dem  Wege,  den  uns  die  Herren  führen,  gar  nicht  zu  erreichen 
ist.  Die  Herren  sagen,  und  wir  geben  ihnen  da  Recht,  daß  das 
Wahlrecht  in  den  alten  Kurien  ungerecht  ist,  daß  es  der  Inneren 
Stadt  und  einigen  anderen  kleinen  Bezirken  Vorteile  bringt  zum 
Nachteile  der  breiten  Massen  auf  dem  Lande.  Das  ist  richtig. 
Aber  ihnen  handelt  es  sich  nicht  daru  m,  das  alte 
Unrecht  zu   beseitigen,  sondern  an  die  Stelle  des 

*)  Siehe  über  Scheicher  Bd.  VIII,  Seite  408,  Note. 

14* 


212  Der   Kampf   um   das  Gemeinde-  und  Landtagswahlrecht. 

alten  Unrechtes  ein  neues,  an  die  Stelle  der  Privi- 
legien der  anderen  ihre  eigenen  Privilegien  zu 
setzen.  (Pfuirufe.) 

Sie  fühlen  sich  auch  in  ihrem  alten  Besitz  nicht  mehr  sicher  und 
darum  werfen  sie  alle  jene,  die  bloß  Einkommensteuer  zahlen,  die 
Arbeiter,  eine  Menge  Lehrer,  Beamte,  Privatangestellte,  alle  die 
Leute,  die  ihre  Volksfeindlichkeit  durchschauen  und  ihnen  gefähr- 
lich werden  könnten,  aus  den  alten  Kurien  hinaus.  Dieses  Geschäft 
wollen  sie  verbinden  mit  der  Einführung  dieser  jämmerlichen  Wahl- 
reform. Natürlich  wird  diese  Wahlreform  auch  von  den  anderen 
Parteien  bekämpft,  deshalb,  weil  in  den  alten  Kurien  Veränderungen 
gemacht  werden  sollen,  die  diese  Parteien  einfach  umbringen.  Wir 
werden  uns  in  den  Streit  um  die  alten  Kurien  nicht  einlassen  und 
nicht  entscheiden,  was  schlechter  ist,  ob  die  alten  oder  die  neuen 
Monopolisten.  Wir  erklären  einfach:  Macht  in  euren  alten 
Kurien,  was  ihr  wollt,  aber  macht  es  nicht  jetzt, 
wo  einzig  das  Recht  der  bisher  Rechtlosen  auf  der  Tagesordnung 
stehen  darf.  Vor  allem  muß  unsere  Rechnung  bereinigt  sein;  bloß 
Vorspanndienste  für  eure  Zwecke  werden  wir  nicht  leisten.  Wir 
weisen  die  Heuchelei  der  Christlichsozialen  ebenso  wie  die  der 
Liberalen  zurück  und  verlangen,  daß  jetzt  allein  über 
das  allgemeine  Wahlrecht  entschieden  werde. 
Dabei  bemerken  wir,  die  wir  jahrelang  ehrenvoll  gegen  die 
Kapitalistenpartei  liberaler  Richtung  gekämpft  haben,  daß  die 
neuen  Herren  nicht  weniger  kapitalistischen  Interessen  dienen, 
dabei  aber  noch  brutaler,  gemeiner  und  bildungsfeindlicher  sind 
als  die  alten. 

Wenn  einmal  Sozialdemokraten  im  Landtag  wären,  würde  das 
die  Gewaltherrschaft  der  Christlichsozialen  schon  eindämmen.  Die 
ärgsten  Gemeinheiten  wird  man  nicht  mehr  erleben,  wenn  auch  nur 
ein  einziger  Vertreter  der  Arbeiterschaft  im  Landhaus  sitzt.  Die 
Arbeiter  werden  heute  von  den  Herren  ja  geradeso  gemein 
behandelt  wie  früher  von  den  Liberalen.  Das  Verbrechen  der 
Christlichsozialen  ist  dabei  ein  größeres  als  das  der  alten  Herr- 
scher. Diese  übten  ihre  brutal-kapitalistische  Herrschaft  in  ganz 
naiver  Weise  aus,  die  neuen  Herren  sind  nicht  mehr  naive, 
sondern  raffinierte  Vertreter  kapitalistischer  Interessen,  sie 
sind  Leute,  die,  in  der  Maske  der  Arbeiterfreundlichkeit  einher- 
schreitend,  ihre  kapitalistischen  Geschäfte  besorgen. 

Wir  wissen,  daß  wir  noch  einige  Jahre  werden  kämpfen  müssen, 
um  unser  volles  Wahlrecht  zu  erringen,  aber  unser  Programm  ist 
und  bleibt  es:  Weg  mit  allen  Kurien,  allgemeines  und  gleiches 
Wahlrecht  für  Landtag  und  Gemeinde!  Da  kommen  sie  uns  freilich 
wieder  damit,  daß  volles  Wahlrecht  für  den  Landtag  nur  dem 
gebühre,  auf  dessen  Steuern  Zuschläge  für  Landeszwecke  gemacht 
werden  können.  Als  ob  nicht  jeder  Arbeiter  mit  dem  Wohnungs- 
zins, mit  den  Zinskreuzern  usw.  für  Landeszwecke  steuerte!  Das 
ist  alter  liberaler  Schwindel,  gerade  gut  genug,  daß 
ihn  die  Christlichsozialen    jetzt    wieder  aufnehmen.    Doch    damit 


Das  arbeitende  Volk  gegen  die  Luegcrei.  213 


dürfen  sie  uns  nicht  kommen,  und  damit  werden  sie  uns  auch  hei 
der  Qemeindewahlreform  nicht  kommen  dürfen.  Wir  werden  ihnen 
auch  dort  auf  die  Finger  sehen,  und  Lucger  wird  sicli  nicht  beklagen 
dürfen,  dal.!  er  hei  seinem  Wirken  zu  wenig  Zuschauer  hat.  Die 
Herren  werfen  uns  vor,  dali  wir  uns  durch  das  Landtags  Wahlrecht 
vom  Kampf  gegen  den  Absolutismus  ablenken  lassen.  Es  muß 
alles  zu  seiner  Zeit  geschehen.  Auch  auf  dem  Baume,  der  im 
Sumpfboden  des  S  14  wurzelt,  werden  die  Früchte  schon  reif 
werden.  Bis  dieser  Zeitpunkt  kommt,  werden  wir  es  nicht  unter- 
lassen, den  Baum,  auf  dessen  Ästen  der  Graf  Thun  sitzt,  zu 
schütteln.  Heute  aber  ist  Lueger  auf  der  Tagesordnung,  und  wir 
werden  den  Moment,  mit  ihm  abzurechnen,  nicht  versäumen. 

Der  Redner  beantragt  nun  die  Annahme  folgender 

Resolution: 

Die  heutige  Volksversammlung  sieht  in  der  vom  niederöster- 
reichischen Landesausschuß  beantragten  Landtagswahlreform  das  not- 
gedrungene Geständnis,  daß  es  unmöglich  geworden  ist,  den  Massen  des 
Volkes  das  Wahlrecht  in  sämtliche  Vertretungskörper  noch  weiter 
vorzuenthalten: 

zugleich  aber  erkennt  sie  in  diesem  Antrag  den  frevelhaften  Versuch, 
die  Rechtlosen  zu  täuschen  und  ihnen  statt  der  Gewährung 
ihres  anerkannten  guten  Rechtes  einen  jämmerlichen  Brocken  zu  geben, 
der  überdies  mit  voller  Absicht  in  einer  Form  dargeboten  wird,  die  die 
praktische  Verwirklichung  auch  dieser  elenden  Wahlreform  unmöglich 
macht. 

Die  sozialdemokratische  Arbeiterschaft  Niederösterreichs  brandmarkt 
dieses  Vorgehen  der  christlichsozialen  Beherrscher  des  Landes  als  einen 
faulen  Schwindel,  der  nichts  anderes  offenbart  als  deren  brutalen 
Egoismus  und  ihre  feige  Heuchelei. 

Die  Versammlung  erklärt  insbesondere,  daß  jeder  Antrag,  die  Aus- 
dehnung des  Wahlrechtes  mit  Verschiebungen  in  den  privilegierten 
Kurien  zu  verbinden,  nur  ein  gleißnerischer  Versuch  sein  kann,  den 
Schein  zu  retten,  die  Wahlreform  aber  zu  vereiteln. 

Einen  weiteren  Beweis  für  die  Volksfeindlichkeit  der  Christlich- 
sozialen sieht  die  Arbeiterschaft  darin,  daß  der  Landesausschuß  die 
Ausdehnung  des  Gemeinde  Wahlrechtes  unter  den  nichtigsten 
Vorwänden  abgelehnt  hat.  In  Wien  selbst  wurde  die  hundertmal  ver- 
heißene Ausdehnung  des  Gemeindewahlrechtes  durch  den  Bürgermeister 
selbst  bis  heute  verschleppt,  und  was  von  dem  Inhalt  seines  Vor- 
schlages bekannt  ist,  läßt  erwarten,  daß  er  ebenso  wie  das  Machwerk 
des  Landesausschusses  unzulänglich  und  vom  borniertesten  Klassen- 
egoismus geleitet  sein  werde. 

Die  klassenbewußte  Arbeiterschaft  erklärt,  daß  sie  angesichts  dieser 
Umtriebe  der  klerikalen  Demagogen  an  ihrer  gerechten  Forderung  fest- 
hält, an  dem  allgemeinen  und  gleichen  Wahlrecht  in 
Stadt  und  Land,  und  daß  sie  weiß,  daß  es  niemals  dringender  und 
notwendiger  war  als  jetzt,  die  politischen,  kulturellen  und  wirtschaft- 
lichen Interessen  der  besitzlosen  Volksklassen  gegen  ihre  gefährlichsten 
Gegner  zu  verteidigen.  Darum  wird  die  Arbeiterschaft  in  Wien  und 
Niederösterreich     diesen     Wahlreehtskampf     mit     rücksichtsloser 


214  Der  Kampf   um   das  Gemeinde-  und  Landtagswahlrecht. 

Energie   führen    gegen   die   Feinde   des   Rechtes,  der   Wohl- 
fahrt   und    der    Zukunft    der    Arbeiterklasse*). 

Der  Redner  schließt  nun,  indem  er  sagt:  Es  ist  nicht  viel,  wenn 
wir  versprechen,  für  dieses  Wahlrecht  das  zu  tun,  was  wir  für  das 
Reichsratswahlrecht  taten,  wenn  wir  versprechen,  den  Kampf  zu 
führen  gegen  eine  Clique,  die  das  Volk  und  die  Jugend  vergiften 
will.  Das  feudale  Regime  im  Reiche  und  das  christlichsoziale  in 
unserem  Kronlande  sind  innerlich  verwandt;  wenn  wir  gegen 
Lueger  kämpfen,  so  kämpfen  wir  nicht  nur  gegen  den  Verderber 
von  Wien,  sondern  zugleich  gegen  die  ihm  im  Wesen  so  nahe- 
stehenden Verderber   von  ganz   Österreich.   (Stürmischer  Beifall.) 

Vorbereitung  des  Wahlrechtsraubes. 

Acht  Versammlungen  am  13.  März  1899**). 

Die  Wahlreform,  die  Dr.  Lueger  eingebracht,  ist  ein  großer  Er- 
folg der  Arbeiter  Wiens.  Aber  man  anerkennt  das  Wahlrecht  der 
Arbeiterschaft   mit   dem  Mund   und   sucht   es    dann   wieder   durch 

*)  Die  Resolution  wurde  selbstverständlich  mit  großer  Begeisterung 
beschlossen. 

**)  Am  11.  März  1899  hatte  Lueger  dem  Gemeinderat  den  Entwurf 
einer  Gemeindewahlordnung  mit  Aufhebung  der  Wahlkörper,  aber  mit 
der  fünfjährigen  Seßhaftigkeit  vorgelegt.  Außerdem  sollte  auch  das 
Gemeindestatut  geändert  und  der  Stadtrat  abgeschafft  werden.  Die 
Geschäftsordnung  sollte  durch  Bestimmungen  über  die  Einsetzung  eines 
Disziplinarausschusses  und  über  die  zur  Ausschließung  von  Gemeinderäten 
(den  sogenannten  Hausknechtparagraphen)  ergänzt  werden. 

Lueger  wollte  die  Komödie  der  Einführung  des  allgemeinen  Wahlrechts 
im  Gemeinderat  spielen.  So  wurde  sowohl  das  Gemeindestatut  wie  die 
Gemeindewahlreform  in  zwei  Dauersitzungen  im  Gemeinderat  durch- 
beraten und  schon  am  22.  März  dem  Landtag  vorgelegt.  Dann  fuhr  er 
nach  Rom  zum  Heiligen  Vater.  Indessen  hatte  Weiskirchner  im  Landtag 
das  allgemeine  Wahlrecht  umzubringen,  und  tatsächlich  wurde  schon  am 
14.  April  im  Ausschuß  des  Landtages  beschlossen,  das  Wahlkörpersystem 
beizubehalten  und  den  drei  privilegierten  Wahlkörpern  einen  vierten 
Wahlkörper  des  allgemeinen  Wahlrechts  mit  fünfjähriger  Seßhaftigkeit 
anzufügen.  Auch  die  Zusammensetzung  der  Wahlkörper  wurde  im 
Interesse  der  Christlichsozialen  geändert.  So  wurden  die  Lehrer  aus  dem 
zweiten  in  den  dritten  Wahlkörper  verschoben,  dafür  der  zweite  Wahl- 
körper durch  die  ernannten  „Bürger"  gesichert.  Überdies  wurden  die 
Einkommensteuerzahler  entrechtet,  indem  für  sie  ein  höherer  Zensus  be- 
stimmt wurde  als  bei  dem  Erwerbsteuerzahler. 

Das  neue  Einkommensteuergesetz,  das  im  Jahre  1899  in  Kraft  getreten 
war,  hatte  den  Arbeitern  auch  die  Steuer  auferlegt  und  es  war  die  Gefahr, 
daß  die  Arbeiter  als  Einkommensteuerzahler  in  den  proletarischen  Be- 
zirken den  Christlichsozialen  die  Mehrheit  im  dritten  Wahlkörper  weg- 
nehmen. Das  war  ja  der  wirkliche  Grund  gewesen,  warum  Lueger  die 
Wahlreform  mit  der  Komödie  des  allgemeinen  Wahlrechts  schaffen  wollte. 

Am  17.  Mai  legte  Weiskirchner  dem  Ausschuß  bereits  den  neuen  Ent- 
wurf vor:  er  enthielt  die  Entrechtung  der  Einkommensteuerzahler  und  den 


Vorbereitung  des  Wahlrechtsraubes.  215 

Winkelzüge  zu  vereiteln.  Dr.  Lueger  war  genötigt,  ein  allgertieines 
Wahlrecht  in  der  oder  jener  Form  einzubringen,  weil  einmal  die 
Arbeiterschaft  schon  bei  den  Reichsratswahlen  mitgewählt  hat,  und 
weil  Lueger  die  privilegierten  Wähler  lange  nicht  mehr  für  so 
sicher  hält  wie  früher,  wenn  er  sie  vielleicht  auch  für  gescheiter 
hält,  als  sie  sind.  Wir  müssen  aber  sagen,  diese  Wahlreform  nimmt 
alles  auf,  was,  obwohl  es  vernünftig  ist,  Lueger  nützen  kann;  sie 
nimmt  aber  gar  nichts  auf,  auch  wenn  es  gerecht  ist,  sobald  es  ihm 
schaden  kann.  Der  Vergleich  dieser  Wahlreform  mit  der  des  Grafen 
Taaffe,  der  letzthin  gemacht  wurde,  ist  falsch.  Sie  ist  der  gerade 
Gegensatz.  Die  Taaffesche  Wahlreform  bietet  ein  allgemeines  Wahl- 
recht, diese  aber  ein  höchst  beschränktes.  In  der  Taaffeschen  war 
keine  Spur  von  einem  gleichen  Wahlrecht,  hier  wird  es  gewährt, 
und  gerade  darin  liegt  ihre  ganz  wesentliche  prinzipielle -Be- 
deutung, die  wir  durchaus  nicht  verdunkeln,  sondern  im  Gegen- 
teil anerkennen  müssen,  und  für  die  wir  entschieden  eintreten 
müssen.  Wenn  die  Christlichsozialen  von  dieser  Wahlreform  nicht 
so  entzückt  sind,  wie  sie  verpflichtet  wären,  so  hat  das  gute  Gründe. 
Sie  ahnen,  es  steckt  etwas  drinnen,  das  ihnen  zwar  heute  nicht 
schadet,  sondern  sogar  nützt,  was  ihnen  aber  morgen  gefährlich 
werden  kann.  Der  ersten  Wahl  ist  Lueger  sicher,  bei  der  zweiten 
aber  werden  auch  andere  Leute  mitzureden  haben.  Aber  er  arbeitet 
mit  dem  Moment  und  will  den  Glanz  eines  Volksmannes  gewinnen. 
Die  Liberalen  werden  bei  dieser  Gelegenheit  wieder  lebendig.  Sie 
zeigen,  wie  borniert  sie  sind.  Sie  glauben,  daß  diese  Wahlreform 
nicht  sanktioniert  werden  wird,  und  kämpfen  trotzdem  gerade 
gegen  das,  was  populär  ist  in  dieser  Vorlage.  Vielleicht  steckt  da 

vierten  Wahlkörper  mit  20  Mandaten,  während  die  drei  privilegierten  Wahl- 
körper je  46  Mandate  hatten  —  allerdings  war  statt  der  fünfjährigen  die 
zweijährige  Seßhaftigkeit  eingeführt. 

Dieser  infame  Wahlrechtsraub  veranlaßte  die  Arbeiter  zu  stürmischen 
Kundgebungen  gegen  Lueger,  dessen  verborgenes  Spiel  offenkundig  war. 
Am  4.  Juni  sollte  im  Musikvereinssaal  eine  Massenversammlung  mit  der 
Tagesordnung:  „Wie  die  Arbeiter  Wiens  um  ihr  Wahlrecht  betrogen 
werden"  stattfinden;  sie  wurde  aber  verboten.  Statt  der  Versammlung 
hielten  die  Arbeiter  nun  einen  Demonstrationsspaziergang  auf  der  Ring- 
straße ab,  die  von  den  Rufen  „Pfui  Lueger!"  erdröhnte. 

Am  17.  Juni  beschimpfte  Lueger  die  Arbeiter  im  Gemeinderat  als 
„Bube  n",  die  sich  auf  der  Straße  tumultuarisch  benehmen  —  und  vor 
denen  er  Verachtung  habe. 

Die  Regierung  Thun  wagte  es  angesichts  des  Widerstandes,  der  sich 
nicht  nur  bei  den  Arbeitern  gegen  die  Wahlordnung  erhob,  nicht,  sie 
sanktionieren  zu  lassen.  Das  war  erst  Herrn  Dr.  v.  Wittek  vorbehalten, 
der  am  21.  Dezember  1899  eine  provisorische  Beamtenregierung  bildete, 
die  bis  zum  18.  Jänner  1900  im  Amt  blieb.  Sie  hatte  außer  der  Anwendung 
des  §   14  auch   die  Sanktionierung  des  Wahlrechtsraubes  vorzunehmen. 

Als  die  acht  Versammlungen  am  13.  März  1899  unmittelbar  nach  der  Ein- 
bringung der  Luegerschen  Waldreform  stattfanden,  hatte  man  natürlich 
noch  keine  Ahnung  davon,  daß  Lueger  nicht  das  allgemeine  Wahlrecht, 
sondern  einen  Betrug  plante. 

Beim  Dreher  au f  der  Landstraße  sprach  Adler. 


216  Der  Kampf   um  das  Gemeinde-  und  Landtagswahlrecht. 


ein  Rest  von  Ehrlichkeit  drinnen.  Durch  die  Personaleinkommen- 
steucr  wären  viele  Arbeiter  wahlberechtigt  geworden,  das  ist  viel- 
leicht mit  ein  Grund  für  die  Einbringung  dieser  Wahlreform.  Lueger 
sucht  aber  die  Arbeiter  möglichst  auszuscheiden  und  hat  da  zu 
einer  Idee  des  Herrn  v.  Plener  gegriffen,  wie  die  Christlichsozialen 
immer  in  den  abgelegten  Kleidern  der  Liberalen  einherstolzieren. 
Die  Einführung  des  fünfjährigen  Wohnsitzes  ist  aber  eine  Infamie. 
(Lebhafter  Beifall.)  Aus  einer  Petition  der  Gemeinde  Wien  bei  der 
Schaffung  des  neuen  Heimatsgesetzes  geht  hervor,  daß  ein  Drittel, 
mindestens  aber  ein  Viertel  der  Bewohner  Wiens  vom  Wahlrecht 
ausgeschlossen  sein  dürfte.  Diese  Vorlage  hat  uns  auch  nicht  ein 
Wahlrecht  der  Frauen  gebracht,  trotzdem  diese  vieles  besser  als 
wir  verstehen  würden  von  dem,  was  die  Gemeinde  besorgen  muß. 
Wenn  aber  die  Regierung,  wie  die  Liberalen  hoffen,  diese  Wahl- 
reform nicht  genehmigen  wollte,  dann  wird  die  Regierung 
auchnoch  etwasvonunserleben.  In  der  Vorlage  komme 
noch  die  Bestimmung  vor,  daß  der  Staat  der  Gemeinde  die  Kosten 
des  übertragenen  Wirkungskreises  zahlen,  und  daß  die  Regierung 
auch  weniger  Einfluß  auf  den  selbständigen  Wirkungskreis  haben 
solle.  Da  kann  die  Regierung  leicht  sagen,  die  Wahlreform  gefällt 
mir  sehr  gut,  aber  das  andere  kann  ich  nicht  annehmen.  Wir  ver- 
langen, daß  das  Wahlrecht  allein  gemacht  werde,  und  über  die 
anderen  Dinge  werden  wir  später  reden. 


ini  Jubiläum,  -17 


Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Ein  Jubiläum. 

Massenmeeting  auf  derPraterbahn,  2  6.  Juli  190  3*). 

Genossen  und  Genossinnen!  Arbeiter  und  Arbeiterinnen  von 
Wien!  Wir  feiern  heute  ein  Jubiläum.  Zehn  Jahre  sind  es  her,  daß 
wir  in  den  Kampf  ums  Wahlrecht  eingetreten  sind,  zehn  Jahre  seit 
jener  Versammlung  im  Rathaus,  die  für  immer  denkwürdig  bleiben 
wird  in  der  Geschichte  dieses  Landes.  Wir  haben  damals  den  Weg 
gezeigt,  den  Österreich  gehen  muß  und  wurden  verhöhnt  und  ver- 
lacht. Wir  haben  damals  das  Wahlrecht  als  den  Ausweg  aus  den 
österreichischen  Wirren  bezeichnet,  damals,  als  noch  niemand  daran 
dachte,  den  Weg  zu  betreten.  Es  hat  sich  damals  ein  alter  Sünder, 
Graf  T  a  a  f  f  e,  gefunden,  der  einen  Rest  von  politischem  Verstand 
zusammengerafft  hat  und  der  politischen  Vernunft  die  Bahn  ebnen 
wollte.  Da  haben  sich  das  Bürgertum,  die  Bürokratie,  der  Klerikalis- 
mus zu  einer  starren  Koalition  zusammengetan  und  den  Ver- 
such erwürgt.  Parteigenossen!  Man  hat  uns  hernach  ein  Stück  von 
dem,  was  wir  wollten,  gegeben.  Wir  haben  genau  gewußt,  daß 
dieses  Schwindel-  und  Scheinwahlrecht,  diese  Ver- 
fälschung des  guten  Rechtes  weder  dem  Staate  noch  dem 
Volke  helfen  kann.  Aber  was  wir  vom  ersten  Moment  an 
erkannten,  dazu  hat  Österreich  sechs  Jahre  gebraucht.  Heute  hat 
auch  der  Schwindel  der  fünften  Kurie  gründlich  Bankrott  gemacht. 
Man  sehe  sich  um  in  Österreich.  Alles  ist  verzweifelt,  alles  ist  rat- 

*)  Am  25.  Juni  1903  hatte  Körber,  nachdem  die  Jungtschechen  zwei 
Tage  vorher  wieder  mit  der  Obstruktion  eingesetzt  hatten,  das  Parlament 
vertagt,  um  sich  wie  die  erste,  so  auch  die  zweite  Halbjahrsrate  des  Bud- 
gets mit  dem  §  14  selbst  zu  bewilligen.  Darauf  veröffentlichte  am  5.  Juli  die 
Gesamtparteivertretung  der  österreichischen  Sozialdemokratie  gemeinsam  mit 
dem  Abgeordnetenverband  ein  Manifest,  das  die  Arbeiter  zum  Kampfe 
gegen  dieses  Parlament  und  gegen  die  alles  korrumpierenden  Wahlprivi- 
legien aufforderte.  Danach  folgte  im  ganzen  Reiche  eine  große  Zahl  von 
Kundgebungen  für  das  allgemeine,  gleiche  Wahlrecht.  Eine  der  größten 
dieser  Kundgebungen  war  die  Massenversammlung,  die  am  26.  Juli  auf  der 
Radrennbahn  im  Prater  abgehalten  wurde.  Sie  war  von  mehr  als 
30.000  Personen  besucht  und  es  wurde  von  drei  Tribünen  aus  gesprochen. 

Auch  im  Reiche  fanden  stürmische  Kundgebungen  statt.  Nach  einer 
dieser  Versammlungen,  die  am  7.  September  1903  in  Brunn  stattfand, 
kam  es  zu  blutigen  Zusammenstößen  mit  der  Polizei,  wobei 
mehr  als  20  Personen  durch  Säbelhiebe  verletzt  wurden. 


218  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

los,  und  weil  sie  ganz  verzweifelt  sind,  gehen  sie  in  die  Bäder,  um 
ein  paar  Wochen  den  Jammer  hinausschieben  zu  können.  Wenn  sie 
aber  zurückkommen,  dann  beginnt  wieder  die  alte  Not,  die  nicht 
mehr  mit  Flickwerk  beseitigt  werden  kann!  Dieser  Staat  hat 
nur  mehr  eine  Hilfe:  das  Volk  selbst!  (Brausende  Zu- 
stimmung.) Will  man  an  das  Volk  appellieren,  dann  ist  noch  eine 
Möglichkeit  einer  gesunden  Entwicklung  da.  Um  das  zu  tun,  dazu 
fehlen  an  den  entscheidenden  Stellen  noch  die  Einsicht  und  der  Mut. 
An  der  Feigheit  und  Dummheit  seiner  Regierer 
geht  dieser  Staat  zugrunde.  (Stürmischer  Beifall.)  Die 
klare  Wahrheit  liegt  deutlich,  für  jedermann  greifbar,  da.  In  einem 
Staate,  der  geteilt  ist  nach  Nationen,  wo  die  nationalen  Leiden- 
schaften wüten,  da  gibt  es  nur  eines,  das  die  Nationen  bändigen 
kann:  den  Kampf  der  Klassen!  Uns  verbindet  mit  den  Tschechen 
da  drüben  die  gemeinsame  Not,  die  gemeinsame  Hoffnung,  die  Not- 
wendigkeit der  gemeinsamen  Entwicklung.  Auch  die  anderen 
Klassen  haben  ihre  Gemeinsamkeiten.  Das  Wahlrecht  muß  ermög- 
lichen, daß  diese  Klassengegensätze  sich  gegenüberstehen.  Öster- 
reich, das  wissen  heute  schon  alle,  muß  erneuert  werden,  sonst 
wird  es  elender  als  die  Türkei  verrecken. 

Man  hat  uns  in  Verdacht,  daß  wir  dem  „Staatsstreich" 
das  Wort  reden.  Nun,  wir  fürchten  uns  vor  keinem  Wort.  Die  Revo- 
lution ist  eine  Sache,  die  mitunter  auch  von  oben  gemacht  wird. 
Wir  sehen  gar  nicht  ein,  warum  der  Absolutismus,  der  in  Österreich 
nie  aufgehört  hat  zu  sein,  nur  Blödsinn  produzieren  muß  (Heiter- 
keit), warum  er  einmal  nicht  auch  etwas  Vernünftiges  hervorrufen 
soll.  Übrigens  hat  das  Parlament  ja  noch  eine  Möglichkeit  offen. 
Wenn  es  noch  einen  Funken  von  Verantwortlichkeitsgefühl  und  Ein- 
sicht besitzt,  dann  wird  es  an  sich  selbst  das  Harakiri,  den 
Selbstmord  vollführen.  Will  man  die  Wahlreform  nicht 
machen,  dann  wird  Österreich  am  Schindanger*) 
endigen,  und  uns  ist  es  gleichgültig,  wer  es  auf  ihn  wirft.  Die 
Verfassung  ist  gemacht  worden  von  einem  Bürgertum,  das  knecht- 
selig und  winselnd  vor  den  Feudalen,  feig  zitternd  vor  dem  Volke 
war.  Wir  haben  diese  Verfassung  nicht  gemacht,  wir  haben  dieses 
Österreich  nicht  geschaffen,  wir  sind  nicht  dafür  verantwortlich. 
Von  uns  aus  kann  die  Weltgeschichte  mit  Österreich  machen,  was 
sie  will,  uns  interessiert  daran  bloß  das  Schicksal  der  Arbeiter- 
klasse. Daß  der  Weg  aus  dem  Schlamm  nicht  einfach  ist,  wissen 
wir.  Dieses  Parlament,  das  gefügig  ist  für  alle  Niedertracht  und  un- 
fähig ist  für  alles  Gute,  stirbt  an  seiner  Unfähigkeit,  zu  sein.  Wo 
sind  die  Dinge,  die  für  Österreich  wirklich  notwendig  sind?  Wo  ist 
seit  zehn  Jahren  ein  Fortschritt  gemacht  worden,  der  den  arbeiten- 
den Klassen  nützt?  Nicht  einmal  die  Alters-  und  Invali- 
ditätsversicherun g**)  können  wir  herauskriegen.  Aber  was 

*)  Dieses  Bild  hat  Adler  wiederholt  gebraucht,  so  zum  Beispiel  in  seinem 
Referat  über  Parteitaktik  auf  dem  Parteitag  in  Graz  1900.  (Bd.  VIII, 
Seite  202  ff.) 

**)  Um  die  Regierung  an  das  in  der  Thronrede  gegebene  Versprechen 
der  Altersversicherung  zu  erinnern,  hatte  die  Partei  einen  Petitionssturm 


Ein  Jubiläum.  219 


wir  bekommen,  das  waren  Wehrgesetze,  die  dem  Kaiser  zum 
Frühstück  von  dressierten  Munden  gebracht  wurden,  wahrend  die 
Ungarn  sich  energisch  zur  Wehre  setzen.  Was  wir  bekommen,  das 
sind  Zölle,  die  unsere  nötigsten  Nahrungsmittel  verteuern  sollen. 
Wir  sagen:  Ein  Parlament,  das  nichts  anderes  kann,  brauchen  wir 
nicht! 

Wir  feiern  heute  das  Jubiläum  eines  schweren  Kampfes.  Wie 
der  Kampf  sein  wird,  in  den  wir  heute  eintreten,  wissen  wir  nicht. 
Ein  entscheidender  Kampf  —  vielleicht  nicht  morgen,  vielleicht 
nicht  in  einer  Woche  —  wird  uns  nicht  ausbleiben.  Wir  sind  in 
diesem  Staate  die  einzigen,  die  sagen,  was  i  s  t.  Die  anderen 
haben  die  Kanonen,  die  Polizisten,  die  Regimenter.  Aber  eines 
haben  wir,  was  sie  nicht  haben:  die  Vernunft!  Die  Fähigkeit, 
zu  erkennen,  und  den  Mut,  zu  tun,  was  notwendig  ist.  Sie  haben 
früher  Herrn  v.  Körber  abfällig  begrüßt.  (Heiterkeit.)  Der  glatte 
Herr  wird  sehr  verwundert  sein,  denn  er  glaubt  ja,  ein  sehr 
moderner,  sehr  volksliebender  und  deshalb  sehr  volkstümlicher 
Minister  zu  sein.  (Heiterkeit.)  Er  wird  fragen:  Was  habe  ich  denn 
getan,  um  diese  Begrüßung  zu  verdienen?  Aber  das  ist  ja  gerade 
das  Verbrechen,  dessen  wir  ihn  beschuldigen,  daß  er  das 
nicht  getan  hat,  was  notwendig  ist!  (Stürmischer  Beifall. 
Polizeikommissär  P  i  c  h  1  e  r  unterbricht  den  Redner.  Heftige  Pfui- 
rufe in  der  Versammlung.)  Dr.  Adler:  Gut,  ich  brauche  es  nicht 
mehr  sagen,  ich  habe  es  schon  gesagt.  (Heiterkeit.)  Wie  Sie  sehen, 
gehöre  ich  nicht  zu  den  Bewunderern  des  Herrn  v.  Körber*),  ich 
habe  keine  allzu  große  Meinung  von  seinen  politischen  Über- 
zeugungen und  seinem  politischen  Mut.  Aber  das  muß  ich  doch  zu 
seiner  Ehrenrettung  sagen,  so  dumm  ist  der  Mann  nicht,  daß  er 
sich  darüber  aufhielte,  wenn  man  ihm  politische  Wahrheiten  sagt. 
(Heiterkeit.)  Die  Nervosität  des  Herrn  Polizeikommissärs  ist  wohl 
noch  ein  Stück  alter  Schule,  eine  alte  Krankheit,  die  wieder  zum 
Ausbruch  kommt.  Oder  —  soll  man  das  anders  auslegen?  Sind 
das  Vorzeichen  eines  nahenden  Endes**)?  Wenn  die  Polizei- 
kommissäre anfangen,  Redner  zu  unterbrechen,  oder  die  Staats- 
anwälte beginnen  zu  konfiszieren,  so  ist  gewöhnlich  nicht  die 
Arbeiterschaft,  sondern  das  Ministerium  in  Gefahr.  Es  wäre  ja  kein 
Wunder,  wenn  Herr  v.  Körber  in  seiner  Haut  nervös  würde.  Aber 
ein  Minister,  der  dumm  wird,  wäre  noch  rascher  fertig  als  ein  ge- 
scheiter. 

Wir  werfen  diesem  Ministerium  vor,  daß  es  einen  verbreche- 
rischen Mangel  an  Mut  hat.  Die  Rettung  braucht  kein  Staatsstreich 
zu  sein,  obzwar  wir  in  Österreich  nicht  wehleidig  zu  sein  brauchen, 

eingeleitet,  außerdem  hatte  der  Verband  einen  Dringlichkeitsantrag  einge- 
bracht, der  auch  einstimmig  beschlossen  wurde.  Alles  war  aber  vergeblich. 

*)  Siehe  auch  das  Schlußwort  zur  Parteitaktik  auf  dem  Parteitag  in 
Aussig  1902,  wo  Adler  ausführlich  über  das  System  Körber  sprach. 
(Bd.  VIII,  Seite  224  ff.) 

'•*)  Körber  ist  erst  am  30.  Dezember  1904  gefallen.  Sein  Nachfolger  war 
O  a  u  t  s  c  h. 


220  Der  Sickr  des  gleichen  Wahlrechts. 

der  §  14,  dieser  chronische  Staatsstreich,  hat  uns  abgehärtet.  Wenn 
die  Verfassung  wegen  einer  Zuckersteuer,  wegen  militärischer 
Steuern  gebrochen  wird,  dann  wird  die  alte  Vettel,  die  Verfassung, 
nicht  mucksen  dürfen,  wenn  sie  einmal  zugunsten  des  Volkes  aus- 
gelegt wird. 

Wir  stehen  vor  einem  Kampfe,  der  Mut  und  vor  allem  Ausdauer 
fordern  wird.  Einen  Helfer  haben  wir  neben  uns:  die  geschichtliche 
Notwendigkeit.  Entweder  Österreich  bekommt  ein  gleiches 
Wahlrecht  oder  es  muß  zugrunde  gehen,  wie  es  seine  Herrscher 
längst,  nicht  seine  Völker  verdient  haben.  Mit  diesem  Gedanken 
treten  wir  in  den  Kampf,  und  wir  werden  sehen,  wer 
stärker  ist,  der  egoistische  Wahnwitz  oder  das 
Recht  des  Volkes!  Ich  schließe  mit  dem  Appell  an  die  Wiener 
Arbeiterschaft,  ihre  Pflicht  zu  tun  bis  ans  Ende!  Hoch  das  all- 
gemeine, gleiche  und  direkte  Wahlrecht!  (Begeisterte  Bravo-  und 
Hochrufe.) 

Massenpsychologische  Bedingungen. 

Parteitag  19  03*). 

Die  Frage  des  Wahlrechts  muß  natürlich  bei  uns  auf  der  Tages- 
ordnung stehen,  denn  sie  ist  die  grundlegende  Frage  der  öster- 
reichischen Politik.  Gerade  darum  stehen  wir  vor  der  Schwierigkeit, 
daß  wir  diese  Not,  die  immer  da  ist,  nicht  immer  zu  einer  brennen- 
den, großen  Agitation  machen  können.  Unser  politischer  Kampf  ist 
wesentlich  ein  Kampf  ums  Wahlrecht;  aber  Sie  können  nicht  er- 
warten, irgendeine  Bewegung  auf  längere  Zeit  in  einer  Höhe  zu 
erhalten,  die  die  Leidenschaft  in  gleicher  Weise  zu  entfalten  vermag. 
Das  ist  psychologisch,  auch  massenpsychologisch  unmöglich.  Wrir 
müssen  das  Bewußtsein  von  der  Elendigkeit  unseres  Wahlrechts 
immer  lebendig  erhalten  bei  uns,  bei  den  bürgerlichen  Parteien,  bei 
der  Regierung,  aber  wir  können  unmöglich  fortwährend  den  Kampf 
in  jener  Siedehitze,  auf  jener  Höhe  halten,  in  die  er  nur  zu  gewissen 


*)  Auf  dem  Parteitag,  der  vom  9.  bis  13.  November  1903  in  Wien 
stattfand,  erstattete  Vanek  (Brunn)  das  Referat  über  die  Wahl- 
rechtsbewegung in  tschechischer  Sprache.  Er  verwies  darauf,  daß 
in  Brunn  bereits  Blut  für  das  Wahlrecht  geflossen  sei,  daß  sich  aber 
nirgends,  auch  nicht  in  Wien  ein  Widerhall  zeigte.  Die  Wahlrechts- 
bewegung sei  dadurch  auf  einen  toten  Punkt  gekommen.  Es  sei  nicht 
mehr  das  nötige  Feuer  da.  Die  Aufgabe  sei  es,  dem  Feuer  der  Wahl- 
rechtsbewegung eine  Nahrung  zu  geben,  daß  es  bald  in  ganz  Österreich 
zu   einer  mächtigen  Flamme   werde.  Darauf   antwortet   nun  Adler. 

Die  übrigen  Reden  Adlers  auf  diesem  Parteitag,  die  er  beim  parlamen- 
tarischen Bericht  gehalten  hat,  sind  in  der  Schriftenreihe  „Victor  Adler, 
der  Parteimann"  unter  dem  Titel  „Ekel  am  Staat"  (VIII.  Bd.,  Seite  232) 
und  „Militarismus  und  Demokratie"  (IX.  Bd.,  Seite  11)  abge- 
druckt; schließlich  auch  das  Referat  über  den  bevorstehenden  internatio- 
nalen Kongreß  in  Amsterdam  (VII.  Bd.,  Seite  23). 


Massenpsychologische  Bedingungen.  221 


Zeiten,  bei  günstigen  Gelegenheiten  hinaufgetrieben  werden  kann. 
Wenn  ieh  also  glaube,  daß  wir  für  den  Wahlrechtskampf  tun,  was 
wir  können,  möchte  ieh  doch  jenen  Rednern  entgegentreten,  die  in 
dem  Hinweis  in  der  Resolution,  daß  das  Proletariat  schließlich  auch 
noch  andere  äußerste  Mittel  zur  Verfügung  hat,  einen  nicht  oppor- 
tunen, unerwünschten  Hinweis  auf  den  Generalstreik  sehen.  Wir 
wissen  nicht,  ob  das  österreichische  Proletariat  zum  Generalstreik 
kommen  wird,  aber  wir  wissen  ebensowenig,  ob  er  uns  erspart  sein 
wird.  So  gewissenlos  es  wäre,  für  die  nächste  Zeit  einen  General- 
streik zu  politischen  Zwecken  anzukündigen,  ebenso  unklug,  ja  un- 
verantwortlich wäre  es,  den  Generalstreik  abzuschwören.  Die  Er- 
fahrungen des  Auslandes  geben  dazu  keinen  Anlaß.  Der  Generalstreik 
in  Belgien  war  für  mich  —  im  Gegensatz  zu  vielen  Genossen  —  ein 
Beweis,  daß  es  bei  einer  tüchtigen  Organisation  möglich  ist,  den 
Generalstreik  eintreten  zu  lassen  und,  was  ich  früher  für  ganz  un- 
möglich hielt,  auch  zu  beendigen.  Ich  habe  den  glorreichen  Rückzug 
der  belgischen  Genossen*)  für  einen  der  größten  Erfolge  der  Organi- 
sation gehalten,  der  je  da  war!  Wir  wissen  alle:  Was  wir  unterneh- 
men, jede  Aktion  wird  erst  dann  von  großer  Bedeutung,  wenn  wir 
unsere  Handlungen  bewußt  beginnen  und  auch  bewußt  beenden 
können.  Das  schien  beim  Generalstreik  unmöglich;  nun  zeigt  es  sich: 
er  ist  in  einer  vernünftigen,  besonnenen,  klaren  Weise  zu  Ende  zu 
führen.  Darum  bin  ich  nicht  dafür,  unsere  Gegner  zu  beruhigen,  daß 
sie  davor  sicher  sind.  Wir  würden  in  ihnen  damit  eine  gefährliche 
Illusion  nähren.  Abschwören  wollen  wir  den  Generalstreik  nicht. 
Wann,  wie,  ob,  das  steht  dahin. 

Die  Genossinnen  von  der  Frauenkonferenz,  die  über  alles  Er- 
warten gut  abgelaufen  ist,  bringen  uns  vor  den  Parteitag  die  Pro- 
dukte ihrer  Tätigkeit.  Wir  sollen  ihre  Resultate  zur  Kenntnis  nehmen. 
Wir  haben  ja  nichts  dagegen,  daß  das  geschieht.  Aber  die  Genossin- 
nen dürfen  nicht  erwarten,  daß  wir  uns  hier,  wo  wir  eine  reichliche 
Tagesordnung  zu  erledigen  haben,  auch  noch  eine  Diskussion  über 
das  Frauenwahlrecht  aufdringen  lassen.  Wir  sind  mit  unserem 
Herzen  (Heiterkeit)  bei  ihnen,  aber  wir  haben  jetzt  aktuellere  Dinge 
zu  erledigen. 

*)  Im  Jahre  1902  versuchten  die  belgischen  Arbeiter  die  Beschränkungen 
des  Wahlrechtes,  die  sie  bei  dem  Generalstreik  im  Jahre  1893  hatten  hin- 
nehmen müssen  —  vor  allem  die  Pluralstimmen  — ,  durch  einen  General- 
streik zu  beseitigen.  Aber  obwohl  dreihunderttausend  Arbeiter  daran  teil- 
nahmen und  obwohl  nicht  nur  die  Beteiligung,  sondern  auch  die  all- 
gemeine Begeisterung  nicht  geringer  war  als  1893,  gelang  es  nicht,  der 
Bourgeoisie  und  ihrer  Regierung  auch  nur  die  geringste  Konzession  abzu- 
zwingen. Henriette  Roland-Holst  schreibt  in  ihrem  Buch  über 
Generalstreik  und  Sozialdemokratie:  Was  den  zweiten  belgischen  Streik 
für  das  internationale  Proletariat  so  äußerst  wichtig  macht,  ist  die  Art, 
in  der  die  belgischen  Arbeiter  den  Rückzug  antraten.  Es  glückte  ihnen,  den 
verlorenen  Streik  im  richtigen  Augenblick  abzubrechen  und  die  Bewegung 
in  bester  Ordnung  aufzuheben.  Sie  vollbrachte,  was  besiegten  Heeren 
immer  als  großer  Ruhm  angerechnet  worden  ist:  sich  nach  der  Niederlage 
in  vollkommenster  Disziplin  zurückzuziehen.  (Zweite  Auflage,  Seite  60.) 


222  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


Die  Arbeiter  und  das  Privilegienparlament. 

Versaminlungbeim  Ron  acher,  2  0.  Dezember  190  3*). 

Ich  glaube  nicht,  daß  irgendwo  anders  und  andere  Leute,  als  die 
hier  sind,  heute,  am  Sonntag  vor  Weihnachten,  den  merkwürdigen 
Geschmack  haben,  sich  um  Österreich  zu  kümmern.  (Heiterkeit.) 
Wir  stehen  vor  dem  Feste,  und  wo  Österreich  ist,  da  verschwindet 
jede  Freude  am  Feste;  wo  der  Gedanke  an  unseren  Staat  ist,  da 
verschwindet  jeder  Frohmut.  Aber  so  ist  einmal  die  Arbeiterschaft, 
und  wäre  sie  nicht  so,  dann  müßte  man  in  der  Tat  verzweifeln. 
Keine  Klasse  gibt  es  in  diesem  Lande,  an  die  irgendeine  Hoffnung 
zu  knüpfen  ist,  außer  der  Arbeiterschaft.  Sehen  Sie  doch  hin  auf  die 
klerikale  Gefahr.  Es  ist  ja  der  alte  Klerikalismus,  nur  in  anderer 
Tracht;  früher  war  es  der  große  Jesuitenhut,  heute  ist  es  der  Frack 
und  die  goldene  Kette.  Aber  es  ist  der  alte  Klerikalismus.  Wie  war 
er  vom  Bürgertum  gehaßt  und  heute  ist  dies  Bürgertum  hier  in 
Wien  in  das  klerikale  Lager  übergelaufen!  Sie  ergeben  sich  in  ihr 
Schicksal,  sie  lassen  sich  geduldig  führen  und  scheren.  (Beifall.) 
Das  Parlament,  dessen  Entwicklung  in  den  letzten  Jahrzehnten 
uns  Pernerstorfer  geschildert  hat,  ist  heute  in  einem  wesentlich 
anderen  Zustand,  als  es  noch  vor  einigen  Jahren  war.  Obstruktion 
haben  wir  öfter  gehabt,  aber  was  heute  ist,  ist  nicht  nur  die  Un- 
möglichkeit, auf  diesem  dürren  Boden  Gesetze  wachsen  zu  sehen; 
es  ist  der  Verlust  jedes  Glaubens  an  sich  selbst,  der  Verlust  der 
Selbstachtung  des  Parlaments. 

Die  einzigen,  die  dieses  Parlament  ernst  nehmen,  sind  wir  Sozial- 
demokraten, ernst  nehmen  in  dem  Sinne,  daß  wir  ein  Parlament, 
das  von  sich  glaubt,  daß  es  nicht  leben  und  nicht  sterben  kann, 
wenigstens  zu  einer  Funktion  drängen  möchten:  zum  Krepieren. 
(Lebhafter  Beifall.)  Unsere  Abgeordneten  haben  —  wir  müssen 
ihnen  dafür  dankbar  sein  —  mit  Selbstüberwindung  und  mit  der 
Beredsamkeit,  die  die  Überzeugung  gibt,  und  mit  der  Eindringlich- 
keit, die  die  Erkenntnis  der  Logik  der  Tatsachen  gibt,  dem  Parla- 
ment gesagt:  Dringlich  ist  für  dieses  Parlament  nur  das  eine,  daß 
es  in  seiner  heutigen  Form  verschwinde,  daß  es  die  Verfassung,  an 


*)  Das  Parlament  war  im  Laufe  des  Jahres  1903  immer  mehr  ein  Opfer 
der  schleichenden  Obstruktion  geworden,  so  daß  Körber  am  25.  November 
selbst  erklärte,  soweit  es  sich  um  die  Gesetzgebung  handle,  herrsche  die 
Ruhe  des  Friedhofs.  Am  9.  Dezember  wurde  eine  Reihe  von  Dring- 
lichkeitsanträgen verhandelt:  ein  Antrag  des  Jungtschechen  Dr.  Forscht 
auf  Einsetzung  eines  Ausschusses  zur  Ausarbeitung  einer  neuen  Verfassung 
und  ein  Antrag  Ellenbogen  auf  Einsetzung  eines  48gliedrigen  Aus- 
schusses zur  Ausarbeitung  eines  Entwurfes  einer  neuen,  auf  dem  all- 
gemeinen, gleichen,  geheimen  und  direkten  Wahlrecht  sowie  auf  der  natio- 
nalen Autonomie  fußenden  Verfassung.  Der  Antrag  Ellenbogen  wurde 
—  übrigens  genau  wie  der  andere  —  abgelehnt. 

In  der  Versammlung,  die  darauf  am  Sonntag  vor  Weihnachten  im 
Ronachersaal   stattfand,  sprach  zuerst  Pernerstorfer,  dann  Adler. 


Die  Arbeiter  und  chis  Privilegienparlament. 


der  dieser  Staat  krankt,  beseitige.  Was  ist  mit  diesem  Antrag*) 
geschehen?  Man  hat  unseren  Redner  reden  lassen.  Die  einen  haben. 
wo  er  von  der  Selbständigkeil  der  Völker  gesprochen  hat,  mit  dem 
Staatsrecht  geantwortet  und  die  deutschen  Parteien  habet)  gar  nicht 
geantwortet.  Die  Leute,  die  im  Jahre  \W).\  der  Taaffeschcn  Wahl- 
reforrn  gegenüber  jene  verhängnisvolle  Koalition  geschlossen 
haben,  die  Leute,  an  deren  politischen  Verbrechen  der  Staat  heute 
krankt,  sie  haben  auf  die  einzig  wichtige  und  dringliche  Frage  des 
Staates  keine  Antwort  gewußt.  Nicht  das  leiseste  Echo  hat  sich 
aus  diesen  verödeten  Herzen  und  vertrockneten  Hirnen  heraus- 
locken lassen.  Und  die  Regierung?  Herr  v.  Körber  ist  gewiß  ein 
intelligenter  Mann.  Es  wäre  überhaupt  unrecht,  wenn  man  uns  Öster- 
reichern oder  unseren  Bürokraten  den  Vorwurf  der  Dummheit  machen 
würde.  Was  aber  diesem  Geschlecht  fehlt  und  woran  es  auch  Herrn 
v.  Körber  fehlt,  das  ist  der  M  u  t.  Nicht  einen  Funken  von  Mut  hat  er, 
und  so  wird  man  ihm  einmal  nachsagen:  Er  war  der  Mann,  der 
alles  weiß,  aber  gar  nichts  kann,  der  Mann,  der  sehr 
gut  weiß  und  begreift,  wo  das  Übel  steckt,  der  aber  mit  einem  Blick 
nach  oben  und  einigen  verschämten  Liebesblicken  nach  unten  für 
den  morgigen  Tag  sorgt;  wenn  er  weiß,  daß  er  morgen  noch  lebt, 
so  ist  er  zufrieden  und  um  sich  von  Tag  zu  Tag  zu  fristen,  opfert 
er  Stück  für  Stück  das  Wichtigste. 

Wir  sind  in  einem  Zustand,  wie  niemals,  so  weit  ich  die  Ge- 
schichte kenne,  ein  Staat  war.  Wenn  jemand  ein  Phantasiegemälde 
entwerfen  wollte  von  allen  Verrücktheiten  und  Unmöglichkeiten, 
die  in  einem  Staate  auf  einem  Punkte  vereinigt  werden  könnten, 
nie  könnte  er  einen  Staat  konstruieren,  wie  dieses  Österreich  ist, 
nie  könnte  er  sich  einen  Zustand  ausmalen,  wie  der  politische  Zu- 
stand dieses  Landes  in  diesem  Augenblick  ist.  Wir  stecken  in  einem 
Staate,  der  nicht  weiß,  ob  er  selbständig  ist  oder  nicht,  in  einem 
Staate,  der  begründet  ist  auf  die  Notwendigkeit,  alle  zehn  Jahre 
einen  Selbstmord  begehen  zu  müssen,  alle  zehn  Jahre  seine  wich- 
tigsten Interessen  preisgeben  zu  müssen,um  zu  einem  Vertrag**)  mit 
einem  Lande  zu  kommen,  das  ganz  recht  hat,  sich  um  uns  nicht  zu 
kümmern  und  das  mit  größter  Kaltblütigkeit  und  Energie  seine 
Wege  zur  Selbständigkeit  geht.  Wir  sind  gezwungen,  alle  zehn 
Jahre  Ungarn  nachzulaufen,  und  unsere  ganze  innere  Politik  ist 
ja  tatsächlich  darauf  gerichtet,  daß  alle  zehn  Jahre  die  Vertreter 
der  Völker  Österreichs  Verrat  an  den  Interessen  des  Volkes  üben 


*)  Mit  dem  Antrag  Ellenbogen,  von  dem  oben  die  Rede  ist. 

'*)  Der  „Ausgleich"  mit  Ungarn  mußte  alle  zehn  Jahre  neu  geschlossen 
werden  und  zu  diesem  unpopulären  Zwecke  mußten  die  Parteien  im  Par- 
lament zusammengekauft  werden,  da  anders  eine  Mehrheit  nieht  zu  be- 
kommen war.  Das  brachte  das  österreichische  Parlament  in  der  zweiten 
Hälfte  des  .Jahrzehnts  immer  in  Unordnung;  da  der  Ausgleich  1867  be- 
gonnen hatte,  immer  in  den  Jahren  von  2  bis  7  des  Jahrzehnts.  Statt  durch 
Änderung  des  Verhältnisses  zu  Ungarn  diesen  ständigen  Markt  im  Parla- 
ment zu  beseitigen,  bei  dem  die  Parteien  meist  für  nationale  oder  wirt- 
schaftliche  Konzessionen   gekauft  wurden,  erzeugte   man   nationale  Unruhe 


224  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

müssen,  um  jenes  widernatürliche  Untertänigkeitsverhältnis  zu 
Ungarn  aufrechtzuerhalten,  an  dem  keine  Klasse  ein  Interesse  hat, 
nur  eine  Familie  in  Österreich  ganz  allein.  (Beifall.) 

Aber  dieser  Wahnwitz  könnte  nicht  aufrechterhalten  werden, 
wenn  er  nicht  ermöglicht  würde  durch  den  Wahnwitz  unserer 
inneren  Zustände.  Wir  haben  eine  Verfassung,  die  den  Existenz- 
bedingungen der  Völker  Österreichs  niemals  entsprochen  hat,  die 
aber  heute  gerade  mörderisch  ist  für  die  Entwicklung,  eine  Ver- 
fassung, die  der  Fluch  dieses  Landes  ist,  die  niemandem  zugute 
kommt  als  einigen  feudalen  Familien  und  den  Klerikalen,  die  im 
Schatten  dieser  Verfassung  ihre  schmutzigen  Geschäfte  machen. 
(Beifall.)  Ein  baufälliges  Gebäude  hat  Pernerstorfer  diesen  Staat 
genannt,  und  doch  gibt  es  eine  Schicht,  die  sich  in  diesem  Hause 
wohl  fühlt.  In  jedem  baufälligen  Haus  fühlt  sich  das  Ungeziefer 
ganz  wohl.  (Lebhafter  Beifall.)  Das  ist  es,  in  allen  Ritzen  stecken 
sie,  die  davon  leben,  daß  sich  die  Völker  nicht  entwickeln  können. 
Dem  Parlament  ist  nicht  zu  helfen.  Heutzutage  ist  ein  Parlament, 
das  Vertreter  des  Großgrundbesitzes,  der  Handelskammern  und 
Vertreter  des  allgemeinen  Wahlrechtes  in  einem  Saale  vereinigt,  un- 
möglich, und  es  wird  nie  seine  Pflicht  tun  können.  Ein  solches 
Parlament  ist  nicht  nur  die  Frucht  der  Sünde  und  des 
Verbrechens  an  den  Völkern,  sondern  es  ist  auch  für  immer 
zur  Untätigkeit  und  Unfähigkeit  verdammt. 

Alle  die  Künste,  die  man  versucht,  um  diese  Leute  zu  galvani- 
sieren, zeigen  bloß,  daß  der  Verwesungsprozeß  zu  weit  vor- 
geschritten ist,  um  auch  nur  den  Anschein  eines  Lebens  zu  erzielen. 
Sie  wissen,  welche  Rezepte  man  anwenden  will.  Man  behandelt 
das  Parlament  ja  jetzt  wie  einen  Tobsüchtigen  und  meint,  wenn 
man  die  Zwangsjacke  einer  Geschäftsordnung  an- 
wenden würde,  so  würde  der  Tobsüchtige  zur  Ruhe  zu  bringen 
sein.  Möglich,  mit  der  Zwangsjacke  kann  man  knebeln,  kann 
man  zur  Ruhe  bringen,  aber  man  hat  mit  ihr  noch  nie  eine  Leiche 
lebendig  gemacht,  ja  noch  nicht  einmal  einen  Tobsüchtigen  v  e  r- 
n  ü  n  f  t  i  g. 

Ich  glaube  nicht,  daß  der  Versuch,  das  Parlament  mit  einer 
anderen  Geschäftsordnung  flott  zu  machen,  diese  Zumutung,  das 
Parlament  solle  sich  am  eigenen  Zopfe  aus  dem  Sumpfe  ziehen, 
sich  wiederholen  wird.  Wir  haben  dem  Parlament  den  einzigen 
Weg  gewiesen,  den  es  ehrlich  gehen  kann:  Leben  kann  es  nicht  in 
diesem  Zustand,  leben  kann  es  nicht,  wenn  es  begründet  bleibt 
auf  dem  Unrecht,  auf  der  Vergewaltigung  und  Beschwindelung  der 

und  statt  durch  einen  nationalen  Ausgleich  diese  zu  beseitigen  —  was 
nun  wieder  wegen  der  Dringlichkeit  des  parlamentarischen  Marktes  für  den 
Ausgleich  schwer  war  — ,  vermehrte  man  sie  noch,  wie  sich  bei  den 
Sprachenverordnungen  gezeigt  hatte.  Und  wenn  man  das  Parlament  so 
zerstört  hatte,  um  den  Ausgleich  im  Interesse  des  Kaisers  zu  schließen 
—  was  immer  mit  Opfern  Österreichs  geschehen  mußte  —  glaubte 
man  dann  durch  eine  Geschäftsordnung  der  Krankheit  des  Parlaments  bei- 
kommen zu  können:  wie  1897,  so  jetzt  und  später. 


Die  Arbeiter  uikI  das  Privilegienparlament.  225 


großen  Massen.  Das  einzige,  was  es  konnte,  wäre,  sich   selbst 
umzubringen,  einen  ehrenvollen    Tod  zu  sterben.  (Lebhafter 

Heifall.) 

Und  was  nun?  Wir  müssen  zusehen,  dal.»  Österreich  eine 
Lächerlichkeit  und  ein  Objekt  des  Mitleids  und  der  Verachtung 
für  das  Ausland  wird  und  müssen  zusehen,  wie  die  wirtschaftlichen 
Interessen  der  breiten  Massen  auf  das  kläglichste  mißachtet  wer- 
den. Wir  können  daran  nichts  ändern.  Aber  welche  Hoffnung 
haben  denn  die  anderen?  Es  ist  ein  bezeichnendes  Wort  von  Mon- 
signore  Scheich  er  gesprochen  worden.  Kr  hat  erzählt:  Ja,  der 
Thronfolger,  der  weiß  ganz  genau,  wie  die  Sache  steht.  Wenn  wir 
marschiere  n*),  meint  der  Thronfolger,  dann  werden  sich  die 
Einigkeit  und  der  Staat  schon  wieder  herstellen  lassen!  Die  Bajo- 
nette sind  also  heute  noch,  wie  wir  sehen,  die  ultima  ratio  der 
Politiker,  denen  die  Zukunft  dieses  Landes  schließlich  überwiesen 
werden  wird.  «Herr  Scheicher  hat  dieses  Wort  sehr  bewundert. 
Er  hat  es  in  seiner  Jesuitenschule  eben  nicht  anders  gelernt.  Wir 
aber  wissen,  wohin  die  Bajonette  führen  und  wir  wissen,  daß  die 
Bajonette  alles  können,  nur  nicht  einen  Staat 
retten,  der  dem  Untergang  geweiht  ist.  (Lebhafter 
Beifall.) 

Nun  nennt  man  es  „S  t  a  a  t  s  s  t  r  e  i  c  h",  wrenn  man  davon 
hört,  daß  die  Verfassung  beseitigt  und  eine  neue  geschaffen  werden 
soll.  Aber  ist  es  weniger  Staatsstreich,  wenn  Stück  für  Stück  vom 
Parlament  weggenommen  wird?  Ist  es  weniger  Staatsstreich,  wenn 
alles,  was  im  Staate  wichtig  ist,  nicht  mehr  durch  das  Parlament, 
sondern  durch  die  Regierung  geschieht,  wenn  Gesetze  von  der 
Regierung  gegeben  werden,  wenn  die  Verfassung  Tag  für  Tag  bei 
Seite  geschoben  und  in  den  Staub  getreten  wird?  Ist  ein  Staats- 
streich etwas  Schlimmeres  als  die  beständige  Verhöhnung  und  Ver- 
neinung dieser  Verfassung?  Wir  leben  in  einem  Zustande,  der  un- 
haltbar, unmöglich  ist,  der  den  Ekel  an  allen  öffentlichen  Angelegen- 
heiten in  jedem  denkenden  Menschen  heraufbeschwören  muß.  Sie 
werden  wahrscheinlich  die  Empfindung  haben,  daß  ich  dieser  Regie- 
rung zu  viel  Ehre  antue,  wenn  ich  meinte,  daß  sie  eine  so  vernünftige 
Sache  machen  wird,  wie  es  die  ist,  eine  Verfassung,  die  ab- 
gestorben, gemeingefährlich  und  schädlich  ge- 
worden ist,  zu  beseitigen  und  den  Boden  für  eine  neue 
Verfassung  zu  schaffen,  eine  Konstituante  einzuberufen 
und  zu  sagen :  „Das  alte  Haus  ist  unbrauchbar.  Bauen 
wirunseinneuesHau  s!"  Eine  so  vernünftige,  eine  so  selbst- 
verständliche Sache  kann  man  von  einer  österreichischen  Regierung 
nicht  erwarten.  Das  kann  man  doch  von  Leuten  nicht  erwarten, 

*)  Der  Thronfolger  Franz  Ferdinand  hatte  die  Vorstellung,  daß  man 
Ungarn  unterwerfen  müsse.  Diese  Auffassung  wurde  in  zahllosen  Versionen, 
meist  von  den  Christlichsozialen,  die  sich  als  die  Popularisierer  seiner  An- 
schauungen ansahen,  kolportiert.  So  soll  er  gesagt  haben:  „Wir  brauchen 
wieder  einen  Haynau!"  „Ungarn  muß  alle  hundert  Jahre  einmal  unterworfen 
werden!"   „Man   muß   in  Ungarn  einmarschieren!" 

Adler,  Briefe.  X.  Bd.  15 


226  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

die  uns  seit  Jahrhunderten  beherrschen  und  uns  an  alles  andere 
eher  gewöhnt  haben  als  an  Ehrlichkeit  und  Mut.  (Lebhafter 
Beifall.)  Das  wäre  eine  Überschätzung  derer,  die  uns  beherrschen. 
So  lange  noch  ein  anderer  Ausweg  bleibt,  und  sei  er  noch  so  blöd- 
sinnig, sei.  er  noch  so  verwerflich,  sei  er  politisch  noch  so  nieder- 
trächtig: ihn  wird  man  benützen.  Aber  es  kommt  die  Zeit,  wo  das 
nicht  mehr  geht,  wo  die  eiserne  Notwendigkeit  den  Wider- 
strebendsten  Verstand  und  Entschlossenheit  einpaukt.  Ich  habe 
keine  Hoffnung  auf  den  Verstand  der  Herrschenden.  Aber  ich  habe 
die  feste  Hoffnung  auf  die  innere  Logik  und  die  Notwendigkeit  der 
Dinge.  Die  Naturgesetze  und  die  Gesetze  der  Geschichte  bestehen 
doch  auch  für  dieses  Land.  Wir  können  zunächst  nichts  anderes 
tun  als  warten,  aber  diese  Zeit  müssen  wir  nützlich  ausfüllen  zur 
Aufklärung  der  Massen.  Es  wird  eine  Zeit  kommen,  wo  die  Arbeiter- 
schaft lauter,  leidenschaftlicher  und  energischer  sprechen  wird,  als 
es  heute  von  Nutzen  wäre.  (Lebhafter  Beifall.)  Heute  müssen  wir 
uns  sammeln  und  unsere  Kräfte  aufsparen.  Ich  sehe  es  als  ein  gutes 
Zeichen  an,  daß  wir  Sozialdemokraten  auch  heute  hier  zusammen- 
gekommen sind.  Vielleicht  gibt  es  Ihnen  wie  mir  etwas  Freude  und 
etwas  Hoffnung,  daß,  wenn  alles  in  diesem  Staate  wert  ist  zu  ver- 
schwinden, wenn  alles  verfault  und  zugrunde  geht,  wenn  nichts 
da  ist,  das  nicht  von  der  Korruption  und  der  Feigheit  zerfressen 
wird,  doch  in  diesem  Staate  eines  lebt  und  gesund  ist:  das 
kämpfende  Proletariat,  dem  alle  unsere  Hoffnungen  gehören.  (Leb- 
hafter Beifall.) 

Der  Wahlrechtskampf  beginnt. 

Böhmische  Landeskonferenz,  2  3.  Juli  1905*). 

Es  ist  für  mich  eine  ernste  Freude,  namens  der  Exekutive  der 
sozialdemokratischen  Partei  in  Österreich  den  böhmischen  Landtag 
des  Proletariats  begrüßen  zu  können,  der  fürwahr  mehr  das  Volk 

*)  Die  Landeskonferenz  der  Sozialdemokraten  Böhmens,  auf  der  Adler 
diese  Begrüßungsrede  hielt,  hat  am  23.  Juli  1905  im  Saal  der  Produkten- 
börse in  Prag  getagt.  Auf  der  Tagesordnung  stand  nur  die  Beratung  des 
Kampfes  für  das  Landtagswahlrecht.  Aber  über  alles  Erwarten  hinaus 
wurde  diese  Konferenz  die  Einleitung  des  Kampfes  nicht  nur  für  das  Land- 
tagswahlrecht, sondern  mehr  noch  für  das  Wahlrecht  zum  Reichsrat  und 
in  dieser  Hinsicht  eine  historische  Tagung.  Die  Bedeutung  der  Konferenz 
zeigte  sich  schon  in  der  starken  Beschickung.  541  Delegierte  —  304  Tsche- 
chen und  237  Deutsche  —  waren  erschienen;  aus  Wien  waren  für  die 
Parteiexekutive  Adler,  S  e  i  t  z  und  S  k  a  r  e  t  gekommen. 

Mit  den  Landtagen  hatte  es  seine  besondere  Bewandtnis.  Sie  waren 
noch  reaktionärere  Körperschaften  als  der  Reichsrat,  die  Landtagswahl- 
ordnungen noch  viel  engherziger  als  die  Reichsratswahlordnung.  In  den 
Landtagen  —  und  das  gilt  ganz  besonders  für  den  böhmischen  Landtag  — 
waren  die  Feudalen  geradezu  die  Herren.  Aus  ihren  Kreisen  wurde  vom 
Kaiser  der  Landmarschall  ernannt,  der  selbstherrlich  die  Tagesordnung 
bestimmte  und  ohne  ihre  Zustimmung  konnte  keine  Änderung  der  Landes- 


Der   Wahlrechtskampf  beginnt.  '££1 


Böhmens  repräsentiert  als  die  Clique,  die  sich  heute  diesen  Namen 
anmaßt.  Der  Kampf,  den  Sie  nun  wieder  aufnehmen,  ist  nicht  von 
heute   und   Sie   dürfen   nicht   holten,   daß   Sie   ihn    morgen    beenden 

Ordnung  vorgenommen  werden.  Der  böhmische  Landtag  zahlte  242  Ab- 
geordnete: davon  TU  ans  der  Kurie  des  ( iroßgrundbesitzes  (davon  wieder 
16  vom  fideikommissarischen  Großgrundbesitz),  87  ans  Städten  und 
Handelskammern,  7()  ans  den  Landgemeinden.  Außerdem  hatten  vier 
Bischöfe  und  zwei  Universitätsrektoren  im  Landtag  Sitz  und  stimme. 
Da  nun  zu  jeder  Änderung  der  Landesordnung  die  Anwesenheit  von 
mindestens  drei  Vierteln  aller  Abgeordneten  erforderlich  war,  hatten  es 
die  Großgrundbesitzer  in  der  Hand,  jede  Änderung  der  Wahlordnung  zu 
verhindern.  Nun  war  seit  einiger  Zeit  der  Landtag  durch  die  Obstruktion 
der  Deutschen  arbeitsunfähig  gemacht  und  die  Regierung  wollte  deshalb 
durch  Einführung  sogenannter  „nationaler  Kurien",  die  in  allen 
nationalen  Angelegenheiten  ein  Vetorecht  erhalten  sollten  (mit  ihnen  sollte 
übrigens  bezeichnenderweise  die  Großgrundbesitzerkurie  gleichberechtigt 
sein),  den  Frieden  im  Landtag  wieder  herstellen.  Aber  eine  Änderung  der 
Landesordnung  war  nicht  mehr  möglich,  ohne  daß  man  zugleich  auch  den 
Arbeitern  das  Wahlrecht  gab.  Seit  dem  Jahre  1897  besaßen  die 
Arbeiter  das  Wahlrecht  für  den  Reichsrat,  allerdings  bloß  in  der  Form 
der  fünften  Kurie.  Diese  fünfte  Kurie,  die  den  Arbeitern  ein  winziges  Stück- 
chen Recht  gab  und  sie  um  den  größten  Teil  ihres  Rechtes  betrog,  wollte 
man  nun  auch  in  die  Landtage  verpflanzen.  In  einigen  war  das  bereits 
geschehen.  Doch  hatte  K  ö  r  b  e  r  das  Prinzip  aufgestellt,  daß  die  fünfte 
Kurie  im  Landtag  doppelt  so  viel  Abgeordnete  haben  müsse,  als  sie  aus 
jenem  Lande  in  den  Reichsrat  entsendete.  Dadurch  wurden  auch  die 
riesigen  Wahlkreise  der  Reichsratskurie  verkleinert  und  die  Aussichten 
der  Arbeiter,  eine  Vertretung  im  Landtag  zu  erhalten,  vergrößert.  So  hatte 
zum  Beispiel  Steiermark  im  Reichsrat  vier  Abgeordnete  der  fünften  Kurie, 
darunter  keinen  einzigen  Sozialdemokraten,  im  Landtag  mit  acht  Wahl- 
kreisen zwei  Sozialdemokraten.  Aber  G  a  u  t  s  c  h  wollte  die  Arbeiter  selbst 
um  dieses  winzige  Recht  bringen;  und  er  hatte  deshalb  dem 
Landtag  von  Böhmen  eine  Vorlage  angekündigt,  die  der  allgemeinen  Kurie 
bloß  18  Mandate,  genau  so  viel,  wie  im  Reichsrat,  geben  wollte. 

Mit  diesem  Wechselbalg  hatte  sich  der  Landesparteitag  zu  befassen 
und  er  sagte  ihm  einstimmig  den  schärfsten  Kampf  an.  Die  Konferenz 
atmete  revolutionären  Geist.  Alle  Redner  sprachen  es  aus,  daß  diese 
Reform  nicht  Gesetz  werden  dürfe  und  daß  in  ganz  Böhmen  eine  große 
Wahlrechtsbewegung,  wie  sie  in  den  neunziger  Jahren  für  das 
Reichsratswahlrecht  durchgeführt  wurde,  nun  auch  für  das  Landtagswahl- 
recht einsetzen  müsse.  Im  Namen  der  Parteileitung  versprach  Dr.  Adler 
den  böhmischen  Genossen  die  stärkste  Unterstützung  der  ganzen  Partei, 
Seitz  die  Unterstützung  im  Parlament.  Wie  die  Wahlrechtsbewegung 
aussehen  werde,  darüber  wurde  der  Regierung  in  den  Reden,  wie  auch 
in  der  Resolution  kein  Zweifel  gelassen.  Schon  der  erste  Referent  Nemec 
(Prag,  tschechisch)  sagte:  „Wir  werden  um  unser  Recht  mit  den  Waffen 
kämpfen,  die  uns  die  Regierung  aufzwingt...  Mit  den  Argumenten 
der  Straße  werden  wir  den  Herren  in  die  Ohren  rufen,  daß  wir  das 
allgemeine,  gleiche  Wahlrecht  wollen."  Und  ebenso  deutlich  sprach  es  der 
deutsehe  Referent  Seliger  (Teplitz)  aus,  daß  die  böhmischen  Arbeiter 
nicht  nur  mit  Versammlungen,  mit  Zeitungsblättern  und  Flugschriften 
kämpfen  werden,  sondern  daß  sie,  wenn  es  notwendig  werden  wird,  auch 
auf  der  Straße  sich  ihr  Recht  zu  holen  gewillt  sind.  Auch 
die    Referenten    über    die    nun    einzuschlagende    Taktik,    Steiner    (Prag, 

15* 


228  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

werden.  Hier  in  Prag*)  haben  wir  im  Jahre  1896  über  die  Niedertracht 
der  Badenischen  Kurie  das  Urteil  gesprochen.  Wir  haben  gewarnt, 
wir  haben  genau  vorausgesehen,  welche  vergiftende  Wirkungen 
diese  fünfte  Kurie  haben  muß.  Wir  haben  vorausgesagt,  daß  sie 
nicht  nur  ein  Unrecht  an  der  arbeitenden  Klasse  ist,  sondern  daß 
der  Staat  selbst  daran  zugrunde  gehen  muß.  (Lebhafte  Zu- 
stimmung.) Aber  Herr  v.  Gautsch  ist  um  kein  Haar  besser,  als  es 
Badeni  war.  Unsere  Regierungen  haben  in  diesem  Moment,  wo  dieses 
Österreich  zusammenkracht,  wo  es  in  seinen  Wurzeln  erschüttert 
ist,  keine  andere  Sorge,  als  wie  hypnotisiert  auf  die  Interessen  einer 
Handvoll  Feudalen  hinzublicken,  und  ihre  ganze  Sorge,  wenn  sie 
darangehen,  dem  Lande  Böhmen  ein  neues  Wahlgesetz  zu  geben, 
ist,  daß  nur  um  des  Himmels  willen  das  Privileg  und  das  Veto 
dieser  Handvoll  Adeligen  nicht  tangiert  werde.  Das  ist  das  Ver- 
brechen dieser  österreichischen  Staatsmänner  ohne  Unterschied 
der  Nationalität.  Denn  die  Dummheit  ist  bei  uns  eine  internationale 
Einrichtung.  (Heiterkeit.) 

Der  Kampf,  den  Sie  führen,  ist  ein  Kampf,  der  wahrhaftig  nicht 
Böhmen  allein  angeht;  und  es  ist  kein  Zweifel,  daß  jede  politische 
Angelegenheit,  die  Böhmen  betrifft,  und  erst  recht  eine  solche 
Wahlordnung,  weit  hinaus  über  die  Grenzen  des  Landes  politische 
Bedeutung  hat.  Und  wenn  es  Ihnen  gelänge,  diese  Giftwurzel  der 
fünften  Kurie  wirklich  auszureißen,  ja,  wenn  es  Ihnen  nur  gelingen 
wird,  dieses  freche  Attentat,  das  die  Regierung  auf  die  Ehre  der 
böhmischen  Arbeiterschaft  vorhat,  mit  der  gebührenden  Ent- 
schiedenheit zurückzuweisen,  dann  haben  Sie  ein  Werk  getan  nicht 
allein  für  Böhmen,  sondern  dann  haben  Sie  für  uns  alle  in 
Österreich  gearbeitet.  (Lebhafter  Beifall.)  Wir  sind  den 
Wahlrechtskampf  gewöhnt,  gewöhnt,  hart  und  mühsam  und  immer 
wieder  kämpfen  zu  müssen;  aber  wenn  ein  solch  entscheidender 
Moment  kommt  wie  heute,  dann  darf  die  Arbeiterschaft  von  ihren 
Vertretern  erwarten,  daß  jeder  auf  seinem  Posten  sei  und  jeder 

tschechisch)  und  Schäfer  (Reichenberg,  deutsch)  kündigten  einen  er- 
bitterten Kampf   und  die  Argumente   der  Straße   an. 

Eine  Resolution  sagte  dann  den  schärfsten  Kampf  an. 

Am  24.  September  fand  bereits  auf  dem  fiavlicekplatz  in  Prag  eine 
Massenversammlung  statt,  in  der  unter  anderen  auch  Masaryk  sprach. 
Am  10.  Oktober  ruhte  in  ganz  Prag  die  Arbeit.  Nun  entschloß  sich  die 
Regierung,  die  Zahl  der  Mandate  zu  verdoppeln:  statt  18  sollte  die  all- 
gemeine Wählerklasse  36  Mandate  erhalten.  Aber  die  Arbeiter  waren 
damit  nicht  zu  beruhigen. 

Inzwischen  hatte  die  russische  Revolution  Fortschritte  gemacht 
und  Franz  Josef  hatte  am  8.  September  in  Ungarn  durch  K  r  i  s  t  o  t  f  y 
und  Fejervary  das  allgemeine  Wahlrecht  versprochen.  Es  kam  zu  der 
Reichskonferenz  vom  22.  September,  die  den  Kampf  für  das  allgemeine 
Wahlrecht  proklamierte.  (Siehe  dazu  die  Bemerkungen  bei  Adlers  Rede 
auf  der  Reichskonferenz,  Bd.  VIII,  Seite  254  ff.) 

*)  Auf  dem  Parteitag,  der  auf  der  Schützeninsel  in  Prag  vom  5.  bis 
11.  August  1896  stattfand.  (Siehe  Adlers  Rede  über  Badenis  Wahl- 
reform weiter  oben,  Seite  162  f.) 


Der  Wahlrechtskampf  beginnt.  229 


seine  Pflicht  tue.  Diese  Konferenz  -  eine  Konferenz,  wie  icli  noch 
keine  gesehen  habe,  seitdem  ich  in  der  Partei  hin  zeigt,  daß  Sie 
sich  der  Wichtigkeit  des  Moments  bewußt  sind.  (Beifall.)  Die  Regie^ 
rung  wird  uns  verstehen,  die  privilegierten  Parteien  werden  uns 
verstellen.  Und  wenn  sie  uns  nicht  verstehen  wollen,  dann  werden 
Sie  die  Mittel  finden,  ihnen  das  Verständnis  beizubringen.  In  diesem 
Sinne  begrüße  ich  Sie  und  wünsche  Ihren  Verhandlungen  und  dem 
Kampfe,  der  Ihnen  nun  bevorsteht,  vollen  Erfolg.  (Stürmischer  Hei- 
fall.) 

Gruß  an  die  russische  Revolution*). 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  wir,  nachdem  wir  die  Arbeit,  die 
uns  obliegt,  in  so  außerordentlich  zufriedenstellender  Weise  erledigt 
haben,  uns  auch  dessen  erinnern,  was  heute,  wo  immer  es  Prole- 
tarier gibt,  ihre  erste  Sorge  ist.  Uns  alle  beseelt  neben  der  täglichen 
mühseligen  Arbeit  ein  Gefühl  der  Sehnsucht  und  des  Wunsches, 
des  Qebetes,  wenn  wir  beten  könnten,  für  die  Revolution  in 
Rußland.  Seit  fünfzig  Jahren  und  länger  wird  dieser  Kampf  ge- 
führt und  die  Älteren  von  uns  werden  es  sich  gestehen  müssen,  daß 
wir  oft  daran  gezweifelt  haben,  ob  wir  diesen  Tag  erleben  werden, 
der  endlich  gekommen  ist,  den  Tag,  da  die  blutige  Regierung  des 
Zaren  erzittert  vor  dem  Schritte  der  Revolution.  Auch  die  Bürger- 
lichen haben  ja  sehr  viel  Sympathien  dafür,  daß  es  in  Rußland  zu 
etwas  Liberalismus  komme.  Was  die  aber  wollen  und  das,  was  jene 
wollen,  die  seit  einem  Menschenalter  ihr  Blut,  ihre  Freiheit,  ihr 
Leben  hinopfern,  die  in  den  Verließen  der  Peter-  und  Paulsfestung, 
in  den  Bleibergwerken  am  Ural,  in  den  Steppen  Sibiriens  zugrunde 
gehen:  das  ist  ein  ganz  anderes  Ideal.  Und  nicht  bloße  Sympathie 
ist  es,  was  wir  den  Russen  und  Polen  in  ihren  Kämpfen  entgegen- 
bringen. Es  ist  unser  Herzblut,  das  mit  ihnen  ist . . .  Es  ist  das  glor- 
reichste Schauspiel,  das  wir  erleben  konnten,  und  es  ist  hoffentlich 
der  Beginn  einer  neuen  Zukunft  für  Europa.  (Stürmischer  Beifall.) 


*)  Nachdem  die  Resolution  über  den  Wahlrechtskampf  unter  großem 
Jubel  einstimmig  beschlossen  worden  war,  legten  Adler  und  Johanis 
(tschechisch)  folgende  Resolution  vor: 

Die  Vertreter  des  Proletariats  Böhmens  beider  Nationen  blicken  mit 
leidenschaftlicher  Bewunderung  und  aller  Hoffnung 
ihres  Herzens  auf  das  revolutionäre  Proletariat  Ruß- 
lands und  Polens,  das  jenen  heldenmütigen  Kampf  gegen  den 
blutigen  Zarismus  führt,  der  die  Stütze  und  der  Verbündete  aller  Unter- 
drücker der  Völker  Europas  ist. 

Die  Sozialdemokraten  Böhmens  senden  ihren  russischen  und  pol- 
nischen Genossen  innigsten  Gruß  brüderlicher  Solidari- 
tät. 

Auch  diese  Resolution  wurde  unter  den  Rufen  „Hoch  die  Revo- 
lution!" einstimmig  beschlossen  und  dann  die  Konferenz  geschlossen. 
(Siehe  auch  die  Rede,  die  Adler  beim  Ausbruch  der  russischen  Revolution 
«ehalten  hat,  Bd.  VIII,  Seite  271  ff.,  sowie  später  die  Rede  vom  21.  Jänner 
1900,  dem  (i  e  d  e  n  k  t  a  g  der  Revolution",  und  schließlich  auch  die 
vom   17.  März  1917  beim  Ausbruch  der  zweiten  Revolution.) 


230  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Vor  120  Jahren  hat  die  Revolution  im  Westen  begonnen;  heute 
beginnt  eine  revolutionäre  Ära  im  Osten.  Es  ist  ein  geschichtlicher 
Moment  und  es  kann  keine  Versammlung  von  Sozialdemokraten 
geben,  die  sich  dieses  Moments  und  der  Verpflichtung,  die  das 
Proletariat  ihm  gegenüber  hat,  nicht  bewußt  wäre.  (Neuerlicher  Bei- 
fall.) 

Gautsch  und  die  ungarische  Wahlreform. 

Wählerversammlung,  11.  September  190  5. 

Die  Aufforderung,  in  diesem  Bezirk  in  den  Wahlkampf*)  zu 
treten,  ergeht  in  einem  politisch  bedeutsamen  Moment.  Niemals 
vielleicht    mehr    als    heute    war    es    nötig,  daß  im  Parlament  die 

*)  Am  9.  September  hatte  der  ungarische  Minister  des  Innern,  Josef 
K  r  i  s  t  o  f  f  y,  vor  seinen  Wählern  in  Nemet-Bogsan  in  einer  Rede 
als  das  einzige  Mittel,  Ordnung  in  die  ungarische  Krise  zu  bringen,  das 
allgemeine  Wahlrecht  hingestellt.  In  Ungarn  hatte  nämlich  am  Ende  des 
vorigen  Jahres  die  Opposition  der  Unabhängigkeitspartei  das  Parlament 
mit  Gewalt  zerstört,  worauf  der  größenwahnsinnige  Ministerpräsident,  Graf 
Stephan  T  i  s  z  a,  in  der  Überzeugung,  die  Opposition  zu  zerschmettern, 
das  Parlament  aufgelöst  hatte.  Ja  er  soll  in  dem  Vertrauen  auf  seine 
zaubergewaltige  Erscheinung  zum  Teil  sogar  auch  die  Anwendung  des  in 
Ungarn  üblichen  Mittels  der  Wahlbeeinflussung  eingeschränkt  haben.  Das 
Ergebnis  war,  daß  neben  151  Liberalen  (Anhängern  Tiszas)  159  Mitglieder  der 
48er-Unabhängigkeitspartei  Kossuths  und  82  andere  Oppositionelle  gewählt 
wurden.  Da  die  Regierung  also  in  der  Minderheit  war,  mußte  Tisza  zurück- 
treten. Zum  Präsidenten  wurde  der  Führer  der  Unabhängigkeitspartei 
J  u  s  t  h  gewählt.  Aber  eine  Regierung  aus  den  Parteien  der  koalierten 
Opposition  zu  bilden,  war  nicht  möglich,  da  sie  nicht  nur  die  Zolltrennung 
von  Österreich,  sondern  auch  die  selbständige  ungarische  Armee,  zunächst 
die  ungarische  Kommandosprache  bei  den  ungarischen  Regimentern  ver- 
langte. 

Verhandlungen  des  Kaisers  mit  dem  Grafen  Andrassy  als  dem  Ver- 
trauensmann der  Koalition  zerschlugen  sich  und  als  am  2.  Juni  mit  großer 
Mehrheit  ein  Antrag  Kossuth  auf  Schaffung  eines  autonomen  ungarischen 
Zolltarifs  beschlossen  wurde,  betraute  Franz  Josef  den  früheren  Honved- 
minister  (Minister  der  ungarischen  Landwehr)  und  General  der  kaiser- 
lichen Trabantenleibgarde,  den  greisen  Baron  Geza  F  e  j  e  r  v  a  r  y  (er  ist 
1833  geboren  und  ist  1914,  kurz  vor  dem  Kriege,  gestorben),  mit  der  Bildung 
eines  Kabinetts.  Dieser  konnte  aber  keine  Politiker  für  sein  Ministerium 
gewinnen,  sondern  nur  ungarische  Beamte,  unter  ihnen  als  Minister  des 
Innern  den  Obergespan  Kristoffy,  einen  Mann  von  altem  ungarischen 
Adel,  der  aber  in  der  Staatsverwaltung  den  unheilvollen  Einfluß  der  unga- 
rischen Aristokratie  kennengelernt  hatte,  die  die  ganze  staatliche  und  auto- 
nome (Komitats-)  Verwaltung  beherrschte.  Obwohl  ein  von  Fejervary 
verlesenes  königliches  Handschreiben  erklärte,  die  Regierung  solle  nur 
die  Bildung  eines  parlamentarischen  Ministeriums  vorbereiten,  wurde  er 
von  allen  Parteien,  auch  von  den  Liberalen,  abgelehnt.  Das  Parlament  be- 
schloß ein  Mißtrauensvotum,  worauf  Fejervary  das  Parlament  vertagte. 
Die  Koalition  erklärte  darauf  die  Regierung  für  verfassungswidrig  und  die 
städtischen  Munizipien  und  die  ländlichen  Komitate  beschlossen,  der  ver- 
fassungswidrigen   Regierung    die    Steuern    und    Rekruten    zu  verweigern. 


Gautsch  und  die  ungarische  Wahlreform.  231 

Stimme  der  sozialdemokratischen  Arbeiterschaft  gehört  wird.  In 
dem  hoffnungslosen  Sumpf  bewegt  es  sich  endlich  und  es  sieht  aus, 
als  oh  es  zu  einer  Entscheidung  kommen  könnte.  Dem  Schwindel 


Unter  diesen  Umständen  hielt  Kristoffy  seine  Rede,  in  der  er  erklärte,  daß 
die  sozialen  Ideen  die  staatsrechtlichen  ersetzen  sollten  und  darum  das  all- 
gemeine Wahlrecht  eingeführt  werden  solle. 

Die  Rede  hatte  den  Wahlrechtskampf  der  ungarischen  Arbeiter  von 
neuem  entflammt,  zugleich  aber  auch  den  der  österreichischen  Arbeiter, 
zumal  da  man  erfuhr,  daß  der  österreichische  Ministerpräsident  Baron 
Qautsch  am  10.  September  im  Kronrat  in  Ischl  gegen  die  Einführung 
des  allgemeinen  Wahlrechts  in  Ungarn  wegen  der  Rückwirkung  auf 
Österreich  Einspruch  erhoben  habe. 

Man  hörte  auch,  daß  Fejervary  seine  Demission  überreicht  hatte  und 
wußte  nicht,  ob  sie  angenommen  werde. 

Wie  die  Auffassung  in  Österreich  war,  kann  man  daraus  ersehen,  daß 
die  „Arbeiter-Zeitung"  noch  in  der  Nummer  vom  13.  September,  als  die 
Koalition  bereits  den  Antrag  eingebracht  hatte,  die  Regierung  in  den  An- 
klagezustand  zu  versetzen,  schrieb: 

„Der  Kaiser  hat  die  Vorschläge  seiner  ungarischen  Regierung  heute 
endgültig  abgelehnt  und  die  Regierung  Fejervary  hat  die  Konsequenzen 
gezogen :  ihre  Demission  ist  überreicht  und  ange- 
nommen. Bekanntlich  ist  Fejervary  noch  gestern  nach  Wien  ge- 
kommen, um  dem  Kaiser  über  die  Beschlüsse  des  Vormittags  abge- 
haltenen Ministerrates  zu  berichten.  Daß  die  Beschlüsse  eingeholt 
wurden,  deutet  darauf  hin,  daß  der  Kaiser  seinen  Ministern  angesonnen 
hat,  den  durch  die  Rede  des  Ministers  des  Innern  so  feierlich  prokla- 
mierten Standpunkt  aufzugeben,  also  entweder  in  die  Entstellung  oder 
Verschleppung  der  Wahlreform  zu  willigen.  Die  Minister  haben  das  ab- 
gelehnt —  wir  glauben:  mit  sehr  entschiedenen  Worten  —  und  Fejer- 
vary bevollmächtigt,  im  Falle  der  Weigerung  der  Krone,  der  Reform 
des  allgemeinen  und  gleichen  Wahlrechtes  die  Zustimmung  zu  geben, 
dem  Kaiser  das  Demissionsgesuch  zu  unterbreiten.  Dazu  haben  sie  auch 
wirklich  guten  Grund  gehabt,  denn  es  steht  so  ziemlich  fest,  daß  der 
Kaiser  das  Reformprogramm  in  Ischl  angenommen,  für  das  Wahl- 
reform g  e  s  e  t  z  die  Vorsanktion  gegeben,  seine  Ent- 
scheidung aber  nun,  als  Wirkung  des  Einspruches  des  Gautsch,  zurück- 
nimmt. Auch  heute  wurde  Fejervary  erst  dann  vor  den  Kaiser  gelassen, 
nachdem  Gautsch  Audienz  gehabt,  also  Gelegenheit  hatte,  seine  Hetze 
gegen  die  ungarische  Reform  zu  wiederholen.  Nach  Fejervary  kam  dann 
Graf  Goluchowski  zu  Worte,  der  gleichfalls  seine  „Ratschläge"  er- 
neuerte. Mittlerweile  war  Fejervary  bei  dem  Chef  der  Kabinettskanzlei 
Freiherrn  v.  Schießl.  Nachmittags  erschien  er  zur  zweiten  Audienz,  wo 
dann  die  Ablehnung  der  Reform  entschieden  wurde.  Baron  Fejervary 
überreichte  nun  die  Demission  seines  Kabinetts  und  der  Kaiser  nahm 
sie  an.  Baron  Fejervary  reist  erst  morgen  nach  Budapest  zurück;  ob 
er  im  Abgeordnetenhaus  erscheinen  wird,  ist  nicht  sicher.  Noch  weniger 
wahrscheinlich  ist  es  von  den  übrigen  Ministern;  diese  sollen  ent- 
schlossen sein,  die  Mitteilung  von  ihrem  Rücktritt  dem  Präsidenten 
„durch  einen  Dienstmann"  zuzuschicken. 

Was  jetzt  kommen  wird,  ist  klar.  Da  die  Krone  durch  Lukacs  mit 
der  Koalition  bereits  verhandeln  ließ,  so  wird  die  Geschichte  nun  sehr 
rasch  vor  sich  gehen:  die  Koalitionsführer  wurden  schon  heute  geladen 
und   sie    werden    vielleicht   noch   vor   Freitag   in   Wien   sein.   Die   Krone 


232  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

des  Dualismus  ein  Ende  zu  machen  und  damit  die  Vorbedingung 
zu  schaffen  für  die  Erfüllung  unserer  historischen  Aufgabe,  den 
Kampf  gegen  den  kapitalistischen  Staat,  das  ist  heute  unsere  erste 
Pflicht.  Wir  haben  uns  nie  an  dem  demagogischen  Kampfe  gegen 
Ungarn  beteiligt,  wie  ihn  die  Christlichsozialen  betrieben  haben; 
aber  wir  wünschen  die  staatsrechtliche  Trennung  von  Ungarn,  um 
dann  eine  vernünftige  wirtschaftliche  Verbindung  einzugehen.  Aber 
was  die  Dynastie  und  die  ihr  Nahestehenden  wollen,  ist  das  Umge- 
kehrte.    Die     wirtschaftliche     Übervorteilung     Österreichs     durch 


erhält  den  „Verzicht"  auf  die  magyarische  Kommandosprache  und  die 
Koalition  wird  von  dem  Gespenst  des  allgemeinen  und  gleichen  Rechtes 
befreit.  Und  es  wird  wieder  Eljen!  gerufen  werden,  der  König  der  ge- 
liebte Herrscher  und  die  koalierten  Rebellen  die  treuen  Ungarn  sein. 
Was  die  Hauptsache  ist  und  war." 

Das  war  damals  noch  nicht  richtig.  Franz  Josef  hielt  noch  einige  Zeit 
an  Fejervary  fest  und  verriet  die  Wahlreform  erst  später  an  die  Koalition. 

—  Siehe  im  achten  Band  dieser  Schriften  Adlers  Reden  auf  den  beiden 
Reichskonferenzen,  vom  22.  September  („D  ie  verratenen  Ungar  n", 
Bd.  VIII,  Seite  254 ff.)  und  vom  27.  September  1908  („Das  Ende  des 
cäsaristischen  Traume  s",  Bd.  VIII,  Seite  258  ff.)  sowie  die  dazu- 
gehörigen erläuternden  Bemerkungen  in  der  Fußnote.  Ladislaus  L  u  k  a  c  s, 
von  dem  in  den  Bemerkungen  der  „Arbeiter-Zeitung"  als  Vermittler  gegen 
die  Wahlreform  die  Rede  ist,  ist  im  Jahre  1912,  nach  dem  Mißlingen  der 
Gewaltregierung  des  Grafen  Khuen-Hedervary,  Ministerpräsident  ge- 
worden, um  das,  was  Khuen  mit  Gewalt  nicht  durchzusetzen  vermochte 

—  nämlich  die  Bewilligung  der  habsburgischen  Militärforderungen  — ,  mit 
List  und  Korruption  zu  erreichen.  Aber  die  Unabhängigkeitspartei  ging  ihm 
nicht  in  die  Falle.  Am  18.  September  1912  erklärte  der  ehemalige  Staats- 
sekretär im  Finanzministerium,  Abgeordneter  Zoltan  D  e  s  y,  der  Vize- 
präsident der  Kossuth-Partei,  öffentlich,  daß  der  Ministerpräsident  Lukacs 

—  der  auch  in  einer  anonymen  Broschüre  zahlreicher  privater  Korruptions- 
affären beschuldigt  worden  war,  ohne  den  Mut  zur  Klage  zu  haben  — ,  der 
„größte  P  a  n  a  m  i  s  t"  sei.  Diese  Beschuldigung  belegte  er  mit  einer 
ganzen  Menge  von  Tatsachen.  Am  3.  Juni  1913  wurde  D  e  s  y  vom  Buda- 
pester Strafgerichtshof  mit  der  Begründung  freigesprochen,  daß  er  den 
Wahrheitsbeweis  erbracht  habe,  und  obwohl  sich  Franz  Josef  be- 
mühte, ihn  zu  halten,  mußte  Lukacs  zurücktreten  und  zu  seinem  Nach- 
folger wurde  Graf  Stephan  T  i  s  z  a  ernannt. 

Die  Versammlung  in  Hambergers  Saal  in  Margareten,  in  der  Adler 
sprach,  war  eigentlich  eine  Wählerversammlung.  Es  mußten  nämlich  nach 
dem  verstorbenen  Wiener  Vizebürgermeister  Strobach  in  der  Zensus- 
kurie in  Margareten  für  den  Reichsrat  und  auf  dem  Aisergrund  für  den 
Landtag  Nachwahlen  vorgenommen  werden.  In  Margareten  kandidierte 
gegen  den  Christlichsozialen  Professor  Sturm  von  den  Sozialdemokraten 
R  e  u  m  a  n  n,  auf  dem  Aisergrund  gegen  den  Pater  W  o  1  n  y  der  Sozial- 
politiker Z  e  m  a  n  n,  der  auch  von  den  Sozialdemokraten  unterstützt  wurde. 
Bei  den  Wahlen  am  10.  Oktober  wurde  Sturm  mit  5184  Stimmen  gewählt; 
Reumann  erhielt  immerhin  3216  Stimmen.  In  den  Landtag  wurde  Pater 
Wolny  mit  6006  gegen  2301  Stimmen  gewählt. 

Adler  sprach  natürlich  vornehmlich  über  die  Versuche  des  Barons 
Gautsch,  die  Wahlreform  in  Ungarn  zu  verhindern. 

Gautsch  war  am  31.  Dezember  1904,  nach  Körbers  Rücktritt,  an  die 
Spitze  der  Regierung  getreten. 


Qautsch  und  die  ungarische  Wahlreform.  233 

Ungarn  geniert  sie  niclit  im  geringsten.  Sic  interessiert  das,  was 
wir  nicht  wollen:  das  Phantom  der  Großmacht,  der  unsere  Kinder 
und  unser  (ield  geopfert  werden,  die  große  einheitliche  Armee. 
Wenn  wir  ein  wirkliches  Volksparlament  hatten,  das  sich  darum 
auch  seiner  Kraft  bewußt  wäre,  dann  wäre  die  notwendige 
Trennung  der  siamesischen  Zwillinge  längst  vollzogen.  Wir  haben 
aber  nur  Parteien,  die  heulen  können,  aber  nicht  handeln,  die  immer 
ihren  Blick  nach  oben  richten  und  sich  um  keinen  Preis  mit  der 
Ungnade  von  oben  beladen  wollen. 

Der  Konflikt  der  Krone  mit  Ungarn  hat  sich  so  zugespitzt,  daß 
es  schließlich  um  ein  Symbol,  die  Kommandosprache,  geht.  Da 
kommt  nun,  da  der  Karren  nicht  weiter  kann,  ein  Ministerpräsident, 
der  in  einer  verzweifelten  Situation  die  Regierung  angetreten  hat, 
und  mit  ihm  ein  Mann  als  Minister,  den  man  bisher  nicht  kannte, 
und  es  passiert  etwas  Wunderliches.  Ein  ungarischer  Minister,  der 
von  der  Krone  ernannt  ist,  spricht  wie  ein  vernünftiger  Politiker. 
Der  Mann  sagt,  die  militärischen  Forderungen  seien  die  Sorgen 
einer  dünnen  herrschenden  Schicht,  und  der  Konflikt  könne  nur 
dadurch  beigelegt  werden,  daß  man  die  ernsten  Interessen  der 
Bevölkerung  erfüllt.  Es  schien  sehr  vernünftig,  daß  es  hieß:  „Wir 
wollen  appellieren  an  den  Willen  des  Volkes!"  Aber  darum 
war  es  nicht  glaubhaft. 

Kristoffy  hat  als  Privatmann  vom  allgemeinen  Wahlrecht 
gesprochen.  Die  ungarischen  Sozialdemokraten  haben 
ihn  natürlich  als  Minister  beim  Worte  genommen  und  sie  haben  mit 
Recht  gesagt :  „Nun  istunsereForderungvonbeiden 
streitenden  Parteien  anerkannt,  vom  Minister  und 
längst  schon  von  den  radikalen  Parteien  der  Koalition,  die  sich 
rühmten,  die  wahren  Volksparteien  zu  sein!"  Die  ungarischen 
Sozialdemokraten  verlangten  die  Erfüllung  ihrer  Forderung  und 
sie   haben    einen   mannhaften  Kampf   um  ihr  Recht   unternommen. 

Ich  gestehe  nun,  daß  ich  nie  ernstlich  geglaubt  habe,  daß  in 
Wien  die  entscheidenden  Faktoren  einen  lichten  Moment  haben 
können,  der  länger  dauert  als  eben  einen  Moment.  Ich  glaube  heute 
noch  nicht,  daß  Kristoffy  offizielle  Erlaubnis  gehabt  hat,  vernünftige 
Politik  zu  machen.  Vielleicht  war  es  aber  doch  so.  Vielleicht  konnte 
man  in  der  ärgsten  Not,  die  so  oft  beten  lehrt,  statt  des  Gebetes 
ein  Gran  politischer  Vernunft  produzieren.  In  diesem  Moment  ist 
nun  die  österreichische  auf  den  Plan  getreten  und  hat  geschrien: 
Es  besteht  große  Gefahr  für  Österreich.  In  Ungarn  soll  etwas  Ver- 
nünftiges geschehen.  Das  ist  die  Gefahr,  daß  sich  Recht  und 
Vernunft  ausbreiten  wie  eine  Seuche,  über  die  Leitha  kommen  und 
unser  ältestes  Gerumpel  wegraffen.  Herrn  G  a  u  t  s  c  h,  den  alten 
Theresianisten*)  —  wir  haben  zwei  gemeingefährliche  Erziehungs- 
institute in  Österreich:  das  Theresianum  und  Kalksburg,  sie  liefern 
die  politischen  Jesuiten    und  die  jesuitischen  Politiker  — ,    diesen 

*)  Qautsch  war  Direktor  des  Theresianums  gewesen,  der  Anstalt,  an 
der  die  langen  Adeligen  erzogen  wurden.  In  Kalksburtf  war  ein  Jesuiten- 
konvikt  mit  einem  von  ihnen  geleiteten  Gymnasium. 


234  Der  Sic«  des  gleichen  Wahlrechts. 

Gautsch  kennen  wir  lange.  Er  hat  als  Unterrichtsminister  die  Volks- 
schule im  Kleinverschleiß  an  die  Pfaffen  ausgeliefert.  Vielleicht  ist 
er  ein  „Liberaler"  wie  die  alten  Bürokraten,  aber  er  ist  weich 
und  biegsam,  wenn  die  hochwürdigen  Herren  und  die  Magnaten 
kommen.  Man  hört  ihn  förmlich,  wie  er  alleruntertänigst  das  alte 
Gewissen  wachruft  mit  der  Frage:  „Was  werden  die  Erzbischöfe 
und  die  Magnaten  dazu  sagen?"  Der  Mann  ist  zu  allem  zu 
brauchen.  Er  hat  die  Taaffesche  Wahlreform  mit  eingebracht  und 
er  konnte  dann  ohne  Wahlreform  wieder  Minister  sein*).  Er  kann  es 
rechts  und  er  kann  es  links.  Die  blöden  nationalen  Deutschen 
heißen  ihn  ihren  Mann  und  die  blöden  nationalen  Tschechen  den 
ihren  und  er  foppt  sie  beide.  Sein  Wort  hat  viel  vermocht,  denn  in 
ihm  verkörpert  sich  alles,  was  volksfeindlich,  was  reaktionär  ist. 
Dieselbe  Regierung,  die  sich  jedesmal  vor  Ungarn  ins  Mauseloch 
verkrochen  hat,  wagt  jetzt  eine  Einmischung,  zu  der  sie  zugunsten 
der  wirklichen  Interessen  Österreichs  nie  den  Mut  gefunden  hätte, 
zugunsten  der  reaktionären  Niedertracht.  (Lebhafter  Beifall.) 

Drüben  steht  es  genau  so.  Kossuth  und  Apponyi,  die  großen 
revolutionären  Helden,  die  einen  Höllenlärm  anfingen,  wenn  ihre 
wirtschaftlichen  Vorteile  durch  Einmischung  Österreichs  bedroht 
würden,  greifen  gierig  nach  der  Hand  des  schwarzgelben  Gautsch, 
weil  er  der  Träger  der  Reaktion,  der  Träger  der  Privilegien  ist. 
Wir  kennen  Gautsch.  Er  hat  sich  enthüllt  als  Feind  des  Rechtes  der 
Arbeiter  durch  die  Impertinenz  seiner  böhmischen  Landtagswahl- 
reform. Und  weil  er  der  Feind  unseres  Rechtes  ist,  tritt  er  den 
Ungarn  in  den  Weg. 

Gautsch  sagt,  man  dürfe  keine  Wahlreform  in  Ungarn  inachen, 
weil  sonst  die  radikalen  Elemente  in  Österreich  eine  Umwälzung 
herbeiführen  würden.  Er  irrt  sich,  wenn  er  glaubt,  daß 
das  allein  von  ihm  abhängt.  Gewiß,  es  wäre  eine 
Förderung  unseres  Kampfes,  wenn  es  in  Ungarn  zu  einem  Fort- 
schritt käme.  Aber  er  wird  kommen  trotz  Gautsch  und 
Kossuth.  Mit  dem  Wahlrecht  spielt  man  nicht,  und  ist  die  Katz' 
aus  dem  Sack,  ist  es  schwer,  sie  wieder  ganz  einzufangen.  (Leb- 
hafte Zustimmung.)  Wir  in  Österreich  warten  nur  auf  den  Moment, 
der  uns  günstig  ist,  und  wir  werden  den  Moment  für  den  Einsatz 
unserer  ganzen  Kraft  so  wählen,  daß  auch  das  Ziel  erreicht 
werden  kann.  (Stürmischer  Beifall.) 

In  einer  solchen  Zeit  ist  es  nötig,  daß  keine  Gelegenheit  ver- 
säumt wird,  um  dem  Willen  des  arbeitenden  Volkes  Ausdruck  zu 
geben,  und  daß  jeder,  der  es  kann,  seine  Stimme  abgebe  für  eine 
klare  und  rücksichtslose  Politik,  nicht  für  die  christlichsoziale 
zweideutige  und  heuchlerische.  Genossen,  Sie  werden  mit  den 
Christlichsozialen  zu  kämpfen  haben,  also  nicht  mit  Leuten,  die  mit 
Prinzipien,  mit  der  Kraft  der  ehrlichen  Überzeugung  streiten, 
sondern  mit  Leuten,  die  entschlossen  sind,  jeden  Kniff  und  jede 
niedrige  Umgehung   und  jeden  Terrorismus  zu  üben.  Ich  kann  Sie 

*)  Gautsch  war  im  Ministerium  des  Grafen  Taaffe  Unterrichtsminister 
gewesen  und  dann  wieder  im  Ministerium  Badeni. 


im  Zeichen  des  ersten  Sieges.  235 

nur  bitten,  machen  Sic  am  10.  Oktober  l:lirc  der  Partei  und  Ehre 
dem  alten,  erprobten  Genossen,  der  Ihr  Kandidat  ist.  (Lebhalter 
Beifall.) 

Im  Zeichen  des  ersten  Sieges. 

Versammlung  im  Sofie  ns  aal  am  2  4.  Oktober  190  5*). 

Vor  allem  spreche  ich  Ihnen  meinen  herzlichen  Dank  aus  für 
die  Freude,  die  Sie  über  meine  Wahl  zum  Abgeordneten 
haben.  (Hochrufe.)  Auch  ich  freue  mich,  nicht  wegen  des  Amtes, 
das  ich  übernehme,  sondern  auch  deshalb,  weil  die  Wahl  eine 
machtvolle  Demonstration  der  Arbeiter  Nordböhmens  —  dieser 
erprobten  Kerntruppen  der  internationalen  Sozialdemokratie  —  für 

*)  Am  18.  Oktober  1905  wurde  Dr.  Adler  im  Reichenberger  Wahlkreis 
der  fünften  Kurie  mit  30.096  gegen  13.881  alldeutsche  und 
4860  christlichsoziale  Stimmen  gewählt,  nachdem  Josef  H  a  n  n  i  c  h.  um  in 
dem  bevorstehenden  Endstadium  des  Wahlrechtskampfes  Adlers  Mitarbeit  an 
dem  parlamentarischen  Kampf  zu  ermöglichen,  das  Mandat  zurückgelegt 
hatte.  (Hannich  wurde  nach  der  Erringung  des  Wahlrechtes  im  Wahlkreis 
Rumburg  in  das  Parlament  gewählt.) 

Nachdem  am  22.  September  die  sozialdemokratische  Reichskonferenz 
den  schärfsten  Kampf  für  das  allgemeine  Wahlrecht  beschlossen  hatte, 
fanden  in  ganz  Österreich  große  Wahlrechtskundgebungen  statt.  (Siehe 
Bd.  VIII,  Seite  254  ff.) 

Am  26.  September  trat  das  Abgeordnetenhaus  wieder  zusammen  und 
hier  bestritt  Gautsch,  der  von  den  Sozialdemokraten  mit  einem  Sturm  der 
Entrüstung  empfangen  wurde,  daß  er  sich  im  Kronrat  gegen  die  ungarische 
Wahlreform  ausgesprochen  habe.  Er  erklärte,  er  sei  kein  prinzipieller 
Gegner  der  Erweiterung  des  Wahlrechtes,  halte  aber  die  Einführung  des 
allgemeinen  Wahlrechtes  „mit  Rücksicht  darauf,  daß  das  allgemeine  Wahl- 
recht, wenn  es  die  Gewähr  seines  Bestandes  in  sich  tragen  solle,  nur  auf 
der  festen  und  dauernden  Unterlage  einer  Ordnung  unserer  nationalen 
Verhältnisse  ruhen  kann",  zurzeit  für  unmöglich.  Die  Sozialdemokraten 
(Daszynski  und  Genossen),  aber  auch  die  slawischen  Abgeordneten, 
und  zwar  der  Jungtscheche  P  a  c  a  k,  der  tschechische  Nationalsozialist 
C  h  o  c,  der  Slowenischklerikale  S  u  s  t  e  r  s  i  c,  der  polnische  Demokrat 
Breiter,  hatten  sofort  Dringlichkeitsanträge  für  das  allgemeine,  gleiche 
Wahlrecht  eingebracht.  Nachdem  die  Debatte  über  die  Erklärung  des 
Ministerpräsidenten  zu  Ende  gegangen  war,  begann  am  5.  Oktober  die 
Verhandlung  der  Dringlichkeitsanträge,  zu  denen  auch  noch  ein  Antrag 
Dr.  Ebenhoch  für  die  deutschen  Klerikalen  („Katholische  Volkspartei") 
gekommen  war.  Dieser  forderte  die  Regierung  auf,  „ungesäumt  Studien 
zu  machen  und  Erhebungen  zu  pflegen,  welche  zum  Ziele  haben,  an  die 
Stelle  der  gegenwärtigen  ungerechten  Wahlordnung  ehemöglichst  einen 
Gesetzentwurf  betreffend  die  Einführung  des  allgemeinen,  geheimen  und 
direkten  Wahlrechtes  mit  Berücksichtigung  der  nationalen,  kulturellen, 
wirtschaftlichen  und  sozialen  Verschiedenheiten  Österreichs  vorzulegen. 
{Über  die  Debatte  siehe  auch  Bd.  VIII,  Seite  255,  Anmerkung.) 

Am  6.  Oktober  wurde  abgestimmt.  Die  Dringlichkeit  —  das  ist  die 
sofortige  Verhandlung  der  Anträge  —  zu  deren  Annahme  die  Zweidrittel- 
mehrheit notwendig  gewesen  wäre,  wurde  zwar  abgelehnt.  Aber  immerhin 


236  Der  Sie;;  des  gleichen  Wahlrechts. 

das    gleiche  Wahlrecht    war.    Im    Zeichen  des    gleichen 

Wahlrechts     haben    wir    den    Wahlkampf  geführt     und     im 

Zeichen  des  gleichen  Wahlrechts  werden  wir  im  Reichsrat  den 
Kampf  führen.   (Beifall.) 

Der  Kampf  ist  uns  nicht  neu.  Seitdem  es  eine  Sozialdemokratie 
in  Österreich  gibt,  hat  sie  für  das  allgemeine,  gleiche  Wahlrecht 
kämpfen  müssen,  und  hier  in  diesem  Saale  haben  wir  allen  Anlaß, 
uns  jener  stolzen  Kämpfe  zu  erinnern,  die  wir  in  den  neunziger 
Jahren  geführt  haben.  Freilich,  dieser  Kampf  hat  nicht  zu  dem 
Ziele  geführt,  das  wir  wollten.  In  Österreich  siegt  die  Vernunft 
nicht  leicht  und  die  Unvernunft  ist  nicht  leicht  umzubringen.  Aber 
das  bißchen,  das  wir  erkämpft  haben,  haben  wir  allein  erkämpft, 
allein  gegen  eine  Welt  von  Gegnern,  gegen  eine  Welt  von  Dumm- 
heit, von  protzenhafter  Borniertheit,  von  eingenisteten  Vorurteilen. 
Heute  stehen  die  Dinge  anders.  Hier  an  dieser  Stelle  haben  wir 
die  Wahlreform  des  Grafen  Taaffe  verurteilt*)  und  wir  haben  hier 
vorausgesagt,  daß,  wer  nicht  den  Mut  hat,  das  Kuriensystem  von 
Grund  aus  auszurotten,  nicht  imstande  ist,  aus  Österreich  einen 
vernünftigen,  einen  erträglichen  Staat  zu  machen.  Die  Wahlreform 
des  Jahres  1893  war  von  Anbeginn  eine  halbe  und  sie  wurde  im 
Jahre  1896  aus  einer  halben  zu  einer  verpfuschten  Viertelreform. 
Für  uns  war  diese  fünfte  Kurie  nie  mehr  als  eine  Waffe,  um 
weiter  zu  kämpfen,  und  ein  Redner  hat  damals  auf  dem  Partei- 
tag gesagt:  Mit  einem  Eselskinnbacken  hat  Simson  die  Philister 
geschlagen,  so  mag  uns  denn  auch  diese  fünfte  Kurie  als  eine 
solche  Waffe  dienen.  Wir  haben  diese  Waffe  ausgenützt.  Wir  haben 
den  Widerstand,  wir  haben  die  Einsicht  und  Kraft  des  Proletariats 
gesteigert.  Aber  der  Weg  zum  Ziele  hängt  nicht  allein  von  unserer 
Kraft  ab,  sondern  auch  von  der  sinkenden  Macht  der  Gegner.  Wenn 
wir  Fortschritte  gemacht  haben,  so  hat  noch  mehr  Fortschritte 
gemacht  die  Zersetzung,  die  Fäulnis  des  Staates.  Die  Sünde 
des  Unrechts,  des  Verbrechens  am  Volke  hat  sich 
blutig  gerächt,  nicht  an  denen,  an  denen  sie  verübt  wurde, 
sondern  sie  hat  den  Staat  erfaßt  in  allen  seinen  Gliedern  bis  zu 
seiner  Spitze,  und  Fäulnis,  Elend,  Ohnmacht  sind  die  Folgen  des 
Verbrechens  an  dem  gleichen  Recht.  (Stürmische  Zustimmung.) 
Wir  sind  nicht  klüger  geworden,  denn  was  wir  heute  wissen, 
wußten  wir  längst,  aber  die  anderen  sind  nicht  mehr 
dieselben,  die  sie  waren.  Stück  für  Stück  ist  zusammen- 
gebrochen, was  an  diesem  Staate  lebensfähig  schien,  bis  zur  abso- 

zeigte  sich,  daß  die  Mehrheit  des  Abgeordnetenhauses  für 
die  Wahlreform  sei.  Für  die  Dringlichkeit  stimmten  155,  dagegen  nur 
114  Abgeordnete!  Unter  den  Gegnern  waren  noch  52  Großgrundbesitzer 
und  sechs  Vertreter  der  Handelskammern. 

Es  war  der  erste  Sieg  im  Wahlrechtskampf. 

Unter  solchen  Umständen  fand  nun  auch  die  Versammlung  im  Sofien- 
saal statt. 

*)  Siehe  die  große  Rede  Adlers  im  Sofiensaal  am  16.  Oktober  1893- 
im  ersten  Abschnitt  dieses  Bandes,  Seite  117  f. 


Im    Zeichen   des   ersten   Siemes.  237 


luten  Impotenz  ist  dieses  Parlament  herabgesunken,  eiri  klägliches 

Wesen,  unfähig,  irgend  etwas  Gutes  ZU  tun,  und  kaum  noch  fähig, 
Schaden  anzurichten.  Es  liegt  nur  wie  ein  Kadaver  auf  dem  Wege, 
den  die  Völker  Österreichs  gehen  müssen,  und  wir  haben  nichts 
ZU  tun,  als  diesen  Kadaver   wegzuräumen.   (Lebhafter   Beifall.) 

Das  spüren  endlich  nicht  nur  wir,  die  es  längst  wußten,  sondern 
sie  spüren  es  jetzt  schon  selbst.  Es  gibt  keinen  Menschen  mehr,  der 
es  wagen  würde,  fest,  bestimmt  und  ohne  Winkelzüge  für  das 
heutige  Walilunrecht  einzutreten.  Es  gibt  keinen  Menschen  mehr, 
der  sich  das  Zeugnis  ausstellen  würde,  daß  er  so  frech,  daß  er  so 
dumm  ist,  dieses  System,  auf  dem  heute  unser  Parlament  ruht, 
als  ein  mögliches  weiterhin  gelten  zu  lassen.  Was  uns  entgegen- 
steht, das  sind  wesentlich  kleinliche  Borniertheiten,  kleinliche 
Egoismen  und  vor  allem  die  Feigheit,  zu  der  alle,  die  hier  Politik 
machen,  erzogen  sind  durch  dieses  Privileg,  das  sie  nicht  den  Mut 
haben,  zu  beseitigen.  (Beifall.)  Es  ist  ja  ein  merkwürdiges  Schau- 
spiel, daß  das  gleiche  Recht  heute  fast  nur  noch  Freunde  hat.  Wir 
sind  nicht  so  töricht,  alle  diese  Leute  für  echt  zu  nehmen,  die  heute 
mit  dem  gleichen  Wahlrecht  protzen,  die  aber  wohl  gern  lebens- 
länglich Anträge  für  das  gleiche  Wahlrecht  stellen  möchten.  (Heiter- 
keit.) Wir  wissen  auch,  daß  sich  an  das  gleiche  Recht  Hoffnungen 
gewissenloser  Demagogen  knüpfen,  schwarzer,  schwarzgelber  und 
in  allen  Farben.  Aber  wir  wissen  auch,  daß  das  nicht  anders  geht. 
Alle  diese  Siege  zeigen  nur,  daß  die  Leute,  die  das  heutige 
Privilegienwahlrecht  noch  halten,  einschlechtes 
Gewissen  haben;  sie  zeigen,  daß  es  nur  einer  Ope- 
ration bedarf,  die  für  die  privilegierten  Schichten  schmerzlich 
sein  mag,  von  der  aber  jeder  heute  weiß,  daß  sie  lebensrettend  und 
unvermeidlich  ist.  Die  Operation  durchzuführen,  dazu  gehört  aller- 
dings einiger  Mut;  aber  die  Operation  muß  gemacht  werden,  und 
die  Sozialdemokratie  innerhalb  und  außerhalb  des  Parlaments  wird 
der  Träger  der  notwendigen  Dinge  sein.  Das  zeigen  die  mächtigen 
Demonstrationen  in  Prag,  Brunn,  Lemberg,  Innsbruck.  Überall 
sehen  Sie,  wie  die  Arbeiter  auf  die  Tagesordnung  das 
gleiche  Recht  setzen. 

Die  Entscheidungsschlacht  aber  wird  selbstverständlich  im  Reichs- 
rat geschlagen  werden.  Und  da  werden  wir  dem  Feinde  begegnen, 
der  vor  allem  zu  überwinden  ist,  der  Verkörperung  des  alten, 
völkererstickenden  Österreich,  der  Verkörperung  der  Volksver- 
knechtung und  Volksverdummung,  der  Verkörperung  des  schwarz- 
gelben Polizeistaates  und  der  schwarzgelben  Volksfeinde:  da 
werden  wir  -jenem  Ministerpräsidenten  Baron  Gautsch  begegnen 
(stürmische  Pfuirufe  und  Rufe:  Nieder  mit  Gautsch!),  der  sich  uns 
in  den  Weg  stellt,  nicht  mit  Brutalität,  sondern  mit  jener  glatten, 
öligen,  nichtssagenden  Phrasenhaftigkeit  des  Höflings,  jener  Ge- 
dankenlosigkeit, die  nicht  zu  packen  ist,  weil  sie  aus  den  Händen 
gleitet  —  so  schleimig  ist  sie.  Über  dieses  Hindernis  werden  wir 
hinweg  müssen.  Herr  Gautsch,  der  einen  Beweis  seiner  staats- 
männischen Klugheit  gegeben  hat,  indem  er  das  Wahlrecht  in 
Ungarn  verhindern  wollte,  um  den  Wahlrechtskampf  in  Österreich 


238  Der  Sic«;  des  gleichen  Wahlrechts. 

zu  vermeiden  (Heiterkeit)  —  Sie  sehen,  wie  schlau  er  ist  und  wie 
gut  ihm  sein  Plan  gelungen  ist.  (Heiterkeit.)  — ,  dieser  Mann  wird 
nicht  so  leicht  nachgeben.  Aber  das  können  wir  sagen:  Herr 
Gautsch  wird  entweder  nachgeben  oder  er  wird 
gehen!  (Stürmischer  Beifall.)  Herr  Gautsch  kann  mit  der  Auf- 
lösung des  Parlaments  drohen,  es  schreckt  uns  nicht.  Er  schreckt 
sich  selbst  mehr  damit.  (Heiterkeit.)  Herr  Gautsch  wird  Schwierig- 
keiten machen,  er  wird  zu  verschleppen  suchen.  Aber  es  wird  ihm 
nichts  nützen,  und  zwar  aus  einem  sehr  triftigen  Grunde.  Das 
Parlament  hat  normalerweise  kaum  noch  ein  Jahr  zu  leben.  Nach 
einem  Jahre  ist  seine  Funktion  zu  Ende,  und  bei  jedem,  der  poli- 
tisch denkt  in  Österreich,  bis  hinein  in  die  Reihen  der  Deutschen, 
die  in  diesem  Kurienwahnsinn  angeblich  ein  nationales  Gut 
schützen,  bis  hinein  in  die  Reihen  der  Großgrundbesitzer  und  der 
Polen,  ja  bis  hinauf,  wo  in  Österreich  immer  die  Entscheidung  steht, 
überall  gibt  es  ein  Grauen,  das  Grauen  davor,  daß  noch 
einmal  sechs  solche  Jahre  bevorstehen  sollen  mit 
diesem  unfähigen  Jammer  von  einem  Parlament.  Und  darum 
spricht  jeder:  Jetzt  ist  der  Moment,  wo  diese  politische  Arbeit  ge- 
leistet werden  muß.  Es  ist  die  Schicksalsstunde  Öster- 
reichs, die  in  diesem  Augenblick  schlägt,  ein  Moment,  wie  er 
nicht  so  leicht  wiederkommt,  und  wenn  die  alle  das  nicht  verstehen, 
die  Sozialdemokratie  versteht  den  Moment.  (Stürmischer,  anhalten- 
der Beifall.)  Sie  versteht  ihn  und  sie  wird  ihn  auszunützen  wissen. 
Wir  sind  nicht  jugendliche  Stürmer,  wir  sind  keine  Schwärmer, 
keine  leichtsinnigen  Menschen.  Wir  wissen  sehr  gut  —  und  wir 
haben  gezeigt,  daß  wir  wissen,  daß  es  Zeiten  gibt,  wo  man  nicht 
vorwärts  kann.  Aber  so  wie  es  töricht  ist,  das  Eisen  schmieden  zu 
wollen,  wenn  es  kalt  ist,  so  wäre  es  Wahnsinn  und  Verbrechen, 
das  Eisen  nicht  zu  schmieden,  wenn  es  glüht,  und  wir  sind  uns 
jetzt  bewußt:  Das  Eisen  ist  heiß,  jetzt  muß  es  geschmiedet  werden I 
Für  uns  gibt  es  kein  Zurück,  für  uns  gibt  es  kein  Aufhalten. 
Alle  Mittel,  die  der  Arbeiterschaft  zur  Verfügung  stehen,  um 
ihre  Macht  in  die  Wagschale  zu  legen,  werden  wir  ausnützen,  wenn 
es  sein  muß,  bis  auf  das  letzte  Mittel.  (Wild  hervor- 
brechender Beifall.)  Wir  wissen  sehr  genau,  daß  dieser  Kampf 
Opfer  kosten  kann.  Nicht  leichtfertig  wollen  wir  Opfer  bringen, 
nicht  leichtfertig  verlangen  wir  Opfer  von  den  Massen.  Aber  wir 
stehen  im  Dienste  der  geschichtlichen  Notwendigkeit,  der  Not- 
wendigkeit für  den  Staat,  aber  auch  der  Lebensnotwendigkeit  für 
das  Proletariat.  Wir  können  diesen  Zustand  einfach  nicht  mehr 
aushalten,  wir  können  in  dieser  faulen  Stickluft  nicht  mehr  leben. 
Das  Proletariat  ist  lebendig,  es  drängt  vorwärts.  Da  ist  eine  Masse 
von  Millionen  fähiger,  entwicklungsfähiger,  lebendiger,  lebens- 
lustiger und  lebenswürdiger  Menschen,  und  sie  will  nicht  ersticken 
an  der  Dummheit  da  oben,  sie  will  nicht  zugrunde  gehen  an  der 
Feigheit  dieser  Cliquen.  (Stürmischer  Beifall.)  Wir  müssen  vor- 
wärts. Es  ist  eine  Lebensfrage  geworden  für  uns.  Das  Maß  der 
Opfer  hängt  nicht  von  uns  ab,  nicht  von  dem  Mut,  den  wir  aufzu- 
bringen haben.  Das  Maß  von  Opfern  wird  bestimmt  durch  die  Tor- 


Im    /eichen    des   eisten   Siey.es.  239 

licit  und  durch  den  verbrecherischen  Wahnsinn  unserer  Gegner. 
Wir  stehen  heute  nicht  mehr  allein  mit  der  Forderung  nach  dem 
gleichen  Recht  und  wir  stoßen  niemand  zurück,  der  mit  uns  geht. 
Aber  wer  sich  uns  in  den  Weg  stellt  -  sei  es  die  Borniertheit  von 
oben,  sei  es  die  altbürgerliche,  verknöcherte  Borniertheit  unserer 
Bourgeoisie  in  einzelnen  Schichten,  die  politisch  zu  denken  völlig 
aufgehört  haben  und  nur  mehr  Phrasen  papageienhaft  nachreden 
können,  die  wie  aus  dem  Traume  aufseufzen  und  Dinge  sagen,  die 
sie  vor  zwanzig  Jahren  gedacht  haben  und  die  heute  kein  waches 
Hirn  mehr  passieren  können  —  den  werden  wir  niederringen.  Der 
Stein,  der  auf  dem  Wege  des  Proletariats  liegt, 
muß  weggeräumt  werden!  (Neuerlicher  andauernder  Bei- 
fall.) 

Es  ist  ein  geschichtlicher  Moment  und  wir  wollen  würdig  sein 
dieses  großen  Moments.  Wir  wissen,  daß  das  gleiche  Wahlrecht 
nicht  das  Ende  unseres  Kampfes,  sondern  der  Anfang  ist.  Aber 
dieser  Anfang  muß  gemacht  werden,  es  koste,  was 
e  s  w  o  1 1  e.  In  diesem  Sinne  wollen  wir  unseren  Kampf  führen,  und 
wenn  Sie  bei  der  Eröffnung  des  Parlaments  in  hellen  Scharen,  in 
dichtgedrängten  Zügen  sich  dem  Parlament  zeigen  werden,  dann 
soll  Sie  der  Stolz  und  das  Bewußtsein  begleiten,  daß  Sie  in  hoher 
Funktion  stehen,  daß  Sie  tun,  was  andere  versäumt  haben.  An  dem 
Tage  unseres  Sieges,  an  dem  Tage,  wo  es  in  Österreich  eine  Volks- 
vertretung geben  wird,  wo  das  Proletariat  die  Möglichkeit  haben 
wird,  sich  zu  entwickeln,  an  diesem  Tage  eröffnet  sich  für  uns  eine 
neue  Welt  von  Aufgaben,  eine  neue  Welt  von  Kämpfen.  Aber  bevor 
wir  dazu  kommen,  müssen  wir  das  Auge  fest  und  unab- 
lässig auf  diesen  ersten  Fortschritt  gerichtet 
haben.  Das  Wahlunrecht  muß  verschwinden,  das 
gleiche  Recht,  die  erste  Lebensbedingung  des 
Proletariats,  muß  erkämpft  werden  —  mit  allen 
Opfern,  mit  voller  Entschlossenheit,  deren  die 
Arbeiterschaft  fähig  ist.  (Brausender  Beifall.) 

Zu  diesem  Kampfe  rufen  wir  Sie  auf!  Diesen  Kampf  kündigen 
wir  den  Gegnern  des  Rechtes  des  Volkes  an!  Diesen  Kampf,  un- 
erbittlich und  unablässig,  kündigen  wir  der  Regierung  des  Herrn 
Qautsch  an,  kündigen  wir  den  alten  Parteien  an  und  allen,  die  an 
Österreich  ein  Interesse  haben.  Wir  kündigen  vor  allem 
der  Krone  an,  daß  die  Völker  Österreichs  nicht  gesonnen  sind, 
sich  schlechter  behandeln  zu  lassen  als  die  Völker  Ungarns.  (Un- 
geheurer, minutenlanger  Beifall.)  Wenn  man  in  früheren  Jahren 
gefragt  hat,  ob  die  Arbeiterschaft  reif  geworden  ist  für  das  Wahl- 
recht, so  stellt  heute  eine  so  lächerliche  Frage  niemand  mehr.  Aber 
zuletzt  war  die  Frage,  ob  man  oben  reif  geworden  ist  (Heiterkeit 
und  Beifall),  und  da  wir  als  Erfolg  schwerer  pädagogischer  Maß- 
regeln und  ernster  Lebenserfahrungen  endlich  die  Reife  sich  so 
glorreich  entwickeln  sehen,  so  werden  wir  dafür  sorgen,  daß  nicht 
nur  die  eine  Hälfte  reif  sei  und  die  andere  grün  bleibe.  (Heiterkeit 
und  Beifall.)  Das  ist  ein  unmöglicher  Zustand,  und  wenn  die  Päd- 
agogik am  Ende  noch  nicht  vollen  Erfolg  gehabt  haben  sollte,  und 


240  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

ungleichmäßig  angewendet  worden  wäre,  so  sind  wir  bereit, 
unserenteils  das  übrige  beizutragen  und  unsere  Quote  voll  zu  zahlen. 
(Heiterkeit  und  starker  Beifall.) 

Der  Kampf  ist  schwer,  der  Kampf  ist  ernst.  Aber  er  ist  un- 
vermeidlich und  darum  werden  Sie  ihn  führen  mit  jener  Würde, 
mit  jener  Besonnenheit,  mit  jenem  Gefühl  der  Verantwortung,  das 
die  Sozialdemokratie  in  Österreich  immer  ausgezeichnet  hat,  aber 
auch  mit  Tapferkeit,  Rücksichtslosigkeit  und  Opfermut.  Es  lebe 
das  gleiche  Recht!  Es  lebe  der  Kampf  für  das 
gleiche  Recht!  (Brausende,  begeisterte  Hochrufe  auf  das 
gleiche  Wahlrecht.  Die  Hüte  werden  geschwenkt.) 

Der  Parteitag  des  Wahlrechtskampfes. 

Begrüßung.  —  Parteitag  19  05*). 

Wir  hatten  seit  dem  Hainfelder  Parteitag,  seit  Weihnachten  1888, 
in  einer  ganzen  Reihe  von  Versammlungen  der  Vertrauensmänner 
wichtige  entscheidende  Fragen  zu  erörtern.  Wir  haben  unser 
Programm  ausgebaut,  unsere  Prinzipien  oft  in  heißen  Rede- 
schlachten überprüft,  wir  haben  die  ungeheuren  Schwierigkeiten, 
eine  internationale  Organisation  in  diesem  Staate  aufzubauen,  bis 
zu  dem  Grade  überwunden,  daß  wir  trotz  der  Selbständigkeit 
aller  nationalen  Gruppen  eine  geeinte,  schlagfertige  Partei  ge- 
schaffen haben;  wir  haben  während  dieser  Zeit  viele  Stürme  be- 
standen und  wir  können  zufrieden  sein  mit  der  Arbeit,  die  wir 
geleistet  haben.  Als  wir  die  Partei  neu  gründeten,  als  wir  sie  aus 
den  Trümmern  wieder  aufbauten,  hatten  wir  über  Österreich  ein 
System   der  Unterdrückung    und    Knechtung,    ein    System,  dessen 

*)  Der  Parteitag  der  österreichischen  Sozialdemokratie,  der  am  Abend 
des  30.  Oktober  1905  im  Ottakringer  Arbeiterheim  zusammentrat,  war  ein 
richtiger  Parteitag  des  Wahlrechtskampfes.  Auf  der  Tagesordnung  standen 
unter  anderem  folgende  Gegenstände:  „Die  österreichische  Krise  und  das 
Wahlrecht"  (Berichterstatter  Wilhelm  Ellenbogen  und  Anton  Nemec) 
und  „Der  Generalstreik"  (Berichterstatter  Victor  Adler  und  Josef 
Steiner).  Außerdem  wurde  auch  bei  dem  Parteibericht  und  beim  Frak- 
tionsbericht über  den  Wahlrechtskampf  gesprochen.  Adlers  Referat  über 
den  Generalstreik  ist  im  siebenten  Band  dieser  Sammlung  im  Kapitel 
vom  Generalstreik  abgedruckt  (Bd.  VII,  Seite  126  ff.),  eine  Rede  Adlers  in 
der  Debatte  über  den  Fraktionsbericht,  den  Pernerstorfer  erstattet  hatte, 
im  achten  Band  im  Kapitel  von  der  Gesamtpartei  unter  dem  Titel  „Nationale 
Reibungsflächen".  (Bd.  VIII,  Seite  73  ff.)    . 

Während  des  Referates  von  Ellenbogen  über  die  österreichische. 
Krise  und  die  Wahlreform  traf  die  Nachricht  vom  Verfassungsmanifest  des 
Zaren  ein,  das  „alle  jene  Volksklassen,  die  bisher  vom  Wahlrecht  voll- 
ständig ausgeschlossen  waren,  nun  zur  Teilnahme  an  der  Duma"  berief. 
Sofort  wurde  die  Sitzung  unterbrochen.  Auf  Antrag  Pernerstorfers  wurde 
eine  Resolution  beschlossen,  die  die  sofortige  Einberufung  des  Reichsrats 
forderte,  um  „das  langjährige  Unrecht  seiner  Existenz  zu  sühnen  und  an 
die  Stelle  eines  verabscheuungswürdigen  Privilegienparlaments  eine  wirk- 
liche Volksvertretung  zu  setzen".  Zugleich  wurde  erklärt,  daß  das  Prole- 


Der  Parteitag  des  Wahlrechtskampfes.  241 

Absicht  es  war,  jede  Regung  des  Proletariats  zu  töten.  Wir,  die 
Sozialdemokratie  —  und  nur  die  Sozialdemokratie  haben  in  einer 
großen  Reihe  von  Kämpfen,  auf  die  wir  stolz  sein  können  nicht 
allein  wegen  des  Mutes  und  der  Aufopferung,  sondern,  was  in 
Österreich  noch  viel  schwerer,  aber  auch  viel  notwendiger  ist, 
wiegen  der  Zähigkeit  und  Unverdrossenheit,  die  sich  niemals  der 
Verzweiflung  ergab  —  dem  Proletariat  den  nötigen  Bewegungs- 
raum erobert  und  wir  haben  heute  immerhin  einen  Zustand,  in  dem 
man  politisch  arbeiten  kann.  Früher  bestand  der  Hauptinhalt 
unserer  Beratungen  in  Beschwerden  über  die  politische  Unter- 
drückung und  über  die  Hemmnisse,  die  uns  die  Behörden  in  den 
Weg  legten,  Beschwerden,  die  wir  heute  in  einem  unvergleichlich 
geringeren  Umfang  vorzubringen  haben.  Wir  haben  viele  schwere 
Kämpfe  geführt.  Aber  niemals  sind  wir  meines  Erinnerns  zu  einem 
so  kritischen  Zeitpunkt  zusammengekommen  wie  heute. 

Dieser  Parteitag,  der  der  Parteitag  des  Wahlrechts- 
kampfes sein  wird,  erinnert  uns  ein  wenig  an  den  Parteitag 
des  Jahres  1894,  nicht  nur  wegen  der  Analogie,  als  auch  vielmehr 
wegen  der  Unterschiede.  Damals  war  der  Parteitag  zu  einer  Zeit, 
wo  die  Aktion  nicht  mehr  möglich  war,  wobei  ich  es  vollständig 
unerörtert  lasse,  ob  sie  vorher  möglich  gewesen  wäre.  Als  wir 
damals  berieten,  was  zu  tun  wäre  —  wobei  auch  der  General- 
streik in  Erwägung  gezogen  wurde  —  da  mußten  wir  zu  dem 
Schlüsse  kommen:  Die  Schlacht  ist  verloren!  Die  Schlacht  war 
verloren,  da  auch  durch  die  größte  Anstrengung  des  Proletariats 
in  jenem  Zeitpunkt  die  Sache  nicht  mehr  zu  retten  war.  Heute 
stehen  die  Dinge  wesentlich  anders.  Eine  Koalition  gegen 
das  Wahlrecht  ist  heute  nicht  mehr  möglich.  Die 
Leute,    die    damals    das    Verbrechen    begangen    haben,    die  Wahl- 

tariat  entschlossen  ist,  „allen  Verschleppungsversuchen,  wenn  es  sein  muß, 
auch  mit  den  äußersten  Mitteln  entgegenzutreten".  Daszynski  rief  die 
Delegierten  zu  einer  Demonstration,  die  sofort  vor  dem  Parlament  statt- 
finden sollte. 

Abends  fand  die  gewaltige  Demonstration  vor  dem  Parlament  statt. 
Auch  in  zahlreichen  anderen  Orten  Österreichs  wurde  demonstriert.  Am 
nächsten  Tage,  am  1.  November,  referierte  Adler  dann  über  den  General- 
streik. Außer  einer  Resolution  wurde  auch  ein  Manifest  an  das  Prole- 
tariat beschlossen,  das  mit  folgenden  Worten  schließt: 

Wir  sind  entschlossen,  diesen  Kampf  mit  dem  Massenstreik,  mit  den 
äußersten  Mitteln  zu  führen. 

Aber  unsere  Worte  richten  sich  auch  an  unsere  Gegner.  Die  Ver- 
ständigen unter  ihnen  mahnen  wir,  die  Unverständigen  warnen  wir,  den 
Böswilligen  kündigen  wir  unerbittlichen  Krieg  an. 

Arbeitendes  Volk!  Auf  zum  Kampf!  Auf  zum  entschlossenen  Kampt, 
der  nicht  früher  beendet  werden  kann,  als  bis  wir  im  Siege  nach  Hause 
tragen   das   allgemeine,   gleiche   und   direkte   Wahlrecht! 

Arn  nächsten  Tage  floß  bereits  in  Wien,  nach  der  Versammlung  in  den 
Sofiensälen,  und  in  Prag  Blut. 

Schon  in  der  Begrüßungsansprache  hob  Adler  die  Bedeutung 
des   Kongresses   als  eines   Parteitages  des  Wahlrechtskampfes  hervor. 

Adler,  Briefe.   X.  Bd.  IG 


242  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

reform  zu  verhindern,  sind  schwer  bestraft.  Der  Staat  hat  für  jenes 
Verbrechen  schwer  gebüßt.  Die  Erfahrungen  dieser  Jahre  sind  die, 
daß  heute  alle  —  ob  sie  es  sich  zugestehen  oder  nicht  —  erkennen, 
daß  der  Weg,  den  das  Parlament  damals  gegangen  ist,  ein  Holz- 
weg war.  Das  gesamte  Proletariat  vor  allem  ist  heute  in  einem 
ganz  anderen  Maße  als  damals  von  dem  Bewußtsein  erfaßt,  daß  es 
so  nicht  weiter  geht.  Wir  halten  diesen  Zustand  nicht 
1  ä  n  g  e  r  a  u  s!  Es  ist  eine  Möglichkeit  da,  nun  einen  entscheidenden 
Vorstoß  zu  führen,  und  die  Notwendigkeit,  ihn  zu  führen,  ist  in  dem 
Hirn  jedes  Arbeiters  so  lebendig,  daß  der  Vorstoß  mit  der  ganzen 
Wucht  geführt  werden  wird,  deren  das  österreichische  Proletariat 
fähig  ist.  (Lebhafter  Beifall.)  Die  Gesamtexekutive  hat  natürlich 
jene  Weisheit,  die  jedem  zukommt,  der  ein  Amt  hat  (Heiterkeit); 
aber  Sie  würden  uns  überschätzen,  wenn  Sie  vermuten  würden, 
daß  es  unsere  Schlauheit  oder  Weisheit,  unsere  Voraussicht  oder 
gar  Prophetengabe  war,  daß  wir  diesen  Parteitag  zu  diesem  Zeit- 
punkt einberufen  haben.  Der  Parteitag  hätte  ebensogut  acht 
Wochen  früher  sein  können  oder  sechs  Wochen  später.  Es  ist  mehr 
oder  weniger  ein  Zufall,  daß  er  gerade  in  dem  Moment  zusammen- 
tritt, wo  er  notwendig  ist  und  wo  er  so  wirksam  sein  kann  wie 
nicht  einen  Tag  früher  und  nicht  einen  Tag  später.  Wir  treten 
diesmal  —  ein  Glück,  das  uns  selten  beschieden  war  —  in  einem 
Augenblick  zusammen,  wo  wir  aber  auch  noch  die  Zeit  und  die 
Möglichkeit  haben,  das  zu  tun,  was  diese  Verhältnisse  notwendig 
machen,  in  einem  Augenblick,  der  ein  wirklich  revolutionäres 
Auftreten  im  Interesse  der  Arbeiter  Österreichs  wesentlich  er- 
leichtert, ja  für  jeden  zum  Herzensbedürfnis  macht. 

Seit  Monaten  sehen  wir  im  Osten  einen  Kampf,  an  dem  jeder 
von  uns  mit  seinem  ganzen  Herzen  hängt,  dem  wir  mit  mehr  als 
mit  brüderlicher  Sympathie  folgen,  einen  Kampf,  dem  wir  mit 
jedem  Schlage  unseres  Herzens  folgen,  den  wir  als  das  wichtigste, 
als  das  entscheidende  Ereignis  unseres  Jahrhunderts  empfinden, 
dem  wir  zugleich  mit  dem  leidenschaftlichen  Wunsche  folgen, 
etwas  dazu  beitragen  zu  können,  daß  der  heldenmütige  Kampf 
unserer  russischen  und  polnischen  Brüder  mit  einem  Siege  ende 
(lebhafter  Beifall),  daß  die  russische  Revolution  über  die  russische 
Despotie  triumphiere.  Aber  soviel  leidenschaftliche  Wünsche  wir 
haben,  soviel  wir  selbst  mittun  möchten,  wir  können  ihnen  nicht 
helfen,  wir  können  nur  zusehen.  Aber  eines  können  wir.  Ich 
erinnere  Sie  an  ein  Gedicht  von  Freiligrath,  es  heißt  „W  i  e  n".  Das 
Gedicht  richtet  sich  an  die  deutschen  Revolutionäre,  die  damals 
um  das  von  Windischgrätz  belagerte  Wien  bekümmert  waren,  und 
es  hat  die  Absicht,  der  deutschen  Revolution  zu  sagen:  Ihr  könnt 
Wien  nicht  retten,  ihr  könnt  nur  kämpfen,  wo  ihr  seid!  Wenn  wir 
noch  beten  könnten,  so  heißt  es  dort,  wir  beteten  für  Wien.  Aber 
dann  heißt  es  zum  Schluß :  Den  Jellacic  zu  schlagen, 
schlage  deinen  Jellacic!  (Lebhafter  Beifall.)  Wir  können 
der  russischen  Revolution  nicht  helfen,  aber  wir  können  in  unserem 
Lande,  auf  unserem  Boden  für  unser  Volk,  für  unser  Proletariat  in 


Der  Parteitag  des  Wahlrechtskampfes.  24^ 


unseren  Kampfformen  und  mit  unseren  Kampfmitteln  alles  tun,  um 
einigermaßen  mil  Ehren  vor  jenen  Helden  und  Märtyrern,  die  dort 
drüben  kämpfen,  zu  bestehen.  (Heifall.)  Mögen  sie  ihre  Aufgabe 
lösen.  Bescheiden  wir  uns,  der  unseren  zu  dienen.  Und  wenn  wir 
einen  Wunsch  für  uns  selber  haben,  so  ist  es  der,  daß  es  diesem 
Parteitag  gegönnt  sein  möge,  die  Kräfte  dieser  Arbeiterschaft,  die 
unter  den  Sünden  dieses  Österreichs  aus  tausenden  Wunden  blutet, 
einmal  in  einem  Moment,  der  siegversprechend  ist,  zusammenzu- 
raffen zu  einem  festen,  entscheidenden  Schlage.  (Beifall.)  Das  ist 
die  Aufgabe  dieses  Parteitages.  Es  ist  eine  große,  es  ist  eine  poli- 
tische Aufgabe,  wie  sie  selten  so  schön,  so  entscheidend,  so  groß 
der  proletarischen  Politik  gestellt  wird. 

Nicht  nur  die  Wiener  Genossen,  auch  die  Gesamtpartei  war 
wiederholt  Vorwürfen  ausgesetzt  und  es  gibt  niemand  unter  uns, 
der  sich  nicht  immer  wieder  selbst  das  Gewissen  erforscht  hat, 
ob  wir  denn  zur  rechten  Zeit  immer  das  Richtige  und  Notwendige 
getan  haben.  Gestatten  Sie,  daß  ich  Ihnen  meine  Meinung  sage  — 
denn  es  handelt  sich  da  ein  wenig  auch  um  mich,  den  Sie  als  einen 
besonnenen  Mann  kennen,  ja,  der  als  Bremser  in  den  weitesten 
Parteikreisen  berüchtigt  ist.  (Heiterkeit.)  Gewiß  war  in  diesen 
fünfzehn  Jahren  der  Kampf  um  das  Wahlrecht  nicht  immer  auf  der 
gleichen  Höhe.  Wir  haben  uns,  als  wir  den  Kampf  begannen,  den 
Weg  zum,  Siege  viel  kürzer  vorgestellt,  und  wir  meinten  damals, 
in  einem  Ansturm  bis  ans  Ziel  dringen  zu  können.  Das  war  nicht 
möglich;  aber  nicht  deshalb,  weil  es  uns  an  Mut  gemangelt  hätte 
oder  weil  wir  eine  Schlacht  versäumt  hätten,  wo  wir  hätten  siegen 
können.  Es  ist  ein  Gebot  unserer  Pflicht  als  Vertrauensmänner  der 
Partei,  daß  wir  die  Kraft  der  Partei  nicht  ins  Feld  führen  zu 
Zeiten,  wo  sie  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  verschwendet  sein 
müßte.  Aber  so  wie  die  Besonnenheit  eine  Pflicht  ist,  die  uns  unsere 
Verantwortlichkeit  auferlegt,  wo  es  die  Pflicht  der  Partei  ist,  abzu- 
warten und  ruhig  zu  bleiben:  so  legt  uns  dieselbe  Verantwortlich- 
keit die  Pflicht  auf,  den  entscheidenden  Moment  zu  benützen,  um 
mit  der  ganzen  Kraft  vorzugehen  —  wenn  es  möglich  ist.  Partei- 
genossen !  Wir  erachten  jetzt  alle  diesen  Moment 
für  gekommen.  (Stürmischer  Beifall.)  Wir  können  natürlich 
keine  Garantie  übernehmen  für  das  Maß  österreichischer  Dumm- 
heit, österreichischer  staatsmännischer  moral  insanity,  wir  können 
keine  Verantwortung  dafür  übernehmen,  was  die  anderen  tun. 
Aber  eines  wissen  wir:  daß  die  Verhältnisse  für  uns 
noch  niemals  so  günstig  gelegen  sind  wie  heute. 

Wir  wissen,    daß  da  gestern*)    ein  Manifest    einer  ungarischen 

*)  Am  28.  Oktober  brachte  Fejervary  im  ungarischen  Reichstag  die 
Vorlage  auf  Einführung  des  allgemeinen  Wahlrechtes  ein.  Wie  die  Krone 
dann  aber  das  allgemeine  Wahlrecht  in  Ungarn  verriet,  um  ihre  Militär- 
forderungen durchzusetzen,  darüber  siehe  die  F3cmerkungen  zu  den  Reden 
auf  den  Rcichskonfercnzen  1905  und  1908  im  Kapitel  „Ungarn".  (Bd.  VIII, 
Seite  254,  ,,I)  ie  verratenen  Ungar  n";  Seite  258,  „Das  Ende  des 
cäsaristi sehen  Traume  s".) 

16* 


244  Der  Sie*  des  gleichen  Wahlrechts. 


Regierung  erschienen  ist,  das  vom  Kaiser  genehmigt  jst,  wo  vorn 
allgemeinen,  gleichen  Wahlrecht  in  Ungarn  die  Rede  ist.  Und 
wenn  wir  auch  auf  diesen  Anhänger  des  gleichen  Wahlrechtes,  der 
da  in  letzter  Stunde  so  überraschend  gewonnen  wurde,  vielleicht 
persönlich  nicht  einen  so  großen  Wert  legen,  und  wenn  wir  auch 
seinen  Fanatismus  für  das  gleiche  Wahlrecht  durchaus  nicht  über- 
schätzen (Heiterkeit),  so  erkennen  wir  doch,  daß  damit  ein  großes 
—  ich  möchte  sagen  mechanisches  —  Hindernis  für  unseren  Kampf 
hinweggeräumt  worden  ist.  Und  dann:  zum  erstenmal  haben  wir 
im  Parlament  eine  Majorität  —  ich  will  gar  nicht  sagen,  für  das 
Wahlrecht  —  aber  doch  eine  Majorität,  die  nicht  mehr  gegen  das 
Wahlrecht  sein  kann.  Und  im  Parlament  bis  in  den  kleinsten 
elendesten  Landtag  von  Krain  —  ich  bitte  die  Genossen  von 
Laibach  um  Entschuldigung  (Heiterkeit)  — ,  überall  sehen  wir  die 
Tatsache,  daß  das  Wahlrecht  nun  im  Bewußtsein  aller  Menschen 
ist.  Wir  waren  früher  allein  mit  unserem  Schmerz.  Niemand  hat 
an  das  Wahlrecht  gedacht  als  wir.  Heute  kann  kein  Mensch  an 
etwas  anderes  denken  als  an  das  Wahlrecht.  Gewiß,  sie  werden 
es  noch  versuchen,  dagegen  zu  arbeiten.  Aber  sie  haben  ein 
schlechtes  Gewissen  und  vor  allem:  sie  haben  nicht  mehr 
den  Glauben  an  ihre  Sache.  Und  schließlich  haben  wir  — 
das  sehen  wir  vor  allem  an  den  glänzenden  Demonstrationen  der 
letzten  Wochen  —  niemals  eine  Zeit  gehabt,  wo  das  Proletariat 
so  von  dem  Bewußtsein  erfüllt  war,  daß  jetzt  der  Moment  ge- 
kommen ist,  wo  uns  das  ganze  Proletariat  förmlich  entgegen- 
schreit: Jetzt  vorwärts!  Führt  uns  zum  Kampfe!  und 
wo  wir  zugleich  nach  kühler  Erwägung  aller  Faktoren  zu  dem 
Schlüsse  kommen,  daß  der  entscheidende  Moment  gekommen  ist, 
und  daß  es  nun  die  nächste,  die  einzige  Aufgabe  ist, 
diesen  Kampf  vorzubereiten.  (Stürmischer  Beifall.) 

Das  Proletariat  hat  nun  keine  andere  Aufgabe!  Genossen  aller 
Nationen!  Ich  fordere  Sie  auf,  stellen  Sie  alles  andere  zurück!  Wenn 
Lassalle  recht  hatte,  daß  man  das  Wahlrecht  nur  erobern  kann, 
wenn  man  unablässig  daran  denkt  und  alles  andere  ausscheidet, 
so  ist  das  gewiß  richtig  und  allein  möglich  in  dem  Moment,  wro  die 
Schlacht  beginnt.  Wir  stehen  am  Beginn  des  Kampfes.  Wir  können 
heute  nicht  feststellen,  bis  zu  welchen  Formen  und  zu  welchen 
Mitteln  und  Kampfmethoden  uns  dieser  Kampf  führen  wird.  Aber 
wir  wissen :  wir  stehenamVorabenddiesesKampfes! 
Und  ich  bitte  Sie,  Delegierte  und  Gäste,  ich  bitte 
alle  Sozialdemokraten,  in  diesem  Moment  all  ihr 
Denken,  alle  ihre  Energie,  alle  ihre  Kraft  und  ihre 
revolutionäre  Entschlossenheit  auf  diesen  einen 
Kampf  zu  konzentrieren.  (Stürmischer  Beifall.)  In  diesem 
Sinne  wollen  wir  den  Parteitag  führen  und  in  diesem  Sinne  begrüße 
ich  Sie  im  Namen  der  deutschen  Exekutive!  Der  Parteitag  wird 
das  Signal  geben  zu  einem  Kampfe,  der  uns,  so  hoffen  wir,  Ehre 
und  Sieg  bringen  wird!  Es  lebe  die  revolutionäre,  die  völker- 
befreiende Sozialdemokratie!  (Lebhafter  Beifall  und  Hochrufe.) 


Taktik  im  Wahlrechtskampf.  245 

Taktik  im  Wahlrechtskampf 

Parteitag  1  9  05*). 

Ls  ist  selbstverständlich,  daß  der  Bericht  des  Rarteivorstandes 
nicht  diskutiert  werden  kann,  ohne  daß  man  verschiedentlich  auch 
von  den  anderen  Punkten  der  Tagesordnung  spricht.  Aber  ich  will 
mich  einschränken  und  nur  folgendes  sagen;  Die  Genossen  Borek 
und  Tusar  haben  sich  mit  der  Haitun«  der  Wiener  beschäftigt  und 
einer  hat  gerade  mich  als  das  Karnickel  bezeichnet,  das  diesmal 
nicht  angefangen  hat.  (Heiterkeit.)  Wir  haben  auf  der  Konferenz 
dem  Qautsch  den  Krieg  angesagt.  Wir  haben  gewußt,  daß  dieser 
Krieg  im  Abgeordnetenhaus  schwer  zu  führen  ist,  und  diejenigen, 
die  sich  über  die  Aktion  abenteuerliche  Vorstellungen  gemacht 
haben,  sind  selbst  schuld  daran,  wenn  ihre  Erwartungen  nicht  in 
Erfüllung  gegangen  sind.  (Beifall.)  Wir  anderen  können  nur  sagen, 
daß  wir  über  den  Verlauf  der  von  unseren  Abgeordneten  im 
Parlament  angezündeten  Bewegung  auf  das  freudigste  überrascht 
sind.  Denn  unsere  Aktion  konnte  sich  nicht  darauf  beschränken, 
Herrn  Gautsch  durch  unsere  Abgeordneten  mehr  oder  weniger 
freundlich  zu  empfangen,  sondern  es  sollte  vor  allem  auch  dort 
jener  Feldzug  begonnen  werden,  der  nun  in  vollem  Gange  ist. 
(Zustimmung.)  Ich  habe  in  einer  Versammlung  in  Margareten**) 
gesagt:  Warten  wir  ab,  bis  es  Zeit  sein  wird,  einzugreifen.  Daß 
wir  den  richtigen  Zeitpunkt  abwarten,  ist  ebenso  notwendig,  als 
daß  wir  irrt  richtigen  eingreifen.  Es  war  diesmal  Ihnen  in  Böhmen 
vorbehalten,  den  Eröffnungskampf  zu  führen.  Aber  es  war  ganz 
ausgeschlossen,  daß  wir  in  Niederösterreich  den  Kampf  für  das 
böhmische  Landtagswahlrecht  führen  (Zwischenrufe:  Für  das 
niederösterreichische!)  und  den  Kampf  für  das  niederösterreichi- 
sche Landtagswahlrecht.  Sie  nehmen  es  mir  nicht  übel  —  das  ver- 
stehen wir  besser.  Wir  können  und  wollen  uns  da  nicht  in  eine 
Diskussion  der  Einzelheiten  einlassen,  aber  wir  wollten  uns  vor 
allem  mit  gutem  Bedacht  aller  Verhältnisse  unsere  Kräfte  für  jene 
Kämpfe  aufsparen,  wo  Wien  berufen  ist,  gewissermaßen  als  die 
Delegation  des  gesamten  österreichischen  Proletariats  vorauszu- 
gehen. (Stürmischer  Beifall.)  Wir  sind  weit  entfernt,  das,  was  Sie 
getan  haben,  zu  unterschätzen,  wir  erkennen  es  an;  aber  wenn  wir 


*)  Beim  Bericht  der  Gesamtparteivertretung,  den  Skaret  erstattete, 
Kam  es  zu  einer  Debatte  über  den  Wahlrechtskampf,  in  die  auch  Adler 
eingriff,  zumal  da  gleich  die  ersten  Redner  Vorwürfe  erhoben.  Es  waren 
das  die  tschechischen  Redner  Edmund  Bore  k,  Redakteur  des  tschechischen 
Blattes  in  Pardubitz,  später  Redakteur  der  „Dllnicke  Listy"  in  Wien,  dann 
Vlastimil  Tusar,  Redakteur  der  „Rovnosf  in  Brunn,  später  Abgeord- 
neter von  Brunn,  nach  dem  Umsturz  tschechoslowakischer  Minister- 
präsident und  dann   Gesandter  in   Berlin. 

,  +  )  Die  Versammlung  beim  „Hamberger"  am  ll.  September  1905,  in  der 
Adler  über  Gautsch  und  die  ungarische   W  a  h  I  r  e  f  o  r  m  sprach. 


246  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


Ihnen  nicht  hineingeredet  haben,  wie  Sie  Ihre  Aktion  führen,  so 
müssen  auch  Sie  die  Güte  haben  —  nicht,  als  ob  wir  Ihnen  die 
Kritik  wehrten  — ,  aber  doch  etwas  Vertrauen  zu  uns  zu  haben. 
(Beifall.)  Wir  führen  diesen  Kampf  nicht  zum  erstenmal  und  haben 
auch  schon  Beweise  erbracht,  daß  wir  im  entscheidenden  Moment 
das  Notwendige  zu  tun  wissen.  Ich  bin  ja  sehr  erfreut,  wenn  man 
uns  vorwärts  drängt;  aber  wir  glauben  doch,  diese  Mahnungen 
nicht  notwendig  zu  haben.  Die  Kunst  des  Wartens  ist  auch  eine 
schwierige  Kunst  und  Sie  werden  Sie  in  Ihrer  politischen  Ent- 
wicklung auch  noch  lernen. 


Wahlrechtssonntag. 

Der  Aufmarsch  vor  dem  Parlament, 
5.  November  19  05*). 

Parteigenossen,  Arbeiter!  Ihr  seid  heute  hierher  gekommen,  um 
in  machtvoller  Demonstration  zu  verkünden,  daß  endlich  die  Stunde 
gekommen  ist,  wo  die  Schmach  des  politischen  Unrechts  fallen  muß, 
daß  es  kein  Zögern,  kein  Verschleppen  mehr  gibt. 
(Lauter  Beifall.)  Herr  Qautsch  hat  gestern  die  „Abendpost" 
sprechen  lassen;  bei  der  Regierung  beginnt  es  langsam  zu  tagen. 
(Heiterkeit.)  Das  ist  unser  erster  Erfolg.  Das  Wahlrecht  ist  auf  dem 


*)  Nach  der  großen  Demonstration,  die  im  Anschluß  an  den  Parteitag 
am  Abend  des  31.  Oktober  auf  der  Wiener  Ringstraße  veranstaltet  worden 
war,  fand  dann  am  2.  November  eine  Riesenversammlung  im  Sofiensaal 
statt.  Daran  schloß  sich  ein  Massenspaziergang  auf  dem  Ring  an, 
den  die  Polizei  zu  hindern  suchte.  Er  endigte  in  einem  blutigen  Zu- 
sammenstoß, wobei  gegen  hundert  Personen  verwundet 
wurden.  In  allen  Städten  fanden  um  diese  Zeit,  wie  es  das  Manifest  des 
Parteitags  verlangte,  Massenversammlungen  statt,  in  denen  der  ent- 
schlossene Wille  zur  Durchführung  des  Massenstreiks  zum  Ausdruck  kam. 
Am  4.  November  veröffentlichte  die  „Wiener  Abendpost",  das  offiziöse 
Abendblatt  der  amtlichen  „Wiener  Zeitung",  eine  Erklärung  der  Regie- 
rung, in  der  festgestellt  wurde,  daß  sich  im  Parlament  „der  grundsätzliche 
Widerstand  gegen  eine  weitgehende  Änderung  der  Grundlagen  des  Wahl- 
rechts erheblich  abgeschwächt"  habe.  Wenn  die  Regierung  auch  darauf 
bedacht  sei,  das  Verlangen  nach  einer  zeitgemäßen  Umgestaltung  des 
Wahlrechts  zu  fördern  und  seiner  Erfüllung  zuzuführen,  so  sei  sie  auch 
verpflichtet,  um  künftiger  Änderungen  des  öffentlichen  Rechtes  willen 
nicht  die  öffentliche  Ordnung  stören  zu  lassen . . .  Die  Regierung  sei  ent- 
schlossen, mit  allen  gesetzlichen  Mitteln  Ausschreitungen  ent- 
gegenzutreten. „Es  liegt  im  Interesse  der  Volkskreise,  die  die 
Reform  wünschen,  durch  ihr  Verhalten  zu  bezeugen,  daß  sie  in  jedem 
Sinne  politisch  reif  sind  —  auch  für  ein  neues  Wahlrecht.  Das  Parlament, 
nicht  die  Straße  ist  der  Ort,  wo  die  Entscheidung  darüber  zu  fallen  hat." 
Am  Abend  des  4.  November  kam  es  aber  in  Prag,  wo  schon  früher  Zu- 
sammenstöße mit  der  Polizei  gewesen,  ja  sogar  Barrikaden  gebaut  worden 
waren,  zu   einem  blutigen   Massaker,  für  das   der  Polizeipräsident 


Wahlrechtssonntag.       Kampf  i>is  ans  linde.  247 


Marsche,  die  Arbeiterschaft  wird  dafür  sorgen,  daß  es  auf  dem 
Wege  nicht  stecken  bleibt.  (Tosender  Beifall.)  Wir  sagen 
es  ganz  deutlich  und  bestimmt:  Es  darf  und  kann  nicht  noch 
einmal  Wahlen -geben  unter  diesem  K  u  r  i  e  n  w  a  h  1- 
recht!  Das  nächste  Parlament  muß  aus  dem  allge- 
meinen, gleichen  und  direkten  Wahlrecht  hervor- 
gehen! (Tosender,  jubelnder  Beifall.)  Die  Bewegung  der  Massen 
ist  im  Fluß  und  keine  Macht  wird  sie  aufzuhalten  ver- 
mögen, bevor  sie  ihr  Ziel  erreicht  hat.  (Hoch  das 
Wahlrecht!)  Genossen!  Ihr  habt  heute  die  rote  Fahne  auf  dem 
Hause  der  Privilegienschande  aufgepflanzt  zum  Zeichen,  daß  ihr  es 
weihen  wollt,  zum  Hause  einer  wahren  Volksver- 
tretung! Dieser  roten  Fahne,  unter  der  die  Proletarier 
kämpfen,  die  für  Rußland  die  Freiheit  glorreich  erstritten  haben, 
unter  der  die  vorwärtsschreitende  Menschheit  vereinigt  ist,  ihr 
bringen  wir  ein  Hoch!  (Dreimaliges,  sich  über  die  Massen  fort- 
pflanzendes Hoch!)  Und  nun,  Genossen!  Wir  sind  pünktliche  Leute, 
pünktlich  sind  wir  erschienen,  pünktlich  wollen  wir  abziehen,  wie 
wir  es  angekündigt.  Geht  ruhig  nach  Hause,  ihr  werdet  zur  Stelle 
sein,  wenn  wir  euch  wieder  rufen!  Auf  Wiedersehen!  Hoch  das 
allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht!  (Brausender  Jubel.) 


Kampf  bis  ans  Ende. 

Sieben  Versammlungen  am  6.  November  190 5*). 

Ich  bin  später  gekommen,  um  Ihnen  sagen  zu  können,  daß  heute 
in  Prag  nicht  Arbeiter  niedergeschossen  und  niedergesäbelt 
wurden.  Aber  es  ist  in  Prag  nicht  Ruhe  in  dem  Sinne,  als  ob  das 
Proletariat  geschreckt  wäre.  Morgen  wird  dort  ein  Manifest  er- 
scheinen, in  dem  die  Sozialdemokratie  sagt:  Trotz  Revolver  der 


Kfikava  die  Verantwortung  trug.  Ein  Arbeiter  und  ein  Student  wurden 
getötet,  viele  verletzt.  Auch  an  anderen  Orten  kam  es  zu  blutigen 
Zusammenstößen.  Am  nächsten  Tage  erließ  der  Statthalter  von  Böhmen 
eine  Kundmachung,  in  der  er  mit  den  „äußersten  Mitteln"  drohte. 

Am  Sonntag  den  5.  November  veranstaltete  die  sozialdemokratische 
Partei  nun  einen  Aufmarsch  vor  dem  Parlament.  „Hundert- 
tausend Rechtlose  (so  schrieb  die  »Arbeiter-Zeitung«)  folgten  dem  Rufe 
und  scharten  sich  um  das  rote  Banner,  das  stolz  vor  dem  Parlament 
wehte,  das  von  den  Flaggenstangen  herniedergrüßte  —  nach  des  Volkes 
Willen".  Auf  dem  Flaggenmast,  an  dem  sonst  die  schwarzgelbe  Fahne  an- 
gebracht war,  hatten  Proletarier  diesmal  rote  Fahnen  angebracht.  Von  der 
Bellaria  bis  zur  Universität  standen  die  Massen.  Vor  dem  Parlament  hielt 
Adler   eine   Ansprache. 

*)  Am  Tage  nach  dem  großen  Aufmarsch  vor  dem  Parlament  fanden 
wieder  sieben  Versammlungen  in  Wien  statt.  In  der  Versammlung  im  Favo- 
rittier  Arbeiterheim   sprach   nach   Winarsky  Dr.  Adler. 


248  Der  Sie^c  des  gleichen  Wahlrechts. 


Polizisten  und  trotz  Säbel  der  Dragoner  gehen  wir  unseren  Kampf 
bis  ans  Ende.  (Stürmische  Rufe  des  Beifalls.)  An  der  Bahre  des 
Proletariers,  der  sein  Leben  gelassen  hat  für  das  Wahlrecht,  leisten 
wir  den  Schwur,  daß  wir  geben,  was  wir  haben,  und  leisten,  was 
in  unserer  Macht  liegt,  um  zu  erreichen,  was  die   Notwendigkeit 
für   den  Staat   und   vor    allem   für   das  Proletariat   ist.    Der   erste 
Schritt  ist  gemacht.  Schon  der  Beschluß  des  Parteitages  und  der 
erste  Tritt  in  den  Straßen  haben  die  Regierung  zur  —  Vernunft 
ist  zu  viel  gesagt,  aber  zu  einer  Ahnung  von  dem  gebracht,  was 
etwa  die  Vernunft  sein  könnte.  Der  Erklärung  der  Regierung  sieht 
man    an,    daß    die    Furcht    der    Lehrmeister    der    Er- 
kenntnis war.   (Laute  Zustimmung.)   Nicht  um   das  Recht   ist 
es  ihr  zu  tun,  sondern  die  Furcht  hat  sie  gezwungen,  sich  auf  den 
rechten  Weg  zu  begeben.  Aber  sie  wird  den  Weg  nicht  weiter- 
gehen, wenn  wir  nicht  hinter  ihr  stehen.  (Rufe  von  allen  Seiten: 
So  ist   es!)    Was    wir  dabei    darbringen,    ist  das  Kostbarste    und 
Köstlichste:   das  Blut  des  Volkes.  Wir  sind  nicht  gesonnen,  ver- 
schwenderisch umzugehen  mit  dem  höchsten  Gute,  wir  wollen  nicht 
einen  Tropfen    mehr    opfern    auf    dem  Altar    des    österreichischen 
Wahnsinns,   als   nötig  ist.   Kein   Tropfen  wird   vergossen    werden 
durch  unsere  Schuld.  Jeder  Tropfen  Blut  fällt  auf  das  Gewissen 
der  Regierenden,  die  sich  noch  heute  frivol  und  gewissenlos  dem 
widersetzen,  was  sie  nicht  nur  als  Recht,  sondern  als  unvermeid- 
liche Notwendigkeit  längst  erkannt  haben  müssen.  Es  handelt  sich 
nun    darum,    daß    das    heutige  Parlament    die  Wahlreform    be- 
schließt,    daß     unter     keiner     Bedingung     nach     dem 
heutigen  Wahlrecht  mehr  gewählt  wird.  (Begeister- 
ter Beifall.)  Studiert  ist  genug.  Ein  weiteres  Studium  hält  Öster- 
reich   nicht    aus    und    vor    allem    nicht    die  Arbeiterschaft.    Herr 
v.  Gautsch  darf  nicht  glauben,  daß  er  uns  über  dieses  eine  Jahr 
hinüberfoppen  könnte.  Haben  Sie,  Genossen,  das  Vertrauen  zu  uns, 
daß   wir   nicht   mehr   von  Ihnen  verlangen  werden,   als   was   un- 
bedingt  nötig   ist,   aber   auch,  daß  uns   von   dem,  was   sein  muß, 
nichts  zurückhalten  wird.  Die  Regierung  wünscht  „R  u  h  e". 
Nun,    sie    kann    sich    eine   Atempause    leicht    verschaffen.    S  i  e 
braucht  nur  deutlich  und  freiwillig  zu   erklären, 
daß     sie    dem    Reichs  rat     bei     seinem    Zusammen- 
treten   ein  Gesetz    vorlegen    wird    über    das    all- 
gemeine, gleiche  Wahlrecht.  Sie  braucht  es  nur  so  feier- 
lich zu  versprechen,  wie  es  in  Ungarn  geschehen  ist,  und  sie  hat 
so  lange  eine  Pause,  bis  wir  uns  am  Tage  der  Parlamentseröffnung 
zu  überzeugen  kommen,  ob  sie  das  Versprechen  einlöst.  (Großer 
Applaus.)  Wenn  ihr  Wunsch  nach  Ruhe  aber  nicht  so  groß  ist  als 
ihre  Verstocktheit  und  ihr  Wunsch,  uns  zum  besten  zu  halten,  wird 
Herr  v.  Gautsch  keine  Ruhe  haben.  (Rufe:  Pfui  Gautsch!)  Das  ist 
nicht   nötig,   der   Mann  ist   entwicklungsfähig.   (Ruf:   Aber  wann!) 
Das  ist  eben  die  Frage.  Nimmt  er  Vernunft  nicht  an,  wird  er  gehen. 
Wir    bleiben!    (Brausender,    immer    von    neuem    einsetzender 
Applaus.) 


Das  sterbende  Privilegienparlament.  24^ 


Das  sterbende  Privilegienparlament, 

\  e  r  s  a  in  in  I  u  11  g  der  (i  e  h  i  1  f  c  n  v  e  r  t  r  c  t  c  r   i  m   U  a  t  li  a  u  s, 

I  1.    No  vc  in  her    I  905*). 

Als  ich  zu  dieser  Versammlung  kam,  habe  ich  mich  erinnert,  daß 
hier   auf    dem  Platz,    wo    jetzt    die  Votivkirche    und    das  Rathaus 

*)  Am  IS.  Oktober  wurde  Dr.  Adler,  nachdem  Josef  Haimieh  das  Mandat 
zurückgelegt  hatte,  im  Reichenberger  Wahlkreis  der  fünften  Kurie  zum 
Abgeordneten  gewählt  und  konnte  am  28.  November,  an  dem  Tag  der 
großen  Kundgebung,  in  das  Parlament  eintreten.  Nach  den  großen  Ver- 
sammlungen am  5.  November  wiederholten  sich  die  Kundgebungen  für  die 
Wahlreform  im  ganzen  Reiche.  In  Prag  war  es  am  5.  November  zu  Zu- 
sammenstößen gekommen  und  der  Statthalter  erwog  bereits  die  Prokla- 
mierung des  Standrechtes  und  des  Ausnahmezustandes.  Inzwischen  hatte  sich 
ein  Kampf  der  E  i  s  e  n  b  a  h  n  e  r,  der  ursprünglich  wegen  der  Teuerungs- 
zulage in  Brüx  im  nordböhmischen  Kohlenrevier  ausgebrochen  war,  ver- 
schärft. Als  nach  dem  Parteitag  die  Arbeiterschaft  in  den  Wahlrechts- 
kampf eintrat,  erörterte  man  in  den  Kreisen  der  Eisenbahner  die  Frage  des 
Massenstreiks  und  am  5.  November  beschlossen  die  Vertrauensmänner  der 
sozialdemokratischen  Eisenbahner  auf  einer  Konferenz  in  Prag,  die  passive 
Resistenz,  die  bis  dahin  nur  im  Brüxer  Revier  und  nur  zugunsten  der  wirt- 
schaftlichen Forderung  geübt  wurde,  auf  alle  Bahnen  in  ganz  Böhmen  aus- 
zudehnen und  sie  zugleich  als  Demonstration  für  das  allgemeine  Wahlrecht 
aufzufassen;  am  nächsten  Tage  beschloß  die  Exekutive  der  sozialdemo- 
kratischen Eisenbahner  —  nachdem  eine  Intervention  des  Abgeordneten 
Ellenbogen  und  des  Eisenbahnerobmanns  T  o  m  s  c  h  i  k  den  Eisenbahn- 
minister bloß  zu  Zugeständnissen  für  das  Brüxer  Revier,  und  zwar  im 
Betrag  von  einer  Million  Kronen  jährlich  zu  bewegen  vermocht  hatte  —  die 
Ausdehnung  der  passiven  Resistenz  —  oder,  wie  man  es  damals  auch 
nannte,  der  Obstruktion  —  der  Eisenbahner  auf  das  ganze  österreichische 
Eisenbahnnetz  der  Staatsbahnen  wie  der  Privatbahnen.  Ausdrücklich 
wurde  den  wirtschaftlichen  Forderungen  noch  das  allgemeine,  gleiche 
Wahlrecht  angefügt.  Die  Parole  wurde  mit  Begeisterung  aufgenommen. 
Schon  am  nächsten  Tage  wurde  die  passive  Resistenz  —  die  genaue, 
wortgemäße  Einhaltung  der  bürokratischen  Vorschriften  —  in  fast  allen 
Stationen  geübt  und,  obwohl,  um  die  öffentliche  Meinung  nicht  gegen  die 
Eisenbahner  einzunehmen  (wie  es  kurz  vorher  bei  der  passiven  Resistenz 
in  Italien  gewesen  war),  die  Personenzüge  von  der  passiven  Resistenz 
ausgenommen  waren,  waren  schon  nach  wenigen  Stunden  die  Bahnhöfe 
„verstopft".  Die  Industriellen  schickten  eine  Deputation  nach  der  anderen 
in  das  Ministerium,  um  über  ihre  Not  zu  jammern  und  die  Regierung  zum 
Einschreiten  zu  veranlassen.  Tatsächlich  versuchte  die  Regierung  der  Ob- 
struktion zunächst  mit  Drohungen  beizukommen.  Aber  die  Drohungen 
hatten  keinen  Erfolg.  Man  plante  sogar,  nach  italienischem  Beispiel,  die 
militärpflichtigen  Eisenbahner  zum  Militärdienst  einzuberufen,  um  durch 
die  „Militarisierung"  der  Eisenbahner  den  Kampf  zu  beenden.  Man  hatte 
bereits,  wie  bekannt  wurde,  in  der  Staatsdruckerei  die  Einberufungskarten 
drucken  lassen.  Zugleich  allerdings  wurden  auf  Veranlassung  der  Indu- 
striellen, deren  Betriebe  stillstanden,  Verhandlungen  mit  den  Eisenbahner- 
organisationen   gepflogen. 

Während  aber  diese  Verhandlungen  noch  im  Gange  waren,  waren  in 
der  Politik  wichtige  Dinge  vor  sich  gegangen.  Unter  dem  Druck  der  Wahl- 
rechtsbewegung,  in  der  auch  die  Gewerkschaften  bereits  den  Generalstreik 


250  Der  Sieg  des  Kleichen  Wahlrechts. 


stehen,  im  Jahre  1869  die  erste  große  Massendemonstration*)  für  das 
allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht  stattgefunden  hat.  Sechs- 
unddreißig Jahre  sind  es  her,  daß  die  Arbeiterschaft  zum  erstenmal 

erwogen,  ließ  am  11.  November  Gautsch  eine  Abordnung  der  Industriellen 
zu  sich  kommen  und  erklärte  ihnen,  „der  Träger  der  Krone  habe  sich  nie- 
mals den  Forderungen  der  Zeit  verschlossen  und  die  Regierung  werde 
schon  in  der  ersten  Sitzung  des  Abgeordnetenhauses  ihre  Haltung  in  der 
Wahlrechtsfrage  kennzeichnen".  Sie  beschäftige  sich  bereits  mit  der  Be- 
arbeitung der  Wahlreform,  die  „auf  moderner  Grundlage  beruhen  und  den 
Ansprüchen  der  Zeit  genügen  werde".  Es  werde  dann  Sache  des  Parla- 
ments sein,  die  Reform  noch  in  dieser  Legislaturperiode  zum  Abschluß  zu 
bringen. 

Als  am  Samstag  den  11.  November  diese  Erklärung  bekannt  wurde, 
gingen  die  Verhandlungen  mit  den  Eisenbahnern  rascher  vor  sich.  Die 
Regierung  steigerte  auch  ihr  materielles  Zugeständnis  von  3  bis  4  auf 
5  bis  6  Millionen  und  nun  konnte  am  12.  November  die  Obstruktion  bei- 
gelegt werden.  Daß  bei  dieser  Beilegung  die  materiellen  Erfolge  eine  ge- 
ringere Rolle  gespielt  hatten  als  das  allgemeine  Wahlrecht,  geht  daraus 
hervor,  daß  vier  Wochen  später  wegen  der  materiellen  Forderungen  eine 
neue  passive  Resistenz  ausbrach,  die  nach  langwierigen  Verhandlungen  zu 
einem  Erfolg  führte. 

Die  Woche  nach  der  Erklärung  des  Ministers  an  die  Industriellen  war 
in  ganz  Österreich  mit  zahllosen  Versammlungen  und  Gewerkschafts- 
konferenzen ausgefüllt,  die  der  Organisierung  des  Massenstreiks  dienten. 
Da  erfuhr  man  auch  aus  einer  Kundgebung  der  halbamtlichen  „Wiener 
Abendpost",  des  Abendblattes  der  amtlichen  „Wiener  Zeitung",  daß  der 
Kaiser,  der  in  Ungarn  das  allgemeine  Wahlrecht  in  seinem  Programm  habe, 
auch  in  Österreich  das  allgemeine  Wahlrecht  wolle. 

Am  12.  November,  einem  Sonntag,  fanden  nicht  weniger  als  fünf  große 
Wahlrechtsversammlungen  und  sowohl  vormittags  als  nachmittags  an  zahl- 
reichen Orten  Demonstrationen  statt,  bei  denen  die  rote  Fahne  voran- 
getragen wurde.  Adler  sprach  in  zwei  Versammlungen. 

In  der  Volkshalle  des  Rathauses  fand  eine  Versammlung  der  Gehilfen- 
vertreter der  Genossenschaften  statt,  die  schon  längst  geplant  war,  um 
gegen  die  von  den  Zünftlern  geplante  Änderung  der  Gewerbeordnung  zu 
protestieren.  Nun  lautete  ihre  Tagesordnung:  „Die  geplante  Ab- 
änderung der  Gewerbeordnung  und  das  allgemeine, 
gleiche  und  direkte  Wahlrecht."  Das  Referat  erstattete  der 
Gehilfenobmann  der  Kleidermacher,  der  nachherige  Abgeordnete  S  m  i  t  k  a. 
Dann  sprachen  Pernerstorfer  und  Adler,  die  sich  vornehmlich  mit 
dem  Wahlrecht  beschäftigten.  In  einer  Resolution  wurde  dagegen  protestiert, 
daß  das  sterbende  Privilegienparlament  noch  ein  solches  Gesetz  beschließe, 
ohne  sich  um  die  Forderungen  der  Arbeiter  nach  Verbesserung  des  Arbeiter- 
schutzes zu  kümmern,  und  es  wurde  verlangt,  daß  die  Reform  der  Ge- 
werbeordnung dem  auf  Grund  des  allgemeinen  Wahlrechtes  gewählten 
Parlament  überlassen  bleibe. 

*)  Diese  Massendemonstration  der  Wiener  Arbeiter  vor  dem  Parlament, 
die  dann  die  Verhaftung  der  Mitglieder  der  Deputation  und  den  Hoch- 
verratsprozeß gegen  die  Arbeiterführer  zur  Folge  hatte,  aber  den 
Arbeitern  doch  das  Koalitionsgesetz  als  Errungenschaft  brachte, 
fand  am  13.  Dezember  1869  statt.  Das  Parlament  war  allerdings  damals 
noch  nicht  das  heutige  Parlament,  sondern  ein  großer  Holzbau  in  der  Nähe 
der  Votivkirche.  Das  jetzige  Parlament  wurde  erst  in  den  Jahren  1875  bis 


Das  sterbende  Privilegienparlament.  251 


erwacht  ist,  und  ihr  erster  Ruf  war:  „Wir  wollen  das  allgemeine, 
gleiche  Wahlrecht!"  (Stürmische  Bravorufe.)  Und  ich  erinnere  mich 
auch  an  einen  anderen  Tag,  an  jenen  {).  Juli  189.?,  wo  hier  in  der 
Volkshalle  und  im  Arkadenhof  und  draußen  vor  dem  Rathause  un- 
gezählte Tausende  versammelt  waren  und  den  Wahlrechtskampf 
begannen,  der  seitdem  nicht  mehr  gerastet  hat.  Diese  beiden  läge 
waren  geschichtlich  für  das  österreichische  Proletariat,  sie  waren 
auch  geschichtlich  für  den  Staat  und  für  alle  Völker  Österreichs. 
Ein  geschichtlicher  Tag  ist  es  auch  heute,  wo  wir  hier  versammelt 
sind,  denn  wir  haben  heute  von  der  Regierung  nicht  das  Ver- 
sprechen, nicht  die  Verheißung,  sondern  die  Verpflichtung  anerkannt 
erhalten,  daß  sie  diesem  Parlament  die  Wahlreform  vorlegen  und 
daß  dieses  Parlament  die  Wahlreform  zu  Ende  führen  wird.  (Stür- 
mischer Beifall.)  Damit  hat  unser  Kampf  einen  Punkt  erreicht,  der 
nicht  etwa  seine  Fortsetzung  überflüssig  macht,  der  uns  aber 
immerhin  sagt,  daß  das  schwerste  Stück  getan  ist.  Denn  nichts  ist 
schwerer  in  Österreich,  wo  man  sich  an  das  Elend  schon  so  ge- 
wöhnt hat,  als  den  Stein  ins  Rollen  zu  bringen.  Aber  nun  ist  er  im 
Rollen,  und  daß  er  auf  dem  Wege  nicht  liegen  bleibt,  dafür  wird  das 
österreichische  Proletariat  sorgen.  (Stürmischer  Beifall.)  Gewiß,  es 
war  nicht  unsere  Kraft  allein,  die  uns  die  Möglichkeit  gibt,  für 
Österreich  das  zu  schaffen,  was  schon  lange  eine  Notwendigkeit 
war.  Wenn  sich  die  herrschenden  Staatsmänner  auch  recht  lange 
gesträubt  haben,  Vernunft  anzunehmen,  so  liegen  die  Dinge  heute 
so,  daß  die  Geschichte  über  sie  hinweggehen  würde,  wenn  sie  sich 
noch  länger  sträubten.  Aber  wir  wissen,  daß  unsere  Aufgabe  in 
unserem  Augenblick  die  ist,  die  Gunst  des  Moments  zu  benützen 
und  den  entscheidenden  Schritt  mit  eiserner  Entschlossenheit  zu 
tun  und  mit  jener  Unnachgiebigkeit,  die  kein  Zögern,  kein  Nach- 
lassen duldet.  (Beifall.) 

Wir  haben  im  Jahre  1897  gemeint,  es  werde  nur  noch  jene  eine 
Wahl  nach  dem  Schandsystem  der  Kurien  möglich  sein.  Wir  haben 
Österreich  überschätzt.  Es  hat  nur  sechs  Jahre  gedauert,  daß 
dieser  Fluch  auf  uns  lastete  und  noch  ein  zweitesmal  mußten  wir 
eine  solche  Wahl  über  uns  ergehen  lassen.  Aber  nun  ist  es  zu 
Ende  und  es  darf  und  wird  keine  Wahl  mehr  geben,  die  unter 
diesem  System  stattfindet.  (Großer  Beifall.)  Die  Krone  hat  ihre 
Zustimmung  gegeben.  Die  Regierung  sieht  ein,  was  ihre  Pflicht  ist, 
der  dritte  Faktor,  das  Parlament,  wird  in  wenigen  Tagen 
zusammentreten  und  der  vierte  und  entscheidende  Faktor,  das 
Proletariat,   wird  dafür  sorgen,  daß  das  Parlament  auch  erkennt 

1883  von  Theophil  Hansen  erbaut,  das  Neue  Rathaus  1872  bis  1883  von 
Friedrich  v.  Schmidt,  die  Universität  1873  bis  1883  von  Heinrich 
v.  Ferstel,  die  Votivkirche  —  zur  Erinnerung  an  das  Attentat  des 
ungarischen  Schneidergesellen  Liebesny  auf  den  Kaiser  Franz  Josef  vom 
Jahre  1851  —  1856  bis  1879  ebenfalls  von  Ferstel,  das  Burgtheater  1880 
bis  1886  nach  den  Plänen  Gottfried  S  e  m  p  e  r  s  von  Karl  v.  H  a  s  e  u  a  u  e  r. 

Jene  erste  große  Demonstration  vor  dem  Parlament  war  also  ganz 
anderswo   als   die   Wahlrechtsdemonstrationen    vor   dem   Parlament. 

Über  die  Demonstration  vom  9.  Juli  1893  ist  oben  berichtet  worden. 


252  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


und  deutlich  vor  Augen  hat.  was  seine  verdammte  Pflicht  und 
Schuldigkeit  ist.  Wir  erwarten  Sie  wieder  auf  diesem  historischen 
Boden  am  Tage  der  Parlamentseröffnung  und  wir  sind  überzeugt, 
Sie  werden  kommen.  (Stürmischer  Beifall.)  Sie  werden  es  ver- 
stehen, diesem  Tage  jene  Weihe  und  Wrürde  zu.  geben,  die  ihm 
eigen  sein  muß.  Denn  dieser  Tag  ist  der  Beginn  des  Endes 
des  sterbenden  Parlaments.  Gewiß  ist  der  Weg  zum 
gleichen  Wahlrecht  noch  lange  nicht  zu  Ende  gegangen.  Gewiß 
wird  man  versuchen,  es  zu  verderben.  Aber  wie  wenige  Wochen 
ist  es  denn  her,  daß  Baron  Gautsch  noch  hoffte,  nicht  nur  das 
Wahlrecht  in  Österreich,  sondern  auch  das  in  Ungarn  verhindern 
zu  können!  Wir  hätten  ja  auch  nicht  geglaubt,  daß  aus  diesem 
Saulus  so  rasch  ein  Paulus  werden  wird.  (Heiterkeit.)  Wir  ver- 
lassen uns  nicht  auf  die  Festigkeit  und  Beständigkeit  des  guten 
Willens  der  Regierung,  aber  wir  haben  das  festeste  Vertrauen  zum 
österreichischen  Proletariat,  das  hinter  diesem  Parlament  stehen 
wird,  wie  es -hinter  der  Regierung  gestanden  ist.  Wir  haben  nicht 
Vertrauen  zur  Regierung,  aber  wir  haben  alles  Vertrauen  zu  uns 
selber. 

Sie  werden  sich  nicht  einschläfern  lassen,  Sie  werden  nicht 
glauben,  daß  nun  schon  die  Tage  der  Rast  gekommen  sind,  aber 
Sie  werden  auch  wissen,  daß  dieser  Kampf,  der  mit  einer  sieg- 
reichen Schlacht  begonnen  hat,  alle  die  Monate,  die  er  noch  dauern 
wird,  mit  derselben  Bestimmtheit  und  Kraft,  aber  auch  mit  der- 
selben Klugheit  weiter  geführt  werden  muß  wie  bisher.  Der  Partei- 
tag hat  aus  Ihren  Herzen  gesprochen,  als  er  verkündete,  daß  die 
Arbeiter  vor  keinem  Opfer  zurückschrecken  und,  wenn  notwendig, 
selbst  den  Massenstreik  mit  allen  seinen  Konsequenzen  auf  sich 
nehmen  werden.  Das  wissen  wir.  aber  wie  wir  verpflichtet  sind; 
jedes  notwendige  Opfer  zu  bringen,  so  sind  wir  auch  verpflichtet, 
kein  Opfer  zu  bringen,  das  überflüssig  wäre.  Deshalb  führen  Sie 
den  Kampf  mit  derselben  Bestimmtheit  weiter!  Seien  Sie  gewärtig 
unseres  Rufes!  Halten  Sie  sich  bereit  zum  Kampf!  Auf  Wiedersehen 
vor  dem  Parlament  am  Tage  seiner  Eröffnung.  Bis  dahin  können 
wir  eine  gewisse  Ruhe  eintreten  lassen.  Nicht  etwa  daß  wir  den 
Kampf  aussetzen  würden,  aber  wir  können  jene  Demonstration,  die 
eine  Demonstration  nicht  nur  für  Wien,  sondern  für  ganz  Öster- 
reich sein  wird,  vorbereiten,  daß  sie  groß  und  mächtig  und  imposant 
werde,  damit  sie  entscheidend  sei  und  das  bringe,  was  um  jeden 
Preis  erobert  werden  muß,  das  allgemeine,  gleiche  und  direkte 
Wahlrecht.  (Stürmischer,  andauernder  Beifall.) 

Die  Massenversammlung  im  Kolosse  u  m*). 

Der  Kampf,  den  wir  jetzt  führen,  den  führen  wir  seit  vielen 
Jahren,  seit  dem  ersten  Erwachen  der  österreichischen  Arbeiter- 
klasse. Es  ist  vielleicht  an  der  Zeit,  heute  daran  zu  erinnern,  daß  die 
erste  große  Demonstration  der  Wiener  Arbeiter  am  13.  Dezember 


*)  Adler  sprach  dann  noch  im  Kolosseum  im  neunten  Bezirk.  Auch  diese 
Versammlung  war   übervoll.  Wenigstens  4000  Personen   erfüllten  die  aus- 


Das  sterbende  PrivllcKiönparlament. 

L869  vor  allem  gegolten  hat  dem  allgemeinen,  gleichen  Wahlrecht. 
35  Jahre  des  Kampfes  um  das  gleiche  Recfal  ein  langer  Weg,  ein 
Weg«,  der  bedeckt  ist  mit  Opfern  ohne  Zahl,  und  noeh  sind  wir  nieht 
am  Ziele.  Aber  nicht  mir  wir  sind  marschiert,  auch  der  Staat  hat 
seinen  Weg  gemacht,  und  während  die  Arbeiterklasse  stark  und 
mächtig  geworden  ist,  ist  dieser  Staat  unter  dem  Einfluß  des  Un- 
rechtes, das  er  zur  Grundlage  seiner  politischen  Existenz  gemacht 
hat,  Stück  für  Stück  zurückgegangen.  Bis  zur  völligen  Ohnmacht, 
zur  völligen  Lahmlegung  alles  wirtschaftlichen  und  politischen  Fort- 
schrittes. Dasselbe  Unrecht,  das  für  uns  ein  Hindernis  ist,  ist  für  die 
anderen  Klassen  mehr  als  ein  Hindernis  —  es  lahmt  sie,  es  tötet  sie. 
Die  Entwicklung  hat  uns  recht  gegeben  Punkt  für  Punkt  und  die 
starrköpfigsten  Exzellenzen  fangen  heute  an,  einzusehen,  daß  sie 
Vernunft  annehmen  müssen,  weil  sonst  die  Vernunft  über 
sie  h  i  n  w  e  g  s  c  h  r  e  i  t  e  t.  (Stürmischer  Beifall.) 

Eine  Epoche  der  R  e  v  o  1  u  t  i  0  n  e  n  ist  angebrochen;  vom 
Osten,  wo  die  zarische  Despotie  nun  im  Kote  liegt,  kam  der  Anstoß, 
wie  er  einst  aus  dem  Westen  gekommen  ist.  Das  österreichische 
Proletariat  begreift  seine  Zeit  und  ist  entschlossen,  zu  tun,  was  seine 
Pflicht  ist.  Bedenken  wir  nur,  was  sich  seit  wenigen  Wochen  er- 
eignet hat.  Da  war  vor  allem  unser  Parteitag,  der  nichts  anderes 
war  als  ein  wohlüberdachter  Motivenbericht  für  den  einzigen  Be- 
schluß, den  Kampf  zu  Ende  zu  führen  mit  allen  Mitteln,  die  dem 
Proletariat  zu  Gebote  stehen.  Es  kam  dann  das  Blutvergießen  in  der 
Babenbergerstraße  und  es  kam  dann  der  große  Sonntag  von  Wien 
und  Prag,  wo  wir  verkünden  konnten,  daß  die  Regierung  den  ersten 
Schritt  getan  und  erklärt  habe,  „daß  die  Wahlreform  in  die  Wege 
geleitet"  wurde  (Rufe:  Pfui  Qautsch!  Heuchler!)  Genossen!  Sie 
müssen  das  Pfui!  doch  ein  wenig  modulieren;  allen  Sündern  steht 
der  Weg  zur  Tugend  offen  und  schon  hat  gestern  die  Regierung 
den  zweiten  Schritt  getan.  (Ein  Genosse  ruft:  Komödie!)  Sie 
täuschen  sich,  das  ist  keine  Komödie.  Sie  unterschätzen  den 
Druck,  unter  dem  die  Regierung  steht.  Wenn  Sie  sagen:  „Es  ist 
nicht  ihr  eigener  Wille,  vernünftig  zu  sein",  sei  das  zugegeben.  Aus 
eigener  Erkenntnis  hätte  sich  Herr  v.  Gautsch  politisch  nicht  so 
rasch  entwickelt;  aber  er  hat  gute  Lehren  im  Inland  sowohl  wie  im 
Ausland.  (Heiterkeit  und  stürmische  Zustimmung.)  Sie  sind  recht  ein- 
dringlich mit  ihren  Lektionen  und  —  können  auch  minderbegabte 
Schüler  zwingen,  den  Kopf  ordentlich  aufzumachen.  (Heiterkeit.) 
Der  Dümmste  muß  begreifen,  daß  die  Arbeiterschaft  den  heutigen 
Zustand  nicht  mehr  aushält  und  daß  es  mit  den  Komödien 
und  mit  dem  V  e  r  s  t  e  c  k  e  n  s  p  i  e  1  e  n  jetzt  zu  Ende  ist 
(Stürmischer  Beifall  und  Händeklatschen.) 

Und  jetzt  ist  noch  die  eindringliche  Lehre  dazu  gekommen,  die 
die  Eisenbahner  geben.  Sie  dürfen  nicht  etwa  glauben,  daß  die 

gedehnten   Haupt-  und  Nebenräume  des  Etablissements.  Von  den  Galerien 
herab   wehten,   wie  es   jetzt  üblich  geworden   war,  rote  Fahnen. 

Nach   Adler  sprach   Gemeinderat  Reu  mann.  Nach  der  Versammlung 
zog  ein  Teil  der  Teilnehmer  mit  roten  Fahnen  vor  das  Rathaus. 


254  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

sozialdemokratische  Partei  es  notwendig  gehabt  hat,  den  Eisen- 
bahnern zu  sagen:  „Vergeßt  bei  euren  Forderungen  das  Wahlrecht 
nicht!  Nehmt  uns  mit  auf  eurem  Karren!"  Nein!  Mit  Naturgewalt 
ist  das  hervorgebrochen  und  ist  zu  einem  Zeichen  geworden,  das 
ein  Ministerpräsident  verstehen  muß.  So  hat  denn  die  Regierung 
gestern  erklärt,  daß  sie  fortfährt,  lernfähig  zu  sein.  Das  ist  es, 
worauf  es  ankommt.  Wir  wollen  nicht  mehr  Neuwahlen 
habenaufQrundderaltenKurienschande,  wir  wollen 
nicht  wieder  um  sechs  Jahre  geprellt  werden.  Die  karge  Lebenszeit, 
die  das  Parlament  noch  hat,  muß  es  benützen  zu  der  einzig  ver- 
nünftigen Tat,  die  es  noch  leisten  kann:  sich  selbst  zu  be- 
seitigen und  Platz  zu  machen  dem  Volksparla- 
ment. Die  gestrige  Erklärung  des  Herrn  v.  Qautsch  enthält  eine 
Verpflichtung,  die  die  Regierung  bindet  und  die  Krone  bindet. 
Der  dritte  Faktor  ist  das  Parlament,  und  diesen  zu  veranlassen, 
seine  Pflicht  zu  tun,  dazu  wird  der  vierte  und  entschei- 
dende Faktor,  die  Arbeiterklasse,  die  so  lange  Nach- 
sicht übte  mit  den  schwachen  Intelligenzen,  das  Notwendige  leisten. 
(Stürmischer  Beifall.)  Wenn  Opfer  nötig  sind,  wird  sie  die  öster- 
reichische Arbeiterschaft  zu  bringen  wissen  und  sie  wird  auch  vor 
dem  Massenstreik  nicht  zurückbeben.  Es  sieht  für  diesen  Augen- 
blick so  aus,  als  ob  wir  es  uns  würden  ersparen  können,  diese 
schwere  und  opfervolle  Waffe  zu  ergreifen.  Aber  wo  immer  und 
wann  immer  eine  Stockung  eintreten  sollte,  werden  wir  sie  mit 
ihrem  vollen  Gewicht  und  ihrer  ganzen  Wucht  einsetzen  und  alles 
auf  uns  nehmen,  um  unser  gleiches  Recht  zu  erobern.  (Stürmischer, 
anhaltender  Beifall  und  Händeklatschen.) 

Lueger  als  Erfinder. 

Sechs  Versammlungen,  2  6.  November  190 5*). 

Es  ist  eine  große  und  in  ihrer  Art  einzige  Sache,  die  sich  in  den 
letzten  Monaten  in  Österreich  vollzogen  hat.  Heute  gibt  es  wirklich 
keinen  ernsthaften  Widerstand  mehr  gegen  das  allgemeine  und 
gleiche  Wahlrecht.  Das  ist  selbstverständlich  nicht  ein  Verdienst 
der  Sozialdemokraten  allein,  selbstverständlich  ist  es  nur  das  Ver- 
dienst der  Sozialdemokraten,  daß  sie  den  richtigen  Moment  erkannt 
und  im  richtigen  Moment  getan  haben,  was  getan  werden  mußte.  Dem 
Ministerium  Gautsch  ist  es  nicht  an  der  Wiege  gesungen  worden, 
zu  welcher  Erkenntnis  es  sich  durchringen  werde  binnen  vierzehn 
Tagen.  Wir  sehen,  das  Licht  der  Erkenntnis,  die  Erleuchtung  kommt 
heute  so  wie  einst  rasch  über  die  Menschen:  aber  sie  kommt  nicht 


*)  Zwei  Tage  vor  der  Parlamentseröffnung,  am  Sonntag,  hielten  die 
Wiener  Arbeiter  wieder  sechs  Versammlungen  ab.  Die  Versamm- 
lungen standen  schon  ganz  unter  dem  Eindruck  der  bevorstehenden 
Demonstration,  die  für  den  Tag  der  Parlamentseröffnung  geplant  war.  Die 
Versammlungen  richteten  sich  auch  gegen  die  Christlichsozialen,  die  sich 
einerseits  als  die  Erfinder  des  allgemeinen  Wahlrechtes  aufspielten  und 
andererseits  es  durch  eine  lange  Seßhaftigkeit  verschlechtern  wollten. 


Lueger  als  Erfinder.  255 


immer  und  ausschließlich  von  oben,  es  wird  immer  mehr  so,  daß 
die  Erleuchtung  von  unten  kommt  über  die 
Men  seilen.  (Lebhafte  Heiterkeit  und  Beifall.)  Ernste  offene 
Feinde  haben  wir  nirgends  mehr.  Mit  den  paar  Großgrundbesitzern, 
die  noch  intrigieren,  wird  man  ja  fertig  werden.  Es  wäre  ja  das 
einfachste,  man  schickte  die  Herren  sämtlich  ins  Herrenhaus. 
Anders  steht  die  Sache  bei  den  Christlichsozialen,  die  nicht  nur 
erklären,  sie  seien  Freunde  des  allgemeinen  Wahlrechtes;  Herr 
Dr.  Lueger  erklärte  speziell  noch,  daß  er  der  Erfinder  des 
allgemeinen,  gleichen  Wahlrechtes  ist.  (Heiterkeit.) 
Man  muß  Herrn  Dr.  Lueger  wirklich  bedauern,  daß  er  politisch  ein 
wenig  heruntergekommen  ist  und  sich  von  so  billigen  Lorbeeren 
nähren  muß.  Es  ist  auch  töricht,  daß  sie  über  die  große  Manifestation 
der  Arbeiterschaft,  die  für  Dienstag  bevorsteht,  geflissentlich  die 
abenteuerlichsten  Gerüchte  verbreiten.  Ja,  wenn  die  Herrschaften 
durchaus  ihre  Spießer  in  Angst  setzen  wollen  —  wir  werden  die 
Kosten  nicht  tragen  für  die  schmutzigen  Hosen  der  Leute.  (Heiter- 
keit.) Nicht  einen  Moment  an  diesem  Tage  wird  man 
an  die  Christlichsozialen  denken.  (Lebhafter  Beifall.) 
Wir  lachen  über  all  diese  Dinge. 

Wir,  die  wir  ja  kein  Amt  haben,  gescheit  zu  sein,  durchschauen 
den  Schwindel,  aber  unsere  hohen  und  höchsten  Herrschaften  lassen 
sich  durch  die  christlichsozialen  Lügenmärchen  ins  Bockshorn 
jagen.  Es  werden  für  Dienstag  die  verrücktesten  Vor- 
bereitungen getroffen.  Es  wird  Militär  angesammelt  in  Massen, 
die  Hofburg  wird  bewaffnet  sein  bis  an  die  Zähne 
und  der  Rest  wird  eine  furchtbare  Blamage  für  die  Angst- 
meier sein.  Begreifen  denn  die  Herrschaften  nicht,  daß  wir  wirklich 
derzeit  und  vorläufig  in  der  Hofburg  nichts  zu  suchen  haben?  Wir 
sind  mit  der  Hofburg  bis  auf  weiteres  ganz  zufrieden.  Die  Hofburg 
hat  sich  zum  Wahlrecht  für  Ungarn  bekannt,  sie  hat  sich  nach 
einiger  Überlegung  auch  zum  Wahlrecht  in  Österreich  bekehrt. 
Nun,  dabei  können  wir  es  ruhig  lassen!  (Beifall.)  Die  Angst  ist 
völlig  überflüssig,  die  Revolution,  vor  der  die  Christlichsozialen 
Angst  haben,  hat  überhaupt  das  Eigentümliche,  daß  sie  nicht  an- 
gesagt wird  für  einen  bestimmten  Tag  und  eine  bestimmte  Stunde 
wie  eine  Hoffestlichkeit;  nein,  wenn  sie  notwendig  geworden  ist, 
dann  kommt  sie  stets  über  Nacht,  sie  kommt,  wenn  man  sie  arn 
wenigsten  erwartet.  Parteigenossen!  Wir  sind  wohl  so  weit  und  wir 
dürfen  annehmen,  daß  wir  das  Wahlrecht  bekommen  werden,  ganz 
ohne  die  gefürchtete  „Revolution".  Es  hat  genügt,  daß  die  Herren 
ein  klein  wenig  zur  Vernunft  kamen  und  das  Hindernis  für  die 
Wahlreform  war  beseitigt.  Die  Herren  machen  sich  nur  lächerlich 
mit  ihren  Vorbereitungen.  Wir  brauchen  uns  aber  darüber  gar  nicht 
aufzuregen,  daß  das  Militär  sehr  zeitlich  hingehen  wird,  auf  un- 
bewohnten Straßen,  damit  man  es  weniger  sieht.  Das  ist  erstlich 
ausgemacht.  Genossen!  Wenn  Sie  aber  trotzdem  solchen  Militärs 
ansichtig  werden  sollten  und  die  ganze  Armee  der  Pickelhauben  in 
Tätigkeit  sehen,  dann  sagen  Sie  sich:  Na,  wenn  ein  Souverän 
kommt,   so   muß  ja   alles   ausrücken,   und  es   ist  nicht  mehr  als 


"256  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


recht  und  b  i  1 1  i  g,  a  1  s  daß  dem  s  o  u  v  e  r  ä  n  e  n  V  o  1  k  auf 
den  Straßen  von  Wien  alle  militärischen  Ehren 
erwiesen  werden.  (Schallende  Heiterkeit  und  Beifall.) 

Jetzt  beginnt  der  Kampf  um  die  einzelnen  Bestimmungen  des 
Wahlgesetzes.  Die  Christlichsozialen  wünschen  das  allgemeine 
Wahlrecht  verbrämt  mit  fünfjähriger,  und  wenn  das  nicht  erreicht 
werden  sollte,  so  wenigstens  mit  der  dreijährigen  Seß- 
haftigkeit. Wir  können  dem  Herrn  Lueger  heute  schon  sagen: 
Daraus  wird  nichts;  das  ist  ganz  ausgeschlossen. 
Es  handelt  sich  uns  durchaus  nicht  um  die  Zahl  der  Mandate,  aber 
wir  können  nicht  dulden,  daß  man  diejenigen  Schichten  von 
Arbeitern,  die  durch  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  gezwungen 
sind,  nur  einen  Teil  des  Jahres  in  einem  Orte  zu  arbeiten,  ihres 
Rechtes  beraubt.  Es  sind  das  nicht  nur  Bauarbeiter,  sondern 
Zehntausende  von  Arbeitern  aller  Saisongewerbe,  die  nicht  zu 
ihrem  Vergnügen  und  wegen  ihrer  Gesundheit  reisen,  sondern  ihrer 
Arbeit  nachgehen.  Um  diesen  Punkt  wird  ein  heißer  Kampf  geführt 
werden  und  es  ist  gar  nicht  ausgeschlossen  —  ich  sage 
das  mit  Bewußtsein  dessen,  was  ich  ausspreche  — ,  es  ist  gar  nicht 
ausgeschlossen,  daß  wir  gezwungen  sein  könnten,  fürdasRecht 
einer  solchen  Schichte  der  Arbeiterschaft  einen 
besonderen  Kampf  bis  aufs  äußerste  zu  führen. 
(Allgemeiner  Beifall.) 

Die  Erklärung  des  Ministerpräsidenten 

Gautsch. 

Parlament,  3  0.  November  1905*). 

Meine  Herren!  Erlauben  Sie,  daß  ich  an  die  Erklärung  des 
Herrn  Ministerpräsidenten  und  insbesondere  an  seine  letzten  Aus- 
führungen,  die   sich  auf  die  Wahlreform  bezogen,   einige  Bemer- 


*)  Als  am  28.  November  das  Parlament  zusammentrat,  erreichte  die  Be- 
wegung den  Höhepunkt.  In  ganz  Österreich  fanden  Kundgebungen  statt. 
In  Wien  zog  eine  Viertelmillion  Menschen  in  stummer  Demonstration  mit 
Fahnen  und  Standarten  am  Parlament  vorbei  und  überreichte  durch  eine 
Abordnung  unter  der  Führung  der  Abgeordneten  Pernerstorfe  r, 
Daszynski  und  Hybesch  den  Präsidenten  beider  Häuser  und  dem 
Ministerpräsidenten  die  Forderung  nach  dem  allgemeinen  Wahlrecht.  Volle 
vier  Stunden  dauerte  der  Aufmarsch  der  Achterreihen  vor  dem  Parlament, 
während  im  Parlament  selbst  der  Minister  in  einer  Erklärung  versprach, 
daß  die  Regierung  alles  aufbieten  werde,  um  die  Vorlagen,  die  dem  Volke 
das  allgemeine  Wahlrecht  bringen  sollen,  „spätestens  im  Februar  auf  der; 
Tisch  des  Hauses  zu  legen".  An  diese  Erklärung  schloß  sich  eine  Debatte, 
in  der  auch  Adler  sprach,  der  am  18.  Oktober  in  Reichenberg  zum  Abge- 
ordneten gewählt  worden  war.  (Darüber,  sowie  über  den  großen  Kampf 
der  Eisenbahner,  der  mit  materiellen  Forderungen  begonnen  hatte 
und  bald  zu  einem  Kampf  für  das  allgemeine  Wahlrecht  wurde,  siehe  die 
Bemerkungen  bei  der  Versammlung  vom  12.  November  „Das  sterbende 
Privilegienparlamen  t".) 


Die  Erklärung  des  Ministerpräsidenten  dänisch.  ^r>7 


kungen  knüpfe.  Der  unmittelbare  Vorredner  hat  das  Wort  des 
Ministerpräsidenten  von  den  Volksnptwendigkeiten  zitiert.  Es  ist 
nichts  Neues,  daß  die  sogenannten  Staatsnotwendigkeiten  als  Volks- 
notwendigkeiten  erklärt  und  ausgegeben  werden.  Das,  was  wir 
verlangen,  ist  —  und  das  möchten  wir  einmal  von  der  Regierung 
und  vom  Parlament  hören  — ,  daß  die  V  0 1  k  s  n  0  t  w  e  n  d.i g- 
k  e  i  t  e  n  auch  Staats  not  wendigkeiten  sein  sollen. 
(Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten.) 

Was  die  Frage  des  Verhältnisses  zu  Ungarn  anlangt 
und  insbesondere  die  Armeefrage,  so  waren  die  Ausführungen  des 
Abgeordneten  Dr.  Sylvester*)  ein  getreuer  Ausdruck  der  Lage  dieses 
Hauses.  Dr.  Sylvester  tragt,  wo  den  Ungarn  gegenüber  in  diesem 
Hause  ein  gemeinsames  Interesse  und  die  erforderliche  Kraft  be- 
steht. Wir  kommen  nicht  einmal  dazu,  sagte  er,  Delegationen  zu 
wählen.  Ich  glaube,  er  möchte  am  allerliebsten  —  und  das  ent- 
spricht so  ganz  der  Zerfahrenheit,  die  in  den  Parteien  dieses  Hauses 
steckt  —  Delegationen  wählen,  sie  zugleich  aber  auch 
abschaffen.  Er  beklagt  sich  darüber  —  und  das  mit  Recht  — , 
daß  der  Ministerpräsident  eine  Rede  hält,  die  alle  möglichen  Dinge 
enthält,  aber  nicht  davon  spricht,  daß  in  diesem  Augenblick  öster- 
reichische Kriegsschiffe  eine  Expedition  unternehmen,  von  deren 
ersprießlicher  Tätigkeit  nicht  alle  Staatsbürger  überzeugt  sind,  zu 
der  aber  die  Zustimmung  einer  maßgebenden  Körperschaft  nicht 
eingeholt  wurde.  Wir  sind  ein  armes,  ein  blutarmes  Parlament; 
aber  so  arm  sind  wir  doch  nicht,  daß  die  Minister  über  derartige 
Dinge  einfach  mit  Stillschweigen  hinweggehen  dürften.  Ich  will  aber 
annehmen,  daß  der  Ministerpräsident  gerade  mit  diesem 
Stillschweigen  andeuten  wollte,  daß  man  mit 
diesem  Parlament  keine  besonderen  Umstände 
zu  machen  brauche  (Heiterkeit),  daß  das  Haus  in  seinem 
heutigen  Zustand  von  der  Regierung  nicht  die  Rücksicht  verdient, 
die  jedes  andere  Parlament  erfährt  und  vielleicht  sollte  gerade 
dieses  Stillschweigen,  diese  etwas  despektierliche  Behandlung,  die 
der  Ministerpräsident  uns  hat  angedeihen  lassen,  eines  der  Argu- 
mente sein,  dieses  Haus  zu  beseitigen  und  an  seine  Stelle  ein  Haus 
zu  setzen,  mit  dem  man  anständig  reden  muß. 

Dieses  Haus  genießt  im  Volke  nicht  viel  Ansehen,  es  genießt 
aber  bei  der  Regierung  noch  viel  weniger  Ansehen,  und  das 
schlimmste  ist,  es  genießt  bei  sich  selbst  gar  kein  An- 
sehen. Wenn  es  ein  ausschlaggebendes  Motiv  für  Sie  alle  ohne 
Unterschied  der  Partei  gibt,  zu  sagen,  dieses  Haus  muß  weg  und 
Österreich  muß  eine  Volksvertretung  bekommen,  so  muß  es  d  a  s 
sein,  daß  Sie  alle  das  Bewußtsein  haben.  Sie  leben  in  einer 
schweren  Krise  des  Staates,  welche  die  wirtschaftlichen  und 
politischen  Interessen  aller  Völker  in  allen  ihren  Klassen  auf  das 

)  Der  Deutschnationale  Dr.  Julius  Sylvester,  der  nachmalige  Präsi- 
dent des  Abgeordnetenhauses,  unmittelbar  nach  dem  Umsturz  in  der  revo- 
lutionären Regierung  als  Staatsnotar  zur  Beurkundung  der  Beschlüsse 
des   Staatsrates   bestellt. 

Adler,  Briefe.   X.  Bd.  17 


258  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


tiefste  berührt,  in  einer  Schicksalsstunde  dieses  Reiches,  mit  einer 
schwachen  Regierung,  die  nicht  klar  weiß,  was  sie  will  —  und 
wann  hätten  wir  eine  andere  gehabt?  — ,  aber  auch  ohne  jede 
Vertreter  der  Interessen  der  Bevölkerung,  ohne  Kraft,  sich  ein 
Urteil  darüber  zu  bilden,  was  notwendig  ist,  und  insbesondere  auch 
ohne  Kraft,  das  durchzusetzen,  was  man  will. 

Was  in  Ungarn  geschieht  ist  gewiß  nicht  sehr  erhebend.  Die 
Adelsclique,  diese  Junkerrebellion,  die  drüben  Volksvertretung 
spielt,  ist  vom  Standpunkt  der  Interessen  der  Massen  des  Volkes 
kein  erbaulicher  Anblick,  aber  das  müssen  wir  sagen:  respektabel 
ist  es  doch,  die  Kerle  hauen  doch  drein,  sie  fühlen  sich;  sie  wollen 
etwas  —  etwas  Falsches,  aber  sie  haben  Mut.  Bei  uns  aber  ist 
nicht  die  Spur  davon.  Dieses  Parlament  ist  nicht  mehr  fähig,  etwas 
Gutes  zu  schaffen;  es  ist  aber  auch  nicht  mehr  fähig,  etwas 
Schlechtes  zu  tun;  es  ist  vollständig  überflüssig  geworden;  es  ist 
unfähig,  einen  entscheidenden  politischen  Schritt  zu  tun.  Diese 
Empfindung  haben  Sie,  auch  wenn  Sie  anders  reden  und 
wenn  Sie  Ihr  Gewissen  übertäuben  aus  Gründen  des  Parteiegois- 
mus —  ich  will  nicht  sagen:  des  Mandatsegoismus.  Wenn  Sie  mit 
sich  allein  sind,  müssen  Sie  zugeben:  Österreich  ist  jetzt 
wehrlos,  es  hat  keine  Vertretung  und  kein  Parla- 
ment, das  aktionsfähig  wäre. 

Geben  Sie  sich  keiner  Täuschung  hin,  daß  Sie  durch  Beschlüsse, 
durch  kleine  Bandeleien,  durch  gewundene  Resolutionen,  die  kein 
Mensch  liest,  die  nichts  besagen,  nur  in  langen  Perioden  verbergen, 
daß  man  nicht  nur  nichts  will,  sondern  sich  nicht  einmal  getraut, 
anzudeuten,  daß  man  etwas  wollen  könnte,  daß  Sie  dadurch  die 
Wahlreform  aufhalten  könnten.  Aus  diesem  Hause  wird  nichts 
mehr,  in  diesem  Hause  ist  nichts  mehr  zu  machen  und  darum  muß 
es  weg.  Das  ist  der  Grund,  warum  dieses  Haus  beseitigt  werden 
muß,  und  darum  haben  es  die  Sozialdemokraten  begrüßt,  daß  der 
Ministerpräsident  in  seiner  Erklärung  feierlich,  verbindlich  ausge- 
sprochen hat,  daß  er  das  Gesetz,  das  das  allgemeine,  gleiche  und 
direkte  Wahlrecht  begründet,  hier  einbringen  will  und  daß  er  selbst 
erklärte,  daß  eine  Regierung  den  Namen  einer  Regierung  nicht 
verdienen  würde,  wenn  sie  das  nicht  täte.  Wenn  das  schon 
Baron  Gautsch  einsieht,  dann  wäre  es  höchste 
Zeit,  daß  auch  Sie  es  einsehen.  (Lebhafte  Heiterkeit.) 

Wir  haben  vor  einigen  Wochen  hier  einen  Dringlichkeitsantrag 
eingebracht,  der  dem  Ministerpräsidenten,  der  sich  gegen  das  all- 
gemeine Wahlrecht  in  Ungarn  erklärte,  das  Mißtrauen  aussprach. 
Ich  teile  Ihnen  mit,  daß  wir  diesen  Dringlichkeitsantrag  zurück- 
gezogen haben,  denn  er  ist  obsolet  geworden.  Damit  will  ich 
aber  nicht  sagen,  daß  wir  zu  Baron  Gautsch  allzu  großes  Ver- 
trauen hätten,  und  wenn  wir  erklären,  daß  wir  ihm  nicht  mißtrauen, 
so  sagen  wir  doch  noch  lange  nicht,  daß  wir  ihm 
trauen.  Aber  immerhin  müssen  wir  sagen,  der  Ministerpräsident 
ist  so  lernfähig,  als  man  es  von  einem  Bürokraten  älterer  Schule 
in  Österreich  verlangen  kann.  (Heiterkeit  und  Beifall.) 


Die  Erklärung  des  Ministerpräsidenten  Oautsch. 


Allerdings,  wir  sind  nicht  verwöhnt  durch  diese  Herren  da  oben. 
Aber  wir  geben  ZU :  I  n  d  e  n  1  e  t  z  (  e  n  M  o  n  a  t  e  n  h  a  t  s  i  e  h  d  e  r 
Ministerpräsident  r  e  e  li  t  g  U  t  entwickelt.  Kr  bei  t 
seinerzeit  geleugnet  oder,  sagen  wir,  er  bat  geglaubt,  es  nicht 
zugestehen  zu  dürfen,  daß  er  die  Einführung  des  allgemeinen  Wahl- 
rechtes in  Ungarn  nicht  Kern  sieht,  weil,  wenn  es  dort  eingeführt 
würde,  bei  uns  eine  Wahlrechtsbewegung  erzeugt  werden  könnte, 
die  gefährlich  wäre.  Seine  Voraussetzung  hat  sich  eigentlich  auch 
bestätigt.  Ja,  es  hat  nicht  einmal  so  viel  gebraucht,  daß  das  allge- 
meine Wahlrecht  in  Ungarn  Gesetz  wird,  und  es  ist  hier  in  Öster- 
reich eine  Wahlrechtsbewegung  entstanden,  die  sich  sehen  lassen 
kann.  Der  Ministerpräsident  hat  sich  nur  darin  geirrt,  daß  er  ge- 
meint hat,  daß  das  Entstehen  dieser  Bewegung  davon  abhängig  ist, 
ob  er  es  wünscht  oder  nicht,  oder  ob  die  Sache  in  Ungarn  Fort- 
schritte macht  oder  nicht.  Und  er  hat  sich  auch  noch  in  etwas 
geirrt.  Er  hat  noch  im  September  gemeint,  das  Wahlrecht  könne 
nur  „auf  der  festen  Unterlage  der  Ordnung  unserer  nationalen  Ver- 
hältnisse" geschaffen  werden.  Er  hat  damals  noch  von  den  „Sied- 
lungs-  und  Schichtungsverhältnissen"  gesprochen,  die  das  allge- 
meine und  gleiche  Recht  unmöglich  machen.  Aber  die  Dinge  sind 
gar  nicht  so  mysteriös,  als  man  sie  hinstellt.  Sie  machen  sich  immer 
selbst  solche  Geschichten  vor.  In  Wirklichkeit  ist  die  Sache  ganz 
einfach.  Wir  haben  national  einheitliche  und  wohl  einige  national 
gemischte  Gebiete,  aber  lange  nicht  so  viel,  als  angenommen  ward. 
Die  Schichtungsverhältnisse,  die  existieren  auch;  das  heißt,  es  gibt 
auch  bei  uns  Klassengegensätze,  aber  das  ist  keine  Ent- 
deckung, die  großen  Scharfsinn  erfordern  würde,  und  wenn  wir 
warten*  wollten,  bis  diese  Schichtungsverhältnisse  beseitigt  sind,  so 
dürfte  dies  etwas  langwierig  werden.  (Heiterkeit.)  Vor  allem 
anderen  ist  ja  der  Kampf  ums  Wahlrecht  eine  Wirkung  dieser 
berühmten  Schichtungsverhältnisse,  nämlich  die  Wirkung  der  Tat- 
sache, daß  die  Schicht  der  Arbeiterklasse  zum 
Selbstbewußtsein  und  zu  einem  selbständigen 
Willen  gekommen  ist  und  zu  einem  so  kräftigen, 
klaren,  energischen  und  einem  so  wenig  zu  leug- 
nenden Ausdruck  dieses  Willens,  daß  sie  selbst 
das  durchsetzen  wird,  was  in  Österreich  immer 
am  schwersten  durchzusetzen  war:  das  Vernünf- 
tige und  das  Gerechte!  (Sehr  gut !  bei  den  Sozial- 
demokraten.) 

Nun  ist  der  Minister  den  Dingen  nähergetreten.  Er  hat  am 
29.  September  sehr  skeptisch  über  das  Wahlrecht  gesprochen;  er 
hat  am  6.  Oktober  eine  Erklärung  abgegeben  —  damals  muß  er 
gerade  im  Zustand  des  Mauserns  gewesen  sein  (Heiterkeit)  — , 
in  der  er  sich  nicht  recht  entschließen  konnte,  die  aber  noch  recht 
lahm  war.  Vorgestern  haben  wir  hier  eine  energische,  vernünftige, 
klare  Erklärung  gehört,  die  in  ihren  großen  Zügen  ganz 
gut  gestimmt  hat  zu  dem,  was  s  i  c  h  z  u  r  s  e  1  b  e  n 
Stunde  vor  den  'Foren  dieses  Hauses  und  in  allen 

17* 


260  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


Städten  Österreichs  begeben  hat.  (Sehr  richtig !  bei 
den  Sozialdemokraten.)  Zur  selben  Stunde  hat  nämlich  der  beste 
Teil,  der  politisch  klarste,  der  politisch  wolle  ndste  Teil 
aller  Völker  Österreichs  erklärt,  daß  er  es  nicht  mehr  länger  aus- 
hält und  nicht  geneigt  ist,  es  länger  zu  ertragen,  daß  die  Völker 
Österreichs  ohne  Vertretung  bleiben,  daß  es  ihre  Würde  und  ihre 
Interessen  unmöglich  machen,  noch  einmal  die  Schande  und 
Schmach  zu  erleben,  an  Wahlen  heranzutreten,  die  ein  Abgeord- 
netenhaus erzeugen,  das  keine  Volksvertretung  ist.  Die  Demon- 
strationen sind  der  beste  Kommentar  dafür,  wie  recht  Baron 
Gautsch  hatte,  wenn  er  erklärte,  es  sei  einfach  ausge- 
schlossen, die  Wahlreform  nicht  zu  machen.  Es  ist 
unerläßlich  und  unvermeidlich,  sie  zu  machen,  und  darum  ist  es  das 
klügste,  Sie  sträuben  sich  nicht. 

Es  ist  eine  Kraftvergeudung  von  Ihrer  Seite,  es  ist  durchaus 
unökonomisch,  wenn  wir  hier  darüber  streiten;  diese  Schlacht 
ist  im  Wesen  entschieden;  Österreich  kann  nicht  mehr 
anders,  als  eine  Volksvertretung  mit  dem  allgemeinen  Wahlrecht 
haben,  und  alles,  was  Sie  dem  entgegensetzen,  hier  im  Hause  wie 
außerhalb,  alle  Kabalen  und  Intriguen,  alle  Deklarationen,  alle 
Einwürfe  dienen  nur  dazu,  den  Streit  zu  vergiften,  ihn  in 
eine  verkehrte  Bahn  zu  lenken,  in  einen  Weg,  der 
falsch  ist  und  von  dem  Sie  selbst  sehr  gut  wissen, 
daß  er  falsch  ist.  Diese  Intriguen  könnten  schließlich  dahin 
führen,  daß  ein  Kampf,  der  heute  überflüssig  ist,  noch  einmal 
geführt  werden  müßte.  (Lebhafter  Beifall.) 

Baron  Gautsch  hat  diesmal  sehr  vernünftig  gesprochen;  aber 
wie  lange  die  Vernunft  bei  einer  österreichischen  Regierung  dauert, 
ist  nie  recht  sicher.  Mir  geht  es  bei  solchen  Regierungs- 
erklärungen immer  wie  dem  Till  Eulenspiegel.  Wenn  es  hinunter- 
geht, wenn  man  uns  verfolgt,  unsere  Presse  knebelt,  unsere  Frei- 
heiten beschränkt,  dann  habe  ich  das  Gefühl,  wir  werden  das  alles 
überwinden,  jetzt  wird  es  bald  wieder  bergauf  gehen.  Aber  wenn 
eine  Regierung  in  Österreich  vernünftig  redet,  da  denke  ich  immer: 
Halt,  da  ist  Gefahr,  da  kommt  bei  dem  Umspringen  des  WTindes  der 
politische  Cretinismus  Austriacus  wieder  oben- 
auf. (Heiterkeit.)  Hoffen  wir,  daß  die  Episode  dieser  Schwankungen 
vorbei  ist.  Aber  ich  verlasse  mich  nicht  darauf  und  niemand  sollte 
sich  darauf  verlassen,  nicht  auf  die  Krone  und  nicht  auf  die  Regie- 
rung. Es  ist  sehr  erfreulich  und  es  ist  durchaus  notwendig  gewesen, 
daß  die  Krone  ihre  Genehmigung  zur  Einbringung  des  Wahlgesetzes 
erteilt  hat,  und  es  stimmt  dies  durchaus  zu  der  Haltung,  die  die 
Krone  in  Ungarn  einnehmen  mußte.  Wir  sind  gewiß  in  Österreich 
auch  von  der  Krone  nicht  gerade  an  eine  geradlinige  Politik  ge- 
wöhnt. Aber  ich  möchte  doch  diejenigen  warnen,  die  dem  Wahl- 
recht Hindernisse  bereiten  möchten  und  die  auf  die  Kur  z- 
atmigkeit  der  Vernunft  da  oben  spekulieren.  Es  ist  nicht 
meine  Sache,  zu  untersuchen,  wie  es  mit  dem  Verantwortlichkeits- 
geiühl  oben  bestellt  ist.  Sie,  meine  Herren,  aber,  Sie  sind  verant- 


I  He  Erklärung  des  Ministerpräsidenten  Qautsch.  261 


wörtlich,  und  wenn  Sic  diese  schwankende  Haltung  oben  benutzen 
und  Ihre  lnlrigucn  darauf  bauen  wollen,  dann  laden  Sie  eine 
schwere  Verantwortung  auf  sich.  (Bravo!  Bravo!)  Sic  jeder 
persönlich  (Sehr  richtig!),  und  es  wird  Leute  geben, 
die  Sie  auch  persönlich  zur  Verantwortung 
ziehen  werden.  (Beifall  und  Händeklatschen  bei  den  Sozial- 
demokraten.) 

Ich  spreche  nicht  als  ein  Drohender,  sondern  ich  konstatiere  nur 
eine  Tatsache.  Wer,  und  wäre  er  der  erbittertste  Feind  der  Sozial- 
demokratie, die  Demonstration  von  vorgestern  gesehen  hat,  der 
muß  Respekt  vor  diesem  Schauspiel  gehabt  und 
die  Energie  und  die  Selbstverleugnung  dieser 
großen  Massen  erkannt  haben.  Diese  Hunderttausende, 
die  vorübergezogen  sind,  sie  sind  selbstverständlich  entrüstet  und 
empört,  weil  sie  ausgeschlossen  sind  aus  diesem  Hause  und  weil  sie 
es  empfinden,  daß  hier  der  Ort  ist,  an  welchem  ihre  Interessen 
vertreten  werden  müßten,  aber  nicht  vertreten  werden.  Haben  Sie 
selbst  nicht  immer,  wenn  Sie  an  dieses  Parlament  denken,  das 
Gefühl,  daß  Sie  ausspucken  müssen?  Und  nun  erst  diese  Massen, 
die  da  vorübergezogen  sind!  Die  haben  selbstverständlich  andere 
Gefühle  als  die  der  Freundschaft  für  diesen  Privilegientempel.  Es 
fällt  uns  nicht  ein,  zu  drohen,  aber  auf  die  Tatsachen 
müssen  w  i  r  weisen.  Baron  Gautsch  ist  der  Ansicht,  daß  die 
Wahlreform  am  raschesten  gedeihen  werde,  wenn  Ruhe  und  Ord- 
nung herrschen.  Ruhe  und  Ordnung,  das  bedeutet  für  ihn,  daß  keine 
Demonstration  ist.  Eine  andere  Ruhe  und  Ordnung  kennt  er  nicht. 
Wir  sind  —  entschuldigen  Sie  —  nicht  dieser  Ansicht  und  wir 
glauben,  daß  wir  das  besser  verstehen.  Er  hat  auch  gesagt,  er  sei 
weit  davon  entfernt,  sich  das  „Tempo"  seiner  politischen  Entwick- 
lung durch  Demonstrationen  beschleunigen  zu  lassen.  Gewiß,  wir 
sind  ganz  unschuldig  daran  und  wir  glauben  wirklich,  der  heilige  Geist 
ist  über  ihn  gekommen  (Heiterkeit) ;  aberwir  vermuten,  daß 
diesmal  der  heilige  Geist  ausnahmsweise  statt 
vonobenvonuntengekommenist.  (Lebhafte  Heiterkeit.) 
Wir  drohen  Ihnen  nicht;  aber  wir  sagen  Ihnen,  daß  diejenigen,  die 
das  Verschleppen  der  Wahlreform  auf  ihr  Gewissen  nehmen 
würden  —  ob  sie  nun  auf  der  Regierungsbank  oder  auf  diesen 
Bänken  hier  sitzen  — ,  der  Tatsache  einer  Volksbewe- 
gunggegenüberstellen, ein  er  Tatsach  e,  die  soeine 
Tatsache  ist,  wie  irgendeine  Naturtatsache  (Sehr 
richtig !)  und  die  ihre  Folgen  und  ihre  Wirkung  mit 
der  grausamen  Konsequenz  einer  elementaren 
Tatsache  haben  wird.   (Beifall   bei  den   Sozialdemokraten.) 

Wir,  die  wir  zur  Beobachtung  dieser  Naturerscheinung  einen 
besseren  Standpunkt  haben,  wir  sagen  Ihnen,  daß  die  Arbeiter- 
schaft, auch  die  sozialdemokratisch  nicht  organisierte  Arbeiter- 
schaft erregt,  ja  mehr  als  erregt  ist,  daß  sie  das  feste 
Bewußtsein  in  sich  trägt,  daß,  wenndieWahlreform  nicht 
amacht    werden     sollte,     jedes    Opfer     gebracht 


262  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

werden  müßte,  um  sie  durchzusetzen.  (Beifall  und 
Händeklatschen  bei  den  Sozialdemokraten.)  Das  ist  nicht  eine 
rednerische  Phrase,  sondern  ich  und  jeder  meiner  Parteigenossen 
weiß,  daß,  wenn  nicht  unser  Verantwortlichkeits- 
gefühl wäre,  wenn  wir  der  Stimmung  der  Massen 
freien  Lauf  ließen,  wir  bereits  in  einem  weit  vor- 
geschritteneren Stadium  der  Erhebung  wäre  n. 
(Sehr  richtig!)  Jedes  Wort,  das  von  den  Gegnern  der  Wahlreform 
fällt,  wird  mit  Recht  als  ein  Verrat  am  Volke  aufgefaßt. 
Wenn  wir  in  den  nächsten  Wahlkampf  unter  dem  alten  Wahlgesetz 
eintreten  würden,  dann  würde  sich  eine  Situation  herausbilden,  die 
ich  mir  schlechthin  nicht  vorstellen  kann,  von  der  sich  niemand 
eine  Vorstellung  macht.  Wie  kann  jemand  denken,  daß 
man  Österreich  noch  einmal  auf  sechs  Jahre  de  m 
blanken  Unsinn,  der  blanken  Ohnmacht,  der 
blanken  Schande  vor  dem  Ausland  ausliefern 
soll?  (Beifall  bei  den  Sozialdemokraten.)  Sie  müssen  doch  die 
Empfindung  haben,  daß  das  nicht  geht,  daß  die  Wahlreform  sein 
muß.  Aber,  wenn  sie  sein  muß,  dann  haben  Sie  doch  die  Güte,  d  i  e 
Opfer,  die  Sie  sich  selbst  und  den  Massen  aufer- 
legen, möglichst  zu  verringern. 

Wir  haben  bei  den  Demonstrationen  in  Wien  und  Prag  Blut 
fließen  gesehen;  es  ist  vorgestern,  dank  der  brutalen  Borniertheit 
von  ein  paar  Fabrikanten,  auch  in  einzelnen  Orten  Mährens  Blut 
geflossen.  Dieses  Blut  wird  natürlich  immer  damit  motiviert:  Es 
gilt  nicht  der  Verteidigung  der  Privilegien,  es  wird  nur  die 
Ruhe  und  Ordnung  verteidigt.  Aber  wenn  Arbeiter,  wie 
in  Austerlitz*),  in  einer  Fabrik  ein  paar  Fensterscheiben  zerstörten, 
dann  lautet  das  Gesetz  nicht:  Zahn  um  Zahn,  sondern:  Um 
Fensterscheiben  Menschenleben.  (Beifall  bei  den 
Sozialdemokraten.)  Die  Zusammenstöße  in  Wien  haben  viel  Unwillen 
erregt,  obwohl  sie  nicht  direkt  auf  das  Konto  des  Polizeipräsidiums 
zu  setzen  sind.  Gewiß  sind  dem  Polizeipräsidium  diese  Zusammen- 
stöße unangenehm.  Aber  die  Verantwortung  dafür  tragen  nicht  nur 
die  Wachleute,  die  ausgerüstet  mit  dem  Rechte  der  öffentlichen 
Gewalttätigkeit  sind,  dadurch,  daß  man  ihnen  einen  Säbel  in  die 
Hand  drückt.  Solche  Zusammenstöße  sind  eine  Folge 
davon,  daß  alle  früheren  Gewalttätigkeiten  der 
Polizei  nicht  bestraft  wurden;  weil  man,  um  nur 
eine  Tatsache  anzuführen,  den  Einbruch  ins 
Arbeiterheim**),  von  dem  man  wußte,  wer  ihn  be- 
gangen hat,  ungesühnt  ließ. 

*)  In  Austerlitz  in  Mähren  waren  in  der  Redlichschen  Zucker- 
fabrik nach  einer  Versammlung  am  28.  November  einige  Fenster  ein- 
geworfen worden,  darauf  feuerten  die  Gendarmen  eine  Salve  ab,  durch  die 
ein  Arbeiter  getötet  und  zwanzig  verletzt  wurden. 

**)  Am  7.  November  1902  war  Victor  Adler,  der  im  Jahre  vorher  zum 
Landtagsabgeordneten  von  Favoriten  gewählt  worden  war,  mit  6223  Stim- 
men gegen   den   Christlichsozialen  Prochazka,   der   6262   Stimmen   erhielt, 


Die  Erklärung  des  Ministerpräsidenten  Qautsch. 


Abgeordneter  Pernerstorfer:  Banditensireiche ! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Wenn  man  Leuten,  die  man  auf  wehr- 
lose Menschen  losläßt,  ihre  Verhrcclien  verzeiht,  wenn  man  eine 
Immunität  für  schwere  körperliche  Verletzung  statuiert,  darf  man 
sich  nicht  wundern,  daß  sich  solche  Dinge  immer  wiederholen. 
Diese  kleinen  Dinge  dürften  immerhin  davon  ein  Bild  geben,  wozu 
es  käme,  wenn  die  Bewegung  größeren  Umfang  gewinnen  müßte, 
aus  dem  Grunde,  daß  sich  in  diesem  Hause  ernstliche  Hindernisse 
gegen  das  Wahlrecht  fänden.  Ich  kann  Ihnen  darum  nur  empfehlen, 
daß  Sie  das,  was  der  Ministerpräsident  gesagt  hat,  sehr  ernst 
nehmen,  daß  Sie  sich  mit  der  Unerläßlichkeit,  ans  Werk  zu  gehen, 
vertraut  machen,  und  daß  Sie  die  Sache  nicht  hinausziehen. 

Was  die  Einzelheiten  anlangt,  ist  der  Ministerpräsident  aller- 
dings noch  nicht  so  weit  entwickelt,  als  wir  es  wünschen  würden. 
Die  Regierung  steht  noch  immer  unter  der  Suggestion,  die  insbe- 
sondere von  der  linken  Seite  dieses  Hauses,  von  den  deutschen 
Abgeordneten,  ausgeübt  wird,  daß  es  so  ungeheuer  schwer  und  ein 
furchtbares  Problem  ist,  eine  für  Österreich  passende  Wahlreform 
zu  machen  und  unter  einer  solchen  Suggestion  stehen  auch  die 
Polen.  Allerdings  ist  die  Suggestion  der  Polen  viel  einfacher.  Die 
Polen  haben  es  ja  nicht  notwendig,  mit  Psychologie  zu  arbeiten 
(Heiterkeit),  sie  sagen  einfach  brutal:  Hier  sitzen  wir  und  wir 
wünschen  auch,  hier  sitzen  zu  bleiben.  Wir  sind  die  Verfechter  des 
polnischen  Volkes,  wir  wünschen,  diese  Verfechter  seiner  Inter- 
essen lebenslänglich  zu  bleiben  (Heiterkeit),  weil  bekanntlich 
niemand  dieses  wichtige  und  lukrative  Geschäft 
so  gut  trifft  wie  wir.  (Heiterkeit  und  Beifall.)  Diese  Weisheit 
aber  ist  keine  Suggestion,  sondern  brutale  Gewalt.  So  ist  es  bei 
den  Polen.  Die  Deutschen  aber  sind  ein  Volk  von  Gelehrten,  es 
genügt  ihnen  nicht,  eine  Sache  klar  zu  sehen,  sie  betreiben  noch 
ein  umfassendes  Quellenstudium.  Wir  wissen  alle,  schon  seit  Kind- 
heit, daß  zweimal  zwei  vier  ist.  Aber  das  genügt  uns  nicht.  Man 
weiß  ja  nicht,  ob  nicht  die  letzten  Forschungen  doch  nachgewiesen 
haben,  daß  es  etwas  mehr  ist.  Deshalb,  ehe  wir  uns  entschließen, 
•ein  Urteil  zu  fällen,  müssen  wir  noch  alle  möglichen  Bücher  nach- 
lesen, wie  es  damit  steht.  (Lebhafte  Heiterkeit.)  Man  wird  uns  hier 
eine  Unmasse  von  Ziffern  auftischen,  von  Ziffern,  die  —  ich  habe 
alle  diese  Bücher  gelesen  —  größtenteils  falsch  sind,  auch  Ihre, 
Herr  Peschka*),  das  sind  agrarische  Ziffern.  (Heiterkeit.)  Man  wird 
uns  beweisen,  daß  das  Parlament  des  allgemeinen,  gleichen  und 


unterlegen.  Als  die  Arbeiter  aus  der  Versammlung  im  Arbeiterheim  ab- 
zogen, wurden  sie  von  der  Wache  überfallen  und  plötzlich  drangen  die 
Wachleute  auch  in  das  Arbeiterheim  ein,  zerschlugen  die  Fenster  und 
hieben  mit  den  Säbeln  auf  die  Arbeiter  ein.  15  Arbeiter  wurden 
schwer,  zahlreiche  leicht  verletzt.  Siehe  auch  Adlers  Reden 
nach  der  Stichwahl  und  bei  der  Enthüllung  des  Gedenksteines  am 
12.  Februar  1905. 

*)    Ein    deutscher    Agrarier,    der    später    deutscher    Landsmannminister 
wurde. 


264  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

direkten  Wahlrechts  etwas  anders  aussehen  wird  als  das  gegen- 
wärtige Kurienparlament.  Davon  bin  ich  ja  selbst  überzeugt  und, 
wenn  ich  nicht  glauben  würde,  daß  infolge  der  Reform  auch  ein 
paar  andere  Herren  hereinkommen,  würde  ich  ja  nicht  für  die 
Wahlreform  eintreten.  (Lebhafte  Heiterkeit.) 

Können  Sie  sich  denn,  meine  Herren,  ein  größeres  Unglück,  ein 
schlimmeres  Haus  vorstellen  als  dieses?  Wenn  selbst  der  Teufel- 
alle  seine  List  aufwenden  und  sich  überlegen  würde,  wie  er  ein 
Haus  zusammenbringen  könnte,  das  für  Österreich  nicht  paßt, 
das  Österreich  lähmt  und  seine  Entwicklung  unmöglich  macht, 
könnte  er  dann  etwas  Schlimmeres  zuwege  bringen  als  dieses 
Haus?  Zu  verderben  ist  doch  wirklich  nichts  am  österreichischen 
Parlament,  wozu  also  die  Angst  für  das  Parlament?  Aber  die 
Deutschen  erklären,  sie  haben  Angst  für  die  deutsche  Nation. 
Diese  Angst  berührt  mich  sehr  eigentümlich.  Die  Deutschen  in 
diesem  Hause  können  doch  nicht  behaupten,  daß, sie,  die  privile- 
gierten Abgeordneten,  die  deutsche  Nation  darstellen;  und  so 
entpuppt  sich  ihre  Angst  für  die  deutsche  Nation 
in  eine  Angst  vor  der  deutschen  Nation.  (Beifall  bei 
den  Sozialdemokraten.)  Sie  fürchten  nicht  für  die  Inter- 
essen des  deutschen  Volkes,  sondern  sie  fürchten 
sich  vor  dem  Willen  des  deutschen  Volkes.  (Leb- 
hafter Beifall  bei  den  Sozialdemokraten.)  Wie  viele  Wahlbezirke 
gibt  es  denn,  wo  Deutsche  mit  Tschechen  kämpfen?  Sie  fürchten 
nicht,  daß  irgend  ein  Bezirk  an  die  Majorität  einer  anderen  Nation 
ausgeliefert  wird,  sondern  sie  fürchten,  daß  die  Ver- 
tretung ihres  Volkes  an  einen  wirklichen  Ver- 
treter dieses  Volkes  übergehen  könnte. 

Aber  machen  Sie  denn  wenigstens  eine  vernünftige  Klassen- 
politik? Wir  würden  es  vollständig  begreifen,  wenn  jede  Klasse 
für  ihre  Interessen,  wenn  das  deutsche  und  das  tschechische  Bürger- 
tum für  die  politische  Vertretung  ihrer  Klasse  eintreten  würde. 
Aber  das  tun  Sie  in  Wirklichkeit  gar  nicht!  Das  deutsche 
Bürgertum  hat  allen  Grund,  sich  vor  dem  tsche- 
chischen einfach  zu  schämen.  Ich  will  nicht  die  Motive 
untersuchen,  aus  denen  das  tschechische  Bürgertum  so  vernünftig 
handelt.  Das  tschechische  ist  klug,  das  deutsche  unklug.  Warum 
müssen  denn  die  Deutschen  immer  vor  aller  Welt  zeigen  und 
bekennen,  daß  die  politischen  Vertreter  ihres  Bürgertums,  die  noch 
dazu  immer  unter  der  Protektion  eines  Hochadels  standen,  die 
ihrer  gar  nicht  würdig  ist,  sich  jedem  politischen  Fortschritt  mit 
Klauen  und  mit  Zähnen  widersetzt  haben?  Müssen  Sie  sich  denn 
immer  von  den  Klerikalen,  deren  Erbschaft  in  der  Selbstberäuche- 
rung  jetzt. die  Christlichsozialen  übernommen  haben,  sagen  lassen, 
daß  die  Erweiterung  des  Wahlrechtes  die  Klerikalen  durchgesetzt 
haben?  Sie  haben  es  ja  nicht  aus  Liebe  getan,  als  sie  den  Fünf- 
guldenmännern das  Wahlrecht  gaben;  sie  haben  es  stets  verstanden, 
eine  Erweiterung  des  Wahlrechts  mit  einem  Wahlrechtsraub  zu 
verbinden;  aber  es  ist  freilich  wahr,  daß  alles,  was  sich  in  Öster- 


Die  Erklärung  des  Ministerpräsidenten  Qautsch. 


reich  als  Erweiterung  des  politischen  Rechtes  vollzogen  hat,  sich 

g  6  g  c  11  das  d  c  n  t  s  c  li  e  B ü  r  g  e  r  t  n  im  vollzogen  hat 
(Sehr  richtig!),  und  das  ist  ein  Verbrechen  an  Ihnen 
selbst,  es  war  stets  der  schwerste  Fehler,  den  Sie 
begehen  konnten.  Warum  wollen  Sie  diesen  Fehler  wieder 
besehen?  Sie  können  dabei  nichts  profitieren,  sondern  nur  zugrunde 
gehen. 

Allerdings,  wir  haben  auch  Freunde  des  allgemeinen  Wahl- 
rechts, daß  es  einfach  zum  Davonlaufen  ist;  wenn  Herr  Dr.  Lueger 
sagt,  er  ist  ein  Freund  des  allgemeinen  Wahlrechts,  „verbrämt" 
mit  der  fünfjährigen  Seßhaftigkeit,  wenn  die  Deutschnationalen 
erklären,  sie  stimmen  für  das  allgemeine  Wahlrecht,  aber  erst 
muß  die  deutsche  Staatssprache  eingeführt  und  die  Trennung 
Ungarns  und  die  Loslösung  Qaliziens  vollzogen  sein,  so  sind  diese 
Freunde  des  allgemeinen  Wahlrechts  ein  mäßiger  Vorteil;  sie 
stehen  ganz  auf  derselben  Linie  wie  Graf  Dzieduszycki,  der  gesagt 
hat,  er  ist  für  das  allgemeine  Wahlrecht,  aber  nur,  wenn  Qalizien 
125  Mandate  erhält.  Und  dann  kommt  Herr  Gautsch  und  sagt,  das 
Parlament  soll  die  Photographie  eines  Landes  sein.  Herr  Gautsch 
hat  da,  ohne  Absicht  gewiß,  das  Wort  eines  Mannes  variiert,  das 
sonst  nicht  in  so  erlauchter  Gesellschaft  zitiert  wird:  Mirabeaus. 
Es  ist  Herrn  v.  Gautsch  nicht  an  der  Wiege  gesungen  worden,  daß 
er  einmal  Mirabeau  zitieren  wird  (Heiterkeit);  aber  dieses  Bild 
paßt  auch  sonst  auf  diesen  Fall.  Es  gibt  gute  und  schlechte  Photo- 
graphen und  die  schlechtesten  sind,  die  zuviel  retuschieren 
und  aus  der  Photographie  eine  Karikatur  nach 
ihrem  Gusto  machen.  Dieser  Vergleich  ist  sehr  gefährlich 
und  über  den  Grad  des  Retuschierens  könnte  sehr  leicht  ein  Streit 
entstehen,  der  sehr  viel  Zeit  in  Anspruch  nimmt,  während  welcher 
die  Feinde  des  Wahlrechts  ihre  Intrigen  spinnen  würden.  Ich 
fordere  hier  feierlich  und  ich  glaube  wirklich  im  Namen  der 
Massen  zu  sprechen,  die  auf  das  allgemeine  Wahlrecht  warten,  ich 
appelliere  an  die  Freunde  des  Wahlrechts  hüben  und  drüben,  an 
Tschechen  und  Deutsche,  daß  sie  sich  nicht  irremachen  lassen, 
nicht  irremachen  und  in  Konflikte  hineinjagen 
lassen,  die  keine  Konflikte  sind. 

Man  hat  weiter  von  der  Abstufung  der  Wahlkreise  gesprochen. 
Wir  stehen  im  Prinzip  auf  dem  Standpunkt  ganz  gleicher  Wahl- 
bezirke nach  der  Volkszählung;  da  wir  aber  wissen,  daß  es  ausge- 
schlossen ist,  dies  durchzusetzen,  sagen  wir:  was  vernünftig  ist, 
was  hier  vorgekehrt  werden  kann,  dem  werden  wir  uns  fügen  und 
wir  haben  auch  eine  Begründung  für  einen  Unterschied  in  der 
Wählerzahl  der  einzelnen  Wahlbezirke*),  eine  Begründung,  die  aller- 


*)  lim  den  Widerstand  der  Deutschbürtfcrlichen  zu  überwinden,  hatte 
A.  Friedrich  (unter  welchem  Pseudonym  sich  der  Chefredakteur  der 
„Arbeiter-Zeitung"  Friedrich  A  u  s  t  e  r  1  i  t  z  verbarg)  in  Pernerstorfers 
„Deutschen    Worten"    den    Vorschlag    gemacht,    die    Wahlkreise    nach    der 

lerleistung    der    Bezirke    verschieden    Kroß    zu    machen,    wodurch    den. 


266  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

dings  etwas  anderes  ist  als  die  berühmte  Steuerleistung.  Denn  die 
Steuerleistung  ist  von  den  ehrlichen  Freunden  des  Wahlrechts  nur 
gemeint  als  ein  Maßstab,  nicht  aber  als  ein  Rechtsgrund,  aus  dem 
das  Wahlrecht  fließt,  und  es  ist  ein  Maßstab,  der  sogar  falsch  ist 
und  durch  die  Bevölkerungszahl  korrigiert  werden  muß.  Von 
polnischer  Seite  wird  man  ja  gewiß  für  die  Gleichheit  des  Wahl- 
rechts bis  zum  Exzeß  eintreten;  man  wird  vor  nichts  zurück- 
schrecken, bevor  das  Recht  des  letzten  ruthenischen  Bauern 
gleichgestellt  ist  dem  Rechte  des  Bürgers  in  Wien.  (Heiterkeit.) 
Man  wird  mathematisch  das  gleiche  Wahlrecht  mit  einem  Fanatis- 
mus aufgreifen,  daß  wir  alle  Mühe  haben  werden,  uns  dieser 
mörderischen  Freundschaft  zu  erwehren.  Wenn  wir  aber  größere 
Wahlkreise  im  Osten  akzeptieren  als  in  den  deutschen  oder 
tschechischen  städtischen  und  Industriebezirken,  so  können  wir  das 
mit  gutem  Gewissen  tun,  weil  wir  damit  eine  sehr  nahe  Zukunft 
eskomptieren.  Wenn  Sie  heute  Wien,  Briinn,  Kladno,  Pilsen, 
Reichenberg  einem  rein  agrarischen  Bezirk  im  Osten  oder  Süden 
gleichsetzen,  da  wie  dort  61.000  Einwohner  als  Grundlage  für  ein 
Mandat  annehmen,  so  haben  Sie  bereits  bei  den  näch- 
sten Wahlen,  gewiß  aber  bei  den  zweitnächsten 
darin  die  stärkste  Ungerechtigkeit  zuungunsten 
der  industriellen  Arbeiter  und  der  städtischen 
Bevölkerung  begangen.  (So  ist  es !)  Es  versteht  sich  von 
selbst,  daß  sich  die  städtischen  und  industriellen  Zentren  an  Be- 
völkerung und  Wählerzahl  um  das  Vielfache  rascher  vermehren 
als  die  anderen  Teile.  Wir  sehen,  wie  in  Deutschland  der  Reichstag 
mittels  dieser  erstarrten  Einteilung  unter  die  pommerschen  Junker 
gebeugt  wird.  Wenn  die  Herren  außerdem  darin  eine  Sicherung 
ihrer  nationalen  Interessen  sehen,  so  wollen  wir  uns  darüber  freuen, 
daß  wir  ihnen  eine  Freude  machen  können. 

Wir  meinen  allerdings,  daß  die  Wahrung  der  Interessen  eines 
Volkes  mit  der  Zahl  der  Stimmen,  die  es  im  Hause  hat,  nur  sehr 
unwesentlich  zusammenhängt.  Wo  die  Deutschen  hier  wirklich 
stark  waren,  waren  sie  es  nicht,  als  sie  die  Majorität  waren,  sondern 
nur  dann,  wenn  sie  Minorität  waren.  Das  sind  also  Torheiten! 
Niemand,  der  das  gleiche  Recht  will,  will  irgendein  Volk  verge- 
waltigen, im  Gegenteil!  Er  will  das  Volk  erst  zum  Wort 
bringen.  Und  glauben  Sie,  daß  der  deutsche  Arbeiter  einen 
deutschen  Großgrundbesitzer  für  einen  Vertreter  seiner  Volks- 
interessen ansieht?  Wenn  Sie  aber  meinen,  daß  der  deutsche 
Arbeiter  nationale  Interessen  nicht  ebenso  hat  wie  Sie,  so  täuschen 
Sie  sich:  die  deutschen  Arbeiter,  die  tschechischen  Arbeiter  haben 
ihre  nationalen  Interessen,  ihr  volles  nationales  Bewußtsein,  und 
für  die  Entwicklung  dieses  nationalen  Bewußt- 
seins und  die  Aufnahme  nationaler  Kultur  in  den 


kulturell  höherstehenden  westlichen  Ländern  gegenüber  den  unkultivierten 
östlichen  ein  Übergewicht  verschafft  würde.  Diese  Formel  konnte  auch  von 
den  Tschechen  akzeptiert  werden  und  sie  ermöglichte  die  Überwindung 
der  Gegenargumente  der  deutschen  Bourgeoisie. 


Die  Erklärung  des  Ministerpräsidenten  Qautsch,  '^>7 


M  a  s  S  e  ii  cl  e  s  V  0  1  k  e  S  h  a  b  e  n  wir  inte  r  n  a  t  i  o  n  a  I  c 
S  0  Z  i  a  l  d  e  m  0  k  raten  mehr  getan  als  Sie  alle  Z  u- 
s  a  in  in  e  n.  (Lebhafter  Beifall  hei  den  Sozialdemokraten.)  Das  sage 
ich,  ohne  Unterschied  für  alle  Parteien,  die  hier  vertreten  sind:  Die 
nationalen  Interessen  werden  nicht  wehrlos  gemacht,  wenn  einige 
der  Herren,  die  jetzt  im  Besitz  ihrer  Mandate  allmählich  unsicher 
zu  werden  beginnen,  ihrer  endlich  in  Zukunft  endgültig  verlustig 
werden  sollten.  Trauer  tragen  mag  um  die  Herren  wer  will,  das 
deutsche  Volk  wird  es  nicht.  Seien  Sie  überhaupt  nicht  so  ängstlich! 
Es  gab  eine  Zeit,  wo  der  „deutsche  Besitzstand"  nicht  nur  durch 
die  Wahlordnung  geschützt  war,  sondern  auch  durch  Polizei,  wo 
man  gemeint  hat,  der  Bezirkshauptmann,  der  die  internationale 
Bande  in  Zucht  und  Ordnung  hält,  sei  die  eigentliche  Stütze  der 
deutschen  Nation;  eine  Zeit,  wo  nicht  nur  die  sozialdemokratische 
wie  jede  oppositionelle  Presse  geknebelt  war.  Was  haben  Sie 
damit  erreicht?  Nichts  als  Blamagen  und  den  verdienten  Haß 
der  Bevölkerung.  Sehr  gegen  das  Interesse  des 
deutschen  Volkes  handeln  Sie,  wenn  Sie  den 
deutschen  Namen  immer  wieder  mit  allen  volks- 
feindlichen Einrichtungen,  volksfeindlichen  Ge- 
setzen und  Gewalttätigkeiten  in  Verbindung 
bringen.  Wir  Deutschen  sind  allerdings  von  Feinden  umgeben, 
aber  das  sind  nicht  Feinde  der  deutschen  Sprache  und  des  deutschen 
Volkes.  Die  deutsche  Sprache  hat  in  Österreich  immer  eine  doppelte 
Funktion  gehabt.  Die  deutsche  Sprache  ist  die  Muttersprache  des 
deutschen  Volksstammes.  Als  solche  lieben  wir  sie  und  als  solcher 
will  ihr  auch  kein  Fremder  etwas  tun.  Die  deutsche  Sprache  ist 
aber  auch  die  Amtssprache  jenes  schwarz-gelben 
Österreich,  das  von  je  ein  Feind  aller  Völker  und 
auch  des  deutschen  Volkes  war.  In  dieser  deutschen 
Sprache  hat  man  Ungarn  vergewaltigt  und  man  hat  heute  die 
Früchte  davon;  in  dieser  deutschen  Sprache  hat  man  die  Italiener, 
die  Tschechen,  die  Polen  vergewaltigt.  Es  hat  keinen  politi- 
schen Galgen  gegeben,  der  nicht  schwarz-gelb 
war,  und  es  hat  kein  Bluturteil  gegeben,  das  nicht 
in  deutscher  Sprache  verfaßt  war.  (Lebhafter  Beifall 
bei  den  Sozialdemokraten.)  Diese  Schmach  hat  man  der  deutschen 
Sprache  angetan,  undwenn  Sie  Deutsche  sind  und  eine 
Empfindung  dafür  haben,  müssen  Sie  aufstehen 
und  sagen:  Nein!  Alles  soll  die  deutsche  Sprache 
sein,  aber  nicht  die  Staats-,  Amts-  und  Unter- 
drückungssprache dieses  alten  Österreich.  (Beifall 
bei  den  Sozialdemokraten.)  Diese  Schmach  müssen  Sie  selbst 
abwehren;  Sie  haben  jetzt  eine  Gelegenheit,  sich  zu  reinigen,  sich 
selbst  zu  erneuern,  und  es  ist  ein  Verbrechen  a  n  I  h  n  e  n 
selbst,  wenn  Sie  diese  Gelegenheit  nicht 
ergreifen.  Die  Bewegung  geht  über  Sie  hinweg, 
wenn  Sie  nicht  mit  ihr  gehen.  Sehen  Sie  andere  an,  zum 
Beispiel  die  Christlichsozialen,  wie  sie  schnell  aufsteigen  und  auf 


268  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechte 

den  rollenden  Wagen  sich  zu  retten  suchen.  (Sehr  gut!  bei  den 
Sozialdemokraten.)  Sie  müssen  es  nicht  so  wenig  aufrichtig,  so 
wenig  geschickt  machen.  Machen  Sie  es  vernünftiger,  ehrlicher, 
würdiger. 

Wir  sind  ja  auch  in  den  Baron  Oautsch  nicht  verliebt.  Die 
Christlichsozialen  wundern  sich  immer  furchtbar,  wenn  wir 
..ministeriell"  werden.  Aber  jedesmal,  wenn  die  Sozial- 
demokraten so  ausschauen,  als  wären  sie  mini- 
steriell, ist  das  Gegenteil  der  Fall:  Da  ist  immer 
das  Unglaubliche  eingetreten,  daß  ein  Minister 
vernünftig  geworden  ist.  (Heiterkeit.)  Wie  der  Körber 
angefangen  hat,  die  alten  Polizeigeschichten  wegzuschmeißen, 
haben  wir  gesagt,  er  ist  ein  vernünftiger  Minister.  Da  hat  man 
geschrien,  wir  sind  Körber-Husaren,  Jetzt  ist  es  wieder  nicht  recht, 
daß,  wenn  „Pfui  Gautsch!"  gerufen  wird,  wir  sagen,  man  soll  sich 
das  aufheben,  bis  schlechtere  Zeiten  kommen.  Wie  Baron  Gautsch 
jetzt  ist,  ist  es  ja  ganz  in  der  Ordnung,  nur  ist  er  ein  bißchen  zu 
wenig  energisch.  Wenn  vielleicht  die  Herren  vom  Großgrundbesitz, 
denen  er  zugänglicher  ist  und  die  er  in  seiner  Einfalt  —  verzeihen 
Sie  das  harte  Wort  —  für  tiefsinnige  Staatsmänner  hält,  kommen 
und  ihm  zureden,  werden  wir  schon  um  die  Erlaubnis  bitten,  Herrn 
Gautsch  in  seinem  politischen  Verständnis  etwas  nachzuhelfen  und 
denHerren  in  der  Besonnenheit  nachzuhelfen,  die 
Dinge  nicht  auf  die  Spitze  zu  treiben.  (So  ist  es!  bei 
den  Sozialdemokraten.)  Ein  Großgrundbesitzmandat  mag  ja  eine 
sehr  angenehme  Sache  sein,  aber  der  bessere  Teil  davon 
ist  doch  der  —  Großgrundbesitz.  (Heiterkeit.)  Begnügen 
Sie  sich  mit  dem!  Sie  sind  doch  wirklich  versorgt.  (Schallende 
Heiterkeit.)  Wenn  Baron  Gautsch  in  Aussicht  gestellt  hat,  er  wolle 
das  Herrenhaus  renovieren,  ob  er  Sie  nun  ernennen  oder  hinein- 
wählen lassen  wird,  irgendeine  Gelegenheit  zum  Wege  ins  Herren- 
haus wird  es  ja  für  Sie  geben,  und  das  ist  ja  viel  besser, 
viel  standesgemäßer  für  Sie.  (Heiterkeit.)  Hier  leben  Sie 
doch  nur  unter  dem  Pöbel,  der  Ihnen  immer  nur  so  unangenehme 
Dinge  sagt.  (Lebhafter  Beifall.) 

Nun  kommen  die  Dinge,  in  denen  Baron  Gautsch  schwach 
geworden  ist.  Er  hat  das  Bestreben,  Sie  zu  beruhigen,  und  erzählt: 
Für  die  Landtage  bleibt  es  bei  den  Kurien*),  die  Landtage  sind  etwas 
anderes  als  der  Reichsrat.  Von  Herrn  v.  Körber  hat  man  es  umge- 
kehrt gehört,  man  müsse  in  den  Landtagen  auch  die  fünfte  Kurie 
einführen,  damit  es  genau  so  ist  wie  im  Reichsrat.  Aber  darüber, 
wie  das  allgemeine  Wahlrecht  im  Reichsrat  auf  die  Landtage 
wirken  wird,  braucht  man  sich  jetzt  wirklich  nicht  den  Kopf  zu 
zerbrechen.  Das  werden  wir  schon  beizeiten  sehen.  Mit  der  Kom- 
bination Wahlreform  und  Geschäftsordnung**)  hat  sich  dann  der  Herr 


*)  In  den  Landtagen  ist  das  Kuriensystem  bis  zum  Umsturz  geblieben. 

**)  Gautsch  hatte  in  seiner  Erklärung  auch  davon  gesprochen,  daß  mit 

der   Wahlreform    eine    zweckmäßige    Umgestaltung    der   Geschäftsordnung 


Die  Erklärung;  des  Ministerpräsidenten  Qautsch.  2Ö9 


Ministerpräsident  auf  ein  (iel)iet  begeben,  von  dem  es  in  seinem 
eigenen  Interesse  gescheiter  gewesen  wäre,  er  hatte  davon  ge- 
schwiegen. Mit  der  Geschäftsordnung  ist  es  ähnlich  wie  mit  den  Spiel- 
regeln beim  Tarock.  So  lange  man  sieh  daran  halt,  sind  sie  sehr  gut. 
Aber  was  nützen  Ihnen  die  besten  Spielregeln,  wenn  Ihnen  der  Partner 
die  Karten  ins  Gesicht  wirft?  (Lebhafte  Heiterkeit.)  In  einem  guten 
Hanse  funktioniert  auch  eine  schlechte  Geschäftsordnung  famos 
und  in  einem  schlechten  Hause  nützt  Ihnen  die  beste  Geschäfts- 
ordnung nichts.  Abgesehen  davon,  daß  sie  eine  Absurdität  und 
unwirksam  ist,  ist  diese  Idee  auch  eine  Unmöglichkeit.  Sie  können 
doch  diesem  Hause  nicht  gestatten,  eine  neue  Geschäftsordnung  zu 
machen.  Wie  können  Sie  denn  die  erste  Volksver- 
tretung, die  w  i  r  haben  werden,  unter  die  Kuratel 
dieses  Privilegien  haus  es  setzen?  Wie  kommt  dieses 
Haus,  das  sich  selbst  nicht  führen  kann,  dazu,  einer 
künftigen  Volksvertretung  ein  Mißtrauensvotum  zu  geben,  ihr 
pädagogische  Lehren  zu  erteilen?  (Beifall.)  Die  Geschichte  von  der 
Geschäftsordnung  ist  wohl  nicht  auf  dem  Mistbeet  des  Baron 
Gautsch  gewachsen,  sondern  das  ist  eine  jener  Intrigen,  die  von 
rückwärts  kommen  . . . 

(Während  dieser  Ausführungen  des  Redners  fällt  von  der 
zweiten  Galerie  eine  Anzahl  von  Blättern  in  die  Bänke  der  Abge- 
ordneten; Unruhe  und  Zwischenrufe.  —  Rufe:  Es  ist  eine  private 
Bittschrift!) 

Abgeordneter  Dr.  Adler  (fortfahrend):  Im  Laufe  der  Dinge  wird 
man  vom  Pluralitätswahlrecht,  vom  Proportionalwahlrecht,  von  der 
Wahlpflicht  sprechen;  aber  das  sind  lauter  Dinge,  die  von  vorn- 
herein ausgeschlossen  werden  müßten.  Das  Proportionalwahlrecht 
ist  allerdings  eine  vorgeschrittene  Form  des  Wahlrechts  und  die 
Sozialdemokraten  wünschen  sogar  programmatisch  seine  Ein- 
führung. Sie  wünschen  noch  mehr:  Das  Wahlrecht  vom  21.  Lebens- 
jahr an  und  das  Frauenwahlrecht. 

Abgeordneter  Glöckner*):  Oje! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Lassen  Sie's  gut  sein!  Auch  diese 
Erweiterungen  des  Wahlrechts  werden  einmal  kommen.  Aber  wir 
bescheiden  uns  heute  mit  dem,  was  jetzt  möglich,  durchführbar 
und  notwendig  ist,  und  halten  jede  Erschwerung  des  gleichen  Wahl- 
rechts durch  Künstlichkeiten  für  eine  Feindseligkeit  gegen  das 
gleiche  Wahlrecht,  für  eine  Gefahr.  Uns  wäre  das  Proportional- 
wahlrecht ja  sehr  angenehm.  Wir  würden  in  Niederösterreich  mehr 
als  die  vier  Mandate  bekommen,  die  wir  heute  haben;  wir  sind  ja 
mehr  als  zwei  Fünftel  der  Wählerschaft.  Die  Vergrößerung  der 
Wahlbezirke,    die    für    das   Proportionalwahlrecht    notwendig    ist, 


vor  sich  gehen  solle,  und  hatte  auch  ein  Gesetz  ü  b  e*r  die 
Geschäftsordnung  durchsetzen   wollen. 

)  Ein  biederer  deiitschnationaler  Spießer  ans  Neustadt  an  der  Tarel- 
fichte,  vertrat  die  Landgemeinden  von  Reichenberg.  Im  zweiten  Parlament 

allgemeinen  Wahlrechtes  ivi!  tauchte  er  wieder  als  Abgeordneter  von 
Gablonz  auf. 


270  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


stellt  im  Widerspruch  zu  der  Notwendigkeit,  kleine  und  national 
einheitliche  Wahlkreise  zu  schaffen.  Wollen  Sie  das  Proportional- 
wahlsystem zwischen  den  Nationen  entscheiden  lassen?  Sie  können 
sie  doch  gleich  national  abgrenzen  und  für  die  national  gemischten 
Bezirke  haben  Sie  in  Mähren*)  einen  Vorgang  getroffen,  den  man, 
wenn  er  nicht  durch  den  Widersinn  der  fünften  Kurie  und  durch  die 
Sünde  der  kleinen  Zahl  von  Mandaten  verdorben  wäre,  als  einen 
durchaus  zielgemäßen  und  aussichtsvollen  Versuch 
ansehen  könnte  und  zu  dem  man  die  Mährer  beglückwünschen 
müßte.  Aber  das  Proportionalwahlrecht  ist  ein  schwieriges  System 
und  es  erhebt  sich  da  gleich  die  Frage,  welches  von  den  vielen 
Systemen  man  da  einführen  soll.  Darum  sollte  man  diese  Frage 
nicht  aufwerfen.  Und  wozu  läßt  der  Ministerpräsident  das  Plural- 
wahlsystem**) „studieren"?  Denn  ich  halte  ihn  nicht  für  so 
unvernünftig,  daß  er  seine  Zeit  selbst  an  so  überflüssige  Dinge 
wendet.  Das  Pluralwahlsystem  ist  in  Belgien  kom- 
plett bankerott,  es  ist  nur  der  größte  Unterschlupf  für  alle 
Wahlmogeleien.  Wenn  es  schon  schwer  ist,  zu  kontrollieren,  daß 
jeder  Wähler  mit  seiner  einen  Stimme  in  die  Wählerliste  kommt, 
wie  schwer  ist  es,  zu  kontrollieren,  ob  er  mit  seinem  richtigen 
Gewicht  darin  ist,  ob  er  wirklich  die  Kinder  hat,  die  Steuer  zahlt, 
den  Titel  besitzt,  daß  er  eine  zweite,  eine  dritte  Stimme  erhält? 
Die  W  a  h  1  p  f  1  i  c  h  t***)  aber  ist  derZwang,  mit  dem  man  die  Stimme 
desjenigen,  der  von  der  Politik  nichts  weiß,  sich  für  die  Politik 
nicht  interessiert,  gegen  die  politisch  interessierten  Menschen  aus- 
spielen %will. 

Abgeordneter  Glöckner:  Schutz  gegen  Terrorismus! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Nicht  Schutz  vor  Terroris- 
mus, sondern  Gelegenheit  zu  Terrorismus  auf  der 
breitesten  Grundlage!  Wenn  der  Bürgermeister  auf  dem 
Lande  zum  Bauern  sagt:  „Du  mußt  wählen!*'  so  weiß  der  Bauer 
schon,  daß  das  heißt:  „Du  mußt  diesen  und  jenen  wählen!"  Wenn 
in  Wien  der  Magistrat  den  Auftrag  gibt:  „Du  mußt  wählen!"  so 
weiß  der  Mann,  er  muß  den  Herrn  Bürgermeister  wählen. 

Abgeordneter  Noske:  Wo  ist  denn  die  geheime  Wahl? 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Wo  ist  sie  denn  heute?  Heute  werden 
nicht  in  Ruthenien,  sondern  in  Wien,  nicht  Analphabeten,  sondern 
Leute,  die    sehr    gut    lesen    und    schreiben  können,    Gasarbeiter, 

*)  In  Mähren  wurde  nach  dem  von  Renner  gemachten  Vorschlag  bei 
den  Landtagswahlen  der  nationale  Kataster  eingeführt,  der  dann 
später  auch  in  die  neue  Wahlordnung  kam.  Danach  mußte  sich  jeder 
Wähler  zu  einer  Nation  bekennen  und  ganz  Mähren  wurde  in  zweierlei 
nach  der  Nation  verschiedene  Wahlkreise  geteilt.  (Siehe  Bd.  VIII,  Seite  141  f.) 

**)  I>ie  Frage  des  Plural  Wahlrechtes  hat  später  eine  große  Rolle 
in  den  Beratungen  gespielt.  (Siehe  die  Reden  Adlers  darüber  am  3.  Oktober 
und  am  21.  November  1906.) 

***)  Die  Wahlpflicht  hat  Geßmann  dann  als  fakultative  Einrich- 
tung, deren  Einführung  vom  Landtag  abhing,  durchgesetzt.  (Siehe  die 
Rede  Adlers  am  1.  Oktober  1906.) 


Die  Erklärung  des  Ministerpräsidenten  Qautsch.  271 


Tramw  iiyleutc,  Straßenarbeiter  in  langen  Reihen  von  einem  Aui- 
selier,  einem  Beamten  zur  Wahlurne  geführt*)...  I  e  mehr  Sie 
für  reine  W  a  li  I  e  n  s  i  n  d,  U  in  s  o  weniger  d  ü  r  f  e  n  Sic 
die  W  a  li  1  p  f  1  i  e  li  t  einführen.  Woran  appelliert  denn  die 
Wahl?  An  den  bewußten  Willen  des  Wählers.  Es  ist  durchaus 
1  a  1  s  e  h,  L  e  u  t  e,  d  i  e  k  e  i  n  e  n  p  o  1  i  t  i  s  c  h  e  n  W  i  !  1  e  n  h  a  b  e  m 
mechanisch  zur  Wahl  zu  zwingen.  Der  Ministerpräsi- 
dent hat  dann  zugegeben,  daß  ejn  Wahlrechtsverlust  pro  praeterito 
ausgeschlossen  sein  muß.  Daraus  hat  er  den  Schluß  gezogen,  daß 
jede  Knüpfung  des  Wahlrechts  an  irgendeine  Form  des  Erwerbs 
und  des  sogenannten  Bildungszensus  ausgeschlossen  sein  muß.  Mit 
Recht:  Nicht  nur  weil  der  Bildungszensus  den  Ausschluß  der 
Analphabeten  bedeutet.  Es  gibt  eine  Menge  Leute,  die  sehr  gut 
lesen  und  schreiben  können,  die  man  aber  nicht  zu  den  Gebildeten 
zählen  kann,  dagegen  Leute,  die  sehr  ungrammatikalisch  schreiben, 
die  aber  gewiß  mehr  politische  Bildung  haben,  als  eine  große  Menge 
von  Leuten,  die  schreiben  und  lesen  können,  aber  sehr  selten 
davon  Gebrauch  machen.  Die  Herrschaften,  die  haupt- 
sächlich die  Speiskarte  lesen  (Heiterkeit)  und  höchstens  ein  Witz- 
blatt, haben  nicht  mehr  Bildungszensus  als  der  Arbeiter,  der  seinen 
Willen  und  sein  Urteil  gebildet  hat  in  der  harten  Erfahrung  seines 
Lebens,  in  offener  Erkenntnis  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse, 
unter  denen  er  lebt,  und  auch  durch  die  Schule,  die  ihm  die  Organi- 
sation gegeben  hat.  Also  ein  Bildungszensus  ist  selbstverständlich 
ausgeschlossen. 

Das  Prinzip,  daß  niemand  das  Wahlrecht  genommen  werden 
soll,  der  es  hat,  ist  sehr  gut.  Wie  kommt  dann  aber  der  Minister- 
präsident dazu,  eine  Verlängerung  der  Seßhaftigkeit 
für  möglich  zu  halten?  (Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten.) 
Der  Herr,  der  das  ausgetüftelt  hat,  ist  gewiß  ein  Juris  t,  und  ein 
Jurist  kann  alles  beweisen.  So  kann  er  auch  beweisen,  daß  man 
demjenigen,  der  jetzt  auf  Grund  einer  sechsmonatigen  Seßhaftigkeit 
das  Wahlrecht  hat,  dieses  nehmen  kann  und  es  ihm  zugleich  nicht 
nehmen  kann.  Eine  andere  Annahme  der  Seßhaftigkeit  als  jene,  die 
technisch  unbedingt  erforderlich  ist,  ist  nichts  anderes  als  eine 
Einschränkung  des  allgemeinen  Wahlrechts,  als 
ein  Raub  an  den  heute  Berechtigten  und  eine  Ent- 
rechtungineinemUmfang,  vondemmanvielleicht 
keine  rechte  Vorstellung  hat.  Es  gibt  zum  Beispiel  in 
Wien  eine  ganze  Reihe  von  Arbeiterbranchen,  deren  Wahlrecht 
schon  bei  einer  sechsmonatigen  Seßhaftigkeit  gefährdet,  bei  einer 
zwölfmonatigen  aber  sicher  verloren  ist,  und  diese  Arbeiter  sind 
nicht  etwa  Vagabunden,  Lumpenproletariat,  sondern  qualifi- 
zierte Arbeiter,  deren  Arbeit  aber  an  eine  Saison  gebunden 
ist,  die  während  eines  Teiles  des  Jahres  an  einem  Orte,  dann  an 

')  Dieser  Wahlterrorismus  hat  zusammen  mit  dem  Wahlschwindel  des 
Magistrats  den  Christlichsozialen,  die  die  Herrschaft  in  der  Gemeinde  dank 
dem   Wahlkörpcrsystcm  hatten,  bei  Wahlen  helfen  müssen. 


272  Der  Sieg  des  gleiche!)  Wahlrechts. 

einem  anderen  Orte  arbeiten  müssen.  Am  31.  Jänner  zum  Beispiel 
waren  in  der  Bezirkskrankenkasse  etwa  10.000  Arbeiter,  die  über 
24  Jahre  alt  waren,  eingetragen.  Im  Juli  32.000.  (Hört!  Hört!  bei 
den  Sozialdemokraten.)  Das  sind  durchwegs  qualifizierte  Arbeiter, 
die,  wenn  sie  ihre  Tätigkeit  in  Wien  vollendet  haben,  an  einen 
anderen  Ort  übersiedeln,  um  dort  weiterzuarbeiten. 

Abgeordneter  Kienmann*):  Dann  sind  sie  ja  dort  wahlberechtigt! 

Abgeordneter  Pernerstorf  er:  Nein!  Dort  auch  nicht! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ähnlich  ist  es  mit  den  Schneidern, 
Schustern,  Schlossern  und  Tischlern,  die  zum  Beispiel 
in  die  Kurorte  gehen,  überhaupt  mit  allen  Arbeitern,  deren  Arbeit 
mit  dem  noblen  Leben  der  noblen  Welt  zusammenhängt.  Diese 
Leute  können  doch  nicht  deshalb,  weil  sie,  um  Ihnen  das 
Leben  in  den  Kurorten  bequem  zu  machen,  dorthin 
gehen,  ihr  Wahlrecht  verlieren,  während  Sie,  die  Sie  um 
diese  Zeit  Ihre  Wohnung  hier  behalten,  auch  das  Wahlrecht 
behalten.  Das  will  aber  eine  Partei,  die  angeblich  die  Partei  des 
kleinen  Mannes  ist,  die  sich  christlich  und  sozial  nennt,  die  sich  als 
die  einzige  Volkspartei  aufspielt.  Ich  sage  Ihnen  ganz  einfach, 
daraus  wird  nichts,  das  ist  etwas,  was  sich  die 
Arbeiter  nicht  gefallen  lassen,  und  es  ist  besser,  Sie 
verschwenden  nicht  zu  viel  Mühe  darauf. 

Abgeordneter  Schuhmeier:  Das  sollen  sich  die  Herren  nur  aus 
dem  Kopfe  schlagen! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Was  führt  der  Ministerpräsident  zur 
Unterstützung  dieses  Planes  an?  Mit  Lueger  ist  die  Sache  einfach; 
der  sagt  ehrlich:  Wir  wollen  die  Seßhaftigkeit,  damit  „Ös  abidraht 
werd'ts**)!"  Das  ist  ein  verständlicher  Standpunkt  (Heiterkeit),  wenn 
auch  nicht  sehr  tiefsinnig.  Daß  der  Bürgermeister  sich  dabei  ver- 
rechnet, ist  Nebensache.  Wir  werden  durch  die  Seßhaftigkeit  nicht 
„abidraht"  und  ein  vernünftiges,  ehrliches  Wahlrecht  bedeutet  nicht 
unsere  Allmacht.  Jede  vernünftige  Wahlordnung  wird  selbstver- 
ständlich auch  der  Arbeiterschaft  eine  Vertretung  geben.  Um  diese 
Grenzgebiete  im  mandatspolitischen  Sinne  handelt  es  sich  uns  aber 
nicht;  es  handelt  sich  nicht  um  Mandate,  sondern  um  das  Recht 
der  Arbeiter;  es  handelt  sich  uns  darum,  daß  diese  Leute  nicht 
degradiert  werden,  weil  Lueger  den  Größenwahn  hat  und  sich 
einbildet,  er  müsse  zeigen,  er  könne  etwas  durchsetzen;  natürlich 
nichts  Vernünftiges,  nur  Volksverrat,  nur  Entrechtung.  Er  will 
eben  seine  Macht  zeigen.  Ich  kündige  Ihnen  aber  an,  daß  das  ein 
Kriegsfall  für  die  Arbeiterschaft  ist.  (Lebhafte 
Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten.)  Wir  lassen  keinem 
Teile  des  arbeitenden  Volkes  wegen  der  Laune 
und  des  Vorurteils,  wegen  des  brutalen  Egoismus 


*)  Deutschnationaler  Vertreter  von  Wiener-Neustadt. 
**)  Bei  den  Landtagswahlen  im  Jahre  1902,  bei  denen  Adler  mit  knapper 
Minderheit  unterlag  (siehe  oben),  gab  Lueger  das  geflügelte  Wort  von  sich: 
„Rtsch!   Obidraht!" 


Die  Verschwörung  der  Qeheimräte«  ~?-'j 


einer  kleinen  Schicht  sein  Recht  nehmen;  wir 
werden  unsere  Brüder  nicht  im  Stiche  lassen, 
deshalb,  weil  sie  von  einem  Orte  zum  anderen  gehen  müssen,  um 
Arbeit  zu  suchen.  Dem  Ministerpräsidenten  aber  sage  ich,  er  solle 
sich  von  den  dummen  Phrasen  nicht  betören  und  einreden  lassen, 
daß  das  mit  dem  nationalen  Schutz  etwas  zu  tun  hat. 

Jeder,  der  die  Verhältnisse  kennt,  kann  über  diesen  Unsinn  nur 
lachen.  Der  Ministerpräsident  soll  diese  Sache,  die  er  mit  einiger 
Energie  angepackt  hat,  doch  nicht  durch  solche  Verball- 
hornungen kompromittieren.  Er  soll  sich  nicht  mit  den 
ärgsten  Feinden  dieser  Sache  solidarisch  erklären.  (Lebhafte  Zu- 
stimmung bei  den  Sozialdemokraten.)  Der  Ministerpräsident  hat 
angekündigt,  er  werde  die  Wahlreform  spätestens  i  m 
Februar  einbringen.  Warum  bringt  er  sie  denn  nicht 
jetzt  vor  Weihnachten  ein?  Warum  nicht  wenigstens  am 
ersten  Tage,  wenn  das  Parlament  wieder  zu- 
sammentritt? Jede  Verzögerung  ist  eine  Gefahr 
nicht  nur  für  die  Wahlreform,  sondern  auch  für 
den  öffentlichen  Frieden  in  Österreich.  (Lebhafte 
Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten.) 

Ob  die  Massen  ein  Recht  haben,  mißtrauisch  zu  sein  oder  nicht, 
darauf  kommt  es  wirklich  nicht  an.  Ich  meine,  daß  man  sich  doch 
nur  wundern  kann,  wenn  es  in  Österreich  noch  einen  Menschen 
gibt,  der  zu  einer  Regierung  und  zu  einem  Parlament  Vertrauen 
hat,  der  den  Optimismus  aufbringt,  zu  glauben,  daß  etwas  Ver- 
nünftiges geschehen  kann.  Nicht  Vertrauen  zu  Gautsch 
und  zum  Parlament  ist  es,  wenn  ich  an  die  Wahlreform 
glaube,  sondern  Vertrauen  zur  Arbeiterklasse 
Österreichs,  die  das  Werk  so  weit  vorgeschoben 
hat  und  die  es  schieben  wird  bis  ans  Ende.  (Lebhafter 
Beifall  und  Händeklatschen  bei  den  Sozialdemokraten.  Der  Redner 
wird  von  den  Parteigenossen  beglückwünscht.) 

Die  Verschwörung  der  Geheimräte. 

Versammlung,  5.  Dezember  1905*). 

Wir  sind  auf  dem  Sprung,  das  Wahlrecht  zu  bekommen.  Sie 
begreifen,  daß  das  einigen  Leuten  im  Abgeordneten-  und  Herren- 
hause nicht  ganz  angenehm  ist.  Das  ist  nicht  zu  verwundern,  auf- 
richtig gesagt,  ich  war  auf  Schlimmeres  gefaßt,  auf  anderes  als  auf 

")  Als  Gautsch  am  28.  November  die  Erklärung  im  Parlament  abgegeben 
hatte,  begann  die  Hetze  der  Wahlreformfeinde  gegen  ihn  sich  zu  verdichten. 
Die  Abgeordneten  aus  der  Kurie  des  Großgrundbesitzes,  die  sich  am 
meisten  gefährdet  sahen,  hielten  mit  den  polnischen  Schlachzizen  und 
einigen  Klerikalen  geheime  Konventikel  ab,  in  denen  die  ehemaligen 
Minister,  die  den  Titel  von  geheimen  Räten  hatten  —  es  waren  das  vor 
allen  Graf  Stürgkh,  Dr.  v.  B  a  e  r  n  r  e  i  t  h  e  r,  der  ehemalige  galizische 
Minister  Graf  Pininski  und  andere  — ,  das  große  Wort  führten.  Als 
aber  diese  „Verschwörung  der  Geheimräte"  in  offener  Parlamentssitzung 

Adler,  Briete.   X.  Bd.  ls 


274  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

dieses  Meer  von  Albernheiten:  ich  war  nicht  darauf  gefaßt,  daß 
schließlich  keiner  der  Herren  die  Courage  haben  wird  zu  sagen: 
Ich  bin  ein  Feind  des  allgemeinen  Wahlrechtes.  Selbstverständlich 


vom  Jungtschechenführer  Kramarsch  aufgedeckt  wurde  und  auch  die 
Presse  genaue  Einzelheiten  darüber  berichtete,  mußten  die  Intrigen  wieder 
auf  ein  anderes  Gebiet  übertragen  werden:  in  das  Herrenhaus.  Hier,  wo  die 
Junker  ja  ganz  unter  sich  waren,  sollte  die  erste  Schlacht  geschlagen 
werden.  Am  2.  Dezember  rückten  die  Herrenhäusler  gleich  mit  dem 
gröbsten  Geschütz  gegen  Gautsch  los.  Schon  der  erste  Redner,  der  ehe- 
malige Ministerpräsident  Graf  Thun  —  der  sich  bekanntlich  später  doch 
mit  der  Wahlreform  abfand  —  erklärte,  kein  Vertrauen  mehr  zu  dieser 
Regierung  zu  haben,  die  den  „Pressionen  der  Gasse",  dem  „gewaltsamen 
Terrorismus"  nachgebe,  die  „unreife  Ideen  lanciere"  und  einen  „voll- 
kommenen Umsturz  der  Verfassung"  plane.  Der  Führer  der  sogenannten 
„verfassungstreuen"  oder  liberalen  Herrenhäusler,  Fürst  Karl  Auersperg, 
warf  der  Regierung  vor,  daß  sie  die  sozialdemokratischen  Demonstrationen 
leite,  da  „der  ungesetzliche  Aufzug  der  250.000  Arbeiter  in  seiner 
klassischen  Durchführung  ohne  Mithilfe  der  Regierung  gar  nicht  möglich 
gewesen  wäre".  Es  sei  eine  „namenlose  Schwäche",  daß  die  Regierung 
diesen  Aufzug  duldete.  Und  er  verlangte,  daß  die  Regierung  den  Kampf 
gegen  die  Sozialdemokratie  energisch  aufnehme.  Ähnlich  sprachen  alle 
übrigen  Redner,  die  der  Regierung  besonders  den  Vorwurf  machten,  daß 
sie  die  Demonstration  vor  dem  Parlament  nicht  unterdrückt  habe.  Am 
radikalsten  ging  Fürst  Schwarzenberg  los,  der  schon  eine  sozia- 
listische Mehrheit  im  Abgeordnetenhaus  voraussah,  die  den  Kaiser  absetzen 
und  —  ganz  im  Ernst!  —  den  „Simplizissimus"  (das  radikale  satirische 
Witzblatt  in  München)  zum  Amtsblatt  machen  werde.  Einmütig  erklärten 
sich  alle  Redner  gegen  die  Regierung,  selbst  wenn  sie,  wie  Graf  Schön- 
born und  Professor  Lammasch,  das  allgemeine  Wahlrecht  für  un- 
vermeidlich erklärten. 

Als  sich  Gautsch  zur  Erwiderung  erhob,  meinte  man,  er  werde  seine 
Demission  ankündigen.  Aber  statt  dessen  ging  Gautsch  zum  Gegenangriff 
über.  Er  begann  mit  der  Erklärung,  daß  er  das  ihm  ausgesprochene  Miß- 
trauen einfach  zur  Kenntnis  nehme,  wie  er  ja  viele  Unannehmlichkeiten  in 
seinem  Amt  ertragen  müsse.  Dann  widerlegte  er  den  Vorwurf  der 
Schwäche  gegenüber  den  Demonstrationen.  Er  habe  dem  Statthalter  von 
Böhmen  die  Vollmacht  gegeben,  den  Ausnahmezustand  und  das  Standrecht 
zu  verhängen;  beides  sei  aber  überflüssig  geworden,  da  die  Unruhen  auch 
von  selbst  aufhörten.  Gegenüber  dem  Verlangen,  den  durch  das  Gesetz  ver- 
botenen Aufzug  der  Wiener  Arbeiter  mit  Gewalt  zu  verhindern,  sprach 
der  Minister  folgende  Worte,  die  besonders  vermerkt  zu  werden  verdienen: 

„Ich  sehe,  daß  es  leider  Politiker  gibt,  bei  denen  merkwürdigerweise 
stets  derartigen  Dingen  gegenüber  der  erste  Gedanke  derjenige  ist, 
welcher  bei  anderen  Menschen  der  Weisheit  letzter  Schluß  ist,  nämlich 
die  ultima  ratio.  Vielleicht  könnte  ich  an  die  geehrten  Herren  Redner  die 
Gegenfrage  richten,  welches  Urteil  in  allen  Kreisen  gefällt  worden  wäre, 
wenn  ein  ungeheures  Unglück,  wenn  der  Verlust  zahlloser  Menschen- 
leben zu  beklagen  gewesen  wäre,  ob  man  dann  nicht  gesagt  hätte,  die 
Anwendung  der  Gewalt  sei  unrichtig  gewesen,  man  hätte  mit  einer 
anderen  Methode  viel  Besseres  und  viel  Richtigeres  erreicht." 
Dann  erklärte  der  Ministerpräsident,  er  habe  in  diesen  zwei  Monaten 
die  Überzeugung  gewonnen,  daß  die  Frage  der  Wahlreform  „nicht  mehr 
ohne  Lösung  bleiben  könne,  wenn  nicht  große  Gefahren 


He  Verschwörung  der  Qeheimräte.  ~7:> 


sind  die  gräflichen  Herren,  die  ja  die  Regierung  Österreichs  kon- 
traktlich übernommen  haben,  nicht  sehr  vergnügt,  daL'>  sie  nun  das 
(ieschäft  aufgeben  sollen.  Wir  versuchten  sie  im  Abgeordneten- 
hause zu  trösten.  (Heiterkeit.)    Die  Herren  Stürgkh,  Baernreither 

und  andere  können  ja  unter  dem  allgemeinen  Wahlrecht  kandidieren, 
sie  verlieren  ja  weder  das  aktive  noch  das  passive  Wahlrecht,  und 
es  ist  doch  kein  Zweifel,  daß  erprobte  politische  Kapazitäten  deren 
Weisheit  sich  im  Laufe  der  Jahrzehnte  gezeigt  hat,  wieder 
gewählt  werden.  (Heiterkeit.)  Nur  der  großmächtige  Prinz 
Schwarzenberg  hat  erklärt,  er  würde  nicht  kandidieren,  weil 
er  doch  nicht  hinabsteigen  kann  zu  dem  „Schwefel",  den  man  in 
einer  Wählerversammlung  vorbringen  muß.  Wenn  Sie  nun  lesen, 
was  dieser  Prinz  in  dieser  erlauchten,  reifen,  ja  überreifen  Ver- 
sammlung gesagt,  welchen  blanken  Unsinn,  da  können  Sie  sich 
denken,  was  er  sich  erst  unter  einem  Wählerversammlungsschwefel 
vorstellt.  Es  würde  dem  Fürsten  allerdings  schwer  fallen,  in  eine 
Versammlung  hinausgehen,  noch  schwerer  aber,  wie  die  preußischen 
Junker,  mit  Erfolg  zu  kandidieren!  Denen  hat  nämlich  B  i  s- 
m  a  r  c  k  mit  jener  Genialität,  die  ihm  Lassalle  soufflierte,  erspart, 
sich  durch  die  Niedertracht  eines  Kampfes  gegen  das  allgemeine 
Wahlrecht  zu  kompromittieren.  Nun,  je  mehr  sich  diese  Herren  in 
Österreich,  je  mehr  sich  die  besitzenden  Klassen  gegen  das  Recht 
des  Volkes  sträuben,  um  so  schwerer  wird  es  ihnen  dann  werden, 
vor  dem  allgemeinen  Wahlrecht  zu  bestehen.  (Zustimmung.)  Darum 

herbeigeführt  werden  solle  n".  Das  allgemeine  Wahlrecht  sei 
auch  für  die  Arbeitsfähigkeit  des  Abgeordnetenhauses  notwendig.  Zum 
Schluß  erklärte  er  mit  erhobener  Stimme,  er  werde  auf  dem  betretenen 
Wege  weiterschreiten  bis  ans  Ende,  trotz  aller  Hinder- 
nisse, trotz  aller  Schwierigkeiten  und  Hemmnisse. 
Und  dieses  Ende  könne  nur  sein  der  Erfolg  oder  der  Sturz  der 
Regierung.  (In  der  Tat  ist  ja  Gautsch  Ende  April  zurückgetreten,  weil 
er  den  Widerstand  der  Wahlreformfeinde  nicht  überwinden  konnte,  die  ihm 
seine  Rede  nicht  verziehen.  Und  am  1.  Mai  wurde,  um  die  empörten 
Arbeiter  zu  beruhigen,  mitgeteilt,  daß  Prinz  Hohenlohe,  der  „rote  Prinz", 
an  seine  Stelle  komme.) 

Die  Energie  des  Ministerpräsidenten  imponierte  aber  doch  dem  Herren- 
haus. Der  Widerstand  verstummte  und  zahlreiche  Herrenhäusler  applau- 
dierten sogar.  Nach  dieser  Schlacht  verloren  auch  die  Wahlrechtsfeinde  im 
Abgeordnetenhaus  den  Mut,  offen  gegen  Gautsch  aufzutreten.  Überdies 
wurden  einige  von  ihnen  —  darunter  der  Führer  des  Polenklubs,  Graf 
Dzieduszycki  —  zu  einer  Audienz  zum  Kaiser  beschieden,  der  ihnen 
unverblümt  heraussagte,  daß  Baron  Gautsch  sein  Vertrauen  habe.  Die  Folge 
war,  daß  die  Reden  der  adeligen  Herren  im  Abgeordnetenhaus  nun  zwar 
auch  mit  einer  Polemik  gegen  das  allgemeine  Wahlrecht  anfingen,  aber 
damit  endeten,  daß  man  die  Vorlage  der  Regierung  prüfen  werde;  und  die 
weitere  Folge  war,  daß  Gautsch  am  6.  Dezember  das  Budgetprovisorium 
—  dessen  Ablehnung  seinen  Sturz  herbeigeführt  hätte  —  im  Ausschuß 
nahezu  einstimmig  bewilligt  erhielt. 

Für  den  5.  Dezember  waren  auch  zwei  Massenversammlungen  ein- 
berufen, in  denen  die  Wiener  Arbeiter  den  Herrenhäuslern  die  Antwort 
Kaben.   Im   Verbandsheim  der   Krankenhassen   in  Mariahilf  sprach  Adler. 

18* 


27(3  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

bin  ich  gar  nicht  so  unglücklich  darüber,  wenn  sie  sich  ordentlich 
ausleeren.  (Heiterkeit.)  Im  Gegenteil,  mir  sind  die  falschen  Freunde 
des  allgemeinen  Wahlrechtes  viel  unangenehmer  als  die  echten 
Feinde.  (Lebhafter  Beifall.) 

Im  Grunde  haben  alle  Redner  im  Herrenhause  dem  Minister- 
präsidenten hauptsächlich  zum  Vorwurf  gemacht,  daß  er  die  ganze 
Wahlrechtsbewegung  nicht  „verboten"  hat.  Ja  warum  strömt  denn 
die  Donau  ins  Schwarze  Meer,  man  hätte  doch  bei  Donau-Eschingen 
bloß  die  Hand  vorzuhalten!  (Heiterkeit.)  Die  Herren  meinen  wirk- 
lich, wenn  die  Welt  einmal  einen  Ruck  nach  vorwärts  macht,  so  ist 
daran  nur  die  Schlamperei  der  Polizei  schuld.  (Schallendes  Ge- 
lächter.) Aber  wenn  wir  eine  Partei  wären,  die  einzuschüchtern 
ist,  so  hätten  wir  seit  Wochen  und  besonders  am  28.  November 
Grund  dazu  gehabt,  wir  wußten  ja,  daß  nicht  bloß  die  Polizei,  son- 
dern auch  das  Militär  scharfe  Bereitschaftsbefehle 
hatte!  Seit  wann  klagt  man  Minister  an,  weil  sie  kein  Blut  ver- 
gießen? Wir  haben  uns  nicht  zu  Herrn  v.  Gautsch  bekehrt  und 
Gautsch  gewiß  nicht  zur  Sozialdemokratie,  er  hat  sich  bloß  ein 
Stück  Vernunft  zu  eigen  gemacht.  Wir  haben  ja  doch  schließlich 
kein  Monopol  auf  Vernunft.  Muß  denn  die  Vernunft  in  Öster- 
reich immer  obdachlos  bleiben,  bis  die  Sozialdemokratie 
sie  beherbergt?  (Heiterkeit.)  Heute  stehen  übrigens  nicht  mehr  die 
Sozialdemokraten  allein,  sondern  die  Massen  aller  Völker  wider  die 
Privilegierten!  Der  Graf  Dzieduszycki  (vereinzelte  Pfuirufe)  — 
lassen  Sie  den  alten  Herrn  gehen,  warum  sollen  wir  uns  darüber 
ärgern,  daß  unsere  Feinde  dumm  sind?  (Heiterkeit)  — ,  der  Prinz 
Schwarzenberg,  der  Professor  Lammasch,  so  ein  Schildknappe  des 
Grafen  Schönborn,  waren  über  den  28.  November  ganz  verblüfft. 
Ich  begreife  das,  denn  wir  selbst  wraren  ja  über  diese  Stärke, 
auch  diese  Stärke  der  Disziplin,  erstaunt.  Das  war  ein  Ereignis, 
das  weit  hinausgeht  über  die  Bedeutung  des  Wahlrechtskampfes; 
dieser  Tag  in  seiner  musterhaften,  bloß  durch  den  eigenen  Willen, 
durch  die  Macht  des  Gedankens  herbeigeführten  Ordnung  zeigte, 
zu  welchen  Taten  das  Proletariat  noch  berufen  sein  wird!  (Brau- 
sender Beifall.) 

Diese  Lammasch'  und  Schwarzenbergs  meinen  natürlich:  Wenn 
etwas  in  Ordnung  ist,  dann  ist  die  Polizei  dahinter!  (Heiterkeit.) 
Selbstverständlich  hat  die  Regierung  nicht  nur  nicht  mit- 
geholfen, sondern  sie  hat  unsere  Kraft  zu  zersplittern  gesucht. 
Die  Regierung  hat  alles  getan,  um  die  Demonstrationen  zu  ver- 
hindern und  zu  verkleinern!  Zwei,  drei  Tage  vor  der  Demonstration 
ist  an  alle  Arbeiter  sämtlicher  Staatsbetriebe  ein 
Erlaß  gekommen,  worin  allen  Arbeitern  bei  den  Eisenbahnen, 
im  Arsenal,  in  den  Tabakfabriken,  in  der  Staats- 
druckerei verboten  worden  ist,  sich  an  der  Demonstration  zu 
beteiligen;  in  der  Provinz  wurde  Delegierten,  die  mit  der  Deputa- 
tion hätten  gehen  sollen,  sogar  der  Urlaubverweigert.  (Rufe: 
Hört!  Unglaublich!)  So  hat  Herr  v.  Gautsch  unsere  Demonstration 
„begünstigt"!   Wir  haben  den  Staatsbediensteten  gesagt:   Arbeitet 


Die  Verschwörung  der  Oehelmräti  277 


nur,  diesmal  brauchen  wir  euch  nicht.  Wenn  es  ernst  wird,  wissen 
wir,  da  1.1  wir  auf  euch  zählen  können!  (Stürmischer  Beifall.)  Man 
redet  von  den  roten  Fahnen.  Daß  wir  die  mitnehmen,  hatten 
wir  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  angekündigt  und  man  weiß,  daß  wir 
Wort  halten.  Die  Polizei  hätte  in  zwanzig  Bezirken  zwanzig 
Schlachten  schlagen  müssen,  um  sie  wegzunehmen.  Meint  dieser 
Fürst  Sch warzenber.g  wirklich,  daß  Herr  v.  Gautsch,  nur 
weil  das  rote  Tuch  den  Herrn  Schwarzenberg  so  nervös  macht, 
die  Verpflichtung  hatte,  ein  so  niederträchtiger  Schurke  zu  sein  und 
Blut  in  Strömen  fließen  zu  lassen?  Wieviel  Blut  der  Fürst  Aue  r  s- 
perg  für  seine  Nerven  und  seine  geschichtlichen  Bedürfnisse 
braucht,  wissen  wir  nicht;  aber  wenn  er  durchaus  Blut  seilen  will, 
so  soll  er  gefälligst  sich  selbst  zur  Ader  lassen.  (Heiterkeit.)  Die 
Herren  haben  nur  die  eine  Entschuldigung:  Sie  wissen  wirklich 
nicht,  was  sie  reden!   (Zustimmung.) 

Auch  im  Herrenhause  ist  von  der  Seßhaftigkeit  die  Rede 
gewesen.  Der  Arbeiter,  der  seiner  Arbeit  nachgeht,  soll  zur  Strafe 
dafür  in  seinem  Wahlrecht  verkürzt  werden.  Herr  L  u  e  g  e  r  hat 
freilich  erklärt,  diejenigen,  die  nicht  in  Wien  zuständig 
sind,  sollen  einfach  in  „L  e  i  t  o  m  i  s  c  h  1"  wählen.  Wie  dumm 
das  ist,  geht  schon  daraus  hervor,  daß  er  in  einem  Atem  von  der 
Wahlpflicht  redete.  Ja,  wie  soll  der  Proletarier  denn  am  Wahl- 
tag nach  „Leitomischr  kommen?  Stellt  sich  der  Lueger  vor,  daß 
am  Wahltag  sämtliche  Sch  üb  wagen  in  Tätigkeit  ge- 
setzt werden  und  die  Wähler  per  Schub  in  die  Zustän- 
digkeitsgemeinde gebracht  werden,  um  dort  ihrer  Wahl- 
pflicht zu  genügen?  (Schallendes  Gelächter.)  Das  ist  also  der 
reine  Blödsinn!  Trotzdem  hat  der  Ministerpräsident  in  seine  Rede 
auch  einen  Hinweis  auf  die  Seßhaftigkeit  aufgenommen.  In  Wahrheit 
soll  die  Seßhaftigkeit  höchstens  dazu  dienen,  daß  der  Magistrat 
bequemer  Wahlschwindel  treiben  kann!  Die  Arbeiterschaft 
wird,  wie  ich  schon  im  Parlament  erklärt  habe,  diese  Erhöhung  der 
Seßhaftigkeitsdauer  nicht  dulden.  (Stürmischer  Beifall.)     > 

Hinter  den  Kulissen  wird  gemogelt  und  geschachert,  aber  da- 
gegen hat  die  Regierung  ein  Mittel:  So  bald  als  möglich  mit  dem 
Gesetz  herauskommen!  Der  Widerstand  gegen  die  Wahlreform  ist 
überall  zu  brechen,  weil  er  nirgendwo  so  stark  ist.  Wo  ist  er  am 
stärksten?  Bei  denen,  die  sich  immer  als  die  Kaisertreuesten 
ausgeben!  Ja,  ist  denn  die  „loyale  Ergebung"  in  den  Willen  des 
Monarchen  nur  dann  angebracht,  wenn  die  Gelder  für  die  Blut- 
steuer bewilligt  werden?  Verschwindet  denn  die  berühmte  Kaiser- 
treue, wenn  da  oben  ein  einzigesmal  etwas  gewollt  wird,  was  dem 
Volke  notwendig  ist?  Versagt  dieser  .»Patriotismus",  wenn  der 
Wille  des  Volkes  und  der  Wille  des  Kaisers  zusammen- 
fallen? (Stürmische  Zustimmung.)  Das  Wichtigste  ist,  daß  das 
Proletariat  auf  der  Wacht  bleibt!  Wir  haben  Weihnachten  vor  uns, 
wir  werden  stillere  Tage  sehen.  Aber  ich  sage  der  Regierung  von 
hier  aus:  Wenn  die  Wahlrechtsbewegung  ruhiger 
wird,    schwächer    wird    sie    nicht    einen    Moment! 


278  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

(Brausender  Beifall.)  Wir  werden,  wenn  es  nötig  ist,  noch  ganz 
andere  Höhepunkte  der  Bewegung  erreichen!  Wir  wünschen  es 
nicht!  Aber  nicht  wir  bestimmen  die  Taktik  des  Proletariats  und 
das  Maß  unserer  Opfer,  sondern  das  bestimmt  der  Widerstand  der 
herrschenden  Klassen!  Das  allgemeine  Wahlrecht  bot  einen  ver- 
läßlichen Hüter:  das  Proletariat  von  ganz  Österreich!  Deshalb  sind 
wir  des  Sieges  sicher!   (Stürmischer  Beifall.) 

Die  Antwort  an  die  Wahlrechtsfeinde. 

Versammlung  im  Sofiensaal,  10.  Dezember  190  5*). 

Werte  Genossen!  Wir  sind  bei  einem  Abschnitt  unseres  Wahl- 
rechtskampfes angelangt,  der  eine  ganz  neue  Situation  für  uns 
schafft.  Durch  viele  Jahre  haben  wir  erst  beweisen  müssen,  mit 
allen  möglichen  Argumenten,  daß  es  notwendig  ist,  die  Wahlreform 
zu  machen.  Es  mußte  erst  der  vollständige  Bankrott  des  Parla- 
ments kommen,  es  mußte  erst  der  vollständige  Bankrott  des 
Staates  dazu  kommen,  es  mußte  sich  erst  erweisen,  daß  dieser 
Staat  und  dieses  Parlament  unfähig  sind,  auch  nur  die  primitivste 
Aufgabe  zu  lösen,  daß  das  Parlament  weder  der  Gesetzgebung  für 
Österreich  mehr  fähig  ist  und  noch  weniger  fähig  ist,  die  großen 
und  schwierigen  Probleme  zu  lösen,  die  unser  Verhältnis  zu  Ungarn 

*)  Die  Schlacht  gegen  die  Herrenhäusler  hatte  Gautsch  wohl  gewonnen, 
aber  dafür  begannen  die  Wahlrechtsfeinde  mit  schleichenden  Intrigen.  Des- 
halb wurde  für  Sonntag  den  10.  Dezember  in  den  Soiiensaal,  der  so  viele 
Wahlrechtsdemonstrationen  gesehen  hatte,  eine  Massenversammlung  ein- 
berufen mit  der  Tagesordnung:  „Die  Wahlreform  und  das  Parlament."  Die 
eigentliche  Tagesordnung  war  aber  die  Antwort  an  die  Wahlrechtsfeinde. 
Deshalb  erschienen  auch  die  Arbeiter,  obwohl  es  in  Strömen  regnete,  in 
solchen  Massen,  daß  der  riesige  Saal  mit  allen  Logen  und  Galerien  gesteckt 
voll  war,  so  daß  die  Ordner  kaum  einen  Gang  zur  Rednertribüne  freihalten 
konnten.  Winarsky  begrüßte  die  Versammlung  mit  einem  Hinweis  darauf, 
daß  sich  seit  der  machtvollen  Demonstration  vom  28.  November  eine  selt- 
same Koalition  zusammengefunden  habe:  abgewirtschaftete  Minister,  feudale 
Adelige,  polnische  Schlachzizen,  radikale  Tschechischnationale,  radikale 
Deutschnationale  und  Christlichsoziale,  die  nichts  gemeinsam  haben  als  den 
Haß  gegen  die  Arbeiter  und  gegen  das  gleiche  Recht.  Als  erster  Redner 
sprach  Ellenbogen,  der  auf  das  falsche  Spiel  der  Christlichsozialen  hin- 
wies, die  sich  bekanntlich  später  als  die  eigentlichen  Erfinder  des  Wahl- 
rechtes aufspielten.  Deshalb  seien  diese  Sätze  aus  seiner  Rede  angeführt: 
„. . .  Es  ist  auch  sehr  bezeichnend  für  ^die  Christlichsozialen,  die  ihre  Liebe 
zum  Wahlrecht  nicht  oft  genug  beteuern  können,  Herrn  Lueger  mit  dem 
Grafen  Sternberg  im  Abgeordnetenhaus  herumwandeln  zu  sehen  und 
den  wütenden  Wahlrechtsfeind  Sternberg  als  den  Generalredner  der 
Christlichsozialen  zu  finden  (Pfui!),  dem  sie  schließlich  zu  seiner 
echt  christlichsozialen  Kundgebung  gratulierten.  Ebenso  merkwürdig  war 
es,  daß  man  die  beiden  entgegengesetzten  Pole  Franko  Stein  und  Prinz 
Liechtenstein  so  innig  beisammen  sah.  Gesprochen  haben  die  Christ- 
lichsozialen in  der  Debatte  nicht.  Sie  haben  es  nicht  nötig,  denn  ihre 
wahre  Meinung  über  das  Wahlrecht  haben  ohnedies  die  Choc,  Sternberg, 
Stürgkh  und  Dzieduszycki  gesagt."  —  Dann  sprach  Adler  und  nach  ihm 
S  e  i  t  z  und  Schuhmeier. 


Die  Antwort  an  die  Wahlrechtsfeinde.  '^ 


aufgibt.  Kurz  und  gut,  es  mußte  his  an  die  Wand  gerannt  werden, 
bis  der  dicke  Schädel  doch  den  Eindruck  gewann,  es  gehe  wirklich 
nicht  mehr.  Wir  sind  in  i\cr  letzten  Zeit  mehrfach  angegriffen 
und  angezapft  worden  als  die  Partei,  die  mit  der  Regierung  und 

dem  Kaiser  so  gut  steht.  (Heiterkeit.)  Darauf  legen  wir  gar  keinen 
Wert.  Natürlich,  die  Herren  meinen,  wir  sollten  gerade  dieser 
Regierung,  die  die  Wahlreform  zum  politischen  Inhalt  hat, 
Schwierigkeiten  machen.  Sie  meinen,  wir  sollten  unsere  Opposition 
mit  besonderem  Eifer  der  Regierung  gerade  in  dem  Moment  ent- 
gegensetzen, wo  sie  endlich  das  tut,  was  wir  seit  dreißig  Jahren 
verlangen.  So  dumm  sind  wir  nicht.  Die  Sozialdemokratie  ist  eine 
prinzipiell  revolutionäre  Partei,  aber  in  unseren  Prinzipien  und  in 
unserem  Parteiprogramm  steht  nichts  von  einer  Verpflichtung  der 
Partei  zu  einer  blödsinnigen  Taktik.  (Lebhafter  Beifall.)  Im  Gegen- 
teil: wir  haben  die  Verpflichtung,  unter  allen  Umständen  das  Recht 
•des  Volkes  mit  den  zu  jeder  Zeit  möglichen,  anwendbaren  und 
erfolgreichen  Mitteln  durchzusetzen,  und  es  fällt  uns  gar  nicht  ein, 
das  Spiel  der  geheimen  Feinde  des  Wahlrechtes  zu  spielen  und  in 
diesem  Moment  dieser  Regierung  Schwierigkeiten  zu  machen.  Aber 
andererseits  dürfen  wir  nicht  vergessen,  daß  diese  Regierung  eine 
—  österreichische  Regierung  ist.  (Heiterkeit.)  Wir  dürfen  nicht 
darauf  vergessen,  daß  der  Herr  Ministerpräsident  zwar  rasch  ge- 
lernt hat*),  aber  daß  es  denn  doch  nicht  ganz  sicher  ist,  ob  das, 
was  er  so  rasch  aufgenommen  hat,  auch  haften  wird.  Nicht  nur  wir 
haben  Argumente,  und  wenn  sich  allerdings  die  Argumente  von 
der  Straße  in  Österreich  so  wie  in  allen  Ländern  und  allen 
Jahrhunderten  als  kraftvoll  erwiesen  haben,  so  dürfen  wir  nicht 
vergessen,  daß  es  auch  Argumente  der  Vorzimmer,  Argumente  der 
Beichtstühle,  daß  es  auch  Argumente  gibt,  die  ausgehen  von  jenen 
Junkern,  die,  wenn  sie  sich  auch  modern  gebärden,  sich  nicht  vor 
dem  gleichen  Wahlrecht  so  sehr  fürchten  als  vor  dem  neuen  Öster- 
reich, das  aus  dem  allgemeinen,  gleichen  Wahlrecht  entspringen 
wird.  (Zustimmung.) 

Die  Herren,  die  im  Abgeordnetenhaus  mit  halben  Sätzen  zögernd 
und  feig  für  oder  gegen  das  Wahlrecht  reden,  die  fürchten  um  ihr 
Mandat.  Aber  wenn  die  Wahlkreiseinteilung  erschienen  sein  wird, 
wird  jeder  nur  rasch  schauen:  Wo  ist  mein  Mandat?  (Heiterkeit.) 
Die  Leute  sind  nicht  so  gefährlich.  Die  einen  werden  ja  ihr  Mandat 
darin  finden  und  die  anderen,  die  werden  schon  wissen,  daß  nichts 
zu  machen  ist.  Gefährlich  sind  jene,  denen  es  nicht  bloß  um  die 
persönlichen  Mandate  geht,  sondern  um  die  Herrschaft 
iiirer  Klasse;  und  die  herrschende  Klasse  ist  die  feudale 
Aristokratie,  die  heute  noch  zusammen  mit  dem  militärischen 
Klüngel  tatsächlich  herrscht  und  die  sich  heute  der  christlich- 
sozialen Demagogie  als  Werkzeug  bedient.  Wenn  die  Christlich- 
sozialen und  ihre  Patrone  immer  davon  sprechen,  daß  sie  immer 

*)  Am  10.  September  hatte  sich  Gautsch  noch  im  Kronrat  gegen  das  all- 
gemeine Wahlrecht  in  Ungarn  weisen  der  Rückwirkung  auf  Österreich  aus- 
gesprochen. 


280  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


Freunde  des  allgemeinen,  gleichen  Wahlrechtes  waren  (Heiterkeit) 
—  bitte,  das  ist  beim  Dr.  Lueger  sehr  sicher,  der  Mann  war 
während  seiner  langen  Laufbahn  für  so  viel  Dinge,  daß  es  geradezu 
ein  Wunder  wäre,  wenn  er  nicht  einmal  auch  für  das  allgemeine 
Wahlrecht  gewesen  wäre  (erneute  Heiterkeit)  — ;  aber  wichtig  ist, 
wie  sich  die  Herren  das  Wahlrecht  vorstellen.  Sie  möchten  auf  dem 
„gleichen  Wahlrecht"  etablieren  die  Herrschaft  derselben  Leute,  die 
heute  herrschen,  die  Herrschaft  von  Pfaff,  Adel  und  Kapital,  und 
möchten  daher  das  allgemeine  und  gleiche  Wahlrecht  am  lieb- 
sten selber  einführen;  sie  möchten  nicht,  daß  Herr  Qautsch 
das  macht.  Ein  großer  Politiker  im  II.  Bezirk,  Herr  Oppenberger*), 
hat  den  Vorschlag  gemacht,  man  möchte  doch  den  Lueger  zum 
Ministerpräsidenten  machen.  Er  hat  gemeint,  es  wäre  schon  ein 
schweres  Unglück  für  die  Stadt  Wien,  wenn  sie  ihren  Bürger- 
meister hergeben  müßte;  aber  mit  blutendem  Herzen  möchte  sie 
das  Opfer  auf  dem  Altar  des  Vaterlandes  darbringen.  (Schallende 
Heiterkeit.)  Das  glauben  wir  schon.  Ohne  Wahlrechtsraub  gibt  es 
bei  ihnen  keine  Wahlreform. 

"  Die  Regierung  ist  heute,  wie  es  scheint,  entschlossen,  die  Wahl- 
reform zu  machen,  aber  wie  weit  diese  Kraft  reicht,  ist  doch  nicht 
ganz  sicher,  und  es  wird  notwendig  sein,  die  Quellen  dieser  Kraft 
lebendig  zu  erhalten.  Das  alte  Rom  war  einmal  in  so  einer  Situation, 
als  die  Karthager  und  Hannibal  im  Anzüge  waren.  Damals  hat  man 
die  Römer  aufgeschreckt  mit  dem  Rufe:  Hannibal  ante  portas**)! 
Und  damit  hat  man  sie  zu  vernünftigen  und  notwendigen  Maßregeln 
gebracht.  Das  tut  heute  jeder  oben,  der  das  Wahlrecht  will.  Gewiß; 
aber  das  notwendigste  ist  eben  der  Hannibal,  daß  wirklich  der  Hanni- 
bal vor  den  Toren  steht.  (Stürmischer  Beifall.)  Daß  sich  die  Regie- 
rung auf  uns  verlassen  kann,  daß  wir  das  auch  von  ihr  so  geliebte 
Wahlrecht  nicht  verlassen  werden,  das  ist  gewiß.  Wir  möchten 
nur  wünschen,  daß  wir  uns  auch  auf  sie  so  verlassen  könnten. 
Zwischen  jetzt  und  der  Einbringung  der  Wahlrechtsvorlage  liegen 
die  Weihnachtsferien  und  für  die  Regierung  die  Zeit,  wo  sie  mit 
ihren  Statistikern  und  Referenten  und  allen  Statthaltereien  die 
Wahlrechtsgesetzgebungen  aller  Länder  prüft  und  überall  das 
Beste,  mitunter  auch  das  minder  Gute  übersetzen  und  importieren 
läßt.  DieseZeitkannmanihrzumStudiumgernver- 
gönnen.  Aber  ich  möchte  von  dieser  Stelle  aus  sagen,  die  Regie- 
rung soll  nicht  glauben,  daß,  wenn  es  ruhiger  wird  um  Weih- 
nachten, darum  die  Bewegung  schwächer  geworden  ist.  Bei  dem 
leisesten  Zeichen  einer  Schwäche,  da  wird  sich  sofort  die  Stärke 
der  Bewegung  von  neuem  und  in  verstärktem  Umfang  offenbaren. 
(Beifall.) 

Ein  so  gebildeter  Herr,  wie  der  Prinz  Liechtenstein  —  er  ist 
bekanntlich  der  „feinste  Kopf"  seiner  Partei  — ,  hat  vor  ein  paar 
Tagen  in  diesem  katholisch-politischen  Verein  in  der  Leopoldstadt, 

*)  Eine  christlichsoziale  Bezirksgröße  im  zweiten  Wiener  Bezirk,  Gast- 
wirt und  Stadtrat. 

**)  Hannibal  vor  den  Toren! 


Hie  Antwort  an  die  Wahli     hl  feinde.  281 


wo  jci/t  das  Zentrum  der  politischen  Überlegung  der  Christlich- 
sozialen sein  soll,  auch  von  der  Wahlreform  im  einzelnen  ge- 
sprochen und  gemeint,  die  fünfjährige  Seßhaftigkeit1"),  die  muß  sein, 
denn  man  kann  doch  nicht  den  Wanderarbeitern  die  Majorität  über 
die  ansässige  Bevölkerung  Rehen,  das  wäre  ein  Plural  Wahl- 
recht. (Heiterkeit.)  Was  er  sich  bei  dein  Worte  Pluralwahlrecht 
gedacht  hat,  weiß  ich  nicht.  Wahrscheinlich  hat  er  sich  gedacht, 
bei  seinem  Publikum  ist  das  eine  Fremdwort  so  gut  wie  das 
atidere,  sie  verstehen  es  ja  doch  nicht.  Aber  dann  sagte  er  auch, 
die  Leute  können  ja  in  ihrer  Heimat  wählen  und  es  soll  ihnen  da 
alle  mögliche  Erleichterung  gewährt  werden,  nämlich  weil  er  auch 
für  die  Wahlpflicht  ist.  Denken  Sie  sich,  am  Takre  der  Wahl 
werden  die  Leute,  die  nicht  zuständig  sind,  mit  allen  Erleichte- 
rungen in  die  Heimat  gebracht  (schallende  Heiterkeit  und  Zwischen- 
ruf: Per  Schub!),  damit  sie  die  seßhafte  Wiener  Bevölkerung 
nicht  durch  das  Pluralwahlrecht  majorisieren.  So  blödsinnig  das 
ist  —  ohne  Herrn  Liechtenstein  nahetreten  zu  wrollen,  er  ist  ein 
sehr  pfiffiger  Herr,  und  wenn  er  etwas  ganz  Dummes  sagt,  so  weiß 
er,  warum  er  dumm  redet  — ,  so  schließt  das  die  Gefahr  nicht  aus. 
Zur  Abwehr  eines  solchen  Planes  gehört  nicht  allein  das  Argument, 
daß  es  ein  Wahnwitz  ist,  sondern  gehört  auch  die  Erklärung,  daß 
das  arbeitende  Volk  sich  das  nicht  gefallen  läßt. 
Ein  Gesetz  nach  dem  Ideal  des  Herrn  Lueger  würde  etwa  so  aus- 
schauen: „Das  Wahlrecht  hat  jeder  24jährige  Mann  in  Österreich. 
Ausgeschlossen  sind  erstens  die  Geisteskranken,  zweitens 
die  Verbrecher  und  drittens  die  Leute,  die  sich  in  den  letzten 
fünf  Jahren  einmal  entfernten,  um  Arbeit  zu  suchen.  (Tosende 
Pfuirufe.)  Diese  Politiker  haben  die  Gewissenlosigkeit,  für  ganz 
Österreich  ein  Wahlrecht  zu  empfehlen,  das  angepaßt  ist  den 
speziellen  politischen  Wahlmogelbedürfnissen  hier  in  Wien. 

Es  ist  ausgeschlossen,  daß  das  verwirklicht  werden 
könnte;  aber  es  ist  nur  darum  ausgeschlossen,  nicht  weil  es  ein 
Verbrechen  wäre,  sondern  nur  darum,  weil  es  sich  die  Arbeiter- 
schaft nicht  gefallen  läßt.  Wir  haben  gezeigt,  daß  wir  nicht  mit 
leeren  Worten  drohen,  sondern  daß  wir  halten,  was  wir  sagen. 
Wir  haben  auch  gezeigt,  daß  wir  Maß  zu  halten  wissen  und  daß 
wir  die  Kraft  des  Proletariats,  die  dem  Kampfe  für  das  Wahlrecht 
dienen  soll,  auch  zu  schonen  wissen.  Aber  so  wie  wir  Selbst- 
beherrschung, Disziplin  und  Zucht  zu  üben  wissen,  so  erklären  wir 
immer  wieder,  daß  das,  was  wir  angekündigt  haben,  ebenso  kein 
leeres  Wort  war.  Wenn  ein  Tag  kommen  sollte,  an  dem  die  Regie- 
rung zu  schwach  sich  erweist,  der  Wahlreform  weiterzuhelfen,  so 
werden  wir  aufstehen  und  werden  die  Kraft  finden,  den 
Wagen  weiterzuschieben,  und  sei  es  mit  dem  Massenstreik. 
(Brausender  Beifall.)  In  aller  Ruhe,  in  aller  Nüchternheit  sagen  wir: 
Geht  es  mit  Gautsch  —  gut;  kann  er  es  nicht,  dann  werden  wir  es 

*)  Die  fünfjährige  Seßhaftigkeit  war  die  Erfindung  der  Christliehsozialen, 
die  sie  dam  auch  für  den  Geineinderat  einzuführen  versuchten.  Allerdings 
haben  sie  darauf  dann  verzichtet. 


282  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

besorgen.  Vorläufig  geht  es  ja  mit  Gautsch  ganz  gut.  Die  Wahl- 
reform wird  im  nächsten  Jahre  sicher  reinlich,  bestimmt  und 
definitiv  erledigt  werden.  In  diesem  Sinne  gehen  wir  heuer  freudig 
in  die  Ferien,  um  neugestärkt  mit  der  alten  Entschlossenheit  und 
alten  Rücksichtslosigkeit  wiederzukehren  zum  alten  Kampfe  im 
neuen  Jahre.  (Brausender  Beifall.) 

Gedenktag  der  russischen  Revolution. 

Versammlung  am  21.  Jänner  190 6*). 

Werte  Genossen  und  Genossinnen!  Heute  vor  einem  Jahre  haben 
wir  Minute  für  Minute  mit  angespanntem  Sinne  auf  die  Nachrichten 
aus  Petersburg  gewartet.  Wir  wußten,  es  wird  sich  sehr  Großes 
ereignen;  wir  wußten,  daß  die  Revolution  in  Rußland  an  diesem 
Tage  hinaustreten  wird  ans  Licht.  Die  Revolution  in  Rußland  dauert 
länger  als  ein  Jahr;  Jahrzehnte  sind  es,  daß  in  den  Eingeweiden 
der  Völker  Rußlands  die  Revolution  arbeitet;  aber  ans  Licht  ge- 
treten ist  sie,  als  nicht  nur  die  Empörung  möglich  war,  als  der  Zu- 
sammenbruch des  zarischen  Reiches  gekommen  war.  Vor  hundert 
Jahren  hat  man  gesagt:  Europa  wird  republikanisch  oder  kosakisch 
sein,  und  der  Zarismus  hat  sich  mit  Europa  nicht  begnügt,  er  wollte 
Asien  kosakisch  machen.  Ein  Raubzug  ist  nach  dem  Osten  unter- 
nommen worden,  ein  Raubzug  der  Kapitalisten  aller  Länder;  denn 
an  dem  Zarismus,  an  dieser  Unternehmung  der  Unterdrückung  und 
Ausbeutung  aller  Völker,  an  dem  sind  die  Kapitalisten 
aller  Länder  als  Aktionäre  beteiligt  (allgemeine  Rufe : 
Sehr  richtig!),  und  zwar  diejenigen  nicht  zum  wenigsten,  die 
am  meisten  heute  zetern  und  wimmern  über  die  Greuel,  die  sie 
selbst  verbrochen,  und  deren  Nutznießer  sie  von  jeher  gewesen 
und  gehofft  haben,  immer  zu  bleiben.  (Lebhafte  Zustimmung.)  Von 
dem  Moment  an,  da  der  Krieg  erklärt  wurde  —  was  jetzt  genau 
zwei  Jahre  sind  — ,  folgte  Niederlage  auf  Niederlage  der  russischen 
Armee  und  Sieg  auf  Sieg  der  Japaner,  des  kleinen,  verachteten 
Volkes.  Neujahr  1905  erfolgte  die  Übergabe  von  Port  Arthur 
und  damit  der  vernichtende  Schlag  der  russischen  Armee.  (Brau- 

*)  Im  Kampfe  um  die  Wahlreform  war  auch  der  Hinweis  auf  die  russi- 
sche Revolution  ein  wichtiges  Argument.  Deshalb  hat  Adler  in  der  Ver- 
sammlung, die  am  Jahrestag  der  Revolution  im  Hotel  Savoy  veranstaltet 
wurde,  die  Gedenkrede  gehalten.  Man  sieht  aus  der  Rede,  wie  förmlich 
jeder  Satz  da  auf  Österreich  zielt. 

Nach  Adler  sprach  übrigens  auch  der  russische  Genosse  Teplow,  der 
an  den  revolutionären  Kämpfen  in  Moskau  hervorragend  teilgenommen 
hatte.  In  der  Resolution,  die  auf  Adlers  Antrag  beschlossen  wurde,  wird 
das  Versprechen  gegeben,  den  Wahlrechtskampf  mit  Mut,  Zähigkeit  und 
vor  keinem  Hindernis  zurückschreckender  Rücksichtslosigkeit  zu  Ende  zu 
führen.  (Siehe  übrigens  Adlers  Rede  auf  dem  böhmischen  Landesparteitag 
am  23.  Juli,  Seite  229,  dann  die  Rede  bei  Ausbruch  der  russischen  Revo- 
lution am  26.  Jänner  1905  (Bd.  VIII,  Seite  271)  sowie  auch  die  Rede  über 
die  Märzrevolution  des  Jahres  1917.) 


Gedenktag  der  russischen  Revolution.  283 

sonder  Jubel.)  Damit  war  in  Rußland  das  Regiment  im  I  n  n  e  r  11  s  o 
erschüttert,  d  a  ß  der  Ansturm  der  r  e  v  o  1  n  t  i  0  tl  a  r  e  n 
Klasse  E  r  f  o  I  g  li  a  b  e  n  k  o  mite  n  n  d  m  u  ß  t  e. 

Was  wir  in  Rußland  vor  uns  sehen,  ist  der  Zusammen- 
b  r  u  c  h  d  e  r  Unfähigkeit,  mit  den  Mitteln  der  äußeren  brutalen 
Gewalt  dieses  System  noch  ferner  aufrechtzuerhalten  an  diesem 
Orte,  und  zugleich  der  Umsturz,  der  aktiv  von  den  revo- 
lutionären Klassen  geführt  wird.  Der  Kapitalismus  ist  gezüchtet 
worden  von  der  zarischen  Regierung,  und  wie  es  im  Kommunisti- 
schen Manifest  schon  stellt:  „Der  Kapitalismus  zeugt  sich  selbst 
seine  Totengräber",  so  hat  der  Kapitalismus  unter  dem  Protektorat 
und  alsWerkzeugdesZaren  gezüchtet  seinen  eigenen  Toten- 
gräber: das  revolutionäre  Proletariat,  das  plötzlich  auf 
die  Bühne  tritt,  nachdem  es  gewachsen  ist  und  durchsetzt  wurde  in 
mühevoller  Arbeit  mit  revolutionären  Ideen.  Während  des  ganzen 
Jahres,  das  jenem  22.  Jänner  vorherging,  haben  wir  in  ganz  Ruß- 
land, insbesondere  aber  in  den  Industriezentren:  in  Petersburg, 
in  Moskau,  in  Odessa,  in  Polen  auch  in  Lodz  und  War- 
schau, einzelne  Bewegungen  und  Streiks,  die  beginnen  und  wieder 
erlöschen,  aber  die  schon  einen  ganz  anderen  Charakter  haben  als 
jene  primitiven  Lohnbewegungen  um  einzelne  wirtschaftliche  Forde- 
rungen. Damit  verbindet  sich  eine  große  Bewegung  der  Intelligenz, 
eine  große  Bewegung  in  den  Spitzen  des  Bürgertums  und  auch  des 
Landadels;  denn  auch  für  diese  Klasse  ist  die  zaristische  Knechtschaft 
schon  eine  Kette,  die  ihre  Entwicklung  hemmt,  und  die  besten  von 
ihnen  vereinigen  sich  und  demonstrieren  offen  für  Konstitu- 
tion und  politischeFreiheit,  und  jede  Niederlage  auf  dem 
mandschurischen  Kriegsschauplatz  hat  ihr  Echo  in  Rußland  selbst. 
Aber  all  das  bleibt  nur  Symptom  eines  im  Anzüge  Seienden,  bis  mit 
einem  Schlag  im  Jänner  das  Proletariat  selbst  im  Herzen  des  Reiches 
in  Petersburg  auf  die  Straße  tritt.  Diese  Bewegung  ist  geknüpft  an 
den  Namen  des  Priesters  Q  a  p  o  n  und  der  Mann  wirdunster  b- 
lich  bleiben  in  der  Geschichte,  was  und  wer  auch  immer 
der  Träger  dieses  Namens  sein  mag.  Ob  Gapon  ein  bewußtes 
Werkzeug  war  der  polizistischen  Gewerkschaften,  die  zur  geistigen 
Knechtung  des  Proletariats  von  der  Regierung  gegründet  worden 
waren,  wissen  wir  nicht;  was  wir  aber  wissen,  ist,  daß  das  Werk, 
das  er  übte,  größer  wurde  als  er,  und  daß  es  ihn  mit  sich 
fortriß,  und  daß  er  in  den  Tagen  des  Jänner,  als  es  zum  Ernst  kam, 
ergriffen  wurde  von  den  sozialdemokratischen  Ideen,  die  in  dieselben 
Gewerkschaften  von  unseren  Genossen  in  hundertfältiger  Arbeit 
hineingetragen  worden  waren.  Gapon  war  in  diesen  Tagen  des 
Jahres  1905  ein  Werkzeug  der  Weltgeschichte,  und  so 
ganz  hat  er  sein  Leben  und  die  Bedeutung  seines  Lebens  erschöpft 
in  diesen  Tagen,  daß  es  gleichgültig  ist,  wer  er  geworden  und  was 
er  gewesen,  als  er  verschwand  in  jenen  Tagen.  In  diesen 
wenigen  Tagen  hat  er  die  Bedeutung  seines 
Lebens  konsumiert.  Dieser  Mann  also  sammelte  die  Waffen 
in  diesen  Tagen  und  formulierte  den  letzten  Appell  an  den  Zaren, 


284  Der  Sic&  des  gleichen  Wahlrechts. 

der  mit  ehernen  Lettern  in  das  Buch  der  Geschichte  gegraben  ist. 
(Lebhafter  Heifall.) 

Es  war  ein  Streik,  der  begonnen  hatte  in  den  Putilow- 
Werkstätten,  die  ebenso  ihren  Namen  in  der  Geschichte  be- 
halten, von  denen  alle  Streikbewegungen  ausgegangen.  Der  Streik 
brach  infolge  der  Maßregelung  einiger  Arbeiter  aus,  riß  aber  nicht 
nur  die  12.000  Arbeiter  jener  Werkstätten  mit,  sondern  noch 
weitere  30.000  der  Eisenbahnen  und  weiterer  Werkstätten 
und  wurde  plötzlich  eine  Aktion  von  geschichtlichem  Cha- 
rakter. In  diesen  Streikversammlungen,  da  zeigten  sich  auch 
neben  den  Agitatoren  der  zarischen  gelben  Gewerkschaften 
unsere  Männer  und  Frauen:  sozialdemokratische  Arbeiter  und 
Arbeiterinnen,  Studenten  und  Studentinnen,  die  an  dem  Werke  der 
Revolution  seit  Jahrzehnten  gearbeitet  haben.  Ihre  Stimme  gewinnt 
Einfluß  und  Gewicht  und  nun  ist  der  ganze  Charakter  dieser  Be- 
wegung umgewandelt.  Gapon  richtet  an  den  Zaren  die  Worte:  „Wir 
Arbeiter  sind  elende  beschimpfte  Sklaven.  Als  die  Grenze  unserer 
Geduld  erreicht  war,  haben  wir  die  Arbeit  eingestellt.  Wir  haben 
unsere  Herren  nur  gebeten,  uns  das  zu  geben,  ohne  das  zu 
leben  eine  Qual  ist.  Aber  alles  ist  abgelehnt ...  Das  Be- 
amtentum besteht  aus  Räubern  und  Dieben...  Es 
führt  Rußland  immer  mehr  an  den  Rand  des  Ab- 
grundes. Das  Volk  ist  jeglicher  Möglichkeit  beraubt,  seine  Wün- 
sche und  Forderungen  auszudrücken  und  an  der  Festsetzung  der 
Besteuerung  und  Staatsausgaben  teilzunehmen.  Wir  wollen 
liebersterben,  aisunter  solchenGe  setzen  weite  r- 
leben.  Mögen  unter  solchen  Verhältnissen  die  Kapitalisten  und  die 
Beamten  leben.  Kaiser,  hilf  deinem  Volke!  Vernichte  die 
Scheidewand  zwischen  dir  und  deinem  Volke... 
Befiehl  die  Erfüllung  unserer  Bitte  und  du  machst  Rußland  glück- 
lich; wenn  nicht,  so  sterben  wir  hier.  Wir  haben  nur  zwei  WTege: 
die  Freiheit  und  das  Glück  oder  das  Grab.  Wir 
bringen  gern  unser  Leben  Rußland  zum  Opfer  da  r." 
—  Und  dann  wurde  der  letzte  Appell  an  das  Väterchen  gerichtet 
und  es  freundlich  eingeladen,  zu  kommen:  „Das  ganze  Volk  ver- 
traut dir  und  hat  beschlossen,  morgen  um  2  Uhr  nachmittags  vor 
dem  Winterpalais  zu  erscheinen,  um  dir  seine  Not  zu  klagen.  Wenn 
du,  wankelmütig,  nicht  vor  dem  Volke  erscheinst,  dann  zer- 
reißest du  das  moralische  Band  zwischen  dir  und 
dem  Volke  und  das  Vertrauen  wird  schwinden,  da 
unschuldiges  Blut  zwischen  dir  und  dem  Volke 
f  1  i  e  ß  e  n  w  i  r  d.  Erscheine  morgen  vor  deinem  Volke  und  empfange 
mutigen  Geistes  unsere  Ergebenheitsadresse.  Ich,  der  Ver- 
treter der  Arbeiter,  und  meine  tapferen  Arbeitsgenossen 
verbürgen  dir  die  U  n  v  e  r  1  e  t  z  1  i  ch  k  e  i  t  deiner 
P  e  r  s  o  n." 

Diese  Menschen  haben  noch  Vertrauen  gehabt  zum  Zaren, 
aber  er  nicht  zu  ihnen.  Sie  sind  vor  den  Winterpalast  ge- 
zogen, aber  nicht  ihn  haben  sie  dort  gefunden.  Er  war  längst  ge- 


Qedenktag  der  russischen  Revolution.  285 


flohen  (Rufe :  Der  Feigling!)  nach  Zarskoje  Selo,  in  sein  Schloß  am 
Meere;  aber  noch  ist  er  nicht  zurückgekehrt,  noch  lebt  er  dort  als 
Gefangener  des  Zarismus  selbst.  Die  Hunderttausende  Arbeiter,  die 
zum  Winterpalast  hingezogen  sind  mit  Weib  und  Kind,  mit  Kifchen- 
fahnen  an  der  Spitze,  gläubig,  um  ihre  Ergebenheit,  ihre  Treue,  iiir 
festes  Vertrauen  dem  „Vater"  dort  zu  beweisen,  sie  wurden 
empfangen  mit  Flintenschüssen  der  Leibgarderegimenter,  von  den 
Nagaiken  der  Kosaken,  und  ein  Blutbad  wurde  angerichtet  unter 
ihnen,  bei  dem  nicht  Frau,  nicht  Kind  geschont  wurde,  und  noch 
heute  weiß  man  es  nicht,  wieviel  Tote  es  waren.  (Allgemeine  tiefe 
Bewegung  im  Saale.)  Zum  erstenmal  in  diesem  Feldzug  haben  die 
russischen  Regimenter  eine  Schlacht  gewonnen  (tosende  Pfuirufe); 
aber  auch  dieser  Sieg  war  nur  das  Vorspiel  der  großen  Niederlagen 
des  Zarismus;  denn  nicht  erstickt,  sondern  geweiht  wurde 
die  Revolution  mit  dem  Blute  der  Proletarier,  das 
da  vergossen  wurde.  In  einer  Woche  schon  verbreitete  sich  der 
Streik  und  die  proletarische  Bewegung  über  ganz  Rußland;  am 
28.  Jänner  erfaßte  sie  bereits  Polen  und  in  Warschau  und  in 
Lodz  beginnt  jener  gewaltige  Generalstreik,  der  bis  lange 
nach  Ostern  währt  und  der  in  seiner  Art  selbst  in  dieser  Helden- 
geschichte der  Revolution  etwas  ganz  Unerhörtes  ist.  Was 
damals  und  seither  geschehen  ist,  war  nicht  ein  planmäßiger  Feld- 
zug. Töricht  ist  die  Meinung,  daß  eine  Gruppe  von  Menschen,  daß 
eine  Partei,  und  wäre  sie  noch  so  einflußreich,  die  Weltgeschichte 
lenken  könne.  Das  revolutionäre  Proletariat  Rußlands  selbst  ist 
der  Faktor,  der  in  Bewegung  ist,  und  dieser  Machtfaktor  ist  selbst 
nur  ein  Teil  dieses  Prozesses,  und  was  wir  an  Revolutionären  sehen, 
das  sind  nur  Träger  einer  Bewegung,  für  die  sie  arbeiten,  für  die 
sie  sich  opfern  können,  die  aber  keine  Menschenmacht 
zu  leiten,  zu  lenken  oder  gar  aufzuhalten  vermag. 

Eine  Stadt  nach  der  anderen  sehen  wir  dann  sich  erheben,  es 
folgt  die  unerhörte  Expedition  des  „Potemkin*)",  die  unerhörte 
Episode  der  Revolte  der  Marinesoldaten  in  den  Häfen  des  Nordens; 
überall  geht  die  göttliche  Autorität  des  Zarismus  plötzlich  mit  einem 
Riß  verloren  und  nun  schwanken  der  Zar  und  seine  Räte  zwischen 
Repressalien  und  Zugeständnissen.  Im  Jänner  kommen  Ver- 
sprechungen von  Freiheit  und  Reformen,  im  Juni  das  Dumaver- 
sprechen B  u  1  y  g  i  n  s**),  der  mit  seinem  Wahlrecht  die  Duma  zu  einer 
Karikatur  eines  Parlaments  machen  wollte,  und  am  30.   Oktober 


*)  Der  Panzerkreuzer  „Knias  Potemkin",  der  durch  seine  revolutionäre 
Fahrt  bekannt  ist. 

**)  Der  Innenminister  Bulygin  veröffentlichte  am  26.  Juni  folgenden 
Verfassungsentwurf:  Die  Duma  sollte  einen  vom  Zaren  ernannten  Präsi- 
denten haben.  Sie  selbst  sollte  in  zehn  Abteilungen,  jede  für  ein  Ressort, 
geteilt  werden.  Die  Kompetenzen  der  Duma  sollten  die  gleichen  sein  wie 
die  des  Reichsrates.  Jedes  Geschäft  sollte  zuerst  von  einer  Abteilung  der 
Duma  geprüft  werden,  dann  vor  die  Plenarversammlung  kommen  und  von 
dort  vor  den  Reichsrat.  Über  das  Wahl  verfahren  wurde  noch  nichts  mit- 
geteilt, weil  in  der  Regierung  noch   Meinungsverschiedenheiten  bestanden. 


286  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


endlich  jenes  Manifest  des  Zaren,  das  Freiheit,  ein  wirkliches  Par- 
lament und  den  Eid  des  Zaren  auf  diese  Verfassung  verspricht.  Aber 
wenn  Zaren  können,  so  verraten  sie  ihre  Eide,  womöglich  noch 
bevor  sie  sie  geleistet  (allgemeine  Pfuirufe),  und  so  haben  wir  den 
Versuch  einer  Gegenrevolution  als  die  Hoffnung  des  Zaren  und 
jenes  Witte,  den  die  Bürgerlichen  aller  Länder  bewundern  wegen 
seiner  Klugheit  und  Geschicklichkeit,  dessen  ganze  Politik 
aber  heute  darauf  hinausläuft,  die  Völker  Ruß- 
lands zu  betrügen  um  den  Erfolg  der  Revolution. 
Direkt  offiziell  von  der  Polizei  und  den  Administrativbehörden 
wurden  die  schwarzen  Banden  geführt  gegen  die  Juden;  so 
heißt  es;  aber  sie  wurden  auch  gehetzt  gegen  die  Arbeiter,  gegen 
die  Intelligenz,  kurz  gegen  alles,  was  revolutionär  ist.  Es  wurde 
geplündert  und  gemordet  und  Untaten  wurden  verübt,  für  die  unsere 
Sprache  keinen  Ausdruck  findet.  Und  nun  meinen  die  Menschen  — 
und  das  sollte  erzielt  werden  — ,  diese  Greuel  wären  die  Folge  der 
Revolution,  während  sie  der  Ausdruck  der  Gegenrevolu- 
tion sind  und  ihre  Möglichkeit  allein  darin  begründet  ist,  daß 
die  Revolution  erst  heute  kommt.  Dieselben  Leute  aber,  die  hier 
in  der  europäischen  Presse  über  die  Greuel  in  Kischinew  und  Odessa 
blutige  Tränen  weinen  und  Sammlungen  veranstalten  für  die  un- 
glücklichen Juden,  die  bringen  die  gegebenen  Kreuzer  in  Mil- 
lionen herein  dadurch,  daß  sie  ihr  Vermögen  angelegt  haben 
in  den  großen  Geschäftsunternehmungen  des  Zarismus.  Der  Roth- 
schild, der  vor  einigen  Tagen  auf  einem  Meeting  in  London  für 
die  armen,  geplünderten  und  gemordeten  Juden  gesprochen  hat, 
hätte  schweigen  können,  aber  seine  Millionen  hätte  er 
aus  Rußland,  zurückziehen  sollen.  Die  Juden  finden  sich 
in  den  Reihen  der  Revolutionäre  in  einem  würdigen  Prozentsatz, 
aber  die  Gegenrevolution  in  Rußland,  die  wird  geradezu  von  jüdi- 
schen und  christlichen  Kapitalisten  Westeuropas  finanziert.  (Pfui- 
rufe.) 

Diese  furchtbare  Gegenrevolution  hat  aber  auch  Schichten  ge- 
weckt und  zur  Gegenorganisation  und  Gegenaktion  gezwungen, 
die  bis  dahin  stillgelegen  waren.  Im  letzten  Viertel  des  vorigen 
Jahres  kam  eine  Periode,  wo  Rußland  ein  anderer  Staat  geworden 
ist,  wo  eine  Preßfreiheit  geübt  wird,  wie  wir  sie  nicht  kennen.  Es 
ist  ein  merkwürdiges  Schauspiel,  daß  mitten  in  dieser  Aktion,  wo 
jede  Fiber  angespannt  ist,  sich  zugleich  das  geistige  Leben 
aller  Völker  mit  einem  Schlage  blitzartig  ungeahnt  entwickelt. 
Daneben  geht  aber  noch  ein  anderes  her.  Der  Zersetzung  des  inneren 
Verwaltungsorganismus  geht  parallel  das  Auseinanderfallen 
des  Reiches.  Was  wir  heute  in  Polen,  auf  dem  Kaukasus,  in 
Finnland  und  Esthland  sehen,  das  ist  nicht  nur  Klassenkampf,  das 
ist  vor  allem  auch  der  Kampf  der  Völker  um  ihre  nationale 
Befreiung.  Da  sind  Tatsachen  geschaffen  worden,  die  sich  nicht 
mehr  rückgängig  machen  lassen.  Rußland  kann  Polen  nicht  mehr 
erdrosseln,  kann  Finnland  nicht  mehr  beherrschen  wie  eine  Provinz, 
Polen  ist  frei  geworden,  aber  nicht  durch  den  polnischen  Adel, 


Gedenktag  der  russischen  Revolution.  2^7 


nicht  durch  das  Bürgertum  oder  jene,  die  sich  für  die  Wortführer 
des  polnischen  Volkes  ausgeben,  sondern  frei  geworden 
d  u  r  c  li   das   polnische  Proletariat.   (Beifall.) 

Mitten  im  Kampfe  stehen  wir  noch  heute,  und  es  sieht  aus,  als 
wäre  die  Revolution  wieder  an  einem  ihrer  Ruhepunkte  an- 
gekommen, wie  schon  so  oft  während  der  letzten  zwei  Jahre,  und 
als  würde  der  Zar  neue  Kraft  sammeln.  J  a  der  Zar,  der  nicht 
wagen  darf,  seine  letzten  Truppen  aus  Ostasien  zurückzubringen, 
der  seine  Regimenter  sorgfältig  auswählen  muß,  die  er  dem  Volke 
entgegenstellt,  der  Zar  und  die  Zarenclique,  die  den  Glauben  an 
sich  selbst  längst  verloren  haben;  die  haben  gegen  sich  nicht  allein 
ein  Bürgertum  und  eine  Intelligenz,  die  auch  nicht  mehr  die  Früchte 
ihrer  Opfer  aufgeben  werden,  sondern  vor  allem  ein  Proletariat, 
das  in  den  letzten  Jahren  in  rapiden  Schritten  vorwärts  gegangen 
ist  und  gelernt  hat,  proletarisch  zu  kämpfen  und  pro- 
letarische Waffen  zu  handhaben.  Und  darum  haben  die 
russischen  Genossen  Beispiele  gegeben,  die  für  die  proletari- 
schen Kämpfe  fruchtbar  sein  werden  für  alle  Län- 
der und  für  alle  Zeiten.  Der  politische  Massen- 
streik, den  wir  in  Polen  nicht  nur  die  Produktion,  sondern  auch 
das  ganze  Nervensystem  des  Staates  lahmlegen  sahen,  wird  gewiß 
noch  in  der  Geschichte  der  proletarischen  Kämpfe  häufig  eine  wich- 
tige Rolle  spielen.  Aber  die  russische  Revolution  hat  uns  auch  ge- 
zeigt, daß  die  Annahme,  die  Zeit  des  Gewaltkampfes  auf  der 
Straße  wäre  für  immer  vorbei,  nicht  für  alle  Zeiten,  Völker  und 
Zustände  richtig  ist.  Was  haben  die  Revolutionäre  in  Warschau  und 
Lodz  mit  den  kleinen  Revolvern,  den  berühmt  gewordenen 
Brownings,  nicht  alles  geleistet!  Und  die  ungeheuren  Kämpfe  in 
Moskau,  wo  man  mit  Kanonen  den  Kampf  führen  mußte,  weil  die 
Infanterie  nicht  sicher  war!  Aber  diese  Ereignisse  zeigen  uns,  daß 
die  Methoden  des  Kampfes  der  Revolution  und  die  Methoden  des 
Kampfes  des  Proletariats  nicht  auszurechnen  sind  im  einzelnen,  und 
daß  nichts  törichter  ist,  als  von  irgendeiner  Methode  des  Kampfes 
zu  sagen,  sie  ist  die  einzig  e,  die  wir  anwenden  müssen,  oder  zu 
sagen,  die  werden  wir  niemals  üben,  sie  ist  unmöglich 
geworden. 

Parteigenossen!  Die  russische  Revolution  hat  für  das  gesamte 
politische  System  der  Welt  eine  ungeheure  und  heute  in  ihren 
Folgen  noch  gar  nicht  abzumessende  Bedeutung.  Was  Sie  heute 
von  europäischen  Verwicklungen,  neuen  Bündnissen  der  Staaten 
sehen,  diese  Ratlosigkeit,  Erregtheit  und  Nervosität,  ist  im  letzten 
Grunde  die  Folge  der  ungeheuren  Tatsache,  daß  durch  die  Revolu- 
tion in  Rußland  der  mächtigste  politische  Faktor  un- 
sicher geworden  ist.  Es  ist,  als  wie  wenn  aus  diesem  politi- 
schen Bau  der  Tragbalken  plötzlich  herausgezogen  worden  wäre. 
Alle  Politik  in  den  reaktionären  Staaten  hat  auf  dem 
sicheren  Vertrauen  beruht:  wenn  es  schlimm  geht,  der  große  starke 
Onkel  in  Petersburg  kann  noch  helfen.  Und  nun  ist  das  so  ganz 
anders  geworden.   So   viel   Ströme   der  Reaktion   sind  nie  von 


288  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Rußland  Redrungen,  so  viel  Revolution  ist  nie  von  Westen  nach 
Osten  getragen  worden,  als  heute  aus  diesem  siedenden 
Kessel  der  Revolution  in  Rußland  von  revolutio- 
närer Energie  aus  dem  Osten  herüberströmt  nach 
Europa.  (Brausender  Beifall.)  Die  Staaten  und  ihre  Diplomaten 
können  sich  nicht  freimachen  davon  und  das  arbeitende  Volk  in 
allen  Ländern  stürzt  sich  mit  vollem  klaren  Bewußtsein  dessen,  was 
es  tut,  in  den  Strom  dieser  Revolution  und  bewirkt  in  jedem  Lande 
die  Revolution  mit  seinen  Mitteln,  nach  seinen  Verhältnissen 
und  mit  seinen  augenblicklichen  Zielen. 

Wir  haben  das  Recht  und  haben  die  Pflicht,  an  diesem  Gedenk- 
tag der  russischen  Revolution  auch  zu  gedenken  unserer  eigenen 
Sache;  denn  Parteigenossen,  was  wir  für  unsere  kämpfenden 
Brüder  drüben  tun  können,  das  ist  nur  das  eine:  unsere  eigene 
Pflicht  in  unserem  eigenen  Lande,  in  unserer 
eigenen  Sache.  Wir  können  den  Genossen  drüben  nicht  besser 
helfen,  als  indem  wir  die  Stützen  der  Reaktion  in  unserem  eigenen 
Lande  erschüttern  und  indem  wir  in  Österreich  endlich  nachholen, 
was  uns  längst  gebührt  hätte,  indem  wir  endlich  unser  Recht  er- 
kämpfen :  das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahl- 
recht. (Beifall.)  Wir  haben  die  f  e  s  t  e  Z  u  s  a  g  e,  daß  unser  Recht 
erfüllt  werden  wird,  und  wir  werden  in  wenigen  Wochen  erfahren, 
in  welchem  Umfang  man  Wort  halten  will.  Wir  sind  in  den  Kampf 
gegangen  in  dem  Bewußtsein,  daß  es  ein  Kampf  auf  Leben  und  Tod 
sein  kann;  denn  auch  wir  sind  der  Überzeugung,  daß  es  sich  nicht 
lohnt,  so  weiterzuleben,  und  für  uns  ist  unser  Zustand  dieselbe 
.Schmach,  wie  er  es  für  jene  drüben  ist. 

Ein  Zwischenfall. 

Es  scheint,  daß  es  genügt  hat,  den  ernsten  Entschluß  zu  zeigen, 
und  die  gewaltige  proletarische  Organisation,  die  in  Jahrzehnten 
erzogen  und  zusammengehämmert  wurde...  (Ein  Zwischenruf: 
Und  nichts  getan  hat!) 

Abgeordneter  Dr.  Adler  (erwidernd):  Wie  Sie  noch  nicht  auf 
der  Welt  waren,  hat  das  Proletariat  schon  Großes  getan . . . 

Der  Versammlung  hat  sich  inzwischen  wegen  des  Zwischenrufes  eine 
große  Erregung  bemächtigt  und  von  allen  Seiten  erschallt  der  Ruf: 
Hinaus  mit  ihm!  Genosse  Dr.  Adler  muß  kurze  Zeit  innehalten, 
beruhigt  aber  die  Versammlung  bald,  indem  er  fortfährt: 

Überlassen  Sie  es  mir,  Genossen,  mit  dem  Herrn  fertig  zu 
werden.  Ich  habe  den  Zwischenruf  aufgegriffen,  weil  ich  weiß,  daß 
in  manchen  Köpfen  der  Gedanke  spukt,  daß,  wenn  nicht  Blut  ver- 
gossen und  nicht  Barrikaden  gebaut  werden,  nichts  geschieht.  Nun, 
Genossen,  wir  bewundern  den  Kampf,  der  sich  mit  einer  Todes- 
verachtung sondergleichen  da  drüben  abspielt  und  wir  bewundern 
und  verehren  all  die  Männer  und  Frauen,  die  in  einem  Heldenmut 
sondergleichen  ihr  Leben  opfern;  aber  wir  werden  darum  nicht 
geringschätzen  die  Art  des  Kampfes  und  die  Art  der  organisatori- 
schen Arbeit,  die  die  Grundlage  ist  jedes  politischen  Fortschrittes. 


Der  Schacher  um  die  Mandate.  2H(J 


Nicht  immer  gibt  es  Schlachttage  für  das  Proletariat;  a  I)  e  r 
Arbeit  gibt  68  immer,  und  wenn  wir  an  diesen  Alltagen 
unsere  Pflicht  nicht  tun,  dann  werden  wir,  wenn  der  Schlachttag 
uns  aufgezwungen  werden  sollte,  unsere  Pflicht  nicht  ver- 
stehen; wenn  wir  aber  unsere  Pflicht  tun,  dann  bringen  wir  es 
vielleicht  dahin,  daß  wir,  wie  am  28.  November,  nur  den  Erfolg 
unserer  Arbeit  zu  zeigen  brauchen  und  der  Anblick  genügt,  um  uns 
zu  unserem  Recht  zu  verhelfen.  Wir  wissen  nicht,  ob  wir  schon 
am  Ende  unseres  Kampfes  sind.  Wenn  es  notwendig  werden  sollte, 
die  Regierung  und  das  Parlament  in  ihren  guten  Vorsätzen  zu 
stärken,  so  werden  wir  auch  mit  dem  Massenstreik  einsetzen 
(brausender  Beifallssturm),  wie  es  unser  Parteitag  beschlossen  und 
die  Genossen  des  ganzen  Reiches  besiegelt  haben.  Wir  werden  ver- 
stehen, unsere  Pflicht  zu  tun  gegen  uns  und  gegen  die  Märtyrer 
der  Revolution  da  drüben;  denn  auch  ihnen,  nicht  nur  uns  sind  wir 
es  schuldig,  daß  wir  einen  so  ungeheuren  Moment 
nicht  ungenützt  und  ohne  Erfolg  vorübergehen 
lassen.  (Stürmischer  Beifall.)  Aber,  Parteigenossen,  wie  wir 
schuldig  sind  zu  kämpfen  mit  Blut  und  Leben,  wo  es  notwendig  ist, 
so  sind  wir  schuldig  und  sind  es  Ihre  Vertrauensmänner  den  Massen 
schuldig  und  jedem  einzelnen  von  ihnen,  daß  wir  kämpfen  mit  der 
Vermeidung  aller  Opfer,  die  nicht  notwendig  sind.  (Allgemeines 
Bravo.) 

Ich  habe  zuvor  von  der  ungeheuren  Bedeutung  der  russischen 
Revolution  gesprochen.  Es  ist  ein  neues  Rußland,  ist  anders  durch 
sie.  Wir  wünschen  und  hoffen,  ja  wir  hängen  mit  jeder  Faser  unseres 
Herzens  an  dem  Siege  der  russischen  Kämpfer  für  die  Freiheit;  wir 
hängen  daran  nicht  nur  für  sie,  sondern  a  u  c  h  f  ü  r  u  n  s.  Es  ist  nicht 
eine  Redensart  und  nicht  eine  Phrase,  wenn  wir  sagen:  „Ihr 
Krieg  ist  unser  Krie  g",  sondern  er  ist  es  wirklich.  So 
wünschen  wir  den  russischen  Kämpfern  Erfolg  und  hoffen,  daß  es 
auch  uns  gelingen  wird,  unseren  Teil  der  Pflicht  zu  er- 
füllen. (Stürmischer  Beifall.) 

Der  Schacher  um  die  Mandate« 

Sechsundzwanzig  Versammlungen  am  2  8.  Jänner 

1906*). 

Wir  sind  heute  so  weit,  daß  man  an  dem  Einbringen,  ja  ich 
sage  an  dem  Zustandekommen  der  Wahlreform  nicht  mehr  zweifeln 


*)  Am  30.  Jänner  1906  trat  das  Parlament  nach  den  langen  Weihnachts- 
ferien wieder  zusammen  und  die  Sozialdemokraten  hatten  im  ganzen  Reiche 
in  den  letzten  Tagen  Demonstrationsversammlungen  abgehalten.  In  Nieder- 
österreich allein  tagten  30  massenhaft  besuchte  Versammlungen:  in  Wien  26, 
und  zwar  17  deutsche,  6  tschechische  Volksversammlungen  und  3  Branchen- 
Versammlungen.  Im  Arbeiterheim  in  Favoriten  sprach  Adler. 

Seitdem  das  Parlament  am  20.  Dezember  in  die  Ferien  gegangen  war, 
hatte  sich  ein  förmlicher  Markt  im  Ministerium  gebildet,  wo  um  Mandate 

Adler,  Briefe.   X.  Bd.  10 


290  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


kann.  Die  bürgerlichen  Parteien  haben  bis  auf  zwei  Ausnahmen 
nachgegeben.  Die  sich  noch  als  Feinde  bekennen,  das  sind  selbst- 
verständlich die  polnischen  Stanczyken*),  die  erst  „Bedingungen'4 
stellen  werden,  nämlich  die,  daß  ihnen  irgendwie  ihre  Mandate 
garantiert  werden.  Sie  sind  sehr  sentimental,  die  Herren.  Da  hat 
der  Gniewosz  neulich  auf  einem  Hofball  —  unsere  Politik  wird  jetzt 
häufig  auf  Hof  ballen  gemacht  —  dem  Kaiser  gesagt:  „Morituri  te 
salutant**).  Das  ist  der  Lohn  für  unsere  Leistung."  Freilich,  sie  haben 
zu  allen  Niederträchtigkeiten  Ja  und  Amen  gesagt  dafür,  daß  man 
ihnen  das  Volk  völlig  ausliefert.  Wenn  sie  nun  wirklich  den  Fuß- 
tritt bekämen,  hätten  sie  nur  gebüßt  was  sie  an  den  Völkern  Öster- 
reichs, nicht  zuletzt  aber  an  ihren  Polen  und  Ruthenen,  gesündigt 
haben.  So  wie  die  Polen  aber  sind  auch  die  Deutschnationalen 
schärfster  Observanz  gegen  das  Wahlrecht.  Auch  diese  Herren 
fragen  nicht:  Was  ist  notwendig,  was  frommt  dem  deutschen  Volke? 
—  vor  dem  deutschen  Volke  haben  sie  überhaupt  eine  heillose 
Furcht  —  sondern  sie  fragen:  Wo  ist  mein  Mandat?  (Heiterkeit.) 
Was  soll  das  für  ein  Wahlrecht  sein,  wo  ich  nicht  gewählt  werde? 
fragt  sich  der  Herr  Schönerer  und  der  Franko  Stein.  Es  ist  ja  nun 
möglich,  daß  diese  Herren  einige  Komödien  aufführen  werden;  das 
ist,  aber  alles.  Die  anderen  Parteien,  sosehr  sie  sich  innerlich  auch 
sträuben  mögen,  sind  vernünftig  genug,  zu  wissen,  daß  es  keinen 
Weg  mehr  gibt,  der  sie  vor  der  Wahlreform  rettet.  Vielleicht  muß 
Herr  v.  Gautsch  gehen,  wenn  sie  es  wollen;  aber  die  Wahlreform 
hängt  nicht  ab  vom  Ministerium  Gautsch  und  muß  sich  erfüllen 
auch  ohne  dieses.  Sie  hängt  ab  nicht  nur  vom  Willen  der  Arbeiter- 
schaft, sondern  von  eherner  geschichtlicher  Not- 
wendigkeit. Wir  sind  nur  die  Vollstrecker  des  Zwanges,  der 
besteht;  aber  wir  werden  so  unerschütterlich  sein, 
wie  die  N  o  t  w  e  n  d  i  g  k  e  i  t  s  e  1  b  s  t.  Daß  man  mit  dem  heutigen 


und  Wahlkreise  geschachert  wurde.  Die  bürgerlichen  Parteien  hatten  sich 
mit  dem  allgemeinen  Wählrecht  bereits  abgefunden  und  suchten  nur  noch 
durch  eine  künstliche  Zusammenstellung  der  Wahlkreise  eine  möglichst 
große  Zahl  von  Mandaten  für  sich  herauszuschlagen.  Dabei  wurde  nun 
nicht  nur  um  die  an  .sich  begründete  Aufteilung  der. Mandate  an  die  ein- 
zelnen Nationen  verhandelt  —  wofür  Dr.  Kramarsch  den  Deutschen  schon 
in  der  ersten  Wahlrechtsdebatte  ein  offenes  Kompromiß  angeboten  hatte  — , 
sondern  um  die  Sicherung  von  Mandaten  für  einzelne  Parteien,  ja  für 
einzelne  Personen!  Wobei  namentlich  für  die  Führer,  so  für  Herrn  Doktor 
Pergelt  in  Warnsdorf,  ein  Mandat  gesichert  werden  sollte.  Von  dieser  Seite 
drohte  also  kaum  eine  Gefahr  —  wohl  aber  von  der  christlichsozialen 
Forderung  nach  einer  zweijährigen  Seßhaftigkeit  im  Wahlort. 
Dadurch  würde  Zehntausenden  von  Arbeitern  das  Wahlrecht  geraubt  und 
deshalb  wurde  diese  Forderung  von  allen  Wahlrechtsfeinden  unterstützt. 
Sie  wäre  allerdings  für  die  Arbeiter  ein  Kriegsfall  gewesen.  (Darüber 
Näheres  in  den  Bemerkungen  bei  der  folgenden  Rede.) 

*).  Die  Ultrakonservativen  unter  den  Polen. 

**)  „Die  dem  Tod  Geweihten  grüßen  dich!"  Der  Gruß,  den  die  Gladia- 
toren dem  römischen  Kaiser  entboten.  —  Wladimir  R.  v.  Gniewosz 
war  ein  galiziseher  Großgrundbesitzer. 


Die    Wahlreform   vorgelegt.  2ft 


Wahlrecht  noch  einmal  wühlen  geht,  das  wagt  niemand  mehr  aus- 
zusprechen. Was  wir  noch  ZU  fürchten  haben,  das  sind  die 
falschen  Freunde  der  Wahlreform.  Die  Christlichsozialen 
sind  für  die  Wahlreform,  aber  so  wie  sie  für  alles  sind,  schielend 
und  verlogen.  Hier  liegt  einer  der  schwierigsten  Punkte,  denn  es 
ist  Rar  kein  Zweifel,  daß  bei  den  bürgerlichen  Parteien  und  bei  der 
Regierung  die  Neigung  besteht,  die  Wünsche  dieser  Herren  zu  er- 
füllen. Man  will,  daß  diejenigen,  die  genötigt  gewesen  sind,  ihren 
Arbeitsort  zu  wechseln,  gleichgestellt  werden  sollen  den  Ver- 
brechern und  Geisteskranken.  (Stürmische  Pfuirufe.)  Was  wollen 
aber  die  Herrschaften  mit  ihrer  Seßhaftigkeitsklausel.  wem  kann  sie 
nützen?  Für  den  Wiener  Magistrat,  der  beabsichtigt,  daraus  eine 
besondere  Quelle  für  den  Wahlschwindel  zu  machen,  ist  sie  freilich 
gut;  aber  die  anderen  bürgerlichen  Parteien  gehen  damit  nur  ihren 
christlichsozialen  Feinden  auf  den  Leim.  Sie  werden  wohl  auch  noch 
einsehen  lernen,  daß  sie  keinen  Grund  haben,  deswegen  die 
Arbeiterschaft  in  einen  opfervollen  Kampf  zu  treiben,  der  aber 
auch  opfervoll  sein  muß  für  das  Bürgertum  selbst. 
(Stürmischer  Beifall.) 

Die  Wahlreform  vorgelegt* 

Versammlung  am  2  5.  Februar  1906*). 

Als  wir  hier  in  diesem  Saale  auf  unserem  Parteitag  den  Kampf 
für  das  allgemeine,  gleiche  Wahlrecht  beschlossen,  da  war  es 
keineswegs-  sicher,  daß  der  Tag,  der  uns  unser  Recht  bringt/  so 
nahe  sei.  Die  Umstände,  unter  denen  zur  Wirklichkeit  wird,  was 
der  Inhalt  unseres  Kampfes  durch  so  viel  Jahre  war,  haben  wir 
nicht  herbeigeführt;  aber  das  Zeugnis  müssen  wir  uns  selbst  aus- 
stellen, daß  die  österreichische  Arbeiterschaft,  wie  sie  in  den  un- 
günstigen Verhältnissen  ihren  Mann  stellte,  so  auch  die  günstige 
Lage,  die  ihr  plötzlich  beschieden  war,  gut  zu  nützen  verstand.  Wir 
geben  uns  auch  keiner  Täuschung  hin,  daß,  wenn  die  Regierungs- 
vorlage auch  da  ist.  uns  noch  ein  schweres  Stück  Weges  von  dem 
Augenblick  trennt,  wo  die  Vorlage  zum  Gesetz  wird.  Es  ist  ja  nicht 
gar  so  leicht,  dem  Parlament  zuzumuten,  es  möge  die  Grundlage 

*)  Am  23.  Februar  1906  legte  Gautsch  die  Wahlreform  vor.  Das  Abgeord- 
netenhaus sollte  455  Mitglieder  haben,  von  denen,  wie  in  dem  alten  Haus, 
das  allerdings  nur  425  Mitglieder  hatte,  205  Deutsche  sein  würden.  Gautsch 
begrüßte  die  Vorlage  mit  einer  Rede,  in  der  er  unter  anderem  sagte: 
„Personen  gehen,  Ideen  bleiben,  mein  Sturz  wird  nicht  der  Sturz  der 
Wahlreform  sein."  Die  Alldeutschen  krawallierten  bei  der  Rede,  ver- 
mochten aber  den  tiefen  Eindruck  dieser  Ausführungen  nicht  zu  beein- 
trächtigen. —  Siehe  auch  die  Fußnote  auf  Seite  295  mit  den  ausführlichen 
Da  riegungen  über  die  Reform. 

Bei  der  Berechnung  der  205  deutschen  Wahlkreise  wollten  sich  die 
Deutschbürgerlichen  die  Wahlkreise,  die  offenbar  die  Sozialdemokraten 
ihnen  abnehmen  würden,  nicht  auf  die  205  deutschen  Wahlkreise  auf- 
rechnen lassen,  während  sie  von  den  205  Mandaten  des  alten  Parlaments 
«iueh  die  der  deutschen  Sozialdemokraten  sich  aufrechneten. 

19* 


292  Der  Sie*  des  gleichen  Wahlrechts. 


seiner  eigenen  Existenz  beseitigen,  es  möge  das  Recht  anerkennen, 
wo  seine  Grundlage  bisher  das  Unrecht  war,  und  wir  wollen  offen 
zugeben,  daß  es  auch  für  die  Regierung  nicht  so  leicht  war,  sich 
endlich  zum  Rechte  zu  bekennen,  da  doch  unsere  Bürokraten  wahr- 
haftig nicht  dazu  erzogen  sind,  Volksrechte  zu  verteidigen.  Es  hat 
der  ganzen  Wucht  der  weltgeschichtlichen  Momente  bedurft,  die 
sich  in  diesen  ersten  Jahren  des  neuen  Jahrhunderts  zusammen- 
drängen, um  eine  österreichische  Regierung  dazu  zu  bringen,  ihre 
Existenz  ehrlich  und  rückhaltlos  mit  dem  Rechte  des  Volkes  zu  ver- 
knüpfen. 

Wähler  soll  nun  jeder  24jährige  Mann  sein  mit  gleichem  Recht 
ohne  Einschachtelung  in  Kurien.  Aber  freilich  gleich  hier  begegnet 
das  Volk  seinen  Feinden.  Sie  wissen,  welche  Pläne  unsere  ge- 
hässigsten Gegner  gehabt  haben,  wie  sie  uns  ein  allgemeines  Wahl- 
recht verbunden  mit  fünfjähriger  Seßhaftigkeit  (Gelächter)  geben 
wollten:  ihr  Plan  war,  uns  möglichst  viel  von  unseren  Rechten  weg- 
zustibitzen.  Dieser  Plan  wurde  ja  nicht  in  seiner  ganzen  Ausdehnung 
erfüllt,  aber  leider  hat  die  Regierung  geglaubt,  Herrn  Lueger  da  ent- 
gegenkommen zu  müssen,  diesem  Volksmann,  dem  man  entgegen- 
kommt, indem  man  den  Arbeitern  Rechte  raubt.  Es  versteht  sich 
von  selbst,  daß  die  sozialdemokratischen  Abgeordneten  gegen  diese 
Einschränkung  des  allgemeinen  Wahlrechtes  einen  scharfen 
Kampf  werden  führen  müssen.  (Lebhafter  Beifall.)  Und  wenn  man 
die  Herren  fragen  wird,  mit  welchem  Rechte  sie  so  viele  ehrlich 
arbeitende  Proletarier,  bloß  weil  sie  vor  einigen  Monaten  an  einem 
anderen  Orte  arbeiteten,  gleichstellen  mit  Irrsinnigen  und  Ver- 
brechern, wird  man  uns  von  den  italienischen  und  slowakischen 
Arbeitern  erzählen,  die  irgendwo  eine  Eisenbahn  bauen  oder  einen 
Fluß  regulieren  und  die  das  Resultat  der  Wahl  beeinträchtigen 
können.  (Heiterkeit.)  Gegen  dieses  furchtbare  Unglück  muß  man  die 
deutsche  Nation  schützen.  Die  Leute  halten  uns  wirklich  für  so 
töricht,  daß  wir  ihnen  glauben,  sie  wären  solche  Idioten,  zu  meinen, 
man  werde  da  plötzlich  einen  italienischen  oder  slowakischen  Ab- 
geordneten wählen,  wo  einige  hundert  Arbeiter  bei  einem  Bahnbau 
beschäftigt  sind.  Aber  diese  und  ähnliche  Argumente  sind  nicht  ehr- 
lich. Was  man  in  Wahrheit  will,  das  ist,  in  solchen  Bezirken,  wo 
sich  bürgerliche  Parteien  — ■  vor  allem  die  Christlichsozialen  —  und 
die  Sozialdemokraten  die  Wagschale  halten,  das  Schwergewicht 
des  Unrechtes  der  Seßhaftigkeit  in  die  christlichsoziale  Wagschale 
werfen  zu  können  und  der  Sozialdemokratie  ein  paar  Mandate  zu 
stehlen. 

Nun  hat  man  ja  ohnedies  bei  der  Einteilung  der  Wahlkreise  die 
Wünsche  der  bürgerlichen  Parteien  sorgfältig  berücksichtigt.  Man 
hat  die  große  Gefahr  der  sozialdemokratischen  Überschwem- 
mung durch  ein  Mittel  zu  überwinden  gesucht,  das  ja  nicht  schlecht 
erfunden  ist.  Man  hat  meilenweit  alle  Orte,  wo  ein  paar  Arbeiter 
sind,  zusammengetan  und  die  anderen  Bezirke  so  von  den  Sozialisten 
gereinigt.  (Heiterkeit.)  Man  sucht  so  einen  Kordon  um  uns  zu 
ziehen;  und  wenn  wir,  wie  die  bürgerlichen  Parteien,  diese  Wahl- 


Die  Wahlreform  vorgelefft.  303 

reform  nach  der  Zahl  der  Mandate  beurteilen  würden,  die  man  uns  da 
gibt,  hätten  wir  gewiß  schwere  Hinwendungen.  Aber  wir  sind  reiche 
Herren,  uns  gehört  nämlich  die  Zukunft:  wir  können  ein  paar 
Mandate  leichter  verschmerzen  als  die  anderen  Parteien.  Man  mag 
an  den  Ziffern  herumrechnen  wie  man  will,  man  mag  die  Arbeiter 
hintun,  WO  man  will,  wirft  man  uns  aus  einem  Wahlkreis  hinaus,  so 
sind  wir  eben  im  Nachbarwahlkreis.  (Heiterkeit  und  Beifall.)  Aus 
der  Welt  hinausrechnen  kann  man  die  industrielle  Arbeiterschaft 
in  Österreich  nicht.  Es  war  schwerer,  proletarische  Politik  in  Öster- 
reich zu  machen,  als  wir  kein  Wahlrecht  und  keine  politische  Frei- 
heit hatten,  und  wir  haben  sie  nicht  ohne  Erfolg  jahrzehntelang  zu 
machen  verstanden.  Auch  die  Zwirnsfäden,  die  man  uns  über  den 
Weg  spannen  will,  werden  uns  wahrhaftig  nicht  behindern. 

Man  hat  nun  allerlei  Rechnungen  angestellt  und  sie  als  Argu- 
mente gegen  die  Wahlreform  benützt.  Da  wagt  man  es,  die  sozial- 
demokratischen Abgeordneten  von  der  Vertretung  des  deutschen 
Volkes  abzurechnen.  Die  das  sagen,  wissen,  daß  sie  lügen.  (Bei- 
fall.) Die  sozialdemokratischen  Vertreter  von  Hunderttausenden 
deutschen  Arbeitern  sind  ebenso  gute,  ja  weit  bessere  Deutsche  als 
die  paar  Großgrundbesitzer,  diese  Nutznießer  dieses  Privilegs,  und 
die  tschechischen  sozialdemokratischen  Abgeordneten  sind  Ver- 
treter ihres  Volkes  weit  mehr,  als  es  die  Palffy*)  und  Sylva-Tarouca*) 
sind.  Im  Parlament  des  gleichen  Wahlrechtes  werden  diese  natio- 
nalen Lügen  keinen  Platz  mehr  haben,  wird  der  Mißbrauch  natio- 
naler Interessen  zu  egoistischen  Zwecken  einzelner  Klassen  und 
Personen  ausgeschaltet  sein.  Aber  in  ernsten  nationalen 
Fragen  werden  die  Vertreter  der  Arbeiter  jeder  zu  seinem 
Volke  stehen,  besser  als  die  Herren  Privilegierten.  (Lebhafter 
Beifall.) 

Ich  verstehe  es  sehr  wohl,  wenn  die  Grafen,  die  zu  nobel  oder 
zu  unfähig  sind,  in  ehrlicher  Wahl  ein  Mandat  zu  suchen,  gegen  die 
Wahlreform  intrigieren.  Wenn  auch  die  meisten  von  ihnen  sich  im 
Parlament  nicht  allzusehr  anstrengen,  es  ist  ja  doch  ein  ganz  an- 
genehmes Klublokal  für  sie  (Heiterkeit),  und  diese  Art  geschäftigen 
Müßigganges  scheint  ihnen  sehr  wohl  zu  behagen,  ganzrabgesehen 
von  den  Vorteilen,  die  sie  und  ihre  Klasse  sonst  davon  ziehen. 
Aber  ich  muß  gestehen,  daß  ich  viele  unserer  bürgerlichen  Abgeord- 
neten doch  höher  eingeschätzt  habe.  Eine  große  Zahl  von  Abgeord- 
neten, das  muß  zugestanden  werden,  hat  sich  mit  der  Wahlreform 
rasch  abgefunden;  aber  andere  wehren  sich  noch  immer  mit  Händen 
und  Füßen  dagegen.  Diese  Leute  scheinen  es  gar  nicht  zu  begreifen, 
daß  ihnen  allen  die  Wahlreform  eine  Rangserhöhung  bringt. 
1  )ie  Wahlreform  bedeutet  für  sie,  daß  sie  aus  erbärmlichen 
Privilegienpfründnern  zu  Volksvertretern  avan- 
cier c  n,  daß  sie  nicht  nur  aus  der  unwürdigen  Abhängigkeit  vom 
Großgrundbesitz  befreit,  sondern  auch  des  peinlichen  Gefühles  ledig 
werden,  Nutznießer  des  Unrechts  zu  sein,  das  an  Millionen  begangen 

*)  Zwei  feudale  Großgrundbesitzer  aus  Böhmen. 


294  Der  Sieg  des  gleh&heti  Wahlrechts. 


wird.  Sie  müßten  geradezu  vernagelt  sein,  wenn  sie  nicht  begreifen, 
daß  ihre  Stellung  eine  andere  sein  wird,  wenn  sie  nicht  mehr  ihre 
Mandate  aus  dem  Unrecht  eines  Privilegs,  sondern  von  der  Masse 
des  Volkes  empfangen.  Ich  will  diese  Abgeordneten  natürlich  nicht 
auf  eine  Linie  mit  den  paar  Leuten  stellen,  die  sich  während  der 
Rede  des  Ministerpräsidenten  austobten  —  das  war  nur  der 
Schwachsinn,  der  einen  Tobsuchtsanfall  bekam. 

Der  Redner  bespricht  dann  das  Gesetz  über  die  Freiheit  der 
Wahl  und  die  geplante  Abänderung  der  Geschäftsordnung  —  beides 
Gesetze,  deren  Verbindung  mit  der  Wahlreform  bedenklich  ist  — 
und  fährt  dann  fort:  In  den  nächsten  Monaten  wird  sich  im  Wahl- 
reformausschuß ein  Markt  für  das  Mandatsgeschäft  etablieren,  wo 
das  Makeln  noch  lange  nicht  das  Schlimmste  ist.  Aber  da  werden 
Leute  lauern,  um  eine  augenblickliche  Schwierigkeit  zu  benützen, 
um  die  ganze  Reform  zu  vereiteln,  und  man  wird  sich  da  auf 
schwere  Kämpfe  gefaßt  machen  müssen.  Ich  hoffe,  daß  die  Regie- 
rung — •  und  auf  sie  kommt  es  in  diesem  Augenblick  hauptsächlich 
an  —  einen  kühlen  Kopf  und  guten  Mut  behalten  wird.  Es  ist  für 
uns  Sozialdemokraten  eine  etwas  ungewohnte  Rolle,  einer  öster- 
reichischen Regierung  Mut  zuzusprechen  (Heiterkeit),  aber  wir 
wären  Toren  und  wir  wären  Verbrecher  an  der  Arbeiterschaft, 
wenn  wir  nicht  eine  Regierung,  dje  ihr  Schicksal  mit  dem  der  W.ahl- 
reform  identifiziert,  so  lange  stützen  würden,  als  sie  ihrer  Aufgabe 
treu  bleibt  (lebhafter  Beifall),  unbekümmert  um  alberne  Vorwürfe, 
die  man  deshalb  gegen  uns  erhebt.  Das  ist  der  Unterschied  zwischen 
uns  und  den  anderen,  daß  sie  Regierungspartei  sind,  wenn  die 
Regierungen  Verbrechen  an  den  Völkern  begehen,  und  daß  wir 
als  Partei  die  Regierung  stützen,  wenn  sie  zum  erstenmal  dem  Volke 
sein  Recht  gibt.  Wenn  wir  „Regierungspartei"  sind  (Heiterkeit), 
kann  man  sich  darauf  verlassen,  daß  wir  eine  Regierung  haben,  die 

—  auch  in  Österreich  kann  einmal  das  Unmögliche  möglich  werden 

—  auf  dem  Wege  des  Rechtes  und  der  Freiheit  wandelt. 

Die  Einbringung  der  Wahlreform,  der  nichts  anderes  folgen  kann 
als  ihre  Durchsetzung,  ist  der  Beginn  einer  neuen  Ära  für  die 
Völker  Österreichs,  ist  der  Beginn  einer  neuen  Zeit  für  das 
kämpfende  Proletariat,  das  seine  wichtigste  Forderung,  seine  erste 
Bedingung  für  jede  politische,  wirtschaftliche  und  kulturelle  Arbeit 
nun  endlich  verwirklicht  sieht,  das  nun  daran  ist,  die  Frucht  einer 
jahrzehntelangen  opfervollen  Arbeit  zu  ernten  und  daß  diese  Frucht 
uns  nicht  geraubt,  nicht  verdorben  werde,  dafür  sind  Sie,  die 
Arbeiter  Österreichs,  da.  (Stürmischer  Beifall.)  Ich  weiß,  daß,  so 
ruhig  und  gefaßt  wir  alle  heute  den  Ereignissen  zusehen  können, 
die  Arbeiter  von  ganz  Österreich  sich  erheben  würden  mit  einer 
Leidenschaft,  die  vor  nichts  zurückschreckt,  in  dem  Moment,  wo 
diese  Vorlage  ernstlich  gefährdet  wäre.  Wir  Abgeordneten  werden 
unsere  Pflicht  erfüllen,  die  Gesetzwerdung  der  Wahlreform  zu 
beschleunigen,  wissend,  daß,  wrenn  es  notwendig  werden  sollte, 
Sie  mit  Ihrer  ganzen  Kraft  einsetzen  werden,  um  eine  Verschleppung 
zu  verhindern.  (Stürmischer,  andauernder  Beifall.) 


Die  SchlckS^lsstunde  Österreichs. 


Die  Schicksalsstunde  Österreichs. 

Erste  L  e  s  u  a  g  d  e  r  W  a  h  1  r  e  f  o  r  in,  l).  März  19  0  o*). 

Meine  Herren!  Ich  will  offen  gestehen,  daß  ich  nicht  ohne  eine 
gewisse  Ergriffenheit  in  diesem  Moment  das  Wort  im  österreichi- 
schen Parlament  nehme,  weil  mir  bewußt  ist,  datt  das  Parlament 
in  eine  Schicksalsstunde  für  Österreich  eingetreten  ist  und  weil  ich 
das  Bewußtsein  habe,  daß  wir  endlich  vor  uns  die  Regierungyörlage 

*)  Am  23.  Februar  hatte  Baron  Gautsch  in  einer  eigens  zu  diesem  Zwecke 
einberufenen  Sitzung  des  Abgeordnetenhauses  seinen  Wahlreformentwurf 
vorgelegt,  der  den  Völkern  Österreichs  dasall  gemeine,  gleiche  und 
direkte  Wahlrecht  bringen  sollte  und  er  erfüllte  damit  das  Ver- 
sprechen, das  er  am  Tage  der  Parlamentseröffnung  —  am  28.  November  — 
angesichts  der  Viertelmilliou  demonstrierender  Arbeiter  gegeben  hatte.  Unter 
dem  Beifall  der  sozialdemokratischen  Abgeordneten  und  der  Galerie  charak- 
terisierte der  Ministerpräsident  seine  Vorlage  mit  folgendem  Satze:  „Die 
Vorlage  beruhtaufdem  Grundgedanken^  erBeseitigung 
aller  Wahlvorrechte  und  jedes  Zensu  s."  Aus  der  einleitenden 
Rede  des  Ministerpräsidenten  —  die  im  Hause  großen  Eindruck  machte  und 
nur  von  ein  paar  alldeutschen  Narren  gestört  wurde  —  sei  folgende  auf  die 
Sozialdemokratie  bezügliche  Stelle  hervorgehoben.  Nachdem  Gautsch  die 
Wirkung  der  Obstruktion  im  österreichischen  Parlament  geschildert  hat, 
fährt  er  fort:  „Die  Wahlreform  entsprang  der  Notwendigkeit,  das  Parlament 
auf  eine  festere  Grundlage  zu  stellen  als  bisher.  Wenn  aber  stets  von  neuem 
vorgebracht  wird,  den  eigentlichen  Vorteil  werden  doch  die  Sozialdemo- 
kraten davontragen,  so  erwidere  ich  darauf  folgendes:  Will  man  die  Sozial- 
demokratie ernstlich  mit  Aussicht  auf  Erfolg  bekämpfen,  so  muß  man  ihr 
die  wirksamste  Waffe  entwinden,  und  diese  ist  die  Anklage  gegen  den  Staat, 
daß  den  minderbemittelten  Klassen  die  Rechte  verkürzt,  daß  andere  Klassen 
aber  mit  Vorrechten  ausgestattet  werden.  Darin  liegt  eine  nicht  zu  unter- 
schätzende Kraft  der  sozialdemokratischen  Propaganda.  Hat  sie  diese  Waffe 
nicht  mehr,  dann  kann  der  Kampf  gegen  sie,  wenn  die  Pflicht  ihn  uns  auf- 
erlegen sollte,  vom  Boden  des  gleichen  Rechtes  aus  viel  erfolgreicher  geführt 
werden.  Ich  habe  eine  zu  hohe  Meinung  vom  Werte  der  staatserhaltenden 
Kräfte,  um  anzunehmen,  sie  bedürften  zu  ihrer  Behauptung  des  künstlichen 
Schutzes  durch  besondere  Vorrechte."  Und  seine  Rede  schloß  der  Minister 
mit  der  Erklärung,  daß  die  große  Reform  unabwendbar  sei.  Selbst  wenn  es 
gelingen  sollte,  ihn  zu  stürzen,  werde  man  die  Wahlreform  nicht  zu  Falle 
bringen;  „Personen  gehen,  aber  Ideen  bleiben.  Mein  Sturz 
ist  nicht  der  Sturz  der  Wahlrefor  m." 

Die  Vorlagen  der  Regierung  umfaßten  folgende  fünf  Gesetz- 
entwürfe: 1.  Abänderung  des  Staatsgrundgesetzes  über  die  Reichs- 
vertretung. 2.  Reichsratswahlordnung.  3.  Änderung  der  Bestimmungen  über 
die  Immunität  der  Abgeordneten.  4.  Änderung  der  Geschäftsordnung  des 
Reichsrats.  5.  Strafrechtliche  Bestimmungen  zum  Schutze  der  Wahlfreiheit. 

Das  neue  Grundgesetz  über  die  Reichsvertretung  enthielt 
die  wesentlichen  Bestimmungen:  die  Beseitigung  der  Kurien  und  das  all- 
gemeine, gleiche  und  direkte  Wahlrecht;  es  konnte  als  Verfassungsgesetz 
nur  mit  Zweidrittel-Mchrheit  in  Anwesenheit  von  mindestens  213  Abgeord- 
neten beschlossen  werden.  Das  Wahlrecht  sollte  nun  jeder  österreichische 
Staatsbürger  haben,  der  das  24.  Jahr  vollstreckt  hat  und  in  der  Gemeinde 
seit  mindestens  einem  Jahre  seinen  Wohnsitz  hat.  Außerdem  bestimmte  das 
Grundgesetz  die  Zahl  der  Mandate,  die  auf  die  einzelnen  Länder 


296  Der  Sie«:  des  gleichen  Wahlrechts. 


haben,  die  das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht  bringt, 
jenes  Recht,  für  das  die  Völker  Österreichs  seit  Jahrzehnten 
kämpfen,  für  das  die  Arbeiterschaft  schwere  und  blutige  Kämpfe 
geführt  hat. 

Ich  weiß  sehr  gut,  wir  sind  nicht  am  Ende  des  Kampfes;  wir 

sind  aber,  dem  werden  Sie  sich  alle  nicht  verschließen  können,  am 

entfallen;  insgesamt  sind  es  455.  Das  geltende  Grundgesetz  setzte  die  Zahl 
der  Abgeordneten  mit  425  fest,  von  denen  85  vom  Großgrundbesitz,  21  von 
den  Handelskammern,  117  von  den  Städten,  130  von  den  Landgemeinden 
und  72  von  der  allgemeinen  Kurie  gewählt  werden.  In  den  Kurien  der  Städte 
und  Landgemeinden  galt  ein  Zensus  von  8  Kronen,  in  der  allgemeinen  Kurie 
bestand  das  allgemeine  Wahlrecht  mit  sechsmonatiger  Seßhaftigkeit 
(es  wählten  auch  die  Wähler  der  anderen  Kurien  mit). 

Am  schwierigsten  war  für  die  Regierung  die  Schaffung  der  Reichsrats- 
wahlordnung und  namentlich  die  Einteilung  der  Wahlkreise.  Hier  stießen 
nämlich  die  Interessen  der  einzelnen  Parteien  und  Nationen  aneinander.  Mit 
dem  Prinzip  des  allgemeinen  Wahlrechtes  hatten  sich  die  Abgeordneten 
allmählich  abgefunden.  Aber  eine  Aufteilung  der  Wahlkreise  nach  der  Be- 
völkerung hätte  bedeutet,  daß  die  Deutschen  etwa  40  Mandate  verloren 
hätten,  eine  solche  Wahlreform  war  nicht  durchzubringen.  So 
einigte  man  sich  auf  das  Kompromiß,  daß  auch  die  Steuerkraft  der 
Länder  berücksichtigt  werden  solle,  daß  also  die  östlichen  Länder  zugunsten 
der  westlichen  benachteiligt  werden.  So  sollte  ermöglicht  werden,  daß  das 
Verhältnis  derNationenim  Parlament  nicht  allzu  stark  verschoben 
werden  mußte.  Nach  der  Vorlage  der  Regierung  erhielten  tfie  Deutschen  wie 
bisher  205  Mandate,  die  Slawen  (Tschechen,  Polen,  Ruthenen,  Slowenen, 
Serben  und  Kroaten)  erhielten  zwar  nicht  die  ihnen  nach  der  Bevölkerungs- 
zahl gebührende  Anzahl  von  Mandaten,  aber  immerhin  eine  Vermehrung 
um  30  Mandate,  außer  den  bisher  dem  konservativen  Großgrundbesitz  ge- 
hörenden Mandaten.  Aber  dieses  Verlangen  nach  „gerechter"  nationaler 
Verteilung  der  Mandate  war  ja  nur  der  ideologische  Aufputz  für  das  Ver- 
langen jeder  Partei  und  jedes  Abgeordneten  nach  Sicherung  ihrer  Mandate. 
Da  war  nun  von  vornherein  sicher,  daß  für  die  überwiegende  Mehrzahl  der 
bisherigen  Abgeordneten  des  Großgrundbesitzes  unter  dem  allgemeinen 
Wahlrecht  keine  Mandate  zu  haben  sein  würden.  Sie  fühlten  sich  auch  nicht 
stark  genug,  sich  ihre  Mandate,  die  sie  bisher  von  ihren  Standesgenossen 
geschenkt  bekamen,  im  Wahlkampf  zu  erstreiten,  und  sie  suchten  darum 
die  bürgerlichen  Abgeordneten  mit  der  nationalen  Phrase  zu  ver- 
hetzen. Namentlich  die  sogenannten  „verfassungstreuen"  Großgrundbesitzer 
hatten  plötzlich  ihr  Herz  als  deutsche  Männer  entdeckt  und  sie  schreckten 
die  bürgerlichen  Deutschen  mit  der  Gefahr  einer  slawischen 
Majorität.  Willige  Hörer  fanden  sie  dabei  unter  den  fortschrittlichen  Abge- 
ordneten aus  Deutschböhmen,  die  im  nordböhmischen  Industriegebiet 
nicht  allzu  viele  Mandate  vor  den  Sozialdemokraten  retten  zu  können 
hofften.  Allerdings,  die  Masse  der  bürgerlichen  Abgeordneten  nicht  nur  unter 
den  Deutschen  hatte  Herr  v.  Gautsch  für  die  Wahlreform  dadurch  gewonnen, 
daß  er  jedem  einzelnen  seinen  Wahlkreis  zurechtschnitt. 
Jeder  Abgeordnete  legte  dem  Minister  sein  Begehren  vor  und  für  jeden 
tat  der  Minister,  was  er  für  ihn  tun  konnte.  Natürlich  hatten  die  meisten 
Bürgerlichen  die  größte  Angst  vor  den  Sozialdemokraten  und  ihre  Haupt- 
frage war  überall,  die  Arbeiter  loszuwerden.  In  manchen  Gegen- 
den war  es  für  die  Bürgerlichen  besser,  wenn  die  Städte  von  den  Land- 
gemeinden getrennt  wählten  —  dort  nämlich,  wo  die  Arbeiter  in  den  Vor»- 


Die  Schicksalsstunde  Österreichs.  297 


Anfang  vom  linde,  wir  sind  direkt  vor  der  I  rmlhmg  des  Rechtes. 
Demi  das,  was  Sie  von  den  Gegnern  der  Regierungsvorlage,  w;is 

Sie  an  Angriffen  verschiedenster  Art.  an  philosophischen,  histo- 
rischen, an  tiefen  politischen  Erörterungen  hier  gehört  haben, 
waren,  darüber  geben  Sie  sich  doch  keiner  Täuschung  hin,  Rück- 
zugsgefechte   und    vielfach    nicht    mit    dem  Bewußtsein,    dal.»    sie 

orten  wohnen  — -,  also  wurde  dieses  „Prinzip"  eingeführt.  Zwei  Stunden 
entfernt  war  aber  eine  Stadt,  wo  die  Vororte  bereits  eingemeindet  wurden; 
also  wurden  einige  Bauerngemeinden  dazugeschlagen.  Meist  aber  suchte 
man  die  bürgerlichen  Wahlbezirke  s  o  z  i  a  1  i  s  t  e  n  r  e  i  n  zu  er- 
halten und  die  Arbeiter  orte  zusammen  zu  steck  e  n. 

Geradezu  klassisch  wurde  dies  in  Niederösterreich  durchgeführt. 
So  wurden  die  27  Mandate,  die  das  flache  Land  (W  i  e  n  selbst  hat  28  Man- 
date) erhält,  so  aufgeteilt,  daß  jeder  Ort,  in  dem  auch  nur  eine  größere 
Fabrik  ist,  ausgeschieden  und  mit  anderen  „Industrialorten"  zusammen  zu 
einem  Wahlkreis  vereinigt  wurde;  Städte,  die  ohne  Industrie  sind,  wählten 
dagegen  mit  kleinen  Dörfern  zusammen.  So  erzielte  man  sechs  Industrie- 
kreise, die  die  Christlichsozialen  den  Sozialdemokraten  überlassen  wollten, 
während  sie  die  anderen  21  Wahlkreise  arbeiterrein  gemacht  hatten.  So 
wurden  in  ganz  Österreich  die  Wahlkreise  direkt  gegen  die  Sozialdemo- 
kraten gemacht;  es  wurde  aber  dadurch  wieder  erzielt,  daß  eine  beträcht- 
liche Zahl  von  sicheren  sozialdemokratischen  Wahlkreisen  zustande  kam. 

Die  Wahlkreise  wurden  meist  national  geteilt.  Das  war  in  Böhmen 
nicht  schwer,  wo  Deutsche  und  Tschechen  in  der  Regel  meist  gesondert 
wohnen.  Aber  in  Mähren  und  Ostgalizien  wohnen  zwei  Nationen  — 
dort  Deutsche  und  Tschechen,  hier  Polen  und  Ruthenen  durcheinander 
gemischt.  Dieser  Schwierigkeit  begegnete  man  in  Mähren  durch  den 
„nationalen  Kataster"  —  ganz  Mähren  wurde  in  21  tschechische  und 
dann  nochmals  in  17  deutsche  Wahlkreise  zerlegt,  wobei  jeder  Wähler  nur 
in  dem  Wahlkreis  wählte,  zu  dessen  Nationalität  er  gehörte  —  in  Galizien 
dadurch,  daß  man  je  zwei  ländliche  Bezirke  zusammenlegte  und  für  gewählt 
nicht  nur  den  Majoritätskandidaten  erklärte,  sondern  auch  den  Minori- 
tätskandidaten, wenn  er  mindestens  ein  Drittel  aller  abgegebenen 
Stimmen  erhalten  hat. 

Das  sind  die  Prinzipien  des  Wahlrechtes.  Mit  diesen  Wahlgesetzen  hatte 
aber  die  Regierung  noch  drei  andere  Gesetze  verbunden,  die  den  Einfluß 
der  Regierung  im  neuen  Parlament  stärken  sollten.  Das  Immunitäts- 
gesetz setzte  fest,  daß  die  Verjährung  der  strafbaren  Handlungen  während 
der  Dauer  der  Tagung  nicht  mehr,  wie  vorher,  weiter  laufen,  sondern  in 
dieser  Zeit  ruhen  sollte.  Dadurch  sollte  ermöglicht  werden,  daß  die  Abge- 
ordneten für  politische  Delikte  auch  dann  bestraft  werden  könnten,  wenn 
das  Haus  sie  nicht  auslieferte.  Dann  sollte  die  Geschäftsordnung  des 
Hauses  dahin  abgeändert  werden,  daß  drei  Tage  in  der  Woche  für  Regie- 
rungsvorlagen vorbehalten  blieben  und  daß  Abgeordnete  für  grobe 
Ordnungswidrigkeiten  bis  zu  acht  Tagen  ausgeschlossen  werden  könnten. 
Das  Gesetz  zum  Schutze  der  Wahlfreihcit  bestrafte  unter  anderem 
die  Sprengung  von  Versammlungen  während  der  Wahlbewegung;  es  war 
ein  Kautschukgesetz,  das  über  Verlangen  der  Wiener  Christlichsozialen  ge- 
schaffen wurde.  (Das  Immunitätsgesetz  und  die  Geschäftsordnung  mußte  die 
Regierung  dann  aber  fallen  lassen.) 

Die  Wahlreform  des  Herrn  v.  Gautsch  war  ein  wirklicher  Erfolg  der 
Arbeiterschaft,  wenn  dieser  auch  sehr  schwere  Opfer  auferlegt  wurden, 
wozu  in  erster  Linie  das  Erfordernis  der  e  i  n  j  ä  h  r  i  g  e  n  S  e  ß  h  a  f  t  i  g  k  e  i  t 


298  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

irgendwie  aussichtsvoll  sein  können.  Meine  Herren!  Wir  begrüben 
die  Regierungsvorlage  als  eine  Vorlage,  die  im  großen  die  Er- 
füllung des  Rechtes  des  Volkes  bringt,  obwohl  wir  in  der  Wahl- 
reform des  Ministeriums  durchaus  nicht  ein  ideales,  unserem  Pro- 
gramm entsprechendes  Werk  sehen.  Die  Forderungen  des  Volkes 
werden  damit  lange  nicht  erfüllt  und  wir  können  durchaus  nicht 

und  die  vielfach  ungünstige'  Zusammensetzung  der  Wahl- 
kreise gehörten.  Ln  einer  Versammlung  der  sozialdemokratischen  Ver- 
trauensmänner, die  .  am  Tage  der  Einbringung  stattfand,  wurde  die 
Vorlage  akzeptiert,  zugleich  aber  die  Fraktion  beauftragt,  im  Hause 
und  im  Wahlreformausschuß  für  die  Beseitigung  der  vielen  arbeiterfeind- 
lichen Bestimmungen  mit  aller  Kraft  zu  arbeiten.  Immerhin  kostete  es  noch 
manche  Anstrengung,  die  Vorlage  zwischen  dem  offenen  Widerstand  und 
den  Ränken  der  Wahlreformfeinde  hindurch  zu  einem  glücklichen  Ende  zu 
führen.  Daß  auf  Grund  der  alten  Wahlordnung  nicht  mehr  gewählt  werden 
würde,  darüber  bestand  kein  Zweifel  mehr. 

Am  7.  März  begann  die  erste  Lesung.  Als  erster  Redner  sprach  der 
Minister  des  Innern  Graf  Bylandt-Rheidt,  nach  ihm  Dr.  Karl  v.  G  r  a  b- 
m  a  y  r,  ein  Tiroler  Advokat  und  Großgrundbesitzer.  Er  kam  mit  nationalen 
Besorgnissen.  Er  verlangte  „als  Deutscher  und  als  Freisinniger"  ein  ab- 
gestuftes Wahlrecht,  wobei  er  sich  allerdings  sorgfältig  hütete,  zu 
sagen,  wie  er  sich  das  vorstelle.  Auf  die  Zwischenrufe  der  sozialdemo- 
kratischen Abgeordneten  erwiderte  er,  darüber  solle  sich  die  Regierung  den 
Kopf  zerbrechen.  Seine  Verbeugung  vor  dem  allgemeinen  Wahlrecht  machte 
er,  indem  er  erklärte,  dieses  werde  nicht  mehr  von  der  Tagesordnung  ver- 
schwinden und  mit  dem  Rufe  schloß:  „Die  Gautsch'sche  Wahlreform  ist  tot! 
Es  lebe  die  Wahlreform!"  In  der  dritten  Sitzung  kam  Adler  zu  Wort.  Un- 
mittelbar vor  ihm  hatte  Graf  Erich  Sylva-Tarouca,  ein  feudaler  Groß- 
grundbesitzer aus  Böhmen,  gegen  die  Wahlreform  gesprochen.  Nach  ihm 
sprach  Graf  Adalbert  Sternberg,  der  aus  den  Nachtlokalen  bekannte 
Graf,  dessen  Krawalle  nicht  ernst  genommen  wurden. 

Zum  näheren  Verständnis  namentlich  der  Bemerkungen  Adlers  über  die 
nationale  Aufteilung  der  Mandate  sei  außer  den  allgemeinen  bisherigen  Be- 
merkungen folgendes  angeführt: 

Seitdem  am  20.  Dezember  die  Pforten  des  Abgeordnetenhauses  ge- 
schlossen wurden,  waren  die  Hallen  des  Ministeriums  für  die  Herren  Ab- 
geordneten weit  geöffnet.  Es  hatte  sich  dort  ein  förmlicher  Markt  ge- 
bildet, wo  um  Mandate  und  Wahlkreise  geschachert  wurde.  Die  bürgerlichen 
Parteien  hatten  sich  mit  der  Tatsache,  daß  das  allgemeine  Wahlrecht 
kommen  müsse,  bereits  abgefunden  und  suchten  nur  noch  durch  eine  künst- 
liche Zusammenstellung  der  Wahlkreise  eine  möglichst  große  Zahl  von  Man- 
daten für  sich  herauszuschlagen. 

Dabei  handelte  es  sich  naturgemäß  sehr  oft  um  persönliche  und 
parteipolitische  Interessen  der  bürgerlichen  Abgeordneten  —  jeder 
schaute,  wie  er  für  sich  und  für  seine  Partei  „gute"  Wahlkreise  erzielte  — , 
aber  immerhin  ließ  sich  bei  den  komplizierten  nationalen  Verhältnissen 
Österreichs  diesen  Verhandlungen  im  Ministerium  eine  gewisse  Berechtigung 
nicht  absprechen.  Die  Nationen  wohnten  nicht  gesondert  nebeneinander, 
sondern  vielfach  durcheinander  gemischt,  so  daß  man  nur  schwer  eine  natio- 
nale Majorisierung  vermeiden  konnte.  Dann  waren  die  Nationen  in  ihrer 
sozialen  Struktur  und  in  ihrer  kulturellen.  Entwicklung  so  verschieden 
—  man  vergleiche  nur  die  Deutschen  etwa  mit  den  Ruthenen,  die  fast  durch- 
v/eg  Kleinbauern  waren,  vielfach  Analphabeten  und  damals  noch  nicht  ein- 


Die  Schicksalsstunde  Österreichs.  299 

Sagen,  hier  ist  voll  gewährt,  was  das  Recht  des  Volkes  ist  und  das 
Programm  unserer  Partei. 

Wir  Verlangen  das  gleiche  Wahlrecht  für  jeden  Staatsbürger 
ohne  Unterschied  des  Geschlechts  vom  zwanzigsten  Lebensjahr  an. 
Sie  werden  mir  einwenden,  wir  werden  erst  mit  dem  24.  Lebensjahr 
mündig.  Aber,  meine  Herren,  die  arbeitende  Masse  des  Volkes,  die 

mal  über  eine  Mittelschule  verfügten  — -,  daß  aueh  da  mit  großer  Vorsieht 
vorgegangen  werden  mußte  und  schließlich,  was  das  wichtigste  war,  waren 
die  Nationen  nach  der  bisherigen  Wahlordnung  so  ungleich  bedacht,  daß  das 
Ministerium,  wenn  es  die  parlamentarische  Erledigimg  der  Wahlreform 
nicht  gefährden  wollte,  wesentliche  Verschiebungen  in  der  nationalen  Struk- 
tur des  Parlaments  unterlassen  mußte.  Folgende  Tabelle,  die  das  Verhältnis 
der  nationalen  Gruppierung  in  der  Bevölkerung  zu  der  im  Kurienparlament 
aufzeigt,  mag  das  illustrieren: 

Bevölkerungszahl  Zahl  der  Abgeordneten 

absolut  in  Prozent  absolut       in  Prozent 

Deutsche    .....  9,170.939  3578  205  48*23 

Tschechen     ....  5,955.397  23'24  88  2070 

Polen       4,259.152  16'62  73  1718 

Ruthenen 3,375.576  1317  9  2*12 

Slowenen 1,192.780  471  15  3'53 

Italiener      727.102  2'84  18  4"23 

Kroaten      711.380  273  12  2'83 

Rumänen 230.903  0'88  5  1*18 

Daraus  ergibt  sich,  daß  durch  das  bestehende  Wahlrecht  die  Deutschen 
wesentlich  bevorzugt  waren:  sie  bildeten  in  der  Bevölkerung  nur  etwas 
mehr  als  ein  Drittel,  im  Parlament  aber  nahezu  die  Hälfte.  Diese  Bevor- 
zugung der  Deutschen  wurde  aber  dadurch  wettgemacht,  daß  bei  den 
Deutschen  die  soziale  Differenzierung  am  weitesten  vorgeschritten 
war,  was  wieder  eine  starke  Zersplitterung  in  Parteien  zur  Folge  hatte.  Es 
gab  im  Parlament  folgende  deutsche  Parteien:  Deutsche  Fortschrittspartei, 
Deutsche  Volkspartei,  Alldeutsche,  Deutsche  Bauernpartei,  Zentrumsklub 
(Klerikale),  Verfassungstreue  Großgrundbesitzer,  Christlichsoziale  und 
Sozialdemokraten,  also  acht  Parteien  von  den  insgesamt  19  Parteien  des 
Parlaments,  wozu  noch  kommt,  daß  25  Deutsche  außerhalb  jedes  Parteien- 
verbandes als  sogenannte  „Wilde"  standen.  Die  anderen  Nationen  waren 
meist  ohne  Unterschied  in  einem  Klub  vereinigt.  So  umfaßte  der  Polenklub 
sämtliche  polnische  Abgeordnete  mit  Ausnahme  zweier  „Wilder"  und  eines 
Sozialdemokraten.  Das  hatte  die  Bedeutung,  daß  bei  den  Deutschen  nur  dort, 
wo  es  sich  wirklich  um  große  nationale  Interessen  handelte,  die  ganze  Kraft 
der  parlamentarischen  Vertretung  in  das  Gewicht  fiel,  was  bei  den  land- 
läufigen nationalen  Streitigkeiten,  Errichtung  von  Schulen,  Ernennung  von 
Beamten  und  dergleichen,  nicht  der  Fall  war. 

Wäre  nun  das  allgemeine,  gleiche  Wahlrecht  so  eingeführt  worden,  daß 
Österreich  in  lauter  gleiche  Wahlkreise  geteilt  würde,  so  wären  nicht  nur 
zahlreiche  deutsche  Minoritäten  im  tschechischen  Sprachgebiet  vollständig 
nullifiziert  worden,  sondern  es  wäre  auch  im  deutschen  Gebiet  das  deutsche 
Bürgertum  um  den  größten  Teil  seiner  parlamentarischen  Vertretung  ge- 
bracht worden.  Die  Deutschen  hätten  nicht  nur  statt  205  Abgeordnete  deren 
bloß  153  erlangt,  also  52  Mandate  verloren,  die  nationalen  Parteien  unter 
den  Deutschen  hätten  auch  viel  mehr  als  die  der  anderen  Nationen  an  die 
Sozialdemokraten  abgeben  müssen.  Wenn  man  noch  berücksichtigt,  daß 
bloß  bei  den  Deutschen  die  Klerikalen  eine  eigene  Partei  bildeten,  bei  allen 


300  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


wird  früher  mündig  und  sie  stirbt  früher.  (Zustimmung.)  Für  sie 
drängt  sich  das  Leben  zusammen  in  eine  ganz  kurze  Zeit,  für  sie 
drängt  sich  Reife  und  Absterben  in  die  Zeit  zwischen  dem  Jünglings- 
alter mit  17  und  18  Jahren  und  dem  35.  Jahre;  mit  35  Jahren  sind 
die  Proletarier  alte  Menschen  und  mit  40  Jahren  ist  die  Mehrzahl 
von  ihnen  gestorben.  (Zustimmung.)  Mit  35  Jahren  ist  der  Mann  für 


anderen  Nationen  ■ —  zum  größten  Teil  selbst  bei  den  Tschechen  —  den 
nationalen  Verbänden  angehörten,  wären  die  nationalen  Deutschen  im 
Parlament  einfach  zur  Bedeutungslosigkeit  verurteilt  worden.  Das  bedeutete, 
daß  die  deutschbürgerlichen  Parteien  der  Wahlreform  verzweifelten 
Widerstand  entgegenbringen  und  sie  im  Verein  mit  den  anderen 
Wahlrechtsfeinden  unmöglich  machen  mußten. 

Das  haben  nun  auch  die  vernünftigeren  Tschechen  eingesehen,  die  es 
mit  einer  Wahlreform  ernst  meinten  und  so  hatte  einer  der  Tschechenführer, 
der  Abgeordnete  Dr.  Kramarsch,  auf  Grund  eines  Vorschlages,  den 
A.  Friedrich  (Pseudonym  für  den  Chefredakteur  der  „Arbeiter-Zeitung" 
Friedrich  A  u  s  t  e  r  1  i  t  z,  der  die  eigentliche  taktische  Kraft  im  Wahlrechts- 
kampf war)  in  Pernerstorfers  „Deutschen  Worten"  gemacht  hatte,  den 
Deutschen  gleich  in  der  ersten  Wahlrechtsdebatte  im  Parlament  ein  Kom- 
promiß angeboten.  Es  sollte  bei  der  Einteilung  der  Wahlkreise 
nicht  nur  die  Bevölkerungszahl,  sondern  auch  die  Steuerleistung  berück- 
sichtigt werden.  Das  hatte  die  Bedeutung,  daß  die  Tschechen  —  nach  den 
Deutschen  die  steuerkräftigste  Nation  Österreichs  —  die  volle  Zahl  ihrer 
Mandate  erhielten,  daß  aber  die  Mandatszahl  der  Deutschen  auf  Kosten  der 
anderen  Nationen  —  oder  richtiger  gesagt,  auf  Kosten  keiner  einzigen 
Nation  —  erhöht  werden  konnte.  Denn  verkürzt  werden  sollten  dadurch 
nur  die  den  Osten  Österreichs,  Galizien,  bewohnenden  Nationen  werden,  die 
unter  dem  Drucke  der  polnischen  Schlachta  (des  Adels)  seufzten.  In  diesem 
unglücklichen  Lande  hatte  der  polnische  Adel  die  Herrschaft  an  sich  ge- 
rissen, so  daß  nicht  nur  der  überwiegende  Teil  der  polnischen  Mandate  in 
seinen  Händen  war,  sondern  auch  der  größte  Teil  der  ruthenischen  Mandate. 
Obzwar  die  Ruthenen  nahezu  die  Hälfte  der  galizischen  Be- 
völkerung bildeten,  verfügten  sie  in  diesem  Lande  nur  über  6  von  den 
78  Mandaten  (außerdem  hatten  sie  in  der  Bukowina  3  Mandate),  die  übrigen 
Mandate  wurden  ihnen  jedesmal  durch  schamlose  Wahlerpres- 
sung geraubt.  Das  arme  ruthenische  Volk  war,  wie  heute,  wehrlos  gegen 
die  polnische  Schlachta.  Auch  bei  gleichem  Wahlrecht  hätten  die  Ruthenen 
nicht  die  ihnen  gebührenden  55  Mandate  erhalten,  sondern  es  wäre  ihnen 
der  größte  Teil  von  der  polnischen  Schlachta  gestohlen  worden,  wodurch 
also  die  Polen  mehr  Mandate  erhalten  hätten,  als  ihrer  Bevölkerungszahl 
entsprach.  So  wurde  das  Angebot  des  Abgeordneten  Kramarsch  möglich 
und  von  allen  polnischen  Volksparteien  akzeptiert,  trotz  dem  Widerstand 
der  Schlachta. 

Nun  wurde  im  Ministerium  über  die  Zahl  der  Mandate  jeder  Nation  ver- 
handelt und  über  die  damit  in  Zusammenhang  stehende  Einteilung  der  Wahl- 
kreise. Um  die  Zahl  der  Deutschen  nicht  vermindern  zu  müssen,  erhöhte 
die  Regierung  die  Zahl  der  Mandate  von  425  zuerst  auf  etwa  455,  um  mit 
diesen  30  neuen  Mandaten  die  Tschechen  und  die  Ruthenen  zu  befriedigen. 
Natürlich  ging  das  nicht  so  glatt,  da  die  Deutschen  wieder  über  eine  Ge- 
fährdung ihrer  nationalen  Interessen  schrien.  Aber  wenn  Herr  v.  Gautsch 
noch  irgendwelchem  deutschen  Führer  durch  eine  kunstvolle  Wahlgeometrie 
sein  Mandat  sicherte,  mußte  auch  dieser  Widerstand  allmählich  nachlassen. 


Die  Schicksalsstünde  Österreichs.  -Ml 


Sic  zu  alt,  da  wird  er  für  Sic  als  Unternehmer  unbrauchbar.  Wenn 
der  Mann  mit  ,}5  Jahren  anfängt,  unbrauchbar  ZU  werden,  und  wenn 
er  politisch  erst  brauchbar  wird  mit  24  Jahren,  obwohl  er  für  die 
Fabrik  sowohl  wie  vor  allem  für  das  Militär  schon  früher  brauchbar 
geworden  Ist,  dann  werden  Sie  zugeben,  dali  die  Zeit  sehr  kurz  ist 
und  daß  wir  es  bezeichnen  können  als  eine  Verkürzung  des  Rechtes, 
wenn  man  den  vier  Altersklassen  des  Proletariats  —  jede  ungefähr 
eine  Viertelmillion  Menschen  betragend  —  die  Mitbestimmung  über 
die  Politik  entzogen  hat.  Die  Besitzenden  befinden  sich  mit  20  Jahren 
noch  im  Stadium  der  Studien,  der  Arbeiter  aber  ist  mit  20  Jahren 
reif,  er  kennt  das  Leben  in  seiner  Tiefe  so,  wie  die  Mitglieder  der 
besitzenden  Klassen  es  oft  auch  später  nie  kennenlernen.  Trotzdem 

—  ich  möchte  es  nur  streifen  —gibt  es  auch  in  diesem  Hause  Herren, 
denen  die  24  Jahre  noch  zu  wenig  sind,  und  ein  Mitglied  der  christ- 
lichsozialen  Partei,  die  sich  jetzt  mit  anerkennenswertem  Eifer  für 
die  Vorlage  einsetzt,  Herr  Dr.  P  a  1 1  a  i,  hat  vor  ganz  kurzer  Zeit 
in  einer  Versammlung  in  Wien  erklärt,  sein  Ideal  wäre  der  Beginn 
des  Wahlrechtes  mit  dem  30.  Lebensjahr. 

Ich  will  darüber  kein  Wort  mehr  verlieren  und  ich  wende  mich 
einem  zweiten  Mangel  zu.  Wir  beantragen  hier  nicht  und  wir 
werden  darauf  verzichten,  es  zu  beantragen,  daß  den  Frauen 
das  Wahlrecht  gegeben  werde.  Wir  werden  darauf  ver- 
zichten, weil  wir  wissen,  daß  es  in  diesem  Parlament  aussichtslos 
ist;  weil  wir  wissen,  daß  wir  diesen  Kampf  um  das  Wahlrecht  der 
Männer  nur  erschweren  würden,  wenn  wir  heute  diese  Forderung 
aufstellten.  Aber  Sie  werden  mir  zugeben,  meine  Herren,  daß,  wenn 
wir  auch  heute  darüber  hinweggehen  müssen,  das  nicht  ein  Zeichen 
der  politischen  Einsicht  dieses  Parlaments,  sondern  ein  Zeichen  der 
Rückständigkeit  dieses  Landes  ist.  In  anderen  Ländern  ist  die  Frage 
des  Frauenwahlrechtes  längst  spruchreif,  in  manchen  ist  sie  gelöst 
worden  und  in  vielen  Ländern  wird  sie  demnächst  gelöst  werden. 
Aber  selbstverständlich  ist  für  uns,  daß  das  allgemeine  Wahl- 
recht so  lange  nicht  erreicht  ist,  solange  der   Hälfte  der  Bürger 

—  und  die  Frauen  sind  Bürger,  die  ebenso  Lasten  tragen  und 
schwerere  Lasten  als  die  Männer  —  nicht  ihr  Recht  gegeben  ist. 

Wenn    ich    aber    bis   jetzt    nur  Mängel    besprochen    habe,    die 

—  ich  möchte  sagen  —  mit  der  zurückgebliebenen  Kultur  unseres 
Landes   zusammenhängen,   so   komme    ich   nun   zu    einem   Mangel 

Von  dieser  Seite  drohte  also  der  Wahlreform  keine  ernste  Gefahr;  wohl 
aber  von  anderer  Seite.  Die  tückischesten  Arbeiterfeinde,  die  Christlich- 
sozialen, verlangten  nämlich,  daß  das  Wahlrecht  von  einer  zwei- 
jährigen Seßhaftigkeit  im  Wahlort  abhängig  gemacht  würde,  das 
heißt  daß  Zehntausende  von  Arbeitern,  namentlich  in  Wien,  das  Wahlrecht 
verloren  hätten;  und  diese  Forderung  wurde  von  allen  offenen  und  geheimen 
Wahlreformfeinden  unterstützt.  Diese  zweijährige  Seßhaftigkeit  wäre,  das 
hat  Dr.  Adler  im  Parlament  offen  ausgesprochen,  für  die  Arbeiter- 
schaft ein  Kriegsfall  gewesen,  das  heißt  sie  würde  die  sofortige 
Proklamierung  des  Generalstreiks  zur  Folge  grehabt  haben.  Das  wußte  auch 
die  lVegieruri£  und  deshalb  setzte  sie  die  Seßhaftigkeit  wenigstens  auf  ein 
Jahr  herab. 


302  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

• * ■ — ■ -^ 

dieser  Vorlage,  der  ein  schwerer  ist.  weil  er  auch  diesem  Lande 
nicht  mehr  angemessen  ist. 

Nach  der  Vorlage  soll  gleichgestellt  werden  den  Frauen,  gleich- 
gestellt werden  den  Kranken,  gleichgestellt  werden  den  Verbrechern 
jeder  Mann,  der  nicht  ein  volles  Jahr  in  der  Gemeinde  seines  Wohn- 
sitzes gewohnt  hat.  Die  Seßhaftigkeit,  die  als  Bedingung  des  Wahl- 
rechtes fixiert  wird,  setzt  tatsächlich  diese  Menschen,  die  durch 
ihren  Beruf,  durch  die  ökonomischen  Verhältnisse  gezwungen  sind, 
ihren  Wohnort  zu  verlassen,  die  durch  die  wirtschaftliche  Maschine 
gezwungen  sind,  außerhalb  ihres  Wohnortes  Arbeit  zu  suchen,  den 
Verbrechern  und  den  Wahnsinnigen  gleich,  die  Arbeiter  werden 
politisch  tot  gemacht,  es  wird  ihnen  das  Wahlrecht  entzogen. 

Und  was  hören  wir  als  Vorwand  dafür?  „Nationale  Interessen" 
wird  gesagt,  und  Herr  Dr.  Weiskirchner,  der  gestern  hier 
für  das  Wahlrecht  überhaupt  in  einer  einwandfreien  Rede  ein- 
getreten ist,  hat  in  diesem  Punkte  durchaus  nichts  von  jener  —  ge- 
statten Sie  das  Wort  —  beschränkten  Engherzigkeit  und  Unauf- 
richtigkeit  nachgelassen,  auf  der  seine  Partei  in  diesem  Punkte  seit 
jeher  steht. 

Wir  haben  heute  die  sechsmonatliche  Seßhaftigkeit,  aber 
Deutschland  und  die  meisten  anderen  Länder  kennen  diese  Be- 
dingung nicht.  Die  juristische  Begründung,  daß  ein  Mann,  wenn  er 
in  seinen  Interessen  mit  der  Gemeinde  nicht  verknüpft  ist,  sein 
politisches  Recht  verlieren  soll,  paßt  vielleicht  auf  das 
Gemeindewahlrecht,  aber  für  das  politische  Wahlrecht  ist  sie  ein- 
fach absurd.  Es  wird  uns  gesagt:  Wir  lassen  ja  mit  uns  reden,  wir 
lassen  mit  uns  für  die  Heimatberechtigten  reden.  Gerade  der  Herr 
Dr.  Weiskirchner,  der  doch  diese  Dinge  sehr  genau  kennt, 
weiß  sehr  wohl,  wie  wenig  damit  gesagt  ist.  Das  Ziffernverhältnis 
stellt  sich  ungefähr  folgendermaßen:  Durch  die  einjährige  Seßhaftig- 
keit werden  um  ihr  Wahlrecht  im  Durchschnitt  in  Österreich  —  und 
der  Wiener  Durchschnitt  weicht  davon  nur  etwas,  aber  nicht  allzu- 
viel ab  —  zwischen  5  und  6  Prozent  gebracht;  sechs  Personen  von 
hundert  wird  das  Wahlrecht  unter  dem  Vorwand  genommen,  daß 
sie  nicht  ein  Jahr  am  Orte  gelebt  haben.  Diese  6  Prozent  verteilen 
sich  aber  ganz  eigentümlich.  Schlagen  Sie  die  statistischen  Tabellen 
nach  —  ich  werde  Sie  hier  nicht  mit  Ziffern  behelligen,  aber  Sie 
können  es  mir  glauben  — ,  diese  6  Prozent  erhöhen  sich  für  die 
Altersstufe  von  24  bis  30  Jahren  bis  über  10  Prozent.  Was  bedeutet 
das?  Das  bedeutet,  daß  die  Seßhaftigkeit  wieder  auf  der  Arbeiter- 
klasse, und  zwar  nicht  nur  aus  Gründen  ihrer  ökonomischen  Lage, 
sondern  auch  aus  dem  Grunde  der  mit  der  ökonomischen  Lage  zu- 
sammenhängenden Altersverteilung  am  meisten  lastet.  Und  wenn 
wir  hören,  daß  die  christlichsoziale  Partei  geneigt  wäre,  einerseits 
Konzessionen  zu  machen,  andererseits  aber  noch  immer  unzufrieden 
ist; /wenn  wir  hören  und  wenn  der  Herr  Dr.  Weiskirchner  sich 
darauf  berufen  hat,  daß  die  Versammlung  im  Rathause  allerdings 
eine  fünfjährige  Seßhaftigkeit,  aber  nur  für  diejenigen,  die  nicht  in 
ihrem  Heimatsort  wohnen,  verlangt  hat,  so  wissen  die  Herren  ganz 
genau,  was  das  für  Wien,  was  das  für  Niederösterreich  bedeutet. 


Die  Schicks. iissiundc  Österreichs;  803 


Sic  wissen  ja,  daß  VOH  den  rund  anderthalb  Millionen  .Inländern 
diejenigen,  die  in  Wien  wohnen  und  in  Wien  ■heimatberechtigt  sind, 
durch  die  neuen  Aufnahmen  vielleicht  annähernd  700.000  betrafen; 
früher  waren  es  606.000.  Wie  wenige  davotl  aber  Ausländer  und 
Premde  sind,  das  geht  daraus  hervor,  dal.»  in  Niederösterreich  selbst 
weitere  200.000  heimatberechtigt  sind,  die  in  Wien  wohnen  und 
denen  das  Wahlrecht,  wenn  sie  nicht  gerade  ein  volles  Jahr  in 
Wien  waren,  sondern  dazwischen  etwa  in  Mödling  oder  Liesing 
gearbeitet  haben,  entzogen,  wird  unter  dem  Vorwand,  daß  sie  mit 
den  Interessen  des  Landes  zu  wenig  vertraut  sind.  Nein,  meine 
Herren,  aus  einer  Verschärfung  dieses  Wahlrechtsraubes,  wie  die 
„Arbeiter-Zeitung"  sagt  und  wie  Herr  Dr.  Weiskirchner  so  gütig 
war,  zu  bemerken,  und  wie  es  die  Wahrheit  ist  (Zustimmung), 
aus  einer  Vermehrung  dieses  Wahlrechtsraubes  wird  nichts,  und 
wir  werden  ernst  kämpfen,  um  den  Räubern  ein  Stück  ihres  Raubes 
wieder  abnehmen  zu  können.  (Lebhafter  Beifall.)  Hier  haben  wir 
es  doch  wesentlich  mit  unseren  feindlichen  Nachbarn  zu  tun;  keine 
andere  Partei  klammert  sich  so  an  die  Bedingung  der  Seßhaftigkeit, 
und  ich  muß  sagen,  wenn  Sie  mir  die  Bemerkung  gestatten,  obwohl 
ich  nicht  Ihre  Politik  zu  machen  habe  und  dessen  froh  bin  (Heiter- 
keit), es  scheint  mir  doch  in  den  Rahmen  Ihrer  in  dieser  Frage  doch 
vernünftigen  Politik,  für  das  Wahlrecht  einzutreten,  nicht  ganz  zu 
passen,  daß  Sie  gar  so  hungrig  sind.  Ich  zweifle  an  Ihrer  Aufrichtig- 
keit in  der  Frage  der  Wahlreform  nicht  einen  Moment.  Allein  Sie 
profitieren  bei  dieser  Wahlreform  so  viel,  daß  es  Ihnen  nicht  darauf 
ankommen  soll,  daß  in  einem  oder  dem  anderen  Bezirk,  wo  wirklich 
das  Resultat  von  ein  paar  Stimmen  abhängen  könnte,  wirklich  durch 
eine  so  odiose,  Sie  selbst  und  Ihre  Volkskreise  auch  treffende  Maß- 
regel —  Sie  werden  das  schon  spüren  —  den  guten  Eindruck  ver- 
scherzen, den  sonst  Ihre  allgemeine  Haltung  macht.  Ich  halte  es 
nicht  für  klug,  von  Recht  will  ich  zu  Ihnen  in  dieser  Sache  nicht 
sprechen.  Wir  kommen  darauf  noch  zurück,  das  ist  das  Philippi, 
bei  dem  wir  beide  uns  finden  werden,  denn  das  dürfen  Sie  sich  nicht 
einbilden,  daß  es  sich  bei  der  Arbeiterschaft  in  erster  Linie  um 
Mandate  handelt,  das  sehen  Sie  aus  der  ganzen  Behandlung  der 
Frage;  für  uns  handelt  es  sich  um  das  Recht  der  Arbeiter,  und  einem 
Bruchteil  der  Arbeiter  unter  ganz  unwahren,  selbst  von  Ihnen  nicht 
geglaubten  Vorwänden  dieses  Recht  nehmen  zu  lassen,  dazu 
werden  wir  uns  nicht  hergeben. 

Die  Vorlagen  haben  noch  allerhand  Mängel  und  der  größte 
Mangel  in  meinen  Augen  ist,  daß  die  Wahlreform  von  einer  Reihe 
von.  Gesetzentwürfen  begleitet  ist,  die  mit  der  Vorlage  nicht  zu- 
sammenhängen, und  darunter  einige,  die  man  in  diesem  Zusammen- 
hang nicht  hätte  einbringen  dürfen.  Es  wurde  ein  Gesetz  zum 
Schutze  der  Wahlfreiheit  eingebracht.  Niemand  braucht 
die  Wahlfreiheit  mehr  als  die  Arbeiterschaft,  niemand  fürchtet  mehr 
ihre  Verletzung  und  niemand  wünscht  mehr,  daß  sie  gesichert  sei. 
Aber  wenn  man  die  Wahlfreiheit  sichern  will,  dann  muß  man  sie 
nicht  in  einem  eigenen  Gesetz  sichern,  das  ist  nicht  so  wichtig, 
sichern  muß  man  sie  beim  Wahlverfahren.  (Zustimmung.) 


"■HW  Der  Sic«  des  gleichen  Wahlrechts. 


Und  die  Wahltechnik,  welche  die  Vorlage  der  Regierung  bringt, 
hat  eine  Reihe  von  Mängeln,  die  ich  jetzt  in  dieser  Debatte  nicht 
aufzählen  will,  die  aber  sehr  schwerer  Natur  sind.  Sie  schließt  sich 
an  die  alten  Übelstände  der  Wahltechnik  an  und  bringt  einen  neuen 
Übelstand  hinein,  der  tatsächlich  die  ganze  Vorlage  unannehmbar 
machen  würde,  wenn  er  aufrecht  bliebe,  was  ich  allerdings  für  un- 
möglich halte.  Ich  will  nicht  von  Wählerlisten,  von  Reklamations- 
frist, von  Kommissionen  und  dergleichen  sprechen;  aber  daß  es  ein 
geheimes  Skrutinium  geben  soll,  daß  nach  der  geschlossenen 
Stimmenabgabe  sich  die  Wahlkommission  allein  zusammensetzt,  um 
zu  zählen,  und  die  Wähler  erst  wieder  hineinläßt,  bis  sie  das  Resul- 
tat herausgerechnet  hat,  das  kann  es  nicht  geben.  Ich  gestehe  offen, 
•daß,  so  hoch  ich  den  Einfluß  der  Christlichsozialen  auf  die  Vorlage 
einschätze,  ich  ihnen  nicht  zutraue,  daß  sie  diesen  Paragraphen 
hineingefügt  haben.  Denn  dazu  sind  sie  doch  zu  erfahren,  und 
kennen  uns  zu  gut,  als  daß  sie  nicht  wüßten,  daß  eine  solche  Be- 
stimmung von  uns  mit  aller  Kraft  zurückgewiesen  werden  würde. 
Hier  glaube  ich  jene  Hand  zu  sehen,  deren  Eingreifen  der  Minister- 
präsident v.  Gautsch  lobend  erwähnt  hat,  das  ist  die  lange  Hand 
und  die  langen  Finger  des  Statthalters  von  Galizien,  der  eine  sehr 
merkwürdige  Sorte  von  Proportionalwahlsystem  da  hineingebracht 
bat,  und  der,  woran  ich  gar  nicht  zweifle,  auch  der  Erfinder  dieses 
geheimen  Skrutiniums  ist,  das  so  echt  nach  Galizien  schmeckt  wie 
nur  irgend  etwas. 

Sie  haben  auch  eine  Geschäftsordnung  eingebracht,  sie  haben 
ein  eigenes  Gesetz  zur  Einschränkung  der  Immunität  eingebracht 
und  es  gibt  Herren  und  ganze  Parteien  in  diesem  Hause  —  ich 
fürchte,  auch  die  Regierung  ist  nicht  frei  von  dieser  Illusion  — , 
die  sich  von  diesen  Dingen  sehr  viel  versprechen.  Sie  überschätzen 
das  wirklich.  Wir  sind  keine  Freunde  der  Unordnung  hier.  Wir 
Sozialdemokraten  wünschen  durchaus,  daß  ein  Parlament,  wenn 
wir  erst  eines  haben,  selbstverständlich  eine  Geschäfts- 
ordnung habe,  die  ihm  die  pünktliche,  stramme,  vernünftige  und 
expedite  Erledigung  der  Geschäfte  ermöglicht,  und  wo  Sie  solche 
Änderungen  vorschlagen  werden  —  wir  werden  nicht  die  letzten 
sein,  die  Vorschläge  zu  machen  haben  — ,  werden  wir  für  solche 
Vorschläge  immer  zu  haben  sein.  Wir  sind  auch  keine  Freunde  des 
Spektakels  hier.  Aber  die  politische  Leidenschaft  ist  es  ja  nicht,  die 
zu  fürchten  ist.  Zu  fürchten  sind  die  Ausbrüche  von  Exzessen 
-derFrivolität,  zu  fürchten  noch  mehr  sind  pathologische 
Exzesse  (Heiterkeit  und  Sehr  gut!),  die  ja  in  anderen  Gesell- 
schaften, geschlossenen  wie  offenen,  auch  vorkommen.  Aber  aller- 
dings so  ohnmächtig  ist  gegen  solche  Exzesse  keine  Gesellschaft 
wie  dieses  hohe  Haus.  Das  hängt  jedoch  nicht  zusammen  mit  der 
schlechten  Geschäftsordnung,  sondern  das  ist  ein  Symptom  des 
allgemeinen  Zustandes  dieses  Hauses,  dieser  Schwäche,  dieser 
elenden  Schwäche,  des  Mangels  an  Selbstvertrauen  in  diesem 
Hause,  des  labilen  Gleichgewichtes  dieses  Hauses,  das  ein  Wind- 
stoß und  wie  erst  ein  lautes  Wort  oder  eine  Unart  sofort  stört. 
Das  Haus  ist  wehrlos,  aber  es  wird  nicht  wehrhaft  und  es  wird  nicht 


Die  Schicksalsstunde  Österreichs.  305 

gesichert  dadurch,  daß  Sic  Paragraphen  machen,  sondern  es  wird 
wehrhaft  und  seine  Ordnung  und  die  Möglichkeit,  zu  arbeiten,  wird 
gesichert  dadurch,  daß  Sie  aus  dem  Hause  eine  wirkliche  Volks- 
vertretung mit  Selbstbewußtsein  machen.  (Beifall.)  Die  Obstruktion, 
meine  Herren,  werden  Sie  durch  keine  Geschäftsordnung  der  Welt 
umbringen.  (Abgeordneter  Malik:  Sehr  gut!  Ausgezeichnet! 
Heiterkeit.)  Freuen  Sie  sich  nicht  zu  sehr,  Herr  Malik!  Ich  meine, 
daß  Sie  sich  vielleicht  zu  früh  freuen.  Die  Obstruktion  unmöglich 
machen  wollen,  ist  eine  reaktionäre  Utopie,  die  Utopie  von  Leuten, 
die  in  den  Organismus  des  Hauses  und  in  die  Grundlagen  des  Be- 
standes einer  Volksvertretung  nicht  gehörig  eingedrungen  sind. 
Aber  die  Überschätzung  der  Macht  einer  kleinen  Zahl  von  Leuten, 
jede  beliebige  Gesellschaft  zu  stören,  das  ist  keine  reaktionäre 
Utopie,  das  ist  vielmehr  eine  sehr  jugendliche  Utopie  (Heiterkeit), 
die  Utopie  von  Leuten,  die  nur  die  Kraft  der  Lungen  zu  schätzen 
wissen,  die  aber  meinen,  daß,  weil  sie  hier  in  diesem  Hause  sich 
aufspielen  können,  dies  auch  in  einer  Volksvertretung  möglich  sein 
wird.  Die  Obstruktion  als  solche,  wo  sie  notwendig  ist,  auszurotten, 
ist  überhaupt  unmöglich.  Wo  die  Obstruktion  auftritt,  ist  sie  das 
Symptom  einer  schweren  Krankheit,  und  das  Symptom  wegzu- 
schaffen, ohne  die  Krankheit  zu  heilen,  hat  gar  keinen  Zweck.  Wenn 
Sie  die  Obstruktion  mechanisch  hindern  wollen,  so  würden  Sie 
damit  nur  die  Sprengung  des  Hauses  bewirkt  haben.  Die 
Lähmung  des  Hauses  aber  ist  das  kleinere  Übel,  weil  sie  vorbei- 
geht; sie  mit  mechanischen  Mitteln  hindern  zu  wollen,  ist  aus- 
geschlossen. Über  alle  diese  Dinge  wird  zu  reden  sein,  ebenso  wie 
über  den  Gesetzentwurf  über  die  Wahlfreiheit  und  über  die  Immu- 
nität. Das  Immunitätsgesetz  macht  auf  mich  ein  wenig  den  Ein- 
druck einer  —  wie  soll  ich  sagen  — ,  einer  impressionistischen  Legis- 
lation, einer  so  von  Momenteindrücken  abhängigen,  die,  weil  sie 
gerade  unangenehm  berührt  ist.  durch  auch  mir  nicht  sympathische, 
und  keinem  Menschen,  der  Geschmack  hat,  angenehme  Dinge, 
glaubt,  sofort  mit  einem  Gesetz  dreinschlagen  zu  sollen.  Soweit  die 
Immunitätsbestimmungen  geändert  werden  sollen,  um  gegenüber 
der  Immunität  der  Abgeordneten,  die  festzuhalten  ist,  die  Vogel- 
freiheit der  privaten  Ehre  von  Leuten  außerhalb  des  Hauses  zu 
beseitigen,  werden  Sie  uns  an  Ihrer  Seite  haben.  Es  haben  unsere 
Vertreter  mehrfach  diese  Begrenzung  der  Immunität  hier  urgiert. 
Wir  sind  nicht  dafür,  daß  durch  Vertagungen  und  Verschleppungen 
der  Mann,  der  hier  beleidigt  wurde,  ohne  jede  Möglichkeit  bleibt, 
.seine  Ehre  zu  schützen.  Aber  alles  das  überlassen  Sie  ruhig  dem 
Verfassungsausschuß.  Denn  darauf  möchte  ich  in  formeller  Be- 
ziehung allerdings  aufmerksam  machen:  Wenn  die  Regierung  diese 
Vorlagen  gemeinsam  eingebracht  hat,  so  soll  das  hoffentlich  nicht 
bedeuten,  daß  sie  sämtlich  dem  Wahlreformausschuß,  der  zu  wählen 
sein  wird,  zugewiesen  werden  sollen.  (Abgeordneter  Schuhmeier: 
Es  ist  auch  nirgends  gesagt!)  Ja,  es  ist  nirgends  gesagt,  aber  es 
scheint  eine  weit  verbreitete,  vielleicht  nicht  wohlüberlegte  Absicht 
zu  sein.  Wenn  Sie  die  Wahlreform  und  unsere  Diskussionen  liier  schon 
damit  erschweren,  so  wäre  es  ein  schweres,  vielleicht  ein  verhäng- 

Adlcr,  Briefe.   X.  Bd.  20 


306  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

nisvolles  Übel,  wenn  Sie  auch  noch  den  Wahlreformausschuß,  der, 
das  wissen  Sie  alle,  schwere  Arbeit  zu  tun  haben  wird,  damit  be- 
lasten wollten.  Wir  meinen,  es  wird  darüber  noch  zu  reden  sein, 
daß  die  Vorlage  über  die  Immunität  dem  Verfassungsausschuß  zu- 
gewiesen werden  soll,  daß  der  Geschäftsordnungsausschuß  in  sein 
Recht  treten  soll  bei  der  betreffenden  Vorlage  und  daß  die  Vorlage 
über  die  Wahlfreiheit,  wenn  die  Wahlreform  in  ihren  technischen 
Bestimmungen  feststeht,  in  den  Justizausschuß  gehört. 

Aber,  meine  Herren,  trotz  aller  dieser  Mängel  —  und  ihre 
Liste  ist  ja  lange  nicht  erschöpft  —  erkläre  ich  Ihnen:  Ja,  die  Sozial- 
demokraten begrüßen  diese  Wahlreformvorlage  so  wie  sie  ist.  Wir 
unterscheiden  uns  da  sehr  von  anderen  Parteien,  die  auch  über 
Mängel  klagen.  Was  die  wahren  Freunde  und  die  weniger  wahr- 
haften Freunde  der  Wahlreform  voneinander  scheidet,  ist  etwa  der 
Gebrauch  des  kleinen  Wortes  „a  b  e  r".  Wir  sagen:  Die  Wahlreform 
erfüllt  nicht  alle  unsere  Wünsche,  sie  erfüllt  lange  nicht  alles,  was 
man  braucht,  aber  wir  müssen  sie  haben  und  sie  muß  angenommen 
werden.  Jene  Herren  aber  sagen:  Wir  wollen  das  allgemeine,  gleiche 
und  direkte  Wahlrecht,  wir  waren  bekanntlich  immer  dafür  —  es 
gibt  keine  Partei  in  diesem  Hause,  die  nicht  in  irgend  einem  Moment 
ein  Mitglied  gehabt  hätte,  das  für  das  allgemeine,  gleiche,  direkte 
und  geheime  Wahlrecht  aufgetreten  ist  und  seit  einiger  Zeit  ist 
es  geradezu  Mode  geworden,  sich  für  dieses  „Prinzip"  auszu- 
sprechen —  wir  sind  für  das  Prinzip,  aber  —  für  diese  Wahl- 
reform des  Baron  Gautsch  können  wir  uns  nicht  erklären.  Wir 
wenden  auch  das  „aber"  an,  aber  wir  stimmen  zu  mit  dem  vollen 
Bewußtsein,  daß  wir  die  Notwendigkeiten  nicht  nur  der  Völker, 
daß  wir  die  Notwendigkeiten  auch  des  Staates  erfüllen. 

Freilich,  die  Argumente,  die  da  vorgebracht  werden,  sind  sehr 
mannigfaltig  und  nicht  immer  ganz  miteinander  übereinstimmend. 
Auf  der  einen  Seite  haben  Sie  vorgestern  den  Herrn  Dr.  v.  G  r  a  b- 
mayr  gehört,  der  uns  in  einer  sehr  feinziselierten  Rede  aus- 
einandergesetzt hat,  er  sei  ein  Mann  der  Freiheit,  aber  er  sei  kein 
Mann  der  Demokratie.  Er  ist  sehr  entrüstet  über  jeden,  der  ihn  des- 
halb, weil  er  nicht  für  das  gleiche  Wahlrecht  ist,  etwa  beschuldigen 
würde,  er  sei  kein  Freisinniger,  aber  er  bestreitet,  daß  die  Freiheit 
mit  der  Demokratie  irgend  etwas  zu  tun  hat.  Das  ist  —  Herr 
v.  Grabmayr  möge  mir  das  entschuldigen  —  ein  Rückfall  recht 
schlimmer  Art;  sagen  wir  es  höflich:  Herr  v.  Grabmayr,  das  ist 
eine  neue  elegante  Ausgabe  eines  alten  politischen  Gebildes,  des 
alten  Liberalismus,  für  den  die  Freiheit  allerdings  nur  ein  Negativum 
war.  Nach  der  alten  Schule  —  im  Mill,  Laboulaye  und  zahllosen 
deutschen  Büchern  können  Sie  darüber  lesen  —  ist  die  Freiheit 
nichts  Positives,  sie  ist  nur  ein  Negatives,  sie  soll  nur  schützen, 
sie  heißt  nur:  Frei  von  Zwang,  das  ist  jene  Freiheit,  die  der  öster- 
reichische doktrinäre  Liberalismus  in  unseren  Staatsgrundgesetzen 
verewigt  hat,  in  jenen  Staatsgrundgesetzen,  wo  die  Freiheit  als  eine 
Abstraktion  niedergelegt  ist,  die  absolut  keine  bildende,  keine 
schaffende,  keine   schützende  Gewalt  an  sich  hat.  Frei  sein  hat 


Die  Schicksalsstunde  österrei«  hs. 


nach  alter  liberaler  Theorie  keine  andere  Bedeutung  als  in  sozialer 
Beziehung  die  Freiheit,  zu  verhungern,  in  politischer  Beziehung  die 
Gewährung   von   so   viel   Ree''t,   als  ich   Recht   bezahlen   kann.  Zu 

welchen  politischen  Gestaltungen  das  führt,  daß  scheu  Sie  gerade 
In  Österreich  sehr  wohl.  Die  Liberalen  sind  in  dieser  Beziehung 
Zwitter,  zusammengesetzt  ans  zwei  Tendenzen:  einerseits  aus  der 
rein  doktrinären  liberalen  Idee,  andererseits  aus  dein  Herrschafts- 
bedürfnis des  Adels  aller  Nationen  und  des  deutschen  Bürgertums, 
und  das  Ergebnis  dieser  beiden  Strömungen  ist  die  österreichische 
Bürokratie,  welche  auf  Grund  der  Staatsgrundgesetze,  die  die 
schönsten  Prinzipien  enthalten,  die  ganze  Bevölkerung  geschurigelt 
hat,  solange  sie  es  sich  hat  gefallen  lassen.  Jene  Freiheit,  die  Herr 
v.  Grabmayr  meint,  hat  für  das  Volk  keinen  Wert,  die  ist  allerdings 
bloß  Luft,  eine  leere  Abstraktion,  die  Freiheit  aber,  die  die  Völker 
meinen,  ist  eine  erfüllte,  eine  wirkende  Freiheit,  eine  Freiheit,  die 
Leben  in  sich  hat,  nämlich  das  Selbstbestimmungsrecht  des  Volkes, 
die  Demokratie. 

Sie  werden  Herrn  v.  Grabmayr  natürlich  in  die  Höhe  seiner  Er- 
örterungen schwer  folgen  können;  Sie  werden  schwer  einem  Radi- 
kalismus in  Worten  folgen  können,  der  „Freiheit"  sagt  und  der 
zugleich  die  Gleichheit  des  Rechtes  damit  in  Widerspruch  stellt; 
wenn  er  aber  Gleichheit  will,  dann  eine  Gleichheit  bis  —  ich  will 
nicht  sagen  —  zum  Absurden,  aber  mindestens  bis  zum  völlig  Un- 
möglichen. So  radikal  hat  in  diesem  Hause  und  außerhalb  desselben 
niemand  die  Gleichheit  des  Wahlrechtes  verlangt  wie  Herr  v.  Grab- 
mayr und  Herr  Graf  Dzieduszycki.  Für  die  Herren  Großgrund- 
besitzer hat  eine  Gleichheit  des  Rechtes,  die  sich  erfüllen  läßt,  über- 
haupt keinen  Wert  (Heiterkeit  und  Beifall),  während  für  uns  die 
Gleichheit  des  Rechtes  und  jede  W^ahlreform  vor  allem  eine  Be- 
dingung mit  sich  führen  muß:  sie  muß  verwirklicht  werden  können. 
(Zustimmung.  —  Abgeordneter  Dr.  Binder*):  Sie  sind  für  die  Un- 
gleichheit!) Ja,  ja,  wir  sind  für  die  Ungleichheit!  Und  wenn  Sie, 
verehrtes  Mitglied  des  Polenklubs,  zusammen  mit  mir  vor  das  Volk 
hintreten  und  Sie  werden  für  die  Gleichheit  sein,  Sie  und  Herr 
Graf  Dzieduszycki  und  Herr  v.  Grabmayr  sie  wollen,  und  ich 
werde  für  die  Ungleichheit  eintreten,  wie  wir  Sozialdemokraten  sie 
wollen  —  mir  ist  nicht  bange  darum,  daß  das  Volk  uns  aus- 
einanderkennen wird.  (Sehr  gut!)  Fürchten  Sie  nichts!  Das  Volk 
besteht  nicht  aus  dieser  dummen  Masse,  wie  Sie  alle  glauben. 

Hat  doch  einer  von  Ihnen,  Herr  Graf  Dzieduszycki,  in  einer 
bewunderungswürdigen  Rede  gestern  unter  anderem  auch  aus- 
einandergesetzt, daß  ja  das  polnische  und  das  ruthenische  Volk, 
vor  allem  der  Bauer,  gar  kein  gleiches  Wahlrecht  will.  (Heiterkeit.) 
Das  hat  er  uns  erzählt  am  Tage  nach  jener  denkwürdigen  Sitzung 
in  diesem  Hause,  in  der  ein  Mitglied  des  Polenklubs,  Herr  v.  Abra- 
h  a  mowiez,  gejammert  hat:  Line  Katastrophe  ist  hereingebrochen 
über  Galizien!  800  Versammlungen  hat  man  angemeldet,  Bauern- 

*)  Fan  polnischer  Abgeordneter,  der  allerdings  In  das  neue  Parlament 
nicht  mehr  gewählt  wurde. 

20* 


308  Her  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Versammlungen,  von  denen  er  mit  blutendem  Herzen  300  verbieten 
mußte,  weil  er  keine  Beamten  gehabt  hat,  um  seiner  Idee  vom 
Versammlungsgesetz  zu  genügen.  Kr  hat  keine  bessere  Idee  davon. 
Diese  Leute,  die  da  zu  Tausenden  zusammengekommen  sind,  die 
man  auseinandergejagt  hat,  die  man  auseinandergeknüppelt  hat  und 
zuletzt  auch  mit  Flintenschüssen  behandelt  hat*),  die  wehren  sich 
natürlich  alle  gegen  diese  Wahlreformvorlage,  vor  der  sie  Graf 
Dzieduszycki  schützen  will,  nicht  wahr?  Meine  Herren!  Sie  kennen 
das  Volk  nicht  und  das  Volk  kennt  Sie  nicht.  Wenn  Sie  das  Volk 
kennen  würden,  dann  würde  es  Ihnen  nicht  einfallen,  solche  Tor- 
heiten über  das  Volk  zu  reden,  wie  Sie  sie  hier  vorbringen.  Und 
wenn  das  Volk  Sie  kennen  würde,  dann  würden  Sie  trotz  aller  Ihrer 
Privilegien  schon  längst  nicht  mehr  hier  sitzen.  Der  Herr  Graf 
Dzieduszycki  hat  über  die  Regierungsvorlage  eine  ganze  Reihe 
von  Beschwerden  vorgebracht,  die,  glaube  ich,  so  ziemlich  ein  voll- 
ständiger Katalog  von  allen  Beschwerden  und  allen  Anklagen  sind, 
die  man  überhaupt  gegen  eine  politische  Maßregel  vorbringen  kann. 
Er  hat  einen  großen  Eifer  darauf  verwendet,  um  ^u  beweisen,  daß 
die  Regierungsvorlage  eine  Demütigung  für  das  polnische  und  das 
ruthenische  Volk  ist.  Und  ich  muß  schon  sagen,  ich  habe  seine 
Selbstlosigkeit  um  so  mehr  bewundert,  weil  doch  jeder  weiß,  daß 
die  bei  der  Verteilung  der  Mandate  nach  der  Regierungsvorlage 
tatsächlich  Geschädigten  nicht  die  nächsten  Freunde  des  Herrn 
Grafen  Dzieduszycki,  sondern  die  ruthenischen  Bauern  sind.  Graf 
Dzieduszycki  ist  zum  erstenmal,  so  viel  ich  weiß,  in  dieser  wahr- 
haft aufopfernden  Weise  für  die  ruthenische  Bauernschaft  und  ihre 
politischen  Rechte  eingetreten.  (Heiterkeit.)  Es  zerreißt  ihm,  dem 
Grafen  Dzieduszycki,  geradezu  das  Herz,  zu  sehen,  daß  sie  nach- 
stehen müssen  den  deutschen  Bürgern,  den  deutschen  Arbeitern 
in  der  Intensität  des  Wahlrechtes.  Ja,  gewiß  ist  der  Prozentsatz  an 
Mandaten  für  Galizien  ein  schlechterer,  als  der  für  andere  Kron- 
länder, gewiß,  und  ich  werde  ja  darauf  noch  zurückkommen  müssen; 
aber  für  den  heutigen  Zustand  im  Vergleich  mit  dem  bestehenden 
Gesetz  ist  diese  Vorlage  für  Galizien  ein  kolossaler  Fortschritt. 
(Sehr  richtig!)  Das  weiß  das  polnische  Volk,  das  weiß  das  ruthe- 
nische Volk,  und  diese  Erkenntnis  der  beiden  Völker  ist  es,  die  den 
Herrn  Grafen  Dzieduszycki  und  seine  ganze  Gesellschaft  zittern 
und  beben  macht  vor  dieser  Wahlreform  (Zustimmung),  und  des- 
halb muß  er  sie  zernichten. 

Und  was  hat  er  uns  da  vorgebracht?  Tragediante  —  comediante! 
Was  hat  er  uns  hier  erzählt?  Alle  Puppen  hat  er  tanzen  lassen;  hilf, 
was  helfen  kann.  Vom  nächsten  Parlament  hat  er  erzählt,  das 
Parlament  wird  ohnmächtig  sein!  Es  ist  der  teuflische  Gedanke  des 
Baron  Gautsch,  das  Parlament  für  immerwährende  Zeiten  ohn- 
mächtig zu  machen,  indem  er  es  durch  das  gleiche  Wahlrecht  in 
eine  Lage  bringt,  daß  es  sich  nicht  mehr  gegen  die  Regierung  wird 

*)  Zwischen  der  Erklärung  des  Ministerpräsidenten  am  23.  Februar  und 
dem  Beginn  der  ersten  Lesung  der  Wahlreform  mußte  das  Abgeordneten- 
haus das  Blutbad  besprechen,  das  die  polnische  Schlachta  unter  den  ruthe- 
nischen Bauern  in  dem  galizischen  Dorfe  Ladzkie  angerichtet  hatte. 


!  'Ie  Schicksalsstunde  Österreichs. 


rühren  können!  Der  Absolutismus  der  österreichischen  zentra- 
[istischen    Bürokratie    soll   aufgerichtet   werden!   Das   erzählt    der 

Schlachzize    den   Tschechen.    Auf    der    anderen   Seite    li;il    er    den 

Deutschen  gesagt,  und  es  war  mir,  Ich  muß  es  gestehen,  ein  rühren- 
der Eindruck,  als  ich  sah,  wie  der  Qrai  Stürgkh  so  beifällig  traurig 

dazu  genickt  hat,  als  der  Schlachzize  erzählte,  daß  der  alte  öster- 
reichische Zentralismus,  das  alte  Österreich  zu  (irabe  getragen 
werde!  —  und  der  Leidtragende  war  der  naive  Graf  Stürgkh. 
(Heiterkeit.)  Meine  Herren,  Sie  sprechen  von  politischer  Reife.  Ge- 
statten  Sie  —  icli  spreche  nicht  persönlich,  ich  spreche  nur  poli- 
tisch, aber  dessen  dürfen  Sie  sicher  sein:  Wenn  Graf  I  )zieduszycki 
nicht  etwa  zu  diszipliniert  erzogenen,  politisch  reifen  Arbeitern. 
Sozialdemokraten,  nicht  zu  Bürgern,  sondern  zu  den  polnischen  oder 
ruthenischen  Bauern  gekommen  wäre  und  hätte  ihnen  einreden 
wollen,  daß  das  ein  Schaden  für  sie  ist,  so  hätte  man  ihn  aus- 
gelacht: die  sind  politisch  reif;  Herr  Graf  Stürgkh  läßt  sich  solche 
Dinge  vom  Grafen  Dzieduszycki  noch  einreden.  Unreif  ist  er  nicht: 
ich  fürchte,  ich  fürchte,  der  lange  Genuß  des  Privilegs  hat  ihn  zu 
einer  gewissen  Überreife  gebracht  (lebhafte  Heiterkeit),  zu  einer 
Überreife,  die  vielleicht  ebenso  unfähig  und  noch  unfähiger  macht, 
politische  Dinge  zu  sehen  und  zu  erkennen,  als  jene  angebliche 
Unreife,  wo  man  noch  etwas  lernen  kann. 

Es  scheint  aber,  hier  gibt  es  ganze  Klassen,  ganze  Schichten 
der  Abgeordneten,  die  leider  nichts  mehr  lernen  können.  Allmächtig 
und  ohnmächtig  ist  das  Haus,  zum  Absolutismus  wird  das  gleiche 
Stimmrecht  führen,  zum  Absolutismus,  zum  Cäsarismus,  aber  zu- 
gleich zur  Anarchie!  (Heiterkeit.)  Er  war  nicht  sehr  höflich  mit  den 
zukünftigen  Abgeordneten  dieses  Hauses,  er  hat  sie,  die  Erwählten 
des  allgemeinen  Stimmrechtes,  mit  einem  „Kasten  von  hungrigen 
Ratten"  verglichen!  (Lebhafte  Heiterkeit.)  Wenn  wir  unsere  Ver- 
gleiche den  erbgesessenen,  angesehenen  Vertretern  politischer  Bil- 
dung entlehnen  sollen,  wenn  wir  uns  auf  jenes  Gebiet  ihrer  An- 
schauung begeben  sollen,  das  uns  damit  vorgezeichnet  ist,  so 
müssen  wir  ja  wahrscheinlich  in  die  Zoologie  hinübergreifen  (Heiter- 
keit), und  dann  frage  ich  Sie,  meine  Herren:  Wenn  im  zukünftigen 
Hause  Ratten  sein  werden,  welche  Sorte  von  Bestien  vereinigt  dann 
dieses  Haus?  (Lebhafte  Heiterkeit,  Beifall  und  Händeklatschen.) 
Welche  Sorte  von  Bestien,  frage  ich,  die  übereinander 
herfallen,  um  sich  zu  zerreißen,  die  unfähig  sind,  sich 
auch  nur  den  Zwang  aufzuerlegen,  den  die  vernünftige  Diskussion 
und  vernünftige  Menschen  notwendig  machen?  Welche  Sorten  von 
Bestien,  frage  ich,  sind  es,  die  hier  in  diesem  Hause  geherrscht 
haben  und  bis  heute  herrschen?  Von  Bestien,  die  in  ihrer  Sattheit 
und  ihrer  Übersättigung  noch  immer  so  gefräßig  sind,  daß  sie  die 
Pforten  dieses  Hauses  verteidigen  mit  Lügen,  mit  Verleumdungen, 
mit  Fabulieren,  mit  Gespensterseilerei,  und  wenn  sie  könnten,  mit 
Blut  und  Gewalt  —  in  Galizien  — ,  welche  Sorte  von  Bestien  ist 
es.  frage  ich.  die  gewünscht  hat,  man  hätte  die  Arbeiterschaft  über- 
fallen, man  hätte  gegen  die  Arbeiterschaft,  als  sie  ihr  Recht  ver- 
langt hat,  überall  Kanonen  ausrücken  lassen  sollen;  welche  Sorte 


310  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

von  blutgierigen  Bestien  ist  es  —  ich  wiederhole  das  — ,  die 
wünscht,  daß  man  die  Bewegung  für  das  Wahlrecht  lieber  im  Blut 
ersticken  soll,  als  daß  man  den  Privilegien  —  ich  füge  hinzu  —  den 
bestialischen  Privilegien   irgend  einen  Abbruch   tun  lasse? 

Ich  bin  kein  Mann  der  starken  Worte . . .  (Große  Heiterkeit.) 
Meine  Herren!  Ich  vergönne  Ihnen  herzlich  die  kleine  Erfrischung 
durch  den  Ausbruch  Ihrer  Heiterkeit.  Aber  ich  möchte  denn  doch 
sagen:  Ein  Haus,  das  sich  von  hungrigen  Ratten  erzählen  läßt,  ohne 
einen  Widerspruch  zu  erheben,  darf  sich  nicht  wundern,  wenn 
darauf  die  gebührende  Antwort  folgt.  Ich  wiederhole,  ich  bin  kein 
Freund  von  starken  Worten.  Aber  dem  Grafen  Dzieduszycki  und 
den  Leuten  seinesgleichen  muß  geantwortet  werden  und  sie  müssen 
behandelt  werden,  wie  sie  es  verdienen.  (Beifall.)  Und  hiemit  über- 
lasse ich  den  Grafen  Dzieduszycki  weiterhin  der  autonomen  natio- 
nalen Gerichtsbarkeit  meines  Parteigenossen  Üaszynski.  (Leb- 
hafte Heiterkeit.) 

Die  große  Frage  in  der  Wahlreform  und  die  große  Frage,  die 
natürlich  alle  Gegner  der  Wahlreform  in  erster  Linie  berührt  hat, 
ist  die  Frage  des  Verhältnisses  zum  Staate,  die  Frage  des  Verhält- 
nisses zur  Nation.  Wir  Sozialdemokraten  stehen  als  Partei  im 
Mittelpunkt  dieser  Diskussion,  ob  wir  wollen  oder  nicht.  Ich  ver- 
mute, daß  die  Behauptungen,  die  wir  von  allen  Seiten  hier  gehört 
haben,  stark  übertrieben  sind;  daß  die  Behauptung  stark 
übertrieben  ist,  daß  die  Regierung  ausschließlich  der  Wucht 
der  Volksbewegung  für  das  gleiche  Wahlrecht  nachgegeben 
habe,  indem  sie  so  vernünftig  war,  die  Wahlvorlage  einzu- 
bringen. Ich  leugne  gar  nicht,  daß  auch  unsere  Erfahrungen 
mit  den  Ihren  darin  übereinstimmen,  daß  österreichische  Regie- 
rungen im  allgemeinen  nicht  leicht  etwas  aus  eigener  Er- 
kenntnis tun,  sondern  daß  sie  die  vernünftigen  Dinge  nur  machen, 
wenn  sie  absolut  dazu  gezwungen  werden  —  das  gebe  ich  Ihnen 
ohne  weiteres  zu.  Es  scheint,  daß  das  so  sehr  die  Meinung  der 
Gegner  der  Wahlreform  ist,  daß  sie  es  einem  österreichischen 
Staatsmann  überhaupt  nicht  zutrauen,  daß  er  eine  vernünftige  Maß- 
regel anders  als  aus  Initiative  der  Sozialdemokraten  machen  könnte. 
(Sehr  gut!)  Ich  halte  aber  doch  dafür,  daß  das  allgemeine,  gleiche 
und  direkte  Wahlrecht  auf  der  Tagesordnung  steht,  nicht  allein, 
weil  die  Regierung  der  Wucht  der  Volksbewegung  wich  und  ihr 
folgte,  deren  Träger  zu  sein  die  sozialdemokratische  Arbeiterschaft 
die  Ehre  und  die  Pflicht  hatte;  daß  es  nicht  einzig  die  Furcht  vor 
den  Massen  ist,  sondern  daß  die  Verzweiflung  an  der  heutigen  Ein- 
richtung Österreichs  entscheidend  war.  Alle,  wie  Sie  da  sind,  meine 
Herren,  alle  die  Gegner  der  Wahlreform  bis  zum  Exzeß,  werden 
Sie  Minister  und  versuchen  Sie,  Österreich  weiter  zu  regieren! 
Denken  Sie  sich  einen  Moment  lang  für  die  Geschicke  Österreichs 
verantwortlich!  Wenn  man  von  Ihnen  erfahren  will,  was  denn  die 
Regierung,  wenn  sie  nicht  den  Sozialdemokraten  „so  furchtsam 
nachgegeben"  hätte,  hätte  tun  sollen,  was  für  eine  Antwort  wissen 
Sie  zu  geben?  Herr  v.  Grabmayr  sagte,  er  wisse  es  genau,  aber 
er  sagt  es  um  keinen  Preis.  (Heiterkeit.)  Er  weiß  es  genau:  ein 


Die  Schicksalsstunde  Österreich  311 

abgestuftes  Wahlrecht.  Wie  abgestuft,  das  weiß  er  nicht.  Oder  hat 
er  vielleicht  für  die  Deutschen  jenes  gleiche  Wahlrecht  im 
Sacke  mit  den  genau  nach  der  Kopfzahl  abgegrenzten  Wahlkreisen, 
dessen  Schönheiten  er  uns  in  der  Theorie  so  gepriesen  hat?  Glaubt 
er,  daß  das  leichter  durchzusetzen  sei?  Oder  glaubt  Herr  v.  Grab- 
mayr,  daß  überhaupt  etwas  durchzusetzen  ist,  nicht  nur  hier  im 
Hause,  sondern  überhaupt  in  Österreich,  was  die  Rechte  des  Volkes 
nicht  erfüllt? 

Herr  v.  ürabmayr  meinte:  O,  die  Sozialdemokraten  sind,  kluge 
Leute  —  er  hat  uns  das  Kompliment  gemacht  — ,  sie  sind  sich  ihrer 
Verantwortung  bewußt  und  würden  nicht  zum  Äußersten  gegriffen 
haben;  sie  würden  lieber  weniger  genommen  haben  als  gar  nichts. 
Er  hat  wie  der  richtige  —  na,  wie  soll  ich  sagen?  —  Geschäftsmann 
gemeint,  der  Baron  Gautsch  hätte  nicht  so  viel  bieten  müssen 
—  wir  finden,  es  ist  wenig  genug  — ,  er  hätte  es  billiger  machen 
können.  Nobel  ist  das  nicht  gedacht  und  politisch  ist  es  der  reine 
Widersinn,  der  auf  der  völligen  Unkenntnis  der  Verhältnisse  beruht. 

Diese  Wahlreform  enthält  das  Minimum  von  dem,  was  möglich 
ist,  und  nicht  das  Maximum.  Die  Konzessionen,  die  hier  der  natio- 
nalen Ungleichheit  gemacht  werden  wegen  der  Verschiedenheit  der 
nationalen  Machtverhältnisse  —  und  Sie,  meine  Herren  Deutschen, 
sollten  das  aus  Ihrer  eigenen  Geschichte  wissen  —  diese  Kon- 
zessionen sind  das  Maximum  von  dem,  was  heute  noch  zu  machen 
ist.  Die  Geschichte  von  dem  gleichen  Rechte  in  Österreich,  meine 
Herren,  erinnert  an  die  alte,  alte  Geschichte  von  den  sibyllinischen 
Büchern.  Sie  erinnern  sich  daran,  wie  die  alte  Sibylle  mit  den 
Büchern  zu  dem  König  Numa  Pompilius  kommt  und  ihm  diese 
Bücher,  in  denen  die  Geschichte  Roms  festgelegt  ist,  zu  einem  be- 
stimmten Preis  anbietet.  Sie  sind  ihm  zu  teuer,  er  schickt  sie  fort, 
sie  vernichtet  die  Hälfte,  sie  bringt  ihm  weniger  und  verlangt  den 
doppelten  Preis;  er  schickt  sie  abermals  fort  und  sie  bringt  ihm 
nur  mehr  ein  Viertel  und  der  Preis  hat  sich  vervierfacht.  Würde 
die  Klugheit,  würde  die  Einsicht,  würde  die  Liebe  zum  Volke  —  und 
nicht  zuletzt  zum  deutschen  Volke  — ,  die  diese  Vorlage  voraus- 
setzt und  zur  Grundlage  macht,  würde  die  staatsmännische  Weis- 
heit, die  das  allgemeine  Wahlrecht  heute  zur  Notwendigkeit  macht, 
früher  in  Österreich  maßgebend  gewesen  sein,  vielleicht  wären  die 
Deutschen  billiger  davongekommen.  Auf  jeden  Fall  hätten  sie  einen 
ungeheuren  Vorteil  gehabt,  auf  jeden  Fall  hätte  sich  mit  der  Auf- 
rechterhaltung der  Privilegien  nicht  der  Gedanke  verknüpft,  daß 
es  ein  deutsches  Privileg  ist  und  hätte  sich  nicht  mit  dem  Unrecht, 
das  da  ist,  die  Bitterkeit  gegen  das  deutsche  Volk  verknüpft. 

Ich  habe  vor  einigen  Wochen  hier  an  dieser  Stelle  —  und  man 
hat  mir  das  im  deutschen  Lager  übelgenommen  —  davon  ge- 
sprochen, daß  es  ein  Unrecht  ist,  daß  man  das  deutsche  Volk  mit 
dem  Vorwurf  belastet  hat,  der  Bedrücker  anderer  Völker  zu  sein; 
nicht  im  Interesse  des  deutschen  Volkes,  sondern  im  Interesse  der 
Dynastie.  Man  hat  mir  gesagt,  ich  sei  ein  schlechter  Deutscher. 

Meine  Herren!  Wir  Sozialdemokraten  aller  Zungen  hier,  wir 
nehmen  für  uns  in  Anspruch,  so  gut  zu  unserem  Volke  zu  gehören 


312  Der  Siekr  des  gleichen  Wahlrechts. 


wie  jeder  von  Ihnen.  (Beifall.)  Wie  hier  Daszynski  zu  Ihrem 
Erstaunen  erklärt  hat:  „Ich  bin  ein  Pole"  —  das  war  uns  nie 
neu  — ,  so  erklären  wir  hier,  wir  sind  Deutsche  —  und  ich  be- 
haupte —  bessere  Deutsche  als  Sie.  (Gelächter  bei  den  Schöne- 
rianern.)  Lachen  Sie  nur,  ich  werde  Ihnen  das  beweisen,  was  ich 
sage.  (Zwischenrufe  und  Gegenrufe.)  Regen  Sie  sich  doch  über 
Zwischenrufe  nicht  auf;  den  Herren  machen  sie  Spaß  und  mich 
genieren  sie  gar  nicht.  (Heiterkeit.) 

Es  wird  so  viel  von  der  Sozialdemokratie  in  den  letzten  Tagen 
hier  gesprochen,  daß  es  vielleicht  nicht  ganz  tiberflüssig  ist,  wenn 
Sie  irgend  etwas,  wenn  auch  etwas  recht  Abruptes  über  die  Partei 
hören,  über  die  Sie  so  viel  sprechen  und  die  Sie  so  wenig  kennen. 
Die  Sozialdemokratie  ist  die  Vertreterin  des  Klasseninteresses  des 
Proletariats.  Dieses  Klasseninteresse  des  Proletariats,  meine 
Herren,  ist  selbstverständlich  nicht  das  einzige  Interesse  des  Prole- 
tariats. Das  Proletariat  hat  neben  seinem  Klasseninteresse  auch 
andere  Interessen.  Jedes  Proletariat  gehört  auch  zu  seinem  Volke. 
Das  Klasseninteresse  der  Proletarier  aller  Nationen  ist  ein  identi- 
sches, so  wie  das  Klasseninteresse  der  Reichen,  der  Kapitalisten 
aller  Nationen  den  Arbeitern  gegenüber  ein  völlig  identisches  ist. 
Wenn  wir  rufen:  „Arbeiter  aller  Völker,  vereinigt  euch!"  —  den 
Herren  Kapitalisten  braucht  man  es  nicht  zuzurufen;  sie  sind  längst 
vereinigt,  wo  es  gilt,  ihre  Klasseninteressen  zu  wahren,  wo  es  gilt, 
ihre  wirtschaftlichen  Interessen,  die  Grundlage  ihrer  Herrschaft 
gegenüber  der  Arbeiterklasse  zu  sichern. 

Aber  als  Arbeiterklasse  haben  wir  es  zunächst  mit  dem  Staate 
zu  tun.  Es  war  mir  recht  interessant,  als  Graf  Sylva-Tarouca 
irgend  einen  Sozialdemokraten  zitiert  hat,  der  ihm  gesagt  hat,  die 
Sozialdemokraten  hätten  auch  ein  Interesse  am  Staate,  worüber 
er  außerordentlich  verwundert  war.  (Heiterkeit.)  Ich  will  das  auf- 
greifen und  will  ihm  sagen:  Gewiß,  wir  haben  ein  Interesse  am 
Staate,  ein  sehr  großes  Interesse,  denn  der  Staat  spielt  eine 
doppelte  Rolle.  Der  Staat,  der  Klassenstaat  der  heutigen  kapi- 
talistischen Gesellschaft,  ist  erstens  eine  Herrschaftsmaschine  für 
Sie,  meine  Herren,  er  ist  die  Maschine,  durch  die  Sie  die  Aus- 
beutung regeln,  das  Bestehen  der  Machtverhältnisse  sichern,  die 
Ungestörtheit  sichern,  mit  der  Sie  Ihr  Ausbeutungsgeschäft  als 
Klasse  besorgen.  Aber,  meine  Herren,  der  Staat  ist  auch  noch 
etwas  anderes,  der  Staat  ist  eine  Entwicklungsbedingung  für  den 
Kapitalismus  überhaupt,  der  Staat  ist  unentbehrlich  für  die  heutige 
Entwicklung  der  modernen  Gesellschaft  und  an  der  Entwick- 
lung dieser  modernen  Gesellschaft,  an  der  Entwicklung  des 
Kapitalismus,  an  der  vollen  Entfaltung  der  wirtschaftlichen  und 
politischen  Kräfte,  die  heute  in  der  Bevölkerung  stecken,  daran  hat 
die  Arbeiterklasse  ein  allererstes  Interesse.  Wir  können  vom 
Klassenstaat  zum  Volksstaat  nicht  kommen,  wenn  sich  der  Klassen- 
staat nicht  auslebt,  nicht  entfaltet,  wenn  diese  großartige  wirtschaft- 
liche Entwicklung  des  Kapitalismus,  wenn  diese  Weltwirtschaft, 
dieser  Welthandel,  aller  dieser  Reichtum  sich  nicht  fortgesetzt 
hemmungslos   entfalten    kann.   Der   Kapitaiismus   züchtet   die   Mil- 


Die-  Schicksalsstunde  Österreichs. 


Uonäre,  der  Kapitalismus  züchtet  die  Herrschaft  dieser  Magnaten; 
aber  der  Kapitalismus  kann  sich  nicht  entfallen  —  ich  will  das 
klassische  Wort  auch  hier  zitieren  ,  ohne  daß  er  zugleich  die 
Proletarier  züchtet,  seine  Totengräber.  Wir  haben  alles  Interesse 
an  seiner  Entwicklung,  somit  am  Staate. 

Und  wenn  das  Proletariat  seine  Zukunft  einst  in  die  Hand 
nehmen  soll,  so  braucht  es  da/u  die  Fähigkeit,  die  physische, 
geistige  und  kulturelle  Fälligkeit,  und  diese  physische,  geistige  und 
kulturelle  Entwicklung  ist  verknüpft  mit  der  Erhöhung  der  Lebens- 
haltung des  Proletariats.  Die  kann  dem  Kapitalismus,  dem  Klassen- 
staat nur  abgerungen  werden  in  einer  Zeit  der  wirtschaftlichen 
Entwicklung,  und  darum  wünschen  wir  diese  wirtschaftliche  Ent- 
wicklung, auch  darum  brauchen  wir  den  Staat.  Darum  sind  wir  so 
unglücklich  in  diesem  Österreich,  weil  wir  in  diesem  österreichi- 
schen Staate  zwar  alle  Laster,  zwar  alle  Lasten  des  Staates  auf 
uns  haben,  alles  vom  Staate  haben,  was  uns  bedrückt,  was  uns 
beengt,  hemmt,  erstickt  und  unsere  Entwicklung  behindert,  alle 
Schäden  und  Nachteile  des  Staates,  aber  nicht  einen  einzigen  seiner 
Vorteile.  Das  ist  der  Unterschied  zwischen  diesem  Staate  und  einem 
wirklich  modernen  Staate.  Das  ist  der  Unterschied  zwischen  dem 
Polizeistaat  Österreich  und  dem  Deutschland,  dessen  politische 
Verhältnisse  für  uns  wahrhaftig  kein  Gegenstand  des  Neides  sind, 
soweit  die  Arbeiter  in  Betracht  kommen,  der  aber  doch  wenigstens 
der  wirtschaftlichen  und  kulturellen  Entwicklung  ein  notwendiges, 
ein  wirksames  Instrument  darbietet.  Wir  können,  meine  Herren, 
es  nicht  aushalten  ohne  den  Staat,  ohne  diese  Entwicklung,  wir 
sind  gehemmt  und  wir  tragen  es  schwerer  als  Sie.  Ja,  meine  Herren, 
jeder,  der  aufsteht,  jammert;  mag  der  Qewerbsmann  aufstehen, 
mag  der  Bauer  aufstehen,  so  jammert  er.  Und  wenn  die  großen 
Kapitäne  der  Industrie,  die  nicht  selbst  hieher  kommen,  sondern 
uns  allerdings  sehr  geschätzte  Herren  hieher  schicken,  welche  ihre 
Interessen  hier  vertreten,  wohl  nicht  so  laut,  als  es  vielleicht 
wünschenswert  wäre,  den  Mund  aufmachen,  so  jammern  sie  —  nicht 
wahr?  —  darüber,  daß  ihnen  der  Staat  gar  nichts  bietet.  Wir 
schließen  uns  dem  Jammer  völlig  an,  wir  halten  es  weniger  aus 
als  Sie.  Sie,  die  Besitzenden,  können  noch  als  Marodeure  etwas 
profitieren,  und  wenn  auch  die  Profite  gering  sind,  zu  leben  geben 
sie  Ihnen  immer;  für  Sie  ist  das  keine  Frage  auf  Leben  und  Tod, 
aber  für  die  Arbeiter  ist  es  eine  Frage  auf  Leben  und  Tod,  und 
darum  brauchen  wir  den  Staat,  denselben  Staat,  den  wir  ent- 
wickeln, den  wir  zum  Volksstaat  umwandeln  wollen,  oder,  wie  Sie 
sich  gewöhnlich  hier  in  der  Polizeisprache  ausdrücken,  den  wir 
„untergraben"  wollen. 

Dem  Staate  geht  es  uns  gegenüber  ja  ähnlich,  und  da  kommt  es 
dazu,  daß  wir  Sozialdemokraten  eine  „Regierungspartei"  genannt 
werden.  Der  Vorwurf  wird  uns  von  den  Herren  Großgrundbesitzern 
gemacht.  Ich  weiß  nicht,  ist  das  etwa  Neid  (Heiterkeit)  oder  wollen 
sie  es  uns  verübeln  wegen  der  Gewerbestörung.  (Erneute  Heiter- 
keit.) Meine  Herren!  Sie  können  ganz  unbesorgt  sein,  wir  stützen 
diese   Regierung   nur,   so   lange   sie   etwas  Vernünftiges  und   Not- 


314  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

wendiges  tut,  und  das  wird  leider  gar  nicht  lange  dauern.  (Lebhafte 
Heiterkeit.)  So  lange  die  Regierung  für  das  Recht  der  Massen  ein- 
zutreten, wahrscheinlich  sehr  wider  ihren  Willen,  verurteilt  ist,  so 
lauge  haben  w  i  r  zu  funktionieren.  Wenn  sie  wieder  darangeht, 
der  Masse  Lasten  aufzuerlegen:  indirekte  Steuern,  Militärlasten, 
Profite,  kleine  Trinkgelder  für  die  einzelnen  Schichten,  die  hier 
vertreten  sind,  dann,  meine  Herren,  treten  Sie  Ihr  Amt  als  Regie- 
rungspartei gewiß  wieder  an.  (Lebhafte  Heiterkeit.)  Lassen  Sie  uns 
also  diese  kurze  Frist  und  nehmen  Sie  es  der  Regierung  nicht  übel, 
daß  sie  sich  unterdessen  mit  uns  behilft.  Wären  Sie  so  gescheit, 
eine  vernünftige  österreichische  Politik  zu  machen,  ich  bin  über- 
zeugt, der  Herr  Baron  Gautsch  würde  Herrn  v.  Grabmayr  uns  allen 
beträchtlich  vorziehen.  (Heiterkeit.)  Aber  es  ist  nicht  Zufall,  daß  dies 
so  ist.  Die  Regierung,  auch  eine  österreichische  Regierung,  wenn 
sie  die  Proletarier  noch  so  fürchtet,  wenn  sie  die  Sozialdemokraten 
noch  so  haßt,  muß  ihnen  in  manchen  Momenten  recht  geben  und 
Rechnung  tragen,  weil  die  Sozialdemokratie,  die  proletarische 
Partei,  die  Vernunft  dieses  Gemeinwesens  repräsentiert.  (Abge- 
ordneter Graf  Mensdorff  lacht.)  Gewiß,  meine  Herren,  wir  ver- 
treten die  Vernunft  und  Sie  vertreten  die  hartnäckige,  verstockte 
Unvernunft.  Durch  Sie,  meine  Herren,  durch  Ihre  Hartnäckigkeit 
ist  es  gekommen,  daß  das,  was  wir  heute  zu  lösen  haben,  erst  jetzt 
an  uns  herantritt,  nachdem  das  Fehlen  des  gleichen  Rechtes  Öster- 
reich an  den  Abgrund  gebracht  und  alle  Völker  ruiniert  hat  (Zu- 
stimmung); durch  Sie,  durch  Ihren  Eigensinn,  durch  Ihre  Verstockt- 
heit ist  es  gekommen,  daß  wir  es  nicht  schon  lange  haben.  (Leb- 
hafte Zwischenrufe.) 

Abgeordneter  Graf  Mensdorff*):  Sie  sind  allein  gescheit! 

Abgeordneter  Rieger:  Er  hat  endlich  die  Sprache  gefunden! 

Abgeordneter  Schuhmeier:  Bis  jetzt  hat  kein  Mensch  gewußt, 
daß  der  auch  reden  kann. 

Abgeordneter  Resel:  Ein  Großgrundbesitzer  als  Zwischenrufer! 

Abgeordneter  Glöckner:  Wir  haben  geglaubt,  daß  er  gar  nicht 
reden  kann! 

Abgeordneter  Rieger:  Er  ist  jetzt  von  der  Mundsperre  geheilt. 

Abgeordneter  Eldersch:  Gehen  Sie  zur  Mama! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Aber  lassen  Sie  den  Herrn  Grafen 
Mensdorff,  er  hat  plötzlich  eine  politische  Meinung,  es  ist  ja  über- 
raschend, daß  er  sie  hat;  aber  freuen  wir  uns,  daß  er  sie  endlich 
entdeckt  hat.  (Heiterkeit.)  Ich  möchte  wirklich  im  Namen  sämtlicher 
Herren  Grafen,  die  hier  sind,  die  Freunde  der  Wahlreform  bitten 
—  wir  haben  so  selten  Gelegenheit,  ihren  Gefühlsäußerungen  un- 
mittelbar anzuwohnen  — ,  daß  sie  ihnen  keinen  Zwang  auferlegen 
und  sie  ruhig  Zwischenrufe  machen  lassen! 

Abgeordneter  Graf  Sternberg:  Sehr  dankbar! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ich  bitte,  es  ist  gern  geschehen! 

Abgeordneter  Resel:  Das  war  ja  der  Sternberg!  (Heiterkeit.) 

*)  Ein  feudaler  Großgrundbesitzer. 


Die  Schicksalsstunde  Österreichs,  31  > 


Abgeordneter  Dr,  Adler:    Das   habe   ich   dicht   gewußt!    Meine 

Herren!  Wenn  das,  was  ieli  bis  jetzt  über  das  Verhältnis  zwischen 
Sozialdemokratie  und  Staat  gesagt  habe,  im  großen  und  ganzen 
die  Stellung  ist,  die  das  Proletariat  überall,  in  allen  Ländern  ein- 
nimmt, so  hat  hier  in  Österreich  die  Sozialdemokratie  ein  «an/ 
besonderes  Problem  vor  sich,  ganz  besondere  Bedingungen,  unter 
denen  sie  ihr  Werk  vollenden  muß.  Und  wenn  es  anderswo  genügt, 
das  Ziel  des  V  o  1  k  s  s  t  a  a  t  e  s  aufzustellen,  weil  ein  Staat  und  ein 
Volk  da  ist,  so  haben  wir  in  Österreich  das  Problem  zu  lösen  und 
ist  uns  das  Ziel  gestellt,  nicht  dem  Volksstaat  allein,  sondern  dem 
Völkerstaat  zum  Durchbruch  zu  verhelfen.  Wir  sind  uns 
dieser  Aufgabe  bewußt,  wie  der  Aufgabe,  jedem  einzelnen  Volke 
die  nationale,  kulturelle,  ihm  eigentümliche  Entwicklung  zu  sichern, 
dieser  einzigen  nationalen  Aufgabe  widmet  sich  die  Sozialdemo- 
kratie vollständig,  die  erkennt  sie  vollständig  an.  Wir  können  das 
auch  tun.  Denn  wenn  ich  früher  gesagt  habe,  neben  den  gemein- 
samen proletarischen  Interessen  steht  das  nationale  Interesse  des 
Proletariats,  wie  auch  für  die  anderen  Klassen  das  Klasseninteresse 
und  daneben  ihr  nationales  Interesse  steht,  so  ist  doch  in  dem 
Wesen  dieser  Dinge  zwischen  der  Arbeiterschaft  und  dem  Bürger- 
tum ein  sehr  großer  Unterschied.  Das  Proletariat,  das  seinem 
Klasseninteresse  folgt,  kann  überall  zugleich  das  nationale  Interesse 
wahren  und  voll  wahren,  weil  nirgends  das  Klasseninteresse  mit 
dem  nationalen  Interesse  des  Proletariats  in  Widerspruch  steht. 
(Zustimmung.)  Das  Proletariat  anerkennt  das  nationale  Interesse, 
aber  es  anerkennt  kein  nationales  Herrschaftsinteresse*). 

Die  bürgerlichen  Parteien  sind  nicht  in  dieser  angenehmen  Lage. 
Für  die  bürgerlichen  Parteien  steht  ihr  nationales  Interesse  im 
Widerspruch  zu  ihrem  Klasseninteresse.  Sie  wissen  das  sehr  gut, 
und  ich  brauchte  Sie  nur  daran  zu  erinnern,  daß  die  Einwanderung 
der  Slawen  in  deutsche  Gebiete  überall  ein  wesentlich  ökonomischer 
Prozeß  ist,  ein  Prozeß,  der  sich  entwickelt  zusammen  mit  dem 
Kapitalismus,  im  Interesse  der  deutschen  Kapitalisten.  Die  deutschen 
Kapitalisten  sind  gewiß  Deutsche;  sie  haben  ein  nationales  Inter- 
esse, aber  sie  können  diese  Einwanderung  der  Nationsfremden 
nicht  hindern.  Sie  müssen  sie  im  Gegenteil  fördern;  sie  haben  den 
Profit  davon,  sie  werden  reich  davon,  und  ihr  Interesse  als  Unter- 
nehmerklasse widerspricht  aufs  äußerste  ihrem  Interesse  als  Nation 
(Bravo!),  und  wo  nationales  Interesse  und  Klasseninteresse  der 
deutschen  Unternehmer  in  Konflikt  kommen,  dort  siegt  immer  das 
Profitinteresse  der  Unternehmerschaft. 

Ein  solcher  Konflikt  besteht  für  uns  nicht.  Gewiß,  auch  wir  sind 
nicht  frei  von  den  Schwierigkeiten,  die  das  Zusammenleben  ver- 
schiedener Nationen  nebeneinander  eben  mit  sich  bringt:  Ich  bin 
weit  davon  entfernt,  Ihnen  hier  irgendein  Gemälde  vorzumalen, 
das  Sie  mir  ja  nicht  glauben  werden.  Nein,  wir  haben  auch  natio- 
nale  Schwierigkeiten.   Der   Unterschied   zwischen   uns    und   Ihnen 

*)  Siehe  aueh  Bd.  VIII,  Seite  137  (Adlers  Artikel  über  die  Nationali- 
tätenfrage  und   den   Brünner  Parteita«   vom   19.   September   1S99). 


316  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

aber  ist  der,  daß  das  Proletariat  und  die  Sozialdemokratie  diese 
Schwierigkeiten  überwinden,  während  Sie  als  Klasse  daran  zu- 
grunde sehen,  während  Sie  hier  unfähig  geworden  sind  und  hier  in 
diesem  Hause  Ihre  Unfähigkeit  gezeigt  haben,  den  Staat  noch  zu 
lenken,  eben  weil  Sie  diesen  nationalen  Schwierigkeiten  nicht  ge- 
wachsen sind.  Unser  nationales  Interesse  und  unser  Klasseninter- 
esse sind  identisch;  und  ein  Klasseninteresse  ist  es,  daß  die  Lebens- 
haltung der  Arbeiter  steigt,  und  ein  nationales  Interesse  ist  es, 
daß  das  Volk  physisch,  geistig  und  kulturell  sich  entwickelt.  Jedes 
Arbeiterschutzgesetz  ist  ein  nationales  Gesetz,  ist  wichtiger  als  alle 
die  verschiedenen  Schilderstreitigkeiten*)  und  Kleinlichkeiten,  mit 
denen  Sie  hier  einander  behelligen.  Lesen  Sie  das  fürwahr  außer- 
ordentlich instruktive  Werk  von  Rauchberg  über  den  nationalen 
Besitzstand  in  Böhmen,  dieses  umfangreiche,  mit  der  ganzen  Ruhe 
des  Forschers  vorgetragene  Werk,  das  nicht  tendenziös  und,  wenn 
eine  Tendenz  obwaltet,  gewiß  nicht  sozialistisch  ist.  Wie  ein  roter 
Faden  geht  durch  dieses  Buch  der  Gedanke:  Die  Nationalpolitik 
muß  vor  allem  Sozialpolitik  sein.  (Sehr  richtig!)  Das  Interesse  der 
Deutschen  in  Böhmen  hängt  viel  mehr  als  mit  irgendeiner  „natio- 
nalen" Maßregel  damit  zusammen,  die  Kindersterblichkeit  der 
Deutschen  zu  verringern,  die  weit  größer  ist  als  die  Kindersterb- 
lichkeit der  Tschechen.  Das  nationale  Interesse  der  Deutschen,  des 
deutschen  Volkes  —  nicht  der  paar  Unternehmer  und  der  Kurien- 
gesellschaften, sondern  des  deutschen  Volkes  —  hängt  viel  mehr 
zusammen  mit  einer  tüchtigen,  einschneidenden  Gesetzgebung  über 
die  Heimarbeit  als  mit  irgendwelchen  Abgrenzungen**),  die  den 
Streit  hier  bilden. 

Und  so  sehen  Sie  ja  hier  bei  dieser  Wahlreform  wieder,  wie 
—  und  ich  muß  gestehen,  von  allen  Seiten,  nicht  nur  von  den 
Deutschen  allein  —  die  grob-mechanische,  zahlenmäßige  Auffassung 
überwiegt  über  die  sachlich  eindringende  Erkenntnis  sozialer  Dinge. 
Gewiß,  diese  nationalen  Verhältnisse  führen  zu  Machtverhältnissen 
und  sicher  ist,  daß  diese  Wahlreform,  sollte  sie  überhaupt  gemacht 
werden,  nur  gemacht  werden  konnte,  wenn  man  auf  das  gegebene 
Machtverhältnis  zwischen  Deutschen  und  anderen  Völkern  Rück- 
sicht nahm.  Ob  Sie  das  wünschen,  ob  wir  das  wünschen  oder  nicht, 
ist  vollständig  gleichgültig  und  Sie  wissen  ganz  gut,  wenn  man  den 
Weg  gesucht  hätte,  den  einige  von  Ihnen  als  besonders  günstig 
halten,  den  ich  zwar  nicht  fürchte,  aber  nicht  für  wünschenswert 
halte,  wenn  irgendeine  Regierung  eine  Wahlreform  oktroyiert 
hätte,  selbst  wenn  ein  fanatischer  Slawe  sie  oktroyiert  hätte,  so 
hätte  es  unmöglich  eine  Wahlreform  sein  können,  die  mathematisch 
gleiche  Wahlkreise  nach  der  Kopfzahl  macht.  Denn  wenn  die  Wahl- 
reform so  oktroyiert  worden  wäre,  wräre  sie  nicht  lebensfähig  ge- 
wesen,  weil    ein  Haus,    dessen  Vertretung    mit    den    bestehenden 

*)  Die  Streitigkeiten  um  die  Sprache  der  Aufschriften  an  Straßentafeln 
und  Bahnhöfen. 

**)  Abgrenzung    von  Wahlkreisen    in    der  Wahlordnung    als    nationaler 
Besitzstand. 


Die  Schicksalsstunde  Österreichs.  -*17 


Machtverhältnissen  der  Völker  in  einem  solchen  Widerspruch  steht, 
wie  er  dann  hervorgetreten  wäre,  ebenso  funktionsunfähig  hätte 
sein  müssen,  wie  dieses  Haus  wesentlich  darum  funktionsunfähig 
ist,  weil  es  den  bestehenden  Kräfteverhältnissen  der  Völker  und 
Klassen  längst  nicht  mehr  entspricht.  (Zustimmung.)  Wir  sind 
prinzipielle  Politiker,  aber  wir  sind  vor  allein  auch  Politiker,  die 
die  Tatsachen  begreifen,  und  die  sich  nicht  die  Tatsachen  durch 
Phrasen  verhüllen  lassen. 

Ms  ist  doch  ganz  merkwürdig,  für  die  mathematische  Gleichheit 
der  Wahlkreise,  die  theoretisch  möglich,  aber  praktisch,  wie  die 
Dinge  stehen,  eine  Unmöglichkeit  ist,  haben  sich  nur  drei  Stimmen 
gemeldet.  Als  der  Minister  des  Innern  vorgestern  sprach,  war  Herr 
F  r  e  s  1*)  der  erste,  der  sie  verlangte,  ihm  hat  sich  angeschlossen 
Herr  v.  Grabmayr  und  der  dritte  war  Graf  Dzieduszycki. 
Das  sind  die  Schwärmer  für  die  mathematische  Gleichheit.  Ich  habe 
keinen  Grund,  Herrn  Fresl  sehr  zu  lieben  (Heiterkeit),  aber  ich 
nehme  an,  Herr  Fresl  meint  es  ernst.  Herr  v.  Grabmayr  und  Herr 
Graf  Dzieduszycki  wollen  das  gleiche  Wahlrecht  nur,  weil  sie 
überhaupt  keines  wollen.  Sie  stellen  an  das  Wahlrecht  solche  An- 
forderungen, die  es  unmöglich  machen,  ein  Wahlrecht  zu  konstru- 
ieren. Und  es  berührt  doch  sehr  merkwürdig,  wenn  man  selbst  von 
echten  Freunden  der  Wahlreform  einzelne  Stimmen  hört,  die 
zeigen,  daß  sie  diesen  größten  Feinden  der  Wahlreform  auf  den 
Leim  gehen.  Ich  hoffe,  meine  Herren,  daß  die  Ruthenen,  daß  die 
Tschechen,  daß  die  Slovenen  und  daß  die  Polen  sich  durch  die 
Sirenenrufe  dieser  überschlauen  Politiker,  die  die  Wahlreform  ad 
absurdum  führen  wollen,  nicht  werden  täuschen  und  sich  nicht 
werden  verlocken  lassen.  Allerdings,  eines  müssen  wir  sagen:  Es 
ist  schwer,  die  Machtverhältnisse  in  Ziffern  umzusetzen.  Das  ist 
eine  große  Schwierigkeit  und  es  ist  zweifelhaft,  ob  die  Regierung 
da  überall  das  Richtige  getroffen  hat.  Aber  ebenso  töricht,  wie  sich 
an  diese  Ziffern  zu  klammern,  ist  es,  das  Kind  mit  dem  Bad  auszu- 
schütten. Es  hat  sich  ja  hier  ein  Markt  etabliert.  Die  Wahlreform 
ist  gesichert.  Ich  bin  ein  Optimist;  das  gehört  vielleicht  zu  meinem 
Beruf.  (Heiterkeit.)  Ich  glaube,  daß  das  Notwendige  und  Vernünf- 
tige sich  verwirklichen  wird.  Aber,  meine  Herren,  jeder  sucht  nalt 
noch  herauszuschlagen,  was  er  kann.  Wenn  der  Wahlreform  wirk- 
lich nichts  fehlte  als  die  Differenz  an  Mandaten,  die  —  nehmen  wir 
das  Mittelmaß  der  Wünsche  —  von  beiden  Seiten  gefordert  und 
angeboten  werden,  so  wäre  die  Wahlreform  wirklich  ein  ganz  gutes 
Werk.  Ich  habe  meinerseits  mehr  gegen  sie  einzuwenden. 

Ich  habe  es  nicht  notwendig,  zu  den  Slawen  zu  sprechen,  das 
werden  meine  slawischen  Genossen  besorgen;  ich  spreche  zu  den 
Deutschen  und  ich  sage:  Meine  Herren,  überspannen  Sie  Ihre 
Wünsche    nicht,    im   eigensten    nationalen  Interesse!    Daß  Sie   das 

volle,   ich   möchte   sagen,  das  spezifische   Gewicht   der  deutschen 

*)  Wenzel  Fresl,  der  tschechische  Nationalsozialist,  der  Abgeordnete 
der  fünften  Kurie  von  Pilsen,  ein  ehemaliger  Gasarbeiter.  Er  ist  im  Kriege 

gestorben. 


318  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Bevölkerung,  der  heutigen  Macht,  die  Sie  haben,  für  sich  in  An- 
spruch nehmen,  wollen  wir  nicht  hindern.  Aber  überspannen  Sie 
es  nicht,  es  ist  gefährlich;  es  ist  gefährlich  für  Sie  gerade  vom 
nationalen  Standpunkt.  Vergessen  Sie  nicht,  an  dieser  Wahlreform 
hängt  heute  mehr  nationale  Hoffnung,  als  durch  welchen 
Besitzstand  an  Mandaten  immer  ausgedrückt  wird.  Ich  will  zu 
Ihnen  nicht  sprechen  als  zu  Leuten,  von  denen  jeder  sein  Mandat 
aus  dieser  Wahlordnung  herausfischen  will.  Ich  will  diesen  Stand- 
punkt, der  gewiß  nicht  der  erhabenste  ist,  der  vielleicht  hier  vor- 
kommt, nicht  generalisieren.  Aber  ich  glaube,  Sie  befinden  sich  in 
einer  merkwürdigen  Überschätzung  dessen,  was  der  ziffermäßige 
Ausdruck  nationalen  Einflusses  überhaupt  bedeutet,  nicht  nur  Sie 
Deutsche,  sondern  auch  Sie  Slawen!  Auf  2,  3,  auf  5,  6  Mandate 
wollen  Sie  herausrechnen,  wieviel  einer  Nation  gebührt.  Bei  diesen 
Berechnungen  spielen  nun  wir  Sozialdemokraten  eine  merkwürdige 
Rolle,  wir  deutschen  Sozialdemokraten  besonders!  Wenn  man  den 
Bleistift  in  der  Hand  hat,  um  den  jetzigen  deutschen  Besitzstand 
herauszurechnen,  da  sind  wir  deutschen  Sozialdemokraten  gute 
Deutsche,  da  figurieren  wir  unter  den  205  Mandaten  des  deutschen 
Besitzstandes.  Nicht  wahr?  Da  gehören  wir  dazu.  Wenn  Sie  aber 
herausrechnen,  was  Sie  später  haben  werden,  und  Sie  drücken  die 
ein  bißchen  übertriebene,  phantastisch  überspannte,  aber  immerhin 
wahrscheinliche  Möglichkeit  aus,  daß  von  uns  ein  paar  mehr  herein- 
kommen werden  —  dann  rechnen  Sie  die  deutschen  Sozialdemo- 
kraten vom  deutschen  Besitzstand  ab.  Das  geht  nicht.  Entweder 
wir  gehören  zum  deutschen  Besitzstand  oder  nicht.  (Zwischenrufe.) 
So  dürfen  Sie  nicht  rechnen.  Diese  grob  mechanische  Auffassung, 
meine  Herren,  hüben  und  drüben,  ist  eine  falsche,  und  sie  erinnert 
mich  an  das  üoethesche  Wort: 

„Daran  erkenn'  ich  die  gelehrten  Herren! 
Was  ihr  nicht  tastet,  steht  euch  meilenfern. 
Was  ihr  nicht  faßt,  das  fehlt  euch  ganz  und  gar, 
Was  ihr  nicht  rechnet,  glaubt  ihr,  sei  nicht  wahr!" 

Glauben  Sie  denn  wirklich,  das  deutsche  Volk  hat  keinen 
anderen  politischen  Besitz  in  diesem  Lande,  als  den,  der  sich  aus- 
drückt durch  die  Zahl  seiner  Vertreter  hier?  Sie  glauben  wirklich, 
daß  die  Mandatsziffern  hier  über  die  Geschicke  des  deutschen 
Volkes  entscheiden,  während  wir  Ihnen  sagen,  für  die  Geschicke 
des  deutschen  Volkes  entscheidet  vor  allem  die  materielle  und 
kulturelle  Entwicklung  der  breiten  Massen  des  deutschen  Volkes, 
und  für  diese  in  erster  Linie  einzutreten,  diese  zu  sichern,  sind  wir 
deutsche  Sozialdemokraten  hier,  und  wir  werden  sie  schützen  gegen 
jeden,  der  sie  antastet!  (Rufe:  Das  glauben  wir!)  Ja,  wir  sagen  noch 
mehr!  Wir  sagen,  daß  es  die  eigentliche  nationale  Aufgabe  und  das 
Wesen  der  nationalen  Pflichterfüllung  für  jedes  Volk  hier  ist,  daß 
es  seine  nationale  Pflicht  erfüllt,  nicht  durch  die  Herrschaftsgier, 
durch  die  Eroberung  und  die  Sucht  zur  Bedrückung,  sondern  daß 
es  erfüllt  ist  von  dem  Gedanken,  daß  im  letzten  Grunde  alle  Kultur- 
interessen aller  Völker  hier  solidarisch  sind.  (Bravo!  Bravo!)  Nicht 


Die  Schicksals9tunde  Österreichs.  ;|,) 

gegeneinander,  wie  die  wilden  Ratten  des  Oralen  Dzieduszycki, 
können  wir  unser  Volk  erheben!  Im  brüderlichen  Hunde  mltelnanderf 
im  Hunde  selbständiger  Völker  soll  das  neue  Österreich  erstehen! 
(Lebhafter  Beifall  und  Händeklatschen.)  Österreich  war  lange  genug 
der  Zwingvogt  der  Völker!  Österreich  war  lange  genug  nichts 
anderes  als  die  Erbländer  einer  Dynastie!  Meine  Herren!  Wir 
haben  es  satt,  die  Erblander  irgendeiner  Dynastie  zu  spielen.  Die 
Völker  wollen  ihr  eigenes  Erbe  antreten!  Und  das  können  sie  nur, 
wenn  sie  sich  miteinander  verbinden,  das  können  sie  nur,  wenn 
sie  ihr  Recht  in  Anspruch  nehmen.  Und  ihr  Recht  werden 
sie  nur  erlangen,  wenn  sie  auf  das  Unrecht  verzichten.  Auf  natio- 
nales Unrecht  können  sie  nationales  Recht  nicht  gründen!  Aber 
daß  hier  dieses  eine  grundlegende  Unrecht  des  Staates  zu  Grabe 
getragen  wird,  das  ist  der  erste  Anfang,  das  ist  die  Vorbedingung 
dessen,  was  Sie  hier  alle  erflehen  und  wünschen,  die  Vorbedingung 
jenes  nationalen  Friedens,  nach  dem  Sie  sich  die  Hälse  wund 
schreien,  nach  dem  Sie  sich  die  Finger  krumm  schreiben  und  den 
Sie  niemals  anders  erreichen  werden,  als  indem  Sie  zur  Grundlage, 
zum  Pfeiler  des  Staates  machen  nicht  die  alten  Mumien  von  der 
Großgrundbesitzerkurie  und  was  der  alte  Trödel  ist,  nicht  die  alten 
Phantome  vom  Staatsrecht*)  und  dem  alten  Österreich,  was  eines 
so  vergangen  und  so  tot  ist  wie  das  andere,  sondern  indem  Sie  die 
lebendige  Kraft  der  Völker  zur  Grundlage  des  Staates  machen. 
Dann  werden  Sie  die  Nationen  zum  Frieden  führen,  wenn  Sie  den 
Nationen  den  Mund  öffnen  zum  Sprechen,  wenn  Sie  die  Arme  frei- 
machen zur  gemeinsamen  Arbeit,  wenn  Sie  sie  entlasten  von  dem 
Joche,  das  auf  uns  liegt  und  das  uns  erdrückt  und  erdrosselt.  (Lebhafter 
Beifall  und  Händeklatschen.)  Und  ich  zweifle  nicht  daran,  meine 
Herren,  daß  es  geschehen  wird.  Diese  Wahlreform  ist  ja  kein  Ideal, 
aber  sie  ist  das,  was  heute  möglich  ist  mit  den  paar  durch  den  Handel 
zu  erreichenden  Änderungen,  die  ich  ruhig  Ihnen  überlassen  kann. 
Wir  beteiligen  uns  an  dem  Handel  nicht,  obwohl  wir  sehr  schlecht 
dabei  gefahren  sind.  Haben  Sie  schon  eine  Rede  über  das  Wahl- 
recht hier  gehört,  wo  von  der  Wahlkreiseinteilung  nicht  die  Rede 
war?  Die  sozialdemokratische  Rede  ist  die  erste.  Damit  Sie  aber 
doch  nicht  meinen,  daß  wir  nicht  empfinden,  was  geschehen  ist. 
so  will  ich  sagen,  daß  wir  sehr  genau  wissen,  daß  Sie  alle,  Deutsche 
und  Tschechen,  Polen  und  Ruthenen,  Bürgerliche,  Liberale,  Natio- 
nale, Christlichsoziale,  insbesondere  Christlichsoziale,  alle  Ihre 
Wahlkreiseinteilungen  gemacht  haben  gegen  das  Proletariat,  auf 
unserem  Rücken;  aus  unserem  Leibe  herausgeschnitten  haben  Sie 
Ihre  gesicherten  Mandate.  Meine  Herren,  Sie  haben  sich  dabei 
nicht  immer  sehr  nobel  benommen,  Sie  haben  sich  mitunter  recht 
unbescheiden  benommen.  Und  was  meine  Nachbarn**)  hier  anlangt, 
so  muß  ich  schon  sagen,  was  sie  geleistet  haben  mit  der  Einteilung 

*)  Das  böhmische  Staatsrecht,  das  die  Tschechen  verlangten,  im  Gegen- 
satz zu   dem   zentralistischen   Österreich  der  Deutschen. 

'*)  So  erhielt  der  erste  Wiener  Bezirk,  die  Innere  Stadt,  obwohl  er  nur 
50.000  Hinwolmer  hatte,  vier  Mandate.  -  Die  Nachbarn  sind  die  Christlich- 
sozial  eri. 


320  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

von  Wien,  das  ist  ein  Meisterstück,  nicht  an  politischer  Klugheit, 
sondern  ein  Meisterstück,  meine  Herren,  an  Unbescheidenheit,  die 
sich  stark  weiß  für  den  Moment,  aber  kein  Meisterstück  für  den 
Verlauf  in  der  Zukunft.  Meine  Herren,  wenn  Sie  auf  den  Dingen 
beharren,  die  Sie  heute  machen,  so  werden  Sie  das  bitter  büßen.  Sie 
müßten  ja  nicht  so  kurzsichtige  Politiker  sein.  Glauben  Sie  wirklich, 
Sie  leben  nur  von  heute  auf  morgen,  daß  Sie  zusammenraffen 
müssen,  so  schnell,  so  lange  es  Tag  ist?  Wir  denken  nicht  so,  wir 
lassen  Sie  raffen;  wir  widersetzen  uns,  wenn  wir  können,  aber  wir 
machen  das  Schicksal  der  Vorlage  nicht  davon  abhängig;  denn  wir 
wissen,  mag  Ihnen  der  Moment  gehören,  die  Zukunft  gehört  uns. 
Sie  können  mit  Ihrer  Wahlgeometrie  die  Arbeiter  aus  einem  Wahl- 
bezirk hinausschieben  und  das  eine  Ihrer  Mandate  ist  glücklich  von 
ihnen  befreit;  aber  der  Nachbar  hat  sie  dann  unfehlbar.  (Heiterkeit.) 
Sie  können  die  Arbeiter  aus  der  Welt  nicht  hinausdividieren. 

Und  wenn  Sie  nach  niederösterreichischem  und  auch  nach  nord- 
böhmischem Muster  um  die  proletarischen  Bezirke  eine  Art  Pest- 
kordon gezogen  haben,  einen  Pestkordon,  der  hindern  soll,  daß  wir 
in  Bezirke  eingreifen,  die  zu  Ihrem  Klassenbesitzstand,  zu  Ihrem 
Parteienbesitzstand  gehören  — ■  um  den  besteht  ja  auch  ein  Streit, 
nicht  wahr?  —  und  zwar  ein  Streit,  der  heute  schon  stärker  ist, 
als  der  um  den  nationalen  Besitzstand  —  wenn  Sie  einen  solchen 
Kordon  gezogen  haben,  so  halten  wir  es  aus.  Denn  der  Kordon  wird 
durchbrochen  werden,  nicht  vielleicht  durch  den  Wahlreformaus- 
schuß —  da  sind  wir  zu  schwach*)  — ,  aber  er  wird  durchbrochen 
werden  durch  die  wirtschaftliche  Entwicklung,  die  die  Zukunft 
Österreichs,  jeden  Fortschritt  der  Kultur  an  die  Vermehrung  des 
Proletariats  knüpft,  an  die  Vermehrung  seines  politischen  Ein- 
flusses. Und  wenn  die  Gegenwart  uns  nicht  günstig  ist,  um  die 
Zukunft  ist  uns  nicht  bange. 

Wir  können  aber,  meine  Herren,  keinen  Tag  länger 
warten,  wir  können  keine  Stunde  länger  warten,  sage  ich  Ihnen, 
daß  das  Wahlrecht  ein  gleiches  werde.  Schlagen  Sie  sich  den  Ge- 
danken, wenn  er  noch  in  einem  vernagelten  Hirn  hier  stecken  sollte, 
schlagen  Sie  sich  den  Gedanken  aus  dem  Kopfe,  daß  es  möglich 
wäre,  Wahlen  zu  machen  mit  dieser  Wahlordnung,  die  jetzt  besteht. 
Von  diesem  Hause  können  Sie  Abschied  nehmen. 

Das  sagen  wir  Ihnen  nicht,  wie  der  Herr  v.  Grabmayr  gemeint 
hat,  als  eine  Drohung.  Es  fällt  mir  nicht  ein,  zu  drohen,  es  wäre 
auch  lächerlich.  Sie  wissen,  daß,  so  sehr  wir  „Regierungspartei" 
sind,  der  Herr  v.  Gautsch  mir  wahrscheinlich  nicht  seine  Kanonen 
zur  Verfügung  stellen  wird.  (Heiterkeit.)  So  weit  sind  wir  noch 
nicht  —  leider!  (Neuerliche  Heiterkeit.)  Also  ich  habe  hier  gar 
nichts  zu  drohen.  Meine  Herren!  Sie  sind  nicht  bedroht  von  den 
Sozialdemokraten  und  die  roten  Fahnen,  die  Sie  da  am  Ring  ge- 
sehen haben,  waren  ein  imponierender  Anblick,  der  Ihnen  vielleicht 

*)  Unter  den  49  Mitgliedern  des  Wahlreformausschusses  war  Adler  der 
einzige  Sozialdemokrat,  der  in  den  63  Sitzungen  des  Ausschusses  den 
Kampf  allein  zu  führen  hatte. 


Die  Schicksalsstunde  Österreichs.  321 


zu  denken  geben  sollte,  aber  er  hat  keinen  von  Ihnen  ein- 
geschüchtert -  Sie  glauben  das  nicht,  Sie  sagen  es  ja  nur!  Nein: 
Sic  sind  bedroht  von  der  Unmöglichkeit  für  Österreich,  mit  diesem 
Hause  weiter  zu  bestellen! 

Wir  stehen  mitten  in  einer  Krise,  in  einer  Krise,  von  der  man 
in  diesem  Hause  nicht  spricht,  in  einer  Krise,  wo  es  sich  um  den 
Staat  handelt.  Nicht  um  irgendeinen  Übergang,  sondern  um  die 
Begründung  eines  Staates  handelt  es  sich,  und  wir  müssen  endlich 
darangehen,  wenn  wir  nicht  ersticken  wollen  in  dem  Sumpfe,  uns 
einen  Staat  zu  schaffen.  Das  kann  dieses  Haus  nicht.  Mögen  Sie 
aber  diese  schmachvolle  Geduld  vielleicht  haben;  mögen  Sie 
vielleicht  es  noch  länger  in  diesem  unerträglichen  Zustand  aus- 
halten; das  Proletariat  hat  keine  Lust,  es  auszuhalten,  und  das 
kann  ich  Ihnen  ohne  alle  Drohung  sagen :  Ohne  den  härtesten 
Kampf,  der  bis  ans  Leben  geht,  werden  Sie  dieses  Haus  in  dieser 
Gestalt  nicht  mehr  beisammensehen!  Das  ist  keine  Drohung  an 
Leib  und  Leben  für  Sie,  meine  Herren,  es  passiert  Ihnen  gar  nichts 
persönlich!  Sie  werden  nicht  mit  Blut  bedeckt,  aber  mit  Schande 
und  mit  Schmach  bedeckt  aus  diesem  Kamp!  gehen,  wenn  es  dazu 
kommen  sollte! 

Aber  ich  bin  überzeugt,  es  wird  nicht  mehr  dazu  kommen,  ich 
bin  überzeugt,  daß  der  Gedanke  der  Wahlreform  gesiegt  hat,  weil 
er  unüberwindlich  ist,  und  daß  die  Herren,  die  hier  dagegen 
sprechen,  und  die,  welche  gewissenlos  hinter  den  Türen  und  in  den 
Couloirs  intrigieren,  um  ihren  Lohn  kommen  werden.  Mögen  sie 
machen,  was  sie  wollen!  Mögen  sie  durch  die  kleinlichsten  und 
schmutzigsten  Mittel  der  großen  Sache  des  Volkes  Prügel  in  den 
Weg  legen  wollen  —  die  Sache  ist  gerettet  und  hat  gesiegt,  sage 
ich,  weil  ich  nicht  daran  glauben  kann,  daß  die  Masse  dieses  Hauses 
von  der  Einsicht  so  verlassen  ist,  so  bar  ist  jedes  Gewissens,  um 
noch  einmal  mit  diesem  unfähigen  Parlament  einen  Versuch  zu 
machen. 

Herr  v.  Grabmayr  hat  seine  Rede  mit  einem  tönenden  Aufruf 
geschlossen  —  ich  richte  auch  einen  Appell  an  Sie.  Er  hat  Sie  auf- 
gefordert, nachzudenken,  und  hat  an  Ihre  staatsmännischen  Instinkte 
appelliert.  Ich  fordere  Sie  ohne  Unterschied  der  Parteien,  ohne 
Unterschied  der  Nation  auf,  in  Ihr  Gewissen  zu  gehen;  ich  fordere 
Sie  auf,  mit  sich  selbst  einig  zu  werden  und  sich  zu  fragen,  ob 
Sie  es  verantworten  können  vor  dem  Volke,  das  Sie  vielleicht  in 
Worten  geringschätzen  mögen,  dessen  steigende  Macht,  dessen 
Würde  aber  Ihnen  schließlich  imponieren  muß  und  vor  dem  Sie 
verantwortlich  sein  werden,  ob  Sie  es  verantworten  können  vor 
dem  Staate,  dessen  Unfähigkeit  zu  existieren  Ihnen  allen  klar  ist, 
ob  Sie  es  verantworten  können  vor  Ihren  Klasseninteressen,  diesen 
Zustand  des  Parlaments,  diesen  Zustand  des  Staates  weiter  bestehen 
zu  lassen.  Die  Einsicht  haben  viele  von  Ihnen.  Wir  Sozialdemo- 
kraten, die  Arbeiterschaft  hat  nur  eines  vor  Ihnen  voraus  —  nicht 
die  Einsicht,  die  Sie  teilen  — ,  sondern  den  Mut  und  die  Ent- 
schlossenheit,   um    des    politischen   Lebens,    um    der    politischen 

Adler,  Briefe.  X.  Bd.  21 


322  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


Lebensmöglichkeit  willen  alles  an  die  Sache  des  Volkes  zu  setzen. 

(Beifall.) 

Nehmen  Sie  das  so,  wie  es  ist  —  nicht  als  ein  Rühmen,  sondern 
als  eine  Prophezeiung.  Und  wenn  der  verehrte  Herr  aus  Tirol  ge- 
schlossen hat  mit  den  Worten:  „Tot  ist  die  Vorlage  Gautsch'",  so 
sage  ich  Ihnen:  Jene,  die  man  zu  früh  totsagt,  leben  oft  am 
längsten.  (Heiterkeit.)  Ich  sehe  hier  nur  einen  Toten  —  der  ist  aber 
mausetot:  Tot  ist  das  Privilegienparlament  (Beifall),  tot  sind  die 
Kurien,  tot  sind  alle  die  Lügen  und  Flausen,  die  sich  hinter  diesen 
Dingen  verstecken,  tot  ist  das  Unrecht,  das  die  Völker  geknebelt 
hat  —  und  es  fängt  an  zu  leben  das  heilige  Recht  der  Völker.  (Leb- 
hafter Beifall  und  Händeklatschen.) 

Die  Wahlreformfeinde  und  die  Arbeiter- 
schaft. 

Versammlung  am  2.  April  190 6*). 

Sie  alle  haben  so  viel  politische  Einsicht  und  kennen  unser 
Österreich  so  gut,  daß  sich  wohl  keiner  von  Ihnen  eingebildet  haben 
wird,  man  könne  die  Wahlreform  so  leicht  bei  uns  durchbringen. 

*)  Am  27.  März  wurde  die  Wahl  des  49gliedrigen  Wahlreform- 
ausschusses vorgenommen,  dem  die  Vorlage  zugewiesen  wurde.  Aber 
damit  war  die  Vorlage  noch  lange  nicht  gesichert. 

Die  Gegner  der  Wahlreform  hatten  es  aufgegeben,  ihr  in  offener  Feld- 
schlacht entgegenzutreten.  Sie  wußten,  daß  hinter  der  Vorlage  der  Re- 
gierung das  Volk  stehe,  und  sie  wagten  es  nicht,  beide,  Regierung  und 
Volk,  durch  offenen  Widerstand  zu  reizen.  Nur  aus  dem  Hinterhalt  noch 
suchten  sie  jetzt  die  Wahlreform  zu  meucheln,  mit  Winkelzügen  und 
Intrigen  sie  umzubringen.  Es  war  interessant,  wie  sie  sich  in  der  ersten 
Lesung  der  Vorlage,  die  nun  doch  nahezu  drei  Wochen  gedauert  hatte, 
abmühten,  ihre  Liebe  zum  Volk  —  denn  das  Volk  liebten  sie  ja  alle  — 
mit  ihrer  Feindschaft  gegen  die  Gautsch'sche  Vorlage  in  Einklang  zu 
bringen;  wie  sie  Argumente  suchten,  um  bei  aller  Anerkennung  des 
Prinzips  des  allgemeinen,  gleichen  Wahlrechtes  die  Unannehmbarkeit 
gerade  der  vorliegenden  Reform  oder  zumindest  die  Verwerflichkeit 
dieser  Regierung  nachzuweisen.  Von  der  Sozialdemokratie  wurde  da  nicht 
viel  Böses  gesprochen.  Die  verstocktesten  Reaktionäre  überboten  einander 
geradezu  in  Komplimenten  für  die  Arbeiterschaft,  die  gewiß  das  Wahlrecht 
verdiene,  und  für  die  Sozialdemokraten,  die  so  vernünftige,  ernste,  ge- 
bildete, tüchtige  Männer  seien.  Höchstens,  daß  einer  oder  der  andere 
Redner  den  Sozialdemokraten  vorwarf,  sie  seien  jetzt  „Regierungspartei", 
„k.  k."  (kaiserlich-königlich)  geworden,  weil  sie  die  Regierung  unter- 
stützen, was  sich  doch  eigentlich  für  eine  revolutionäre  Partei  nicht 
schicke.  Dieselben  Redner  warfen  natürlich  auch  wieder  der  Regierung 
vor,  daß  sie  „dem  Diktat  der  Straße"  nachgebe  und  sich  mit  einer 
revolutionären  Partei  verbünde.  Im  übrigen  begnügten  sich  die  Redner, 
ihre  Freundschaft  für  die  Wahlreform  zu  beteuern,  während  sie  dabei 
ihre  Minen  gegen  sie  explodieren  ließen. 

Das  beliebteste  Argument  gegen  die  Gautsch'sche  Reform  waren  nach 
wie  vor  die  nationalen  Interessen  der  Deutschen.  Wenn  jemand,  der  die: 


Die  Wahlreformfeinde  und  die  Arbeiterschaft. 


Es  rrrußte  jedem  klar  sein,  daß  auch  nach  dein  28.  November  und 
auch  nach  dem  23.  Februar,  auch  wenn  das  gesamte  Volk  in  einer 
mächtigen  Erhebung  für  die  Wahlreform  eingetreten  ist,  auch  wenn 

Verhältnisse  nicht  kannte,  die  Debatte  verfolgte,  so  mußte  er  nicht  nur 

glauben,  daß  die  Existenz  der  nenn  Millionen  Deutschen  in  Österreich  ge- 
fährdet sei,  sondern  er  mußte  auch  erstaunt  sein,  wie  energische  Ver- 
treter das  deutsche  Volk  gerade  in  den  privilegierten  Ständen  der  Groß- 
grundbesitzer adeliger  und  bürgerlicher  Herkunft  hatte.  Diese  Leute,  die 
das  deutsche  Volk  in  Österreich,  so  oft  es  auch  von  feindlichen  Rcgieriin- 
gen  unterdrückt  war,  immer  für  Sektionschefsstellen  und  Ministerporte- 
fcnilles  verkauft  und  verraten  hatten,  die  an  der  Obstruktion  gegen  die 
Badenischen  Sprachenverordnungen  sich  höchstens  durch  lendenlahme 
Erklärungen  beteiligten,  sie  waren  jetzt  auf  einmal  die  wütendsten 
Deutschnationalen,  und  sie  stellten  sich,  als  ob  sie  bei  der  Wahlreform  der 
Regierung  Gautsch  nur  eine  Sorge  hätten:  das  deutsche  Volk  vor  der 
slawischen  Majorität  zu  schützen.  Die  Sache  war  nämlich  so,  daß  auch 
jetzt  die  Deutschen  205  von  425  Mandaten  hatten,  von  denen  aber 
mindestens  zehn  national  gefährdet  waren  und  in  kurzer  Zeit  sicher  ver- 
loren gehen  mußten.  Durch  die  Wahlrechtsvorlage  wurden  aber  —  von 
455  Wahlkreisen  —  205  rein  deutsche  geschaffen,  die  nie  verloren  gehen 
konnten.  Zu  bedenken  war  dabei,  daß  die  Deutschen  nicht  viel  mehr  als 
ein  Drittel  der  österreichischen  Bevölkerung  bildeten,  daß  also  die  Deut- 
schen durch  die  Wahlordnung  auch  in  Zukunft  begünstigt  werden  sollten, 
aber  das  genügte  den  Herren,  die  jetzt  urplötzlich  ihre  nationale  Gesinnung 
entdeckt  hatten,  nicht  und  sie  verlangten,  daß  das  Verhältnis  der  deutschen 
Mandate  zu  den  anderen  gleichbleibe,  daß  Deutsche,  Italiener  und  Rumänen 
zusammen  mehr  Mandate  erhalten  als  die  Slawen.  Das  ganze  deutsche 
Bürgertum  sollte  mit  dem  Gespenst  der  slawischen  Majorität  geschreckt 
werden.  Um  die  ganze  Komik,  zugleich  aber  auch  die  ganze  Perfidie  dieses 
Argumentes  zu  begreifen,  muß  man  nicht  nur  wissen,  daß  die  „deutsch- 
romanische"  Majorität  jetzt  im  ganzen  29  Stimmen  zählte  und  die 
„slawische  Majorität"  nach  der  Vorlage  fünf  Stimmen  zählen  sollte,  sondern 
auch,  daß,  seitdem  das  Parlament  bestand,  die  deutsch-romanische 
Majorität  n  i  e  zusammen  stimmte,  ja  daß  sogar  seit  nahezu  zehn  Jahren 
bittere  Feindschaft  zwischen  Italienern  und  Deutschen  bestand,  und  daß 
gerade  durch  die  Wahlreform,  die  etwa  30  polenfeindliche  Ruthenen 
ins  Haus  bringen  mußte,  jeder  Versuch  einer  slawischen  Majorität 
geradezu  von  vornherein  vereitelt  war. 

Das  hinderte  aber  nicht,  daß  dieses  Argument  bei  denen,  die  die  Wahl- 
reform nicht  wollten,  noch  immer  zog.  Gleich  der  erste  Redner,  Dr.  G  r  a  b- 
m  a  y  r,  kam  mit  diesem  Argument.  Noch  plumper  war  die  Intrige  des 
nächsten  Großgründlers  Dr.  Baernreither,  des  Handelsministers  im 
deutschfeindlichen  Ministerium  Thun.  Auch  er  beschäftigte  sich  vornehmlich 
mit  der  nationalen  Gefahr  und  warnte  davor,  daß  man  dieses  Parlament, 
das  schon  in  seinen  letzten  Zuckungen  liege,  über  die  Wahlreform  ent- 
scheiden lasse.  Man  solle  eine  Konstituante  einberufen,  die  die  Wahlreform 
machen  solle.  Auf  die  Frage,  auf  Grund  welchen  Wahlrechtes  diese  Konsti- 
tuante gewählt  werden  solle,  blieb  er  die  Antwort  schuldig.  So  kam  dann 
der  dritte  deutsche  Großgrundbesitzer,  Graf  S  t  ü  r  g  k  h,  mit  gröberem  Ge- 
schütz. Fr  prophezeite,  daß  die  künftige  slawische  Majorität  eine  Gefahr 
für  das  Bündnis  mit  Deutschland  sei  und  er  appellierte  an  den  Minister  des 
Auswärtigen,  Grafen  Goluchowski,  zu  erklären,  ob  er  den  Kaiser  auf 
diese  Gefahr  aufmerksam  gemacht  habe.  Nun  war  der  Minister  des  Aus- 
wärtigen ein  beiden  Staaten,  Österreich  und  Ungarn,  gemeinsamer  Minister, 

21* 


324  Der  Sieg  des  gleiches  Wahlrechts. 

die  Regierung  sich  selbst  zur  Wahlreform  bekannt  hat,  noch  immer 
gewaltige  Widerstände  zu  überwinden  sein  werden.  Der  wäre  ein 
Phantast,  der  sich  einbilden  würde,  daß  sich  die  Nutznießer  dieses 
Unrechts,  die  Schmarotzer  des  Unrechts  so  einfach  zurückziehen 
würden.  Wer  sich  auf  die  Einsicht  der  Privilegierten,  auf  die  Vater- 
landsliebe derer,  die  den  Patriotismus  gepachtet  haben,  verlassen 
hätte,  der  würde  seine  Rechnung  falsch  gestellt  haben.  Wir  haben 
nun  eine  lange  Debatte  im  Abgeordnetenhaus  erlebt,  auf  die  sich 
unsere  Politiker  sehr  viel  eingebildet  haben.  Man  hat  da  sehr 
gründlich  die  Frage  erörtert,  ob  die  Massen  des  Volkes  geeignet 
seien,  Abgeordnete  aus  eigenem  zu  wählen.  Man  hat  sich  den  Kopf 
zerbrochen,  ob  ein  wirkliches  Volkshaus  gut,  ob  es  zweckmäßig 
und  nützlich  sei.  Ich  würde  wünschen,  daß  die  Massen  des  Volkes 
einmal  selbst  diese  Debatte  angehört  hätten,  damit  sie  selbst  das 

der  dem  österreichischen  Parlament  nicht  verantwortlich  war  und  in  die 
österreichischen  Angelegenheiten  auch  nichts  dreinzureden  hatte.  Graf 
Stürgkh  erntete  also  mit  seinem  Appell  nicht  nur  die  Entrüstung  der  ganzen 
Öffentlichkeit,  die  darin  eine  Aufforderung  zu  gemeinen  Intrigen  sah,  sondern 
auch  eine  Erklärung  im  offiziösen  „Fremdenblatt",  daß  alle  Gerüchte,  als 
ob  Graf  Goluchowski  gegen  die  Wahlreform  intrigiere,  falsch  seien. 

So  ließ  jeder  seine  Minen  springen.  Die  Wahlreformfreunde  waren  aller- 
dings auch  nicht  müde,  und  durch  einige  große  Reden  —  genannt  seien  vor 
allem  die  der  Sozialdemokraten  Adler  und  Daszynski,  des  Deutsch- 
fortschrittlichen Dr.  L  e  c  h  e  r,  des  Deutschvölkischen  Dr.  B  e  u  e  r  1  e,  des 
Christlichsozialen  Dr.  Weiskirchner,  des  Klerikalen  Dr.  Ebenhoch 
und  der  Jungtschechen  Dr.  Kramarsch  und  Dr.  Stransky  —  wurde 
das  Intrigennetz  der  koalierten  Wahlrechtsfeinde  zerrissen.  Der  Minister- 
präsident Baron  G  a  u  t  s  c  h  hielt  eine  tapfere  Rede,  in  der  er  mit  den 
Gegnern  seiner  Reform  abrechnete.  (Die  Rede  Adlers  folgt  später.) 

Aber  diese  hatten  ihre  Versuche  noch  lange  nicht  aufgegeben  und  am 
29.  März  war  die  erste  Mine  geplatzt.  Der  Kampf  richtete  sich  vornehmlich 
gegen  den  Ministerpräsidenten,  durch  dessen  Sturz  man  die  Wahlreform 
umbringen  wollte.  Diesmal  schickte  man  die  Alldeutschen  voraus,  die  eine  alte 
Forderung  aller  deutschnationalen  Parteien  plötzlich  auf  die  Tagesordnung 
brachten:  die  Sonderstellung  Galiziens.  Damit  hatte  es  folgende 
Bewandtnis:  Ehemals  verlangte  der  polnische  Adel,  die  Schlachta,  daß 
Galizien  eine  besondere  Stellung  innerhalb  des  Staates  erhalte,  entweder 
dieselbe  wie  Ungarn,  also  völlige  staatsrechtliche  Selbständigkeit  (mit  Aus- 
nahme der  militärischen  und  der  auswärtigen  Fragen)  oder  doch  die 
Stellung,  die  Kroatien  in  Ungarn  hatte:  Selbständigkeit  in  seinen  eigenen 
Landesangelegenheiten  und  Beschickung  des  Reichsrates  durch  galizische 
Delegierte,  die  bloß  in  den  das  ganze  Staatsgebiet  betreffenden  Angelegen- 
heiten mitstimmen  sollten.  Auch  die  deutschen  nationalen  Parteien  hatten 
diese  Forderung  in  ihren  Programmen,  da  sie  durch  Ausscheidung  der  sechs 
Millionen  Polen  und  Ruthenen  die  Vorherrschaft  der  Deutschen  im  übrigen 
Österreich  zu  sichern  hofften.  Durch  nahezu  30  Jahre  hatten  aber  sowohl 
Deutsche  als  Polen  diese  staatsrechtliche  Spielerei  —  denn  es  war  nicht 
mehr  —  ruhen  lassen.  Erst  jetzt  holte  man  das  Spielzeug  wieder  hervor, 
um  es  der  Wahlreform  als  Prügel  vor  die  Beine  zu  werfen.  Die  Alldeutschen 
brachten  einen  Dringlichkeitsantrag  ein,  durch  den  die  Regierung  auf- 
gefordert wurde,  einen  Gesetzentwurf  über  die  Sonderstellung  Galiziens 
vorzulegen.  Alle  Gegner  der  Wahlreform  —  Alldeutsche,  Polenklub,  Groß- 
grundbesitzer  —   stimmten    dafür,   leider   konnte    sich   auch   die  Deutsche 


Die  Wahlreformfelnde  und  die  Arbeiterschaft.  325 


Won  ergriffen  und  eleu  Herren  Ins  Gesicht  gerufen  hatten:  „Was 
bilden  Sie  sieh  denn  eigentlich  ein?  Wer  sind  Sie  denn,  daß  Sie 
darüber  beraten  dürfen,  ob  man  das  Volk  aus  Ihrer  verdammten 
Vormundschaft  entlassen  darf?  Daß  Sie  sich  anstellen,  als  wären 
Sie  die  bestellten  Kuratoren  des  Volkes,  das  nicht  die  Fähigkeit  hat, 
seine  Angelegenheiten  selbst  zu  regieren?"  Nun  steht  die  Präge 
wirklich  schon  lange  nicht  so,  ob  das  Volk  fähig  ist,  ein  Volks- 
parlament zu  schaffen,  und  ob  dieses  Volksparlament  fällig  sein 
wird,  Österreich  in  Ordnung  zu  bringen.  Diese  Frage  kann  nur 
stellen,  wer  ein  Knriengehirn  hat,  ein  Gehirn,  in  dem  eine  gesunde 
Anschauung  vom  Rechte  des  Volkes  überhaupt  nicht  mehr  Platz 
hat.  Diese  Frage  steht  gerade  umgekehrt:  Ist 
dieses  Parlament  fähig,  auch  nur  einen  Tag 
länger  die  Geschicke  Österreichs  in  der  Hand  zu 


Volkspartei,  die  sich  im  übrigen  unter  der  Führung  des  Abgeordneten 
Dr.  C  h  i  a  r  i  zur  Wahlreform  bekehrt  hatte,  von  dern  nationalen  Schlagwort 
nicht  losmachen  und  der  größte  Teil  der  Partei  stimmte  dafür.  So  fand  die 
Dringlichkeit  eine  Majorität  von  6  Stimmen  (153  gegen  147);  da  aber,  um 
einen  Antrag  im  dringlichen  Wege  auf  die  Tagesordnung  zu  bringen,  eine 
Zweidrittelmehrheit  erforderlich  war,  war  der  Antrag,  der  der  Regierung 
bald  gefährlich  geworden  wäre,  wenn  nicht  die  demokratischen  Elemente 
des  Polenklubs  sich  der  Abstimmung  enthalten  hätten,  beiseite  geschoben. 

In  zahlreichen  Massenversammlungen  nahm  die  Arbeiterschaft  zu  diesen 
Intrigen  der  Wahlreformfeinde  Stellung.  Am  2.  April  sprach  Dr.  Adler  in 
einer  Massenversammlung  beim  Stalehner  in  Hernals. 

Vielleicht  ist  hier  auch  der  Ort,  eine  Art  Bilanz  der  Wahlrechts- 
bewegung anzufügen.  Die  Maifestschrift  der  tschechischen  Sozialdemo- 
kratie, die  am  1.  April  1906  herauskam,  brachte  folgende  vorläufige  Bilanz 
der  Persekutionen  in  Böhmen  und  Mähren: 

3  Personen  wurden  erschossen,  und  zwar  1  in  Prag,  2  in  Austerlitz. 

Die  Zahl  der  Verwundeten  ist  nicht  bekannt,  es  sind  mehrere  Hundert. 

An  600  Personen  wurden  verhaftet  und  kürzere  oder  längere  Zeit  in  den 
Polizeiarresten  und  Gerichtszellen  herumgeschleppt. 

Die  Verhafteten  und  Angeklagten  saßen  annähernd  20  Jahre  in  Unter- 
suchungshaft. 

Mehr  als  hundert  Personen  wurden  polizeilich  abgestraft. 

Vier  Schwurgerichtsprozesse  wegen  Hochverrats  und  Aufwiege- 
lung wurden  bereits  durchgeführt,  und  zwar  zwei  in  Prag,  einer  in  Jung- 
bunzlau  und  einer  in  Königgrätz. 

Mehr  als  zweihundert  Personen  wurden  von  den  Gerichten  in  erster 
Instanz  zu  51  Jahren  Kerker  oder  Gefängnis  verurteilt,  und  die  Strafe  wurde 
durch  die  zweiten  Instanzen  noch  um  7  Jahre  erhöht,  so  daß  insgesamt 
58  Jahre  Kerker  oder  Gefängnis  verhängt  wurden.  In  Prag  wurden  60  Per- 
sonen zu  12  Jahren,  in  Brüx  45  zu  20  Jahren,  in  Brunn  und  Ohnütz  110  Per- 
sonen zu  26  Jahren  verurteilt.  Dabei  waren  aber  die  von  den  ländlichen 
Bezirksgerichten  verhängten  Strafen  sowie  die  Prozesse  nach  dem  15.  März 
nieht  berücksichtigt. 

Arn  21.  April  wurden  noch  vom  Landesgericht  in  Brunn  21  Arbeiter  aus 
Switawka  abgeurteilt,  die  am  27.  und  28.  November  in  der  Tuchfabrik  Löw- 
Beer  in  Switawka  die  Einstellung  der  Arbeit  zur  Wahlrechtsdemonstration 
gefordert  hatten.  Sie  waren  wegen  boshafter  Sachbeschädigung  (Fenster- 
einwerfen), Erpressung  und  Auflauf  angeklagt;  zehn  wurden  freigesprochen., 
elf  zu   einem  bis  vier  Monaten  Kerker  verurteilt. 


326  Der  Sie«  des  gleichen  Wahlrechts. 

behalten?  Und  wenn  es  eines  Beweises  bedurft  hätte,  daß 
dieses  Parlament  dazu  längst  unfähig  geworden  ist,  so  hat  ihn 
gerade  diese  Debatte  glänzend  erbracht.  (Lebhafter  Beifall.) 

Wenn  es  eine  prinzipielle  Abstimmung  gegeben  hätte,  ob  das 
allgemeine  Wahlrecht  eingeführt  werden  sollte,  so  hätten  wir  wohl 
eine  riesige  Majorität  dafür  erhalten.  Denn  „im  Prinzip",  solange 
es  nichts  kostet,  sind  sie  alle  dafür.  Jeder  beginnt  seine  Rede  mit 
einer  Verbeugung  vor  dem  Prinzip.  Wenn  aber  das  erledigt  ist, 
dann  kommen  die  Einwände,  die  Bedenken,  die  Gescheitheiten.  Sie 
haben  keine  Ahnung,  wie  gescheit  diese  Menschen  sind.  (Heiter- 
keit.) So  gescheit,  daß  der  verbohrteste  Blödsinn  die  reine  Ver- 
nunft dagegen  ist.  (Heiterkeit  und  Beifall.)  Es  handelt  sich  jetzt 
gar  nicht  um  das  Prinzip.  Wer  politisch  denkt  und  wer  ehrlich  ist, 
für  den  handelt  es  sich  um  diese  Wahlreform,  die  jetzt  vorliegt. 
Der  etwas  anderes  sagt,  der  ist  ein  Schwindler.  Wir  wissen,  unter 
welchen  Schmerzen  diese  Wahlreform  geboren  wurde,  und  wer 
jetzt  von  einer  anderen  Wahlreform  oder  von  Prinzipien  spricht, 
ist  ein  politischer  Narr  oder  ein  Verräter  an  der  Wahlreform.  (Leb- 
hafter Beifall.)  An  der  Spitze  aller  Einwände  stehen  die  nationalen 
Bedenken.  Es  wäre  uns  ja  auch  lieber,  wenn  es  in  Österreich  nur 
eine  Nation  gäbe.  Aber  das  ist  eben  nicht  der  Fall.  Es  wäre  viel- 
leicht schöner,  wenn  die  Polen,  Tschechen,  Slovenen  Deutsche 
wären.  Aber  sie  sind  es  nicht.  Der  Anfang  aller  Logik  ist,  daß  man 
die  Tatsachen  nimmt,  wie  sie  sind.  Ich  habe  in  meiner  ersten  Rede 
im  Parlament  gesagt,  daß  wir  Sozialdemokraten  auf  dem  grund- 
sätzlichen Standpunkt  stehen,  daß  das  Recht  überall,  im  Osten  wie 
im  Westen,  gleich  verteilt  sein  soll.  Aber  wir  geben  zu,  daß  die 
Machtverhältnisse  zwischen  den  Nationen  heute  so  sind,  daß  diese 
absolute  Gleichheit  einfach  nicht  durchzusetzen  ist.  Diese  Ungleich- 
heit in  der  Abgrenzung  der  Wahlbezirke  darf  und  kann  aber  wieder 
nicht  so  weit  gehen,  daß  sich  die  slawischen  Nationen  das  nicht 
mehr  gefallen  lassen  könnten.  Das  ist  eben  die  politische  Kunst, 
das,  was  man  vom  Politiker  verlangt,  daß  er  das  Maß  des  Mög- 
lichen und  Erreichbaren  erkenne:  daß  er  wisse,  was  heute  den 
Machtverhältnissen  zwischen  den  Nationen  entspricht.  Man  erzählt 
uns  von  einem  „deutschen  Block"  und  einem  „slawischen  Block". 
Aber  da  braucht  man  nur  eine  Frage  zu  stellen:  Gibt  es  einen  Fall, 
wo  die  Masse  der  deutschen  Abgeordneten  gegen  die  Masse  der 
slawischen  Abgeordneten  geschlossen  gestimmt  hat?  Wen  will  man 
denn  foppen?  Wir  wissen  alle,  daß  die  Deutschen  in  Parteien  ge- 
spalten sind,  die  einander  auf  das  feindlichste  gegenüberstehen,  oft 
in  unversöhnlichem  Hasse  einander  bekämpfen.  Das  ist  eine  jener 
Lügen,  mit  denen  in  Österreich  Politik  gemacht  wird.  Es  gibt 
keinen  einzigen  Fall,  wo  slawischer  Block  und 
deutscher  Block  einander  gegenüberstanden.  Der 
Gedanke  von  der  slawischen  Majorität  war  einfach  erfunden  und 
ist  nun  zum  Fetisch  geworden,  an  den  zu  glauben  sie  vorgeben. 
Es  ist  merkwürdig:  Die  Wahlreform  wird  heute  von  einer  Koalition 
solcher  bekämpft,  die  sagen:  „Es  sind  zu  wenig  Mandate  da  für 
die  Deutschen  und  zu  viel  für  die  Slawen!"  und  von .  solchen,  die 


Die  Wahlreformfeinde  und  die  Arbeiterschaft.  327 


sagen:  „Es  sind  zu  wenig  Mandate  da  für  die  sin  wen  und  zu  viel 
für  die  Deutschen!"  So  töricht  sind  doch  wohl  die  Volker  nicht, 
das  deutsche  ebensowenig  wie  die  slawischen,  daß  man  ihnen  ein- 
reden könnte,  dieselbe  Wahlreform  bringe  politisch  die  Deutschen 
um  und  die  Slawen.  (Heiterkeit  und  Rufe:  Das  sind  Gaukler!) 
Entweder  eines  oder  das  andere,  beides  ist  nicht  möglich.  In  Wirk- 
lichkeit aber  wird  kein  Volk  gefährdet,  sondern  jedem  Volke  durch 
die  Wahlreform  zu  seinem  Rechte  verhüllen« 

Noch  ein  Argument  spielt  eine  große  Rolle:  „Die  ganze  Ver- 
fassung muß  geändert  werden/'  Da  sagen  die  Polen:  Die  Autonomie 
Galiziens  muß  herbeigeführt  werden.  Und  die  Feudalen  sagen:  Es 
muß  überhaupt  mit  dem  alten  Zentralismus  aufgeräumt  werden  und 
ihr  altes  Ideal  muß  nun  kommen,  nachdem  Königreiche  und  Länder 
alles  sind  und  in  jedem  dieser  Königreiche  und  Länder  der  Feudal- 
adel alles  ist.  Mit  ihnen  im  Bunde  ist  der  Verfassungstreueste  der 
Verfassungtreuen,  Graf  S  t  ü  r  g  k  h.  Fragen  Sie  ihn,  ob  er  für  die 
Lostrennung  Galiziens  ist.  Nein,  er  hält  das  für  das  Unglück  Öster- 
reichs. Aber  er  stimmt  dafür,  um  der  Wahlreform  ein  Grab  zu 
graben.  Und  Arm  in  Arm  mit  diesen  Leuten,  mit  dem  Dzieduszycki 
und  Stürgkh,  sehen  Sie  jetzt  die  Alldeutschen,  nicht  figürlich  ge- 
sprochen! Wenn  Sie  in  das  Parlament  kommen,  dann  können  Sie 
sie  wirklich  sehen,  wie  sie  Arm  in  Arm  gehen,  wie  sie  miteinander 
beraten,  wie  man  die  Wahlreform  meucheln  könnte.  Darum  handelt 
es  sich  ihnen  allen,  nicht  um  die  Änderung  der  Verfassung,  die  ja 
jeder  von  ihnen,  wenn  überhaupt,  so  anders  will  als  der  andere. 
Wer  verlangt,  daß  zugleich  mit  der  Wahlreform  eine  Verfassungs- 
änderung durchgeführt  werde,  der  verrät  bewußt  die  Wahlreform; 
und  bei  dem  nützt  alle  politische  Auseinandersetzung  gar  nichts. 
Dessen  Widerstand  kann  nicht  durch  Argumente  widerlegt,  er  kann 
nur  durch  die  Kraft  des  Volkes  überwunden  werden 
(stürmischer  Beifall)  und  dadurch,  daß  die  Regierung 
kräftig  bleibt. 

Allerdings,  unsere  Erfahrungen  lehren  uns,  daß  die  Regierungen 
in  Österreich  immer  nur  Kraft  und  Energie  und  Konsequenz  zeigten, 
wenn  es  galt,  dem  Volke  zu  schaden.  Würde  es  sich  nicht  darum 
handeln,  dem  Volke  das  Recht  zu  geben,  etwa  darum,  einen  Aus- 
nahmezustand oder  ein  anderes  schweres  Unrecht  am  Volke  zu 
verteidigen,  dann  würde  die  Regierung  sicher  nicht  so  vorsichtig, 
unsicher  tastend  vorgehen.  Man  wiret  nun  sehen,  wie  die  Regie- 
rung sich  verhält,  das  erstemal,  wo  sie  dem  Volke  ein  Recht  gibt. 
Freilich,  das  Volk  hat  bis  jetzt  ruhig  zugesehen,  wie  drinnen  im 
Parlament  frei  und  ungehindert  alle  Feinde  der  Wahlreform  auf- 
marschieren konnten.  Die  Arbeiterschaft  hat  ihre  Selbst- 
beherrschung bewiesen,  indem  sie  nach  dem  28.  November  ruhig 
und  geduldig  abwartete,  was  die  Herren  dort  zu  machen  belieben. 
Wir  haben  gezeigt,  daß  die  Massen  klug  genug,  besonnen  genug 
sind,  um  ihnen  die  Zeit  zu  lassen,  die  sie  verlangt  haben.  Kein 
Windhauch  hat  sich  gerührt,  während  die  Herren  über  die  Wahl- 
reform debattierten.  Niemand  hat  sie  beeinflußt,  niemand  hat  sie 
„terrorisiert"!    Auch    wir    im  Parlament    haben   uns    bezähmt    und 


328  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

haben  ruhig  zugehört,  so  sehr  uns  auch  das  Blut  kochte.  Vielleicht 
ist  das  einem  oder  dem  anderen  von  Ihnen  unangenehm  aufgefallen. 
Wir  haben  Bezirke,  wo  man  die  Abgeordneten  lieber  wild  sieht  als 
diplomatisch  und  staatsmännisch.  Aber  wir  haben  geglaubt,  die 
Selbstbeherrschung,  die  wir  den  Massen  auferlegen,  auch  selbst 
üben  zu  müssen.  Aber  wenn  die  Herren  glauben,  daß  das  Volk, 
wenn  es  lauscht,  schläft;  wenn  sie  glauben,  daß  die  Massen,  die 
warten,  teilnahmslos  geworden  sind;  wenn  sie  glauben,  daß  das 
Volk,  weil  man  seit  einigen  Monaten  auf  der  Ringstraße  nicht  mehr 
den  Ruf:  „Heraus  mit  dem  Wahlrecht!"  gehört  hat,  an  das  Wahl- 
recht nicht  mehr  denkt,  so  täuschen  sie  sich  ganz  gehörig.  Und  wir 
werden  ihnen  sagen  müssen:  „Jetzt  habt  ihr  das  Wort 
gehabt.  Nun  wollen  wir  wieder  einmal  ein  wenig 
rede  n."  (Stürmischer  Beifall.)  Wenn  in  eure  Kurienschädel  die 
Vernunft  so  schwer  hineingeht,  werden  wir  eben  ein  wenig  nach- 
helfen müssen!  (Neuerlicher  Beifall.)  Wir  haben  einen  Tag,  an  dem 
das  österreichische  Proletariat  gewohnt  ist,  deutlich  zu  reden,  an 
dem  es  sein  Recht  vor  aller  Augen  verlangt.  Am  1.  Mai,  wo  die 
Wahlreformdebatte  wieder  im  Gange  sein  wird, 
werden  die  Massen  wieder  in  die  Diskussion  ein- 
greifen. Wie  wir  sprechen  werden,  wird  davon  abhängen,  an 
welchen  Punkt  der  Diskussion  wir  bis  zum  1.  Mai  gelangt  sein 
werden.  (Stürmischer,  andauernder  Beifall.) 

Die  Wahlreform  ist  in  guter  Hut,  möge  die  Koalition  ihrer  Feinde 
noch  so  wettern . . .  Können  Sie  sich  übrigens  vorstellen,  daß  in 
Ungarn,  wo  sich  doch  auch  die  Grafen  gegen  das  allgemeine  Wahl- 
recht koaliert  haben,  so  ein  Stürgkh  es  hätte  wagen  können,  an 
Goluchowski  zu  appellieren,  daß  er  in  diese  innere  Verfassungsfrage 
eingreife,  ohne  angespuckt  zu  werden?  Mögen  sich  die  Stein  und 
Stürgkh  und  Dzieduszycki  koalieren,  um  ihre  Mandate  zu  retten: 
die  Wahlreform  wird  dadurch  nicht  aufgehalten  werden;  sie  werden 
sich  nur  gegenseitig  beschmutzt,  gegenseitig  kompromittiert  haben 
durch  diese  Koalition. 

Der  Regierung  hat  es  gefallen,  aus  irgendwelchen  unerforsch- 
lichen  Gründen  den  Reichsrat  nach  Hause  zu  schicken,  um  den 
krainischen  Landtag  tagen  zu  lassen.  Nun,  ein  Unglück  ist  es  nicht, 
denn  vor  Ostern  wäre  die  Generaldebatte  im  Ausschuß  nicht  be- 
endet worden,  und  ob  einige  Reden  —  immer  dieselben  Reden  — 
mehr  oder  weniger  gehalten,  werden,  darauf  kommt  nicht  viel  an. 
Entscheidend  wird  die  Lage  erst  am  24.  April  werden,  wenn  das 
Abgeordnetenhaus  wieder  zusammentritt.  Dann  wird  man  erst  er- 
kennen, wie  es  mit  der  Entschlossenheit  der  Regierung  bestellt  ist. 
Wir  werden  auch  genau  zusehen  müssen,  welcher  Wandel  sich  in 
den  Parteien  vollzogen  hat  und  ob  die  Regierung  die  Festigkeit 
und  das  Geschick  hat,  das  durchzuführen,  was  sie  als  notwendig 
erkannt  hat.  Am  2  4.  April  werden  wir  sehen,  wie  die 
Sache  steht,  und  am  1.  Mai  werden  wir  spreche  n*). 
(Stürmischer  Beifall.) 

*)  Gautsch  hat  diese  Intrigen  nicht  zu  besiegen  vermocht  und  ist  Ende 
April  zurückgetreten.  Am  1.  Mai  wurde  den  Arbeitern,  die  auf  das  äußerste 


Antwort  an  Grabmas  r. 


Antwort  an  Grabmayr. 

W  a  li  I  r  c  f  o  r  m  a  U  S  S  C  h  u  ß,   i  o.    April    1  9  0  6*). 

Der  Ausschuß  wird  Dr.  \.  Grabmayr  nur  sehr  dankbar  dafür 
sein  können,  daß  er  das  etwas  abgeflachte  Interesse  an  dieser 
Generaldebatte  wieder  auf  eine  gewisse  Höhe  gebracht  hat.  Er  hat 
allerdings  gemeint,  er  spreche  als  ein  „harmloser"  Großgrund- 
besitzer, und  alles  mögliche  war  die  Rede,  aber  harmlos  war  sie 
nicht.  Er  meinte,  es  wäre  gerade  in  seiner  Situation  nicht  taktvoll 

empört  waren,  die  Mitteilung  zuteil,  daß  an  seiner  Stelle  ein  aus- 
gesprochener Wahlreformfreund,  der  Statthalter  von  Triest,  Prinz  Konrad 
Hohenlohe,  der  schon  als  Bezirkshauptmann  in  Teplitz  den  Heinamen 
des  „roten  Prinzen"  gehabt  hatte,  die  Regierung  übernehme.  (Siehe 
Seite  334  f.) 

*)  Die  Generaldebatte  über  die  Wahlreform  zog  sich  im  Ausschuß  recht 
langsam  hin.  Die  Intrigen  der  Feinde  wurden  hinter  den  Kulissen  ge- 
sponnen. Am  26.  April  kam  endlich  Dr.  v.  Grabmayr  mit  einem  neuen  Vor- 
schlag. Er  hatte  als  erster  Redner  in  der  ersten  Lesung  im  Parlament  eine 
heftige  Rede  gegen  die  Vorlage  der  Regierung  Gautsch  gehalten,  die  in  die 
Worte  mündete:  „Die  Gautsch'sche  Wahlreform  ist  tot,  es  lebe  die  Wahl- 
reform!" Nun  war  man  neugierig,  wie  er  sich  diese  neue  Wahlreform  vor- 
stelle. Und  da  machte  er  folgenden  Vorschlag:  Die  Kurien  sollten  auf- 
gehoben, aber  „die  Wähler  in  Gruppen  geteilt  und  je  nach  ihrer  Bedeutung 
für  den  Staat  mit  einer  entsprechenden  Quantität  von  politischen  Rechten, 
die  sich  in  der  Zahl  der  ihnen  zugewiesenen  Mandate  ausdrücke,  aus- 
gestattet werden".  —  Man  könnte  drei  Gruppen  schaffen  und  der  ersten 
Gruppe  alle  jene  zuweisen,  die  einen  gewissen  hohen  Steuerzensus  haben, 
der  diese  Personen  in  die  Klasse  der  Wohlbemittelten  einreiht, 
ferner  alle  Personen  mit  höherer  Intelligenz.  Dieser  Gruppe  wäre 
eine  gewisse  Quote  aller  Mandate  zuzuweisen,  zum  Beispiel  ein  Viertel. 
Die  zweite  Wahlgruppe  hätte  aus  den  städtischen  und  ländlichen  Wählern, 
wie  sie  heute  sind,  zu  bestehen:  in  die  dritte  Gruppe  endlich  kämen  alle 
jene,  die  in  den  beiden  ersten  Gruppen  kein  Wahlrecht 
haben.  Der  zweiten  Gruppe  könnte  man  die  Hälfte,  der  dritten  ein  Viertel 
aller  Mandate  überweisen.  Mit  einem  solchen  System  als  Grundlage  der 
Reform  wäre  das  Hauptziel  eines  gerechten  Wahlrechtes  erreicht. 
Vor  allem  wäre  den  breiten  Massen  eine  wirksame  Vertretung  gesichert 
und  die  Sozialdemokraten  würden  gewiß  nicht  viel  schlechter  abschneiden 
als  durch  das  allgemeine,  gleiche  Wahlrecht.  Wenn  der  Ministerpräsident 
eine  solche  Wahlreform  gebracht  hätte,  die  ja  die  Kurien  des  Großgrund- 
besitzes und  der  Handelskammern  abschafft  und  den  breiten  Massen  eine 
solche  Verstärkung  ihres  politischen  Einflusses  zuweist,  dann  wären  gewiß 
die  Sozialdemokraten  im  Himmel  gewesen  (Dr.  Adler:  Ausgelacht  hätte 
man  ihn!)  und  auch  die  Privilegierten  hätten  sich  damit  abgefunden.  Denn 
dann  wäre  es  auch  jenen  Kreisen  noch  möglich  gewesen,  in  die  Reichsver- 
tretung einzutreten,  denen  es  widerstrebt,  zu  jenen  Mitteln  zu  greifen,  ohne 
deren  Anwendung  es  unter  der  Herrschaft  des  gleichen  Stimmrechtes  nicht 
leicht  möglich  wird,  ein  Mandat  zu  erhalten. 

Daran  knüpfte  er  noch  Bemerkungen,  daß  die  Abgeordneten  immer 
daran  denken,  Minister  zu  werden,  daß  die  Großgrundbesitzer  boykottiert 
werden,  ja,  daß  die  Minister  sie  meiden,  gerade  zur  Not  noch,  daß  sie  den 
Gruß  bekommen. 

Ihm  antwortete  sofort  Adler. 


330  Der  Sic«  des  gleichen  Wahlrechts. 

und  nicht  angemessen,  in  die  verschiedenen  Suppen  zu  spucken; 
aber  er  hat  nicht  eine  dieser  Suppen  ausgelassen,  sondern  in  sämt- 
liche sehr  kräftig  hineinzuspucken  versucht.  Ob  er  dabei  reüssiert, 
ist  zu  bezweifeln.  Neue  Argumente  konnte  er  ja  nicht  vorbringen, 
aber  daß  man  in  diesem  vorgeschrittenen  Stadium  mit  all  den  alten 
Argumenten  noch  einmal  kommt,  ist  ein  Zeugnis  für  die  Zähigkeit 
gewisser  Ideen,  die  in  diesen  Kreisen  nicht  auszurotten  sind. 

Dr.  v.  Grabmayr  hat,  wie  es  einem  Führer  des  Großgrund- 
besitzes und  einem  Advokaten  des  Junkertums  angemessen  ist,  den 
Kampf  für  die  Privilegien  mit  einer  ausführlichen  Polemik  gegen 
die  Idee  der  Gerechtigkeit  geführt!  Es  ist  ein  gemeinsamer  Zug  aller 
Großgrundbesitzer,  von  den  Massen  des  Volkes  im  Tone  der 
Überhebung  zu  sprechen.  Sie  überlegen  sich  tiefsinnig,  ob  der 
Großgrundbesitz  es  verantworten  kann,  die  Massen  weiterhin  ohne 
seine  Fürsorge  leben  zu  lassen,  ob  man  es  ohne  die  tiefere  Weisheit 
des  Großgrundbesitzes  in  Österreich  wird  aushalten  können.  Es 
stimmt  ganz  gut  in  diesen  Gedankengang,  daß  Dr.  v.  Grabmayr 
heute  wieder  von  den  Kurranden  gesprochen  hat;  denn  er  meint 
allerdings,  daß  das  ganze  Volk  so  behandelt  werden  soll  wie  die 
Kurranden. 

Aber  über  die  Zeit  solcher  Erörterungen  sind  wir  hinaus.  Das 
sind  Stimmen,  die  von  der  ganzen  Bevölkerung,  nicht  nur  von  den 
breiten  besitzlosen  Massen,  sondern  bis  in  das  Bürgertum  einfach 
nicht  mehr  verstanden  werden.  Dr.  v.  Grabmayr  sagte,  man  werde 
ihn  als  einen  bornierten  Mann,  als  einen  Reaktionär  erklären. 
Persönlich  mag  er  durchaus  nicht  borniert  sein.  Aber  was  er  ver- 
tritt, ist  in  der  Tat  die  bornierteste,  die  reaktionärste 
und,  was  das  Schlimmste  für  die  Herren  ist,  eine  absolut  un- 
mögliche Politik.  Wenn  man  sich  mit  seinen  Ausführungen  be- 
schäftigt, ist  es  eine  Höflichkeit  für  seine  Person,  ein  Kompliment 
für  ihn,  aber  seine  Sache  ist  gerichtet.  Glaubt  er,  daß  die 
Massen  in  Österreich  das,  was  er  da  vorlegt,  anders  als  mit  Hohn 
aufnehmen  würden?  Wenn  Baron  Gautsch  mit  einem  solchen  Pro- 
jekt gekommen  wäre,  so  hätten  die  Großgrundbesitzer  vielleicht 
danach  gegriffen.  Aber  die  Zeiten  sind  vorbei,  wo  eine  Maßregel, 
die  das  ganze  Volk  betrifft,  bloß  den  Beifall  von  ein  paar  Privi- 
legierten braucht.  Die  gesamte  Öffentlichkeit  aber  wäre  über  einen 
solchen  Vorschlag  als  absurd  hinweggegangen. 

Herr  v.  Grabmayr  wirft  der  Sozialdemokratie  vor,  sie  kämpfe 
auch  nicht  für  Gerechtigkeit,  sondern  für  ein  Klasseninteresse. 
Gewiß  soll  nicht  geleugnet  werden,  daß  die  Sozialdemokratie  den 
Klassenkampf  des  Proletariats  führt  und  daß  das  Wahlrecht  ein 
Mittel  des  Klassenkampfes  ist.  Aber  ihr  Klasseninteresse  ist  eben 
mit  der  Gerechtigkeit  identisch,  während  das  Klasseninteresse  der 
Privilegierten  mit  der  Gerechtigkeit  im  Widerspruch  steht.  Wo 
immer  die  Arbeiterschaft  ein  Klasseninteresse  verficht,  auf  dem 
Gebiet  der  politischen  Freiheit,  der  Sozialreform,  vertritt  sie  zu- 
gleich das  Interesse  des  gesamten  Volkes. 

Die  Herren  Großgrundbesitzer  diskutieren  die  politische  Reife 


Antwort    an   ( ii  ,il)in;i  yr.  331 


der  Massen.  Aber  die  Massen  haben  den  Befähigungsnachweis  für 
das  politische  Recht  gerade  dadurch  erbracht,  daß  sie  die  Privi- 
legien nicht  mehr  dulden,  daß  sie  nicht  mehr  gewillt  sind, 
sich  in  diesem  Staate  nullifizieren  zu  lassen.  Und  wo  manche 
Schichten  noch  nicht  so  weit  sind,  ist  das  nur  das  schlechteste 
Zeugnis  für  das  System  der  Bevormundung  und  diejenigen,  die  sie 
mit  Hilfe  der  Privilegien  lange  genug  erzogen  haben.  Das  beste 
Erziehungsmittel  des  Volkes  ist  das  allgemeine  und  gleiche  Wahl- 
recht, darüber  auch  nur  ein  Wort  zu  verlieren,  ist  überflüssig. 

Demagogische  Entstellung. 

Aber  Herr  v.  Grabmayr  sucht  den  Ausschuß  damit  zu  schrecket], 
daß  unter  dem  gleichen  Wahlrecht  die  Sozialdemokraten  der  aus- 
schlaggebende Faktor  in  dem  neuen  Hause  sein  werden.  So  sehr 
ich  das  wünschen  würde,  wissen  doch  alle  sehr  gut,  daß  wir  davon 
noch  sehr  weit  entfernt  sind.  Die  Darstellung  von  dem  deutschen 
und  dem  slawischen  Block,  zwischen  denen  die  Sozialdemokraten 
dirimieren  würden,  ist  eine  demagogische  Entstellung 
der  wahren  Verhältnisse.  Dr.  v.  Grabmayr  weiß,  daß  weder  der 
deutsche  noch  der  slawische  Block  existiert.  Mit  der  weitest- 
gehenden politischen  Phantasie  kann  man  unmöglich  die  öster- 
reichische Politik  in  Situationen  auflösen,  wo  ein  slawischer  und 
ein  deutscher  Block  einander  gegenüberstehen.  Was  in  der  ganzen 
Diskussion  von  bürgerlicher  wie  von  feudaler  Seite  immer  wieder 
frappiert,  ist  die  kolossale  Überschätzung  des  rein  mechanischen 
Zahlenmomentes.  Erschöpft  sich  denn  der  Einfluß  einer  politischen 
Partei  in  der  Ziffer  ihrer  Vertreter?  Man  hat  jetzt  eigene  Aus- 
drücke dafür:  fünf  ist  die  Spannung,  drei  ist  die  Spannung,  null 
soll  sie  sein!  Ist  denn  das  ernst?  Glaubt  man  denn,  daß  die  Mandate 
Macht  geben,  weiß  man  nicht  vielmehr,  daß  die  politische  Macht 
es  ist,  welche  schließlich  auch  die  Mandate  gibt,  daß  jede  Partei, 
jede  Schicht,  ja  jeder  einzelne  Staatsbürger  eine  politische  Macht 
ausübt,  die  sich  nicht  allein  ausdrückt  im  Verhältnis  der  Stimme, 
die  er  abgibt?  Das  sind  Torheiten,  und  damit  ist  auch  jeder  Ver- 
such des  Pluralsystems  gerichtet.  Von  konservativer,  besonders 
von  klerikaler  Seite  hört  man:  Es  sei  doch  Unrecht,  daß  der  besitz- 
lose Arbeiter,  der  angeblich  so  viel  weniger  Interesse  an  dem 
Staate  hat  als  der  Bauer  oder  gar  der  Großgrundbesitzer  oder  der 
Bankier,  dasselbe  Maß  von  politischem  Einfluß  haben  soll.  Er  hat 
es  aber  gar  nicht.  Jeder  Angehörige  der  besitzenden  Klassen  und 
der  Intelligenz,  mag  er  Doktor,  Ingenieur  oder  Pfarrer  sein,  übt 
durch  seine  wirtschaftliche  und  soziale  Stellung  allein  schon  ein 
Maß  von  politischem  Einfluß  aus,  das  sich  durch  sein  Stimmrecht 
nicht  abgrenzen  läßt,  er  hat  schon  an  sich  ein  Plus  an  politischem 
Recht. 

Das  Pluralwahlrecht. 

In  Belgien  hat  man  vor  zehn  Jahren  das  Pluralwahlrecht  ge- 
macht, und  es  wird  jetzt  zu  Grabe  getragen.  Über  ein  Jahr  wird 
man  es  kaum  mehr  sehen.  Und  wie  soll  es  in  Österreich  aussehen? 
Es  wurde  von  acht  Kronen  direkter  Steuer  gesprochen.  Was  be- 


332  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

deuten  die  acht  Kronen  in  Oberösterreich,  in  Böhmen,  in  Nieder- 
österreich und  was  bedeuten  sie  in  Oalizien!  In  üalizien  würden 
verdammt  wenig  von  diesen  acht  Kronen  erfaßt  werden  und  der 
Abgeordnete  Pastor  wäre  mit  seiner  Pluralität  sehr  wenig  zu- 
frieden. Bei  uns  aber  würden  die  Massen  sich  dieses  Pluralwahl- 
recht ganz  einfach  nicht  gefallen  lassen.  Es  ist  auch  darum  un- 
möglich, weil  es  einer  richtigen  Aufstellung  der  Wählerlisten  die 
größten  Schwierigkeiten  entgegensetzt  und  zu  jedem  Unterschleif 
und  Schwindel  vermehrte  Gelegenheit  bietet,  an  dem  wir,  und 
nicht  nur  hier  in  Wien,  schon  heute  genugsam  leiden. 

Dr.  v.  Qrabmayr  hat  sich  selbst  geschlagen,  indem  er  meinte, 
man  dürfe  das  allgemeine  Wahlrecht  für  den  Reichsrat  nicht  ein- 
führen, weil  es  auf  das  Land  und  die  Gemeinden  übergreifen  würde, 
andererseits  aber  auf  die  Landtage  im  Deutschen  Reiche  hinweist, 
die  sich  trotz  des  Reichstagswahlrechtes  dem  allgemeinen  Wahl- 
recht bisher  mit  Erfolg  widersetzen. 

Die  Intrigen  des  Großgrundbesitzes. 

In  Preußen  und  Sachsen  wird  das  ungleiche  Wahlrecht  für  den 
Landtag  in  der  Tat  nur  darum  noch  ertragen,  weil  das  gleiche 
Wahlrecht  für  den  Reichstag  eine  gewisse  Kompensation  bildet. 
Charakteristisch  ist  aber,  daß  ein  Liberaler  das  Beispiel  der 
preußischen  Junker  als  Muster  für  die  österreichische 
Volksvertretung  hinstellt.  Die  Rede  Dr.  v.  Grabmayrs  ist  nur  als 
ein  Rückzugsgefecht  anzusehen,  als  der  Versuch,  gerade 
das  zu  tun,  was  man  zu  tun  leugnet,  nämlich  die  Verhand- 
lungen außerhalb  dieses  Saales  zu  stören,  nahe- 
stehende Volksgenossen  und  Politiker  in  bösen 
Geruch  zu  bringen,  das  Werk  des  Friedens,  das  sich  vor- 
bereitet, möglichst  zu  behindern.  Diese  Rede  ist  die  Intrige 
des  Großgrundbesitzes,  auf  einen  kurzen  rheto- 
rischen Ausdruck  gebracht.  Und  dieser  Versuch  wird 
unternommen  mit  den  kleinlichsten  und  verwerflichsten  Mitteln, 
mit  der  nationalen  Demagogie,  die  den  Herren  sehr 
schlecht  ansteht,  mit  dem  Verdächtigen  von  Leuten,  die  „nach 
politischer  Macht  und  Ministerposten  streben".  Es  war  interessant, 
das  gerade  aus  dem  Munde  eines  Redners  der  Großgrundbesitzer 
zu  hören,  bei  denen  man  eine  professionelle  Abneigung  gegen  das 
Ministerwerden  bisher  noch  nicht  gesehen  hat.  Dr.  v.  Grabmayr 
hat  sich  so  sehr  gegen  den  Verdacht  verwahrt,  der  Fuchs  mit  den 
sauren  Trauben  zu  sein,  daß  man  an  das  qui  s'excuse,  s'aecuse*)  allzu 
deutlich  erinnert  wird. 

Das  trifft  ihn  vielleicht  nicht  persönlich.  Dr.  v.  Grabmayr  hat 
eine  freie  Stellung,  die  er  gewiß  mit  der  Last  eines  Ministerporte- 
feuilles nicht  gern  vertauschen  würde.  Aber  er  spricht  doch  für 
seine  Gruppe.  Die  melancholischen  Auseinandersetzungen  darüber, 
daß  ihn  die  Minister  „schneiden",  von  dem  Salon  der  Zurücks 
gewiesenen,  die  Klagen,    daß  man  kaum  gegrüßt  werde,   wecken 

*)  Wer  sich  entschuldigt,  klagt  sich  an. 


Antwort  an  Qrabmayr. 


doch  den  Verdacht,  daß  die  Herren  eine  Wahlrcfonii  möchten,  bei 
der  gerade  diese  persönlichen  Verhältnisse  sich  anders  gestalten 
würden,  bei  der  sie  mit  der  ganzen  Mache,  ja  sogar  mit  den  Porte- 
feuilles etwas  näher  zu  tun  hätten.  Aber  das  ist  schließlich  ihre 
eigene  Schuld.  Ms  war  ja  nicht  notwendig,  gerade  das  zu  ihrem 
Programm  zu  machen,  was  einfach  u  n  m  ö  glich  geworden  ist. 
Wer  mit  der  Bevölkerung  weit  über  die  Arbeiterklasse  hinaus 
irgendeine  Fühlung  hat,  weiß,  daß  kein  Mensch  von  diesem  Hause 
etwas  anderes  erwartet,  als  daß  das  allgemeine,  gleiche  Wahlrecht 
so  einfach  und  so  schnell  als  möglich  gemacht  wird. 
Die  Bevölkerung,  Ihre  eigenen  Wähler,  meine  Herren,  würden  es 
nicht  verstehen,  daß  man  wegen  zweier  Mandate  auf  oder  ab 
dieses  grundlegende   Werk   Schiffbruch   leiden  ließe. 

Vergeudung  der  politischen  Kraft. 

Die  Bevölkerung  ist  dieses  Spieles  müde  und 
weiß,  daß  das,  was  hier  noch  geschieht,  wenn  das  Haus  noch  weiter 
mit  der  Perfektionierung  der  Wahlreform  zögert,  einfach  eine  Ver- 
geudung von  politischer  Kraft  ist.  Man  möge  den 
öffentlichen  Frieden  und  die  ruhige  Entwicklung  nicht  gefährden, 
indem  man  überflüssig  zögert.  Die  Arbeiterschaft,  die  hierin  aber 
nur  die  Führung  der  breiten  Massen  aller  Schichten  des  Volkes  hat, 
fängt  an,  ungeduldig  und  mißtrauisch  zu  werden.  Es 
wäre  eine  Frivolität  und  ein  politisches  Verbrechen, 
wenn  man  den  Massen  ganz  überflüssigerweise  noch  einmal  einen 
Kampf  auferlegen  würde.  Denn  dieser  Kampf  würde  in  einer 
ganz  anderen  Stimmung  vor  sich  gehen.  Es  ist  nicht  wahr,  wenn 
gesagt  wird,  die  Sache  sei  so  plötzlich  gekommen.  Der  28.  No- 
vember nur  hat  die  Summe  einer  politischen  Entwicklung  von 
vielen  Jahrzehnten  gezogen.  Einmal  muß  ja  das  Maß  voll  sein.  Und 
es  ist  längst  voll.  Man  soll  weiter  gehen  in  der  politischen  Einsicht 
als  die  Krone,  als  eine  Beamtenregierung,  wie  die  des  Baron 
Gautsch.  Aber  ein  österreichischer  Volksvertreter  hat  doch  nicht 
das  Recht,  hinter  der  Krone  und  hinter  einem  Beamtenministerium 
an  politischer  Einsicht  und  an  Respekt  vor  dem  Rechte  des  Volkes 
zurückzustehen.  Es  ist  höchste  Zeit,  das  Werk  zu  beenden.  Nicht 
eine  Woche,  nicht  ein  Tag,  nicht  eine  Stunde  ist 
zu  verlieren.  Wenn  sich  der  Bevölkerung  die  Überzeugung 
bemächtigen  würde,  daß  der  Wille  der  Krone  nicht  aus- 
reicht, daß  der  gute  Wille  der  Regierung  nicht  aus- 
reicht, daß  die  eigene  Einsicht  der  Herren  nicht  ausreicht,  dann 
würden  wir  vor  einem  Kampfe  stehen,  dessen  Konsequen- 
zen man  sich  bewußt  sein  möge.  Sie  können  heute 
noch  das  gleiche  Wahlrecht  bringen  als  einen  Erfolg,  den  die 
Einsicht  der  Krone,  die  freiwillige  Ergebung  des  Hauses  in  ein  Un- 
vermeidliches, sagen  wir,  die  Einsicht  des  Parlaments  erreicht  hat. 
Wenn  Sie  diesen  Zeitpunkt  versäumen,  wird  die  Wahlreform 
ein  Schritt  sein,  der  dem  Parlament  wider  seinen  Willen 
wirklich  durch  die  Gewalt  der  Tatsachen  abgezwungen  wird.  Wir 
wünschen  das  nicht,  wir  wünschen  nicht,  daß  das  Volk  schwere 


334  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Opfer  zu  bringen  hat  für  Dinge,  die  wir  ohne  Opfer  haben  können 
und  die  uns  ohne  Opfer  gebühren.  Nicht  wir  sind  diejenigen,  welche 
revolutionäre  Ereignisse  entfesseln  wollen;  diese  entfesseln  nur 
immer  diejenigen,  die  einsichtslos,  eigensüchtig  sind  und  überdies 
kurzsichtig  genug,  das  Interesse  des  Moments  höher  zu  stellen  als 
das  Gebot  der  politischen  Notwendigkeit.  Jede  Stunde,  die  die 
privilegierten  Herren  gewinnen,  die  auf  dem  Standpunkt  stehen, 
Zeit  gewonnen  —  alles  gewonnen;  jede  Stunde,  die  dieser  Cliquen- 
egoismus gewinnt,  ist  ein  unersetzlicher  Verlust  für  das  Volk  und 
für  den  Staat.  In  wenigen  Tagen  wird  die  Maifeier  statt- 
finden, die  diesmal  naturgemäß  unter  dem  Zeichen  der  Wahl- 
reform stehen  wird.  Es  ist  zu  wünschen,  daß  sich  die  Maifeier  auch 
unter  dem  Eindruck  vollziehe,  daß  prinzipiell  die  Schlacht  für  das 
gute  Recht  bereits  gewonnen  sei,  daß  man  in  diesem  Ausschuß 
jenes  Minimum  von  Einsicht  und  von  Ökonomie  in  bezug  auf  die 
Anwendung  von  politischer  Kraft  habe,  das  notwendig  ist,  um  hier 
einfach  ja  zu  sagen. 

Keine  Verzögerung! 

Zum  Schluß  ersuche  ich  die  Herren,  jede  unnütze  Verzögerung 
der  Verhandlung  hintanzuhalten*).  Gewiß  ist  die  Generaldebatte 
überflüssig  und  der  Schwerpunkt  liegt  in  den  Verhandlungen  außer- 
halb des  Ausschusses,  aber  sie  muß  endlich  auch  formell  zum  Ab- 
schluß gebracht  werden;  das  ist  man  der  Bevölkerung  schuldig, 
die  mit  größter  Spannung  den  lebenswichtigen  Verlauf  der  Aktion 
verfolge.  Eine  Verzögerung  oder  Verschleppung 
wird  niemand  verantworten  können**). 


*)  Dieser  Appell  bezog  sich  darauf,  daß  Geßmann  zu  Beginn  der  Sitzung  die 
Unterbrechung  der  Ausschußverhandlungen  angeregt  hatte,  da  der  Aus- 
schuß durch  die  gegenwärtige  Art  der  Verhandlungen  in  Mißkredit  kommen 
müsse. 

**)  Die  Wahlreform  war  wirklich  in  einer  schweren  Krise.  Gautsch 
schlug  zunächst  die  Schaffung  von  24  neuen  Mandaten  vor,  von  denen  die 
Deutschen  zwölf,  die  Polen  zehn  und  die  Tschechen  und  Italiener  je  eines 
erhalten  sollten.  Dadurch  würde  die  slawische  Mehrheit  erhalten,  aber  von 
fünf  auf  drei  Mandate  sinken.  Zugleich  suchte  er,  um  die  Krise  zu  bannen 
und  eine  Verständigung  zu  erleichtern,  eine  Parlamentarisierung 
der  Regierung  in  die  Wege  zu  leiten.  Statt  der  Beamten  sollten  Parla- 
mentarier aus  den  drei  großen  nationalen  Gruppen  in  die  Regierung  ein- 
treten, und  zwar  vier  Deutsche,  zwei  Tschechen  und  zwei  Polen.  Man 
nannte  auch  schon  von  den  Deutschen:  Dr.  Derschatta  (Deutsche 
Volkspartei)  als  Eisenbahnminister,  Dr.  Groß  (Fortschrittspartei)  oder 
Prade  (Deutsche  Volkspartei)  als  Landsmannminister,  und  Dr.  Eben- 
hoch (Klerikales  Zentrum)  als  Ackerbauminister;  von  den  Tschechen: 
Dr.  P  a  c  a  k  als  Landsmannminister  und  Dr.  2  a  c  e  k  (der  zweite  Vize- 
präsident des  Abgeordnetenhauses)  als  Handelsminister,  und  von  den  Polen 
Graf  Dzieduszycki  als  Landsmannminister  und  Dr.  Madeyski  als 
Unterrichts-  oder  Justizminister.  Da  aber,  namentlich  infolge  des  Wider- 
standes der  Polen,  eine  Einigung  nicht  zustande  kam,  mußte  Gautsch 
zurücktreten. 


Kein  Subkomitee. 


Kein  Subkomitee! 

Wahl  refor  maus  schuft  2  5.  Mai  [906*). 

Dr.  Adler  warnt  vor  der  Einsetzung  von  Subkomitees.  Es  ist 
absolut  nicht  notwendig,  daß  ein  Subkomitee  über  Dinge  berate,  die 
in  der  Presse  wie  in  allen  Klubs  bereits  genügend  erörtert  sind  und 
über  die  sich  jeder  schon  eine  Meinung  gebildet  hat.  Kr  warne  aber 
auch  davor,  jetzt  einfach  die  Sitzung  zu  schließen  und  nichts  weiter 
zu  machen.  Die  formale  Schwierigkeit,  die  dadurch  entstanden  sei, 
daß  der  Ministerpräsident  nur  eine  „Anregung"  gegeben  habe,  lasse 
sich  leicht  beseitigen,  indem  entweder  der  Ministerpräsident  selbst 
oder  irgendein  Mitglied  des  Ausschusses  diese  Anregung  in  einen 
Antrag  umwandle.  Zu  dem  Schluß  der  heutigen  Sitzung  könnte 
man  sich  nur  unter  der  Bedingung  verstehen,  daß  bis  morgen  früh 
die  Vorschläge  des  Ministerpräsidenten  gedruckt  und  an  die  Aus- 
schußmitglieder verteilt  würden.  Die  Frage,  ob  man  den  $6**)  allein 
oder  im  Zusammenhang    mit    der  Wahlkreiseinteilung    verhandeln 

*)  Am  3.  Mai  1906  hatte  die  „Wiener  Zeitung"  die  Demission  des 
Ministerpräsidenten  G  a  u  t  s  c  h  und  die  Ernennung  des  neuen  Minister- 
präsidenten Prinzen  Konrad  Hohenlohe  kundgemacht  und  damit  der 
Krise  ein  Ende  gemacht,  die  die  Wahlreform  in  den  letzten  Tagen  durch- 
gemacht hatte  und  die  um  ein  Haar  die  Arbeiterschaft  zum  Massenstreik 
gezwungen  hätte.  Über  Hohenlohe  und  seinen  Sturz  siehe  Näheres  in  den 
Fußnoten  zur  folgenden  Rede  vom  30.  Mai  über  die  ungarische 
Intrige. 

Aber  Hohenlohe  vermochte  die  Wahlreform  nicht  vorwärts  zu  bringen. 
Im  Abgeordnetenhaus  zog  sich  die  Debatte  über  die  Erklärung,  die  er  am 
15.  Mai  abgegeben  hatte  —  er  sagte,  die  Wahlreform  werde  nicht  mehr 
von  der  Tagesordnung  verschwinden  —  bis  zum  25.  Mai  hin.  An  diesem 
Tage  machte  Hohenlohe  im  Wahlreformausschuß  einen  neuen  Kompromiß- 
vorschlag, wonach  die  Zahl  der  Mandate  um  vierzig  vermehrt  werden  sollte, 
wovon  auf  die  Deutschen  18,  auf  die  Polen  14,  die  Tschechen  4,  die  Ita- 
liener 2  und  auf  die  Ruthenen  und  Rumänen  je  eines  entfallen  würden. 
Außerdem  sollte  die  Wahlkreiseinteilung  durch  das  Erfordernis  der  Zwei- 
drittelmehrheit geschützt  werden.  Formell  waren  die  neuen  Mandate  nicht 
den  Nationen,  sondern  den  Ländern  zugewiesen,  aber  nach  der  Wahlkreis- 
einteilung war  zu  berechnen,  wie  sie  sich  auf  die  Nationen  verteilen 
würden.  Über  die  „S  p  a  n  n  u  n  g"  zwischen  dem  „deutsch-romani- 
schen" und  dem  „slawischen  Block"  siehe  die  Fußnote  bei  Adlers 
Rede  über  die  neue  Regierung  Beck  am  6.  Juni  1906. 

Allerdings  brachte  Hohenlohe  diese  Vorschläge  nicht  als  Regierungsent- 
wurf ein,  sondern  bezeichnete  sie  als  „Anregungen",  von  denen  er  die  Hoff- 
nung aussprach,  daß  sie  für  eine  Einigung  ein  „Substrat"  bilden  würden. 

Im  Ausschuß  entspann  sich  darauf  eine  Debatte,  wie  man  nun  vorgehen 
solle.  0  e  ß  m  a  n  n  meinte,  man  solle  ein  Subkomitee  einsetzen,  zog  aber 
den  Antrag  später  wieder  zurück. 

Schließlich  wurde  beschlossen,  die  nächste  Sitzung  am  29.  Mai  abzu- 
halten. Aber  an  diesem  Tage  war  Hohenlohe  schon  gefallen. 

**)  Der  §  6  des  Grundgesetzes  über  die  Reichsvertretung  bestimmte  die 
Zahl  der  Mandate  der  einzelnen  Länder.  Die  Wahlkreiseinteilung  war 
in  der  Wahlordnung  festgelegt. 


33(3  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

soll,  ist  sehr  einfach  zu  lösen.  Jeder  m  ann  ist  überzeugt, 
daß  die  Abstimmung  über  die  Anzahl  der  Man- 
date in  jedem  Kronland  mit  der  Art  der  Aufteilung 
der  Mandate  innerhalb  dieses  Kronlandes  zu- 
sammenhänge, und  es  ist  kein  Zweifel,  daß,  wenn  man  zum 
Beispiel  mit  der  Beratung  der  Bestimmung  beginnt:  „Auf  das  Kron- 
land Böhmen  entfallen  soundso  viel  Mandate",  in  der  Diskussion 
auch  über  die  Wahlkreiseinteilung  beziehungsweise  über  den  natio- 
nalen Schlüssel  wird  gesprochen  werden  müssen.  Es  sei  also  auch 
hier  nicht  notwendig,  Subkomitees  einzusetzen,  sondern  es  werde 
genügen,  wenn  die  Mitglieder  eines  Kronlandes  in  dem  Augenblick, 
wo  ihr  Land  an  die  Reihe  kommt,  einfach  zu  einer  Besprechung 
zusammentreten.  Man  könnte  auch  heute  ohne  wei- 
teres in  die  Diskussion  eingehen,  bevor  die  Aus- 
führungen des  Ministerpräsidenten  gedruckt  vorliegen.  Man  möge 
doch  nicht  voreinander  Verstecken  spielen;  überrascht  war  man 
von  dem  Gehörten  nicht,  man  hat  das  in  den  verschiedenen 
Zeitungen  in  der  letzten  Zeit  schon  gelesen.  Wenn  gesagt  wird,  daß 
man  in  den  Klubs  erst  darüber  reden  müsse,  sowärediesnur 
eine  Anregung  zur  Verschleppung,  gegen  die  man 
sich  auf  das  entschiedenste  verwahren  müßte.  Er 
beantragt  also,  die  Diskussion  ohne  weiteres  fortzusetzen  und  über 
§  6  zu  sprechen.  Bis  zur  Abstimmung  über  §  6  werden  auch 
die  Vorschläge  des  Ministerpräsidenten  im  Druck  vorliegen.  Für  den 
Fall  der  Ablehnung  dieses  Antrages  beantragt  er,  die  nächste 
Sitzung  für  morgen,  10  Uhr  vormittags,  anzu- 
setzen, bis  zu  welchem  Zeitpunkt  die  Drucklegung  zu  erfolgen 
hätte. 

Die  ungarische  Intrige. 

Parlament,  3  0.  Mai  190  6. 

Der  sozialdemokratische  Verband  hat  sich  dem  Dringlichkeits- 
antrag*) angeschlossen,  weil  auch  er  es  für  wünschenswert  hält, 
daß  das  Parlament  eine  möglichst  einmütige  Erklärung  abgebe  über 
die  Anschauung,   die  es  von  den  letzten  Vorgängen  hat;  es  liegt 

*)  Am  3.  Mai  1906  war  Prinz  Konrad  von  Hohenlohe,  der  als 
Statthalter  von  Triest  und  schon  früher  als  Bezirkshauptmann  von 
Teplitz  sich  den  Beinamen  des  „roten  Prinzen"  erworben  hatte  —  weil 
er  der  Arbeiterbewegung  mit  Verständnis  entgegentrat  — ,  zum  Minister- 
präsidenten ernannt  worden,  um  die  Schwierigkeiten,  die  sich  der  Wahl- 
reform entgegenstellten,  zu  besiegen.  Aber  schon  am  28.  Mai  fiel  er  einer 
ungarischen  Intrige  zum  Opfer.  Im  April  war  nämlich  in  Ungarn  die 
Koalitionsregierung  W  e  k  e  r  1  e  gebildet  worden,  der  Franz  K  o  s  s  u  t  h, 
des  Rebellen  Kossuth  Lajos  (Ludwig)  unwürdiger  Sohn,  und  Graf  A  p- 
ponyi  angehörten,  deren  Hauptsorge  es  war,  die  Wahlreform  in  Ungarn 
zu  verhindern  und  die  deshalb  auch  der  österreichischen  Wahlreform  ein 
Bein  stellen  wollte.  Sie  beschloß,  den  beiden  Staaten  gemeinsamen  Zoll- 
tarif dem  ungarischen  Reichstag  als  selbständigen  ungarischen  Zolltarif 
vorzulegen.  Im  Kronrat,  dem  gemeinsamen  Ministerrat  unter  dem  Vorsitz 


Die  ungarische  Intrige.  337 

in  der  Natur  der  Sache,  daß  man,  wenn  man  eine  einmütige  Kund- 
gebung will,  alles  zurückstellen  und  aus  dem  Antra«  ausscheiden 
mußte,  was  das  eigentliche  Wesen,  was  das  Charakteristische  der 
Auffassung  jeder  einzelnen  Partei  ist,  und  so  sind  wir  dahin  gelangt, 
einen  Dringlichkeitsantrag  vorzulegen,  der  rein  negativ  ist  und 
der  auch  in  der  Negative,  das  heißt  in  der  A  h  I  e  ii  n  u  n  g  dessen, 
was  geschehen  ist, 

ein  bloßes  Minimum 

darstellt,  ein  Minimum  dem  Inhalt  nach  und  ein  Minimum  dem 
Grade  nach.  So  leidenschaftslos,  wie  dieser  Antrag  lautet,  ist  die 
leidenschaftsloseste  Partei  in  diesem  Hause  —  man  braucht  sie 
nicht  näher  zu  bezeichnen  — ;  unter  dieses  Niveau  geht  niemand. 
Wir  Sozialdemokraten  betrachten  die  Dinge,  die  geschehen  sind, 
nicht  ganz  so  ruhig,  wie  sie  in  diesem  Antrag  dargestellt  werden. 
Wir  sind  uns  vollkommen  bewußt  und  die  Arbeiterschaft  empfindet 
es  schwer,  daß  in  wirtschaftlichen  Fragen  allerersten  Ranges,  daß 
in  Verhältnissen,  die  die  ganze  wirtschaftliche  Entwicklung  dieses 
Staates  berühren  —  ich  sage  „dieses  Staates"  und  nicht  „des  Dies- 
seits" (Heiterkeit)  und  auch  nicht  „dieser  Reichshälfte"  oder  „der 
im  Reichsrat  vertretenen  Königreiche  und  Länder"*)  (neuerliche 
Heiterkeit),    sondern    dieses  Staates  Österreich,    für    den    wir    ein 

des  Kaisers,  wurde  das  Vorgehen  Ungarns  trotz  dem  energischen  Protest 
Hohenlohes  gebilligt.  Darauf  trat  Hohenlohe  zurück.  An  seine  Stelle  wurde 
nun  im  Juni  der  Sektionschef  im  Ackerbauministerium,  Freiherr  Wladimir 
v.  Beck,  an  die  Spitze  der  Regierung  gestellt  —  der  ehemals  ein  Ver- 
trauensmann des  Thronfolgers  Franz  Ferdinand  gewesen  war,  aber  nun 
bei  diesem  in  Ungnade  fiel.  Es  gelang  ihm,  die  bürgerlichen  Parteien  für 
sein  Ministerium  und  damit  für  die  Wahlreform  zu  gewinnen.  Von  der 
Deutschen  Volkspartei  wurde  Dr.  v.  Derschatta  Eisenbahnminister, 
Prade  deutscher  Landsmannminister,  der  Liberale  Professor  Marchet 
Unterrichtsminister;  von  den  Tschechen  wurde  Dr.  Forscht  Handels- 
minister, Dr.  P  a  c  a  k  tschechischer  Landsmannminister,  von  den  Polen, 
die  bisher  besonders  feindlich  gewesen  waren,  Graf  Dzieduszycki 
polnischer  Landsmannminister,  Dr.  R.  v.  K  o  r  y  t  o  w  s  k  i  Finanzminister. 
Außerdem  gehörten  der  Regierung  an:  Dr.  v.  Bienerth  als  Minister  des 
Innern,  Dr.  Franz  Klein  als  Justizminister,  Feldzeugmeister  Schönaich 
als  Landesverteidigungsminister,  Graf  Leopold  Auersperg  als  Acker- 
bauminister. 

Am  30.  Mai  wurde  nun  im  Abgeordnetenhaus  ein  in  der  Obmänner- 
konferenz von  allen  Parteien  vereinbarter  Dringlichkeitsantrag  verhandelt, 
der  einen  Protest  gegen  den  ungarischen  Übergriff  enthielt.  Für  die 
Sozialdemokraten  sprach  Dr.  Adler.  Der  Dringlichkeitsantrag  wurde  dann 
mit  240   gegen   8   Stimmen    (der   Tschechischradikalen)    angenommen. 

*)  Von  den  beiden  Hälften  der  Monarchie  hatte  nur  Ungarn  einen 
Namen,  der  andere  Teil  hieß  offiziell  „die  im  Reichsrat  vertretenen 
Königreiche  und  Länder"  und  wurde  oft  im  politischen  Sprachgebrauch 
„die  diesseitige  Reichshälfte"  genannt.  Der  Name  „Österreich"  war  ver- 
pönt, da  er  nach  der  Auffassung  der  Patrioten  auch  Ungarn  umfaßte,  was 
von  den  Ungarn  aber  mit  Entrüstung  abgelehnt  wurde.  Oft  sagte  man 
auch  nach  dem  Grenzfluß  „Zisleithanien",  für  Ungarn  dann  „Trans- 
leithanien". 

Adler,  Briefe.   X.  Bd.  22 


338  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


Gesamtgefühl,  eine  Empfindung  der  Gesamtinteressen  Österreichs 
haben  — ,  die  Arbeiterschaft  empfindet  es  schwer,  daß  die  wich- 
tigsten wirtschaftlichen  Fragen,  und  nicht  erst  seit  vorgestern,  ent- 
schieden werden,  ohne  daß  eine  Vertretung  des  Volkes  diese  wirt- 
schaftlichen Interessen  wahrt;  wahrt  gegen  Ungarn  und  gegen  die 
Krone.  Was  geschehen  ist  und  worüber  in  diesem  Hause  eine  solche 
Entrüstung  herrscht,  der  wir  uns  bis  zu  einem  gewissen  Grade  an- 
schließen, das  ist  in  der  Tat  eine  Beleidigung  vor  allem  der  Selb- 
ständigkeit, der  Ehre  dieses  Staates  —  wenn  ein  Staat  und  eine 
Ehre  vorhanden  ist.  Mit  vollem  Bewußtsein  hat  man  sich  ent- 
schlossen, ein  vom  Hause  beschlossenes,  vom  Kaiser  sanktioniertes 
und  nach  allen  Regeln  kundgemachtes  Gesetz  einfach  zu  zer- 
reißen, und  man  bildet  sich  ein,  daß  es  seine  Verbindlichkeit 
trotzdem  behält,  weil  man  weiß,  daß  an  den  tatsächlichen  Verhält- 
nissen dadurch  nichts  geändert  wird,  und  weil  man  hofft,  und  nach 
allem,  was  man  von  Österreich  und  seinem  Parlament  kennt,  darf 
man  es  hoffen  und  erwarten,  daß  die  Konsequenzen  daraus  von 
diesem  Hause  und  von  Österreich  nicht  gezogen  werden.  Mit  vollem 
Bewußtsein  hat  man  das  getan  und  hat  das  Parlament  nicht  gefragt. 
Ja  man  hat  das  getan,  trotz  des  Einspruchs  der  zur  Wahrung  der 
österreichischen  Interessen  berufenen  Regierung,  der  ersten  Regie- 
rung, die  mit  der  Ehre  Österreichs,  mit  der  Wahrung  der  Interessen 
Österreichs  gegenüber  Ungarn  ihre  Existenz  verknüpft  hat,  die  den 
Mut  gehabt  hat,  so  wie  sie  das  Lebensinteresse  Österreichs  nach 
innen  in  der  Wahlreform  vertreten  hat,  auch  das  Interesse  und  die 
Ehre  Österreichs  nach  außen  zu  vertreten,  gegenüber  Ungarn  und 
gegenüber  der  Krone.  (Beifall.) 

Es  wird  ja  vielfach  davon  gesprochen,  als  wäre  dieser  Ziegel- 
stein, der  uns  da  auf  den  Kopf  gefallen  ist,  ein  Manöver,  das  gegen 
die  Wahlreform  erfunden  wurde;  ja  man  geht  so  weit,  zu  behaupten, 
daß  der  Ministerpräsident  Hohenlohe  diese  Gelegenheit  benützt 
hätte,  um  sich  aus  der  „Affäre  zu  ziehen",  weil  er  verzweifelt 
habe,  die  Wahlreform  durchzusetzen.  Ich  zweifle  gar  nicht,  daß, 
wenn  ein  solches  Manöver  möglich  gewesen  wäre,  es  gemacht 
worden  wäre,  wie  jedes  Manöver  gegen  die  Wahlreform.  Aber  daß 
die  Regierung  daran  teilgenommen  hätte,  ist  gewiß  falsch.  Prinz 
Hohenlohe  hat,  als  er  das  erstemal  hier  in  das  Haus  kam,  erklärt, 
daß  er  aus  dem  Kontext  der  ungarischen  Fragen  nichts  herausreißen 
lasse,  und  er  ist  als  ein  redlicher  Mann  —  gewiß  eine  bei  einem  öster- 
reichischen Minister  vollkommen  unerhörte  Erscheinung  —  bei 
seinem  Worte  geblieben.  Weil  aber  diese  Erscheinung  so  selten  ist, 
sucht  man  sich  sie  zu  erklären:  dahinter  müsse  etwas  stecken,  wenn 
jemand  ein  anständiger  Mensch  ist.  (Heiterkeit.)  Wohl  aber  —  das 
will  ich  gar  nicht  leugnen  —  gibt  es  Parteien,  Cliquen  hier  und 
jenseits  der  Leitha,  denen  dieser  Konflikt,  der  uns  hier  dazwischen 
kommt,  und  der  eine  Entwicklung,  die  das  Parlament  gesund 
machen  und  die  uns  ein  Parlament  geben  soll,  stört,  gelegen  kommt. 
Schon  in  den  ersten  Stadien  der  Wahlreform  wurde  in  tiefsinnigen 
Auseinandersetzungen  immer  auf  die  ungarischen  Dinge  hin- 
gewiesen. Ich  glaube  gern,  daß  es  den  Herren  sehr  gelegen  kommt, 


Die  ungarische  Intrige.  339 


dilti  jetzt  einen  Moment  lang  nicht  von  der  Wahlreform,  sondern 
von  Ungarn  gesprochen  wird.  Aber  die  Herren  täuschen  sich;  vor 
allein  ist  das,  was  sie  tun,  ein  ungarisches  Interesse,  oder  vielmehr, 
man  darf  Ungarn  nicht  mit  seiner  Regierung  identifizieren,  man  darf 
das  Volk  Ungarns,  möge  es  magyarisch,  slovakisch,  rumänisch 
heißen,  nicht  mit  der  Junkerclique  identifizieren,  die  dort  am  Ruder 
ist.  (Beifall.) 

Abgeordneter  Pernerstorf  er:  Betyarenclique*),  nicht  Junker! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  tis  ist  selbstverständlich,  daß  die  unga- 
rische Regierung  die  Wahlreform  hier  zu  stören  wünscht,  so  gut 
sie  kann.  Denn  es  ist  ein  wesentlich  ungarisches  Interesse,  ein  Inter- 
esse gegen  Österreich,  es  ist  das  Verderben  Österreichs,  wenn  es 
nicht  dazu  kommt,  diesem  Ungarn  ein  Parlament  entgegensetzen 
zu  können.  (Beifall.)  Wir  haben  heute  das  Haus  gesehen,  wie  es 
einen  Anlauf  nimmt,  um  stark  zu  erscheinen.  Aber,  täuschen  wir 
uns  nicht,  das.  was  wir  vor  uns  gesehen  haben,  ist  ein  Versuch 
zur  Stärke,  aber  ein  Ergebnis  der  Schwäche  des  Parlaments.  Je 
lebhafter  und  aufgeregter  Sie  darüber  reden,  um  so  weniger  werden 
Sie  die  Bevölkerung  darüber  täuschen  können,  daß  die  Schuld 
daran,  daß  das  geschehen  konnte, 

nicht  ausschließlich  bei  der  Krone  liegt, 

sondern  daß  die  Schuld  daran  liegt,  daß  Österreich  keine  Volks- 
vertretung hat,  die  man  respektieren  muß.  (Beifall.) 

Was  wird  Ihnen  hier  vorgeschlagen?  Es  wird  uns  gesagt:  Es 
darf  niemand  Minister  werden!  Wir  werden  ja  sehen!  (Heiterkeit.) 
Dann  wird  uns  gesagt:  Weg  mit  dem  §  14!  Das  soll  unsere  Maß- 
regel sein.  Aber,  meine  Herren,  beschließen  Sie  sie  doch!  Sie  sind 
ja  hier  im  Hause!  Beseitigen  Sie  den  §  14!  Sie  werden  uns  an  Ihrer 
Seite  haben.  Zur  Beseitigung  des  §  14  gehören  allerdings  auch 
andere  Faktoren  als  dieses  Haus.  Aber  sie  hätten  es  ja  sehr  bequem. 
Sie  brauchen  den  §  14  nicht  zu  beseitigen  und  könnten  sich  doch 
helfen.**)  Schicken  Sie  doch  einen  Diener  in  das  Archiv  und  lassen 

*)  Ein  in  Ungarn  übliches  Schimpfwort  für  Landstreicher  und  Wege- 
lagerer, meist  auf  den  Adel  gebraucht  und  daher  auch  in  Österreich  für  die 
ungarischen  adeligen  Politiker  üblich. 

**)  Der  §  14,  der  den  Regierungen  der  Vorwand  war,  das  Parlament 
beiseitezuschieben  (seinen  Wortlaut  siehe  Bd.  VIII,  Seite  151,  Note), 
bestimmte  wohl,  daß,  wenn  sich  die  dringende  Notwendigkeit  einer  gesetz- 
lichen Anordnung  herausstellt,  wenn  der  Reichsrat  nicht  versammelt  ist, 
das  durch  kaiserliche  Verordnung  geschehen  könne.  Aber  er  bestimmte 
auch,  daß  die  Regierung  eine  solche  Verordnung  dem  Parlament  sofort 
nach  seinem  Zusammentritt  vorleben  müsse  und  daß  die  Verordnung 
außer  Kraft  trete,  wenn  auch  nur  eines  von  beiden  Häusern  sie  nicht 
genehmige.  Dadurch  hätte  es  das  Abgeordnetenhaus  jederzeit  in  der  Hand 
gehabt,  den  versteckten  Absolutismus  der  §-14-Wirtschait  zu  beseitigen, 
wenn  es  auch  nur  ein  einzikresmal  einer  §-14- Verordnung  die  Genehmi- 
gung versagt  hätte,  weil  das  dann  jeder  Regierung  den  Mut  benommen 
hätte,  mit  dem  §  14  zu  regieren.  Aber  gerade  das  wollten  die  bürger- 
lichen Parteien  nicht,  weil  jede  hoffte,  seihst  einmal  mit  ('ein  §  14  zu 
regieren. 

22* 


340  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Sie  sich  den  Stoß  S-14-Verordnungen  geben,  denen  das  Haus  seine 
Zustimmung  noch  nicht  gegeben  hat.  Ms  ist  eine  beträchtliche 
Anzahl. 

Abgeordneter   Dr.   v.   Grabmayr*):   Lesen   Sie   meinen   Bericht! 

Abgeordneter  Dr-  Adler:  Und  wenn  Sie  sie  durch  einen  Fach- 
mann durchsehen  lassen,  so  werden  Sie  auf  die  eine  oder  andere 
kommen,  durch  deren  Ablehnung  Sie  die  ganze  §-14-Wirtschaft  und 
was  drum  und  dran  hängt  abtun  würden.  Das  können  Sie  sehr  gut 
machen  ohne  Aufwand  von  großen  Gebärden,  ohne  an  Beschlüsse 
des  Herrenhauses  und  an  die  Zustimmung  der  Krone  gebunden  zu 
sein.  Warum  machen  Sie  es  denn  nicht? 

Abgeordneter  Seitz:  Warum  haben  Sie  es  so  viele  Jahre  lang 
nicht  gemacht? 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Nein,  aus  diesem  Hause  wird  nichts! 
Und  die  Bevölkerung  wird  sich  durch  noch  so  lebhafte  Gebärden 
von  Ihnen  nicht  täuschen  lassen.  (Lebhafter  Beifall.)  Wir  sollen  kein 
Geld  für  Soldaten  hergeben,  wurde  uns  von  dieser  Seite  gesagt. 
Wir  hoffen,  die  Herren  bleiben  dabei. 

Abgeordneter  Wohlmeyer:   O  gewiß! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ja,  mir  ist  das  Pfand  nicht  ausreichend! 
(Heiterkeit.)  Wir  werden  ja  sehen! 

Dr.  v.  Derschatta  hat  eine  sehr  sachliche,  schlüssige,  in  den 
Hauptdingen  durchaus  zutreffende  Rede  gehalten.  Er  hat  darauf 
verwiesen  —  und  eine  Reihe  anderer  Herren  hat  sich  ihm  an- 
geschlossen —  wie  schrecklich  es  ist,  daß  man  in  diesem  kritischen 
Augenblick  das  Haus  sogar  vertagen  will,  daß  man 

das  Haus  nicht  früher  gefragt 

hat.  Aberfragt  man  Sie  denn  heute?  Der  Kaiser  läßt  sich 
den  Statthalter  von  Böhmen  kommen,  den  Statthalter  von  Steier- 
mark, den  Statthalter  von  Niederösterreich,  auch  einige  Leute,  die 
früher  Statthalter  waren  oder  es  demnächst  werden  sollen,  Büro- 
kraten aller  Rangsklassen,  soweit  sie  ministrabel  sind.  Es  sind 
Herren  darunter,  die  sich  gar  nicht  in  die  Sonne  getrauen  dürfen, 
geschweige  in  dieses  Haus,  Herr  v.  Wittek**)  zum  Beispiel.  Aber 

*)  Dr.  v.  Grabmayr  war  Abgeordneter  des  Tiroler  Großgrund- 
besitzes, ein  sehr  kenntnisreicher  Jurist,  aber  ein  fanatischer  Feind  der 
Wahlreform.  (Siehe  übrigens  Adlers  Antwort  an  Grabmayr  in  der  Aus- 
schußsitzung vom  26.  April.) 

Er  hat  im  Jahre  1906  im  Namen  des  Verfassungsausschusses  einen 
Bericht  über  den  §  14  erstattet,  aus  dem  sich  ergibt,  daß  von  1897  bis 
1904  nicht  weniger  als  76  Notverordnungen  auf  Grund  des  §  14  erlassen 
wurden.  (Siehe  Richard  C  harmatz:  „Österreichs  innere  Geschichte 
von  1848  bis  1907",  Bd.  II,  Seite  175). 

Wohlmeyer  war  ein  Christlichsozialer.  Vertreter  des  Land- 
gemeindenbezirkes von  St.  Polten  (Niederösterreich),  von  Beruf  Bau- 
meister. 

**)  Heinrich  v.  W  i  1 1  e  k  war  von  1897  bis  1905  Eisenbahnminister.  Vom 
21.  Dezember  1899  bis  18.  Jänner  1900  (wo  Körber  die  Regierung  antrat) 
war  er  auch  Leiter  eines  provisorischen  Beamtenministeriums  und  hat,  im 
Gegensatz  zu  dem  ebenfalls  provisorischen  Geschäftsministerium  des  Grafen 


Die  ungarische  Intrige.  'Mi 


d  u  ß  in  a  11  e  t  w  a  d  a  s  A  l>  g  e  <>  r  d  n  e  t  e  n  haus  f  r  a  g  t,  <J  a  ß 
m  an  die  A  h  g  e  o  r  d  n  e  t  e  n  i  r  a  g  e  n  w  ü  r  d  e,  d  a s  ist  der 
Krön  e  g  a  r  nicht  ei  n  gefall  e  n!  Jetzt  wundern  sie  sich  aber 
nicht,  wenn  ich  als  Verteidiger  der  Krone  und  als  Mir  Ankläger  auf- 
trete. Die  Krone  hat  in  diesem  Punkte  zunächst  recht,  wenn  sie 
meint,  daß  Sie  nicht  gescheiter  geworden  sind.  Ist  denn  der 
kritische  Moment,  in  dem  Sie  die  Mithilfe  und  Verantwortlichkeit 
des  Parlaments  so  schwer  vermissen,  alle  zusammen,  sogar  die- 
jenigen, die  am  maßvollsten  sind,  erst  heute  eingetreten,  nachdem 
die  Kuh  aus  dem  Stalle  ist?  Wußten  Sie  nicht  schon  längst,  daß 
es  einen  kritischen  Moment  gibt,  und  waren  Sie  nicht  tatsächlich 
gerade  in  den  letzten  zwei  Monaten  in  der  Lage,  die  Verantwortung 
auf  sich  zu  nehmen,  die  Führung  der  Angelegenheiten  des  Staates 
und  Österreichs  zu  übernehmen,  wenn  Sie  die  Courage  gehabt 
hätten  und  nicht  der  kläglichsten  Demagogie  unter  Ihnen  selbst 
unterliegen  würden,  dem  kläglichsten  Neid,  der  kläglichsten  Eifer- 
sucht, die  alles  ertötet?  (Beifall.)  Ich  kann  das  hier  ruhig  sagen, 
mich  wird  niemand  im  Verdacht  haben,  daß  unsere  Partei  etwa 
glaubt,  daß  wir,  wenn  die  Herren  Minister  werden,  sehr  viel  davon 
hätten.  Im  Gegenteil,  wir  wissen  sehr  gut,  daß,  wenn  ein  solches 
Ministerium  aus  den  Bürgern,  wie  sie  halt  jetzt  ausschauen,  ge- 
bildet würde,  eine  verdammt  schwere  Erziehungsarbeit  von  uns 
geleistet  werden  müßte,  bis  sie  halbwegs  so  hergerichtet  sind,  um 
mit  der  österreichischen  Arbeiterschaft  umgehen  zu  können.  (Bei- 
fall und  Heiterkeit.)  Aber  Sie  haben  nicht  das  Recht,  die  Schuld 
auf  die  Krone  allein  zu  wälzen.  Sie  sagen  heute,  wir  haben 

ein  schwaches  Parlament. 

Warum  machen  Sie  sich  kein  starkes?  Vielleicht  ist  es  erlaubt, 
ich  glaube  sogar,  es  ist  höchst  notwendig,  daß  man  weitsichtiger 
ist  als  die  Krone,  aber  kurzsichtiger,  politisch  einsichtsloser 
zu  sein  als  die  Krone,  ist  Ihnen  nicht  erlaubt,  und  gerade  das  sind 


Clary,  der  die  Anwendung  des  §  14  verweigerte,  sich  nicht  gescheut,  sich 
zum  §-14-Regieren  mißbrauchen  zu  lassen.  Unter  ihm  wurde  durch  einen 
kühnen  Vorstoß  der  Sozialdemokraten  der  Zeitungsstempel  aufgehoben. 
In  Wirklichkeit  wurde  die  Aufhebung  des  Zeitungsstempels  nur  unter 
ihm  sanktioniert,  aber  vor  seinem  Regierungsantritt  beschlossen.  Am 
17.  November  1899  hatte  das  Abgeordnetenhaus  unter  dem  Druck  der 
Arbeiterschaft  die  Aufhebung  des  Zeitungsstempels  beschlossen,  aber  das 
Herrenhaus  war  damit  nicht  einverstanden  und  wollte  in  der  Sitzung  vom 
19.  Dezember  die  Vorlage  durch  Zuweisung  an  die  Budgetkommission 
verschleppen.  Da  griff  die  sozialdemokratische  Partei  ein  und  namentlich 
die  „Arbeiter-Zeitung"  erzwang  durch  eine  Reihe  schneidiger  Artikel  (die 
von  Friedrich  Austerlitz  geschrieben  waren)  eine  öffentliche  Stim- 
mung, daß  das  Herrenhaus  nicht  mehr  den  Mut  zu  weiterer  Sabotage 
aufbrachte.  Am  21.  Dezember  nahm  das  Herrenhaus  die  Vorlage  an,  an 
demselben  Tag,  an  dem  das  Ministerium  Clary  zurücktrat  und  dem  volks- 
feindlichen Wittek  Platz  machte.  Wittek  mußte  sein  Amt  als  Eisenbahn- 
minister  verlassen,  als  seine  Mißwirtschaft  bei  den  Alpenbahnen  aufkam. 
Et  wurde  übrigens  im  Jahre  1907  von  den  Christlichsozialcn  in  der  Inneren 
Stadt    In   Wien   in   das   Parlament  gewählt,   ist   aber   1911    durchgefallen. 


342  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


Sic  gewesen.  (Beifall.)  Nicht  seit  ein  paar  Monaten,  seit  langem 
könnten  Sie  ein  Parlament  haben,  vor  dem  man  Respekt  hat.  und 
eine  Regierung,  die  Sie  selbst  respektieren  müßten,  weil  es  Ihre 
Regierung  wäre,  eine  bürgerliche  Regierung  mit  allen  Lastern  und 
Härten  einer  solchen,  aber  ein  Gebilde,  das  Ihnen  verantwortlich 
ist.  Sie  könnten  es  haben,  wenn  Sie  entschlossen  wären,  Männer 
zu  sein,  Verantwortungen  zu  übernehmen,  statt  daß  Sie  bei  Ihrem 
wichtigsten  Werke,  das  die  Regeneration,  die  Neubegründung  dieses 
Staates  bedeutet,  in  kläglichster,  verächtlicher  Weise  um  zwei 
Mandate  hinauf  oder  hinunter  geschachert  haben.  (Lebhafter  Bei- 
fall.) Da  nehme  ich  niemand  aus,  am  wenigsten  diejenigen,  die  sich 
nicht  an  dem  Schacher  beteiligt,  sondern  sich  nur  die  Hände  ge- 
rieben haben,  die,  selbst  ohne  nationales,  geschweige  chauvinisti- 
sches Bewußtsein,  jeden  Chauvinismus  geschürt  haben,  jede  natio- 
nale und  chauvinistische  Demagogie  aufgepeischt  haben,  um  nur 
den  rechtlosen  Massen  des  eigenen  Volkes  ihr  Recht  zu  nehmen. 
(Beifall.) 

So  einfach  können  wir  diese  Gelegenheit  nicht  vorübergehen 
lassen.  Wir  sind  mit  dem  Inhalt  dieser  Resolution  vollständig  ein- 
verstanden, wir  sind  einverstanden,  daß  dagegen  protestiert  wird, 
daß  ohne  das  Parlament,  ohne  das  Volk  über  das  Volk  und  gegen 
das  Volk  entschieden  wurde.  Und  es  wird  so  lange  gegen  uns  ent- 
schieden werden,  als  wir  die  Schwächeren  sind,  da  nützen  alle  Ihre 
Deklamationen  nichts.  Wenn  der  Kaiser  die  Wahl  hat 
zwischen  einer  starken  ungarischen  Regierung 
und  einer  ohnmächtigen  österreichischen  Volks- 
vertretung, so  wird  er  eben  dem  stärkeren  Drucke 
weiche  n.  Wir  alle  sind  hier  Österreicher  oder,  sagen  wir,  Bürger 
der  im  Reichsrat  vertretenen  Königreiche  und  Länder  oder  min- 
destens die  Bewohner  des  Diesseits.  (Heiterkeit.)  Und  wenn  Sie. 
die  das  sind,  Ihre  Pflicht  gegen  diesen  Staat  so  wenig  erfüllen, 
wenn  Sie  nicht  seit  heute,  sondern  seit  Jahrzehnten  die  wirtschaft- 
lichen und  politischen  Rechte  dieses  Staates  preisgegeben  haben, 
der  noch  nicht  ist,  sondern  erst  werden  soll:  wie  können  Sie 
von  dem  einzigen  Menschen  auf  der  ganzen  WTelt, 
der  zugleich  ein  Österreicher  und  ein  Ungar  is  t*). 
verlangen,  daß  er  einseitig  für  Sie  entscheide? 
(Zustimmung  und  Beifall.)  Es  ist  nicht  gut.  daß  wir  uns 

selbst  in  den  eigenen  Sack  lügen, 

es  ist  nicht  gut.  daß  wir  uns  an  Phrasen  berauschen,  und  ins- 
besondere, daß  wir  an  gewissen,  sehr  bequemen,  insbesondere  für 


*)  Der  Kaiser!  —  Es  hat  übrigens  nach  dem  komplizierten  öster- 
reichisch-ungarischen Recht  auch  eine  Reihe  von  adeligen  Familien  ge- 
geben, die  zugleich  Österreicher  und  Ungarn  waren.  Sie  besaßen  in  Öster- 
reich die  Staatsbürgerschaft  und  in  Ungarn  das  „Indigenat"  als  Fidei- 
kommißbesitzer.  Meist  diente  das  zu  irgendwelchen  außerrechtlichen 
Bevorzugungen.  So  hat  der  christlichsoziale  Führer  Prinz  Alois  Liech- 
tenstein eine  geschiedene  Katholikin  heiraten  können,  was  nach  öster- 


I  )k-  ungarische  Intrigq.  - 1 

iiimiiinc  Herren  sehr  bequemen  Invektiven  und  Redensarten  es  uns 

genug  sein  lassen.  Viel  Wichtiger  als  das  vorzuschreiben,  was 
andere  tun  sollen,  ist  es,  zu  sagen»  was  wir  zu  tun  haben.  Wenn 
die  Ohrfeige,  die  diese  Reichshälfte  bekommen  hat,  der  Beginn  eines 
gemeinschaftlichen  Staatsbewußtseins  Österreichs  wäre  und  wenn 
dieses  erwachende  Bewußtsein  auch  zum  Pflichtbewußtsein  führen 
würde,  zur  Abstreifung  der  Gesinnungslosigkeit  und  des  Cliquen- 
egoismus, der  chauvinistischen,  selbstmörderischen  Demagogie,  vor 
deren  Früchten  Ihnen  allen  bange  ist!  Sie  alle  erleben  es,  daß  das, 
was  Sie  zu  einer  Zeit,  wo  es  Ihnen  gefällt,  hinausrufen,  Ihnen  zu 
sehr  ungelegener  Zeit  im  tausendfachen  Echo  zurückkommt,  wo  Sie 
dann  Opfer  Ihrer  eigenen  Schlagworte  sind;  wenn  wir  uns  dann 
endlich  erinnern,  daß,  wenn  wir  die  Interessen  Österreichs  sichern 
wollen,  wir  dazu  einen  Staat,  eine  Volksvertretung  brauchen;  wenn 
es  Ihnen  zum  Bewußtsein  kommt,  daß  dieses  Ereignis  nicht  die 
Wahlreform  verdrängen  darf,  sondern  der  wichtigste 
Hebel  sein  muß,  eine  Gewissensmahnung  für  das 
ganze  Parlament,  daß  es  endlich  sich  ermanne  und 
nicht,  um  ein  paar  Mandate  zu  retten,  die  heilig- 
sten Interessen  des  Volkes  preisgeben  solle;  wenn 
das  damit  nur  annähernd  bewirkt  wird,  so  will  ich  diese  Ohrfeige 
dankbar  tragen.  Aber  ich  halte  Sie  alle  —  ich  spreche  zu  niemand 
persönlich,  aber  zum  österreichischen  Parlament  in  seiner  Gesamt- 
heit —  für  zu  hartgesottene  Sünder! 

Ich  fürchte,  daß  auch  diese  Mahnung  an  Ihnen  verlorengehen 
wird,  daß  nicht  die  Erkenntnis,  das  Pflichtgefühl,  sondern  daß  die 
eherne  Notwendigkeit,  das  Verständnis,  welches  die  iVlassen  Ihnen 
einpauken  werden,  es  sein  werden,  die  Sie  vorwärtstreiben.  Sie 
kommen  nicht  mehr  darum  herum:  Österreich  will  eine  Volks- 
vertretung, und  glauben  Sie  nicht,  daß  Sie  sich  durch  künstliche 
Mittel,  und  mögen  sie  mit  §-14-Verordnungen  oder  mit  Vertagungen 
irgendwelcher  Art  wattiert  sein,  darüber  hinweghelfen  werden. 
Nach  meiner  Ansicht  sollte  in  der  Resolution  auch  gesagt  werden, 
daß  wir  die  Vertagung  nicht  nur  darum  nicht  wollen,  weil  wir  gegen 
neue  Überrumpelung  von  seiten  Ungarns  gesichert  sein  wollen 
—  vorläufig  haben  wir  genug  daran,  die  alte  zu  verdauen,  es  droht 
noch  nichts  Neues  — ;  viel  wichtiger  ist,  daß  die  Ver- 
tagung darum  nicht  erfolgen  darf,  weil  das  Werk 
der  W  a  h  1  r  e  f  o  r  m,  s  o  1 1  Österreich  nicht  nur  regene- 
riert, soll  es  nicht  in  ein  großes,  unübersehbares 
Unglück  gestoßen  werden,  gerettet  werden  muß. 
(Lebhafter  Beifall  und  Händeklatschen.) 

reichischem  Gesetz  (§  111  des  bürgerlichen  Gesetzbuches)  verboten  war, 
weil  er  das  ungarische  Indigenat  hatte,  also  einfach  nach  ungarischem  Ge- 
setz heiratete.  Zugleich  war  er  aber  österreichischer  Abgeordneter!  Seine 
religiösen  Bedenken  hatte  ihm  wieder  die  päpstliche  Kurie  weg- 
genommen, indem  sie  die  erste  Ehe  der  Frau  wegen  angeblichen  Nicht- 
vollzugs  als  ungültig  erklärte.  So  konnte  der  fanatische  Klerikale  eine 
geschiedene  Trau  heiraten,  obwohl  ihre  erste  lihe  nach  österreichischem 
Gesetz  aufrecht   war! 


344  Per  Steg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Die  neue  Regierung  Beck. 

Zwanzig  Versammlungen  am  6.  Juni  190  6*). 

Sie  gedenken  noch  jenes  großen  Tages,  des  28.  November,  des 
großen  Ehrentages  der  österreichischen  Arbeiterschaft.  An  diesem 
Tage  hat  auch  die  Regierung  in  Übereinstimmung  mit  dem  Willen 
des  Kaisers  die  Einbringung  der  Vorlage  angekündigt.  Sie  werden 
sich  dieser  Stunden  erinnern  und  wenn  Sie  hundert  Jahre  alt  wer- 
den. Es  ist  ein  halbes  Jahr  seitdem  verflossen  und  wo  stehen  wir 
nun:  vor  der  Spezialdebatte  im  Ausschuß.  Ein  halbes  Jahr  und  noch 
ist  kein  einziger  Paragraph  angenommen,  keine  Abstimmung  er- 
folgt. Allerdings  hat  sich  viel  geändert  in  dieser  Zeit.  Vor  allem  ist 
in  der  öffentlichen  Meinung,  nicht  nur  der  Arbeiterschaft,  sondern 
auch  der  besitzenden  Klassen  die  Stimmung  gegen  die  Wahlreform 
vollständig  verschwunden.  Die  Idee  ihrer  Notwendigkeit  und  Un- 
vermeidlichkeit hat  heute  auch  die  besitzenden  Klassen  so  ergriffen, 
daß  selbst  wir  nicht  so  überrascht  wären,  wenn  eine  Wahlreform 
nicht  zustande  käme,  wie  sie.  Sie  halten  es  einfach  selbst  nicht  mehr 
aus  bei  ihren  Privilegien.  Was  hat  sich  aber  trotzdem  während  der 
sechs  Monate  ereignet?  Vor  allem  hat  die  Sache  ihren  regelrechten 
Lauf  nehmen  müssen.  Lange  Generaldebatten  mit  alten  Gemein- 
plätzen ausstaffiert  und  Klagen  über  das  Unglück,  das  es  für  die 
deutsche  Nation  wäre,  wenn  sie  nicht  mehr  durch  die  Herren  Stürgkh 
und  Pergelt  vertreten  wäre.  Dann  kam  der  Handel  um  die  Mandats- 
verteilung, die  Ränke  der  Leute,  die  es  nicht  wagen,  offen  gegen 
die  Wahlreform  zu  sein  und  ihre  Märchen  vom  deutschen  und 
slawischen  Block  und  von  der  nationalen  „Spannung"**)  erfanden. 
Diese  Lügen  sind  geschmiedet  worden,  um  der  Wahlreform  zu 
schaden,  und  in  den  Wiener  Blättern,  zumal  in  der  „Neuen  Freien 
Presse",  diesem  giftigen  Feinde  der  Wahlreform,  werden  sie  aufs 
eifrigste  kolportiert.  Allmählich  ist  es  aber  dazu  gekommen,  daß 

*)  Am  7.  Juni  stellte  sich  das  neue  Ministerium  Beck,  dessen  Zu- 
sammensetzung oben  angegeben  ist,  dem  Parlament  vor.  Am  Abend  vorher 
veranstalteten  die  Wiener  Sozialdemokraten  zwanzig  Versamm- 
lungen, die  alle,  trotz  des  schlechten  Wetters,  überfüllt  waren.  Wieder 
ertönte  überall  der  Ruf  nach  dem  Massenstreik.  Im  Arbeiterheim  Favoriten 
sprach  Adler. 

**)  Die  deutschbürgerlichen  Parteien  hatten  gegen  die  Wahlreform  das 
Argument  vorgebracht,  daß  die  Deutschen  von  den  Slawen  dann  majorisiert 
werden  könnten  und  es  tauchte  dann  das  Schlagwort  von  den  beiden 
Blocks  auf.  dem  „deutsch-romanischen"  und  dem  „slawischen  Block"  . . . 
Hohenlohe  hatte  am  25.  Mai  dem  Wahlreformausschuß  seinen  neuen  Kom- 
promißvorschlag gemacht,  wonach  die  Zahl  der  Mandate  auf  495  erhöht 
werden  sollte,  davon  die  Deutschen  223,  die  Italiener  18,  die  Rumänen  5, 
also  der  „deutsch-romanische  Block"  246;  die  Tschechen  103,  die  Polen  77, 
die  Ruthenen  35  und  die  Südslawen  36,  der  „slawische  Block"  also  251! 
Die  Größe  dieser  „Spannung"  zwischen  beiden  „Blocks"  war  der 
Gegenstand  des  Kampfes.  Und  um  solche  Schlagworte  ging  damals  der 
Kampf.  (Siehe  auch  die  Fußnote  bei  Adlers  Rede  im  Ausschuß  am  25.  Mai 
gegen  ein  Suhkomitee.) 


Die  neue  Regierung  Beck'. 


die  prinzipielle  Grundlage  der  Wahlreform  gar  nicht  mehr  in  Präge 
steht,  und  wenn  heute  einer  noch  für  die  Erhaltung  der  Kurien 
einträte,  würde  man  ihn  für  einen  Tollhäusler  halten.  Worüber  allein 
diskutiert  wird,  ist  die  Abwägung  der  Machtverhältnisse  zwischen 
den  einzelnen  Völkern,  und  hinter  diese  Frage  verstecken  sich  alle 
Wahlrechtsfeinde.  Nun  hat  man  auch  die  furchtbarsten  Feinde,  die 
Polen,  befriedigt,  und  nachdem  man  ihnen  Gautseh  hatte  zum  Opfer 
bringen  müssen,  schien  es,  als  ob  Hoherilohe  der  Mann  sein  werde, 
der  die  Sache  ins  Geleise  bringt.  Keinem  schien  der  Erfolg  so  ver- 
bürgt zu  sein  wie  ihm.  Ein  Mann,  der  es  so  ernst  gemeint  hat  mit 
der  Wahlreform  wie  mit  seinem  eigenen  Leben;  ein  Mann,  der  nicht 
nur  Begeisterung,  sondern  auch  energisches  Wollen  an  die  Idee  zu 
setzen  vermochte,  dem  es  schon  gelungen  war,  die  Polen  zu  be- 
friedigen und  die  Deutschen  zu  beschwichtigen;  da  fiel  ihm  ein 
Ziegelstein  auf  den  Kopf,  die  ungarische  Affäre.  Unsere  bürgerlichen 
Parteien  sind  im  Verhältnis  zu  Ungarn  entweder  größenwahnsinnig 
und  möchten  die  Ungarn  auf  dem  Kraut  fressen,  Ungarn  erobern, 
oder  sie  wollen  ganz  „los  von  Ungarn".  Oft  wollen  sie  beides  zu- 
gleich und  beides  ist  töricht.  Das  Vernünftige,  was  wir  wollen,  ist, 
daß  die  Völker  Österreichs  einen  unabhängigen  Staat  bilden,  unab- 
hängig von  der  Fiktion  des  „Gesamtstaates",  von  der  kostspieligen 
Komödie  des  Großstaates,  aber  zugleich,  daß  die  wirtschaftlichen 
Interessen  der  beiden  aufeinander  angewiesenen  Länder  gemeinsam 
seien.  Wir  wollen  die  Ungarn  nicht  unterdrücken,  wir  w-ollen  aber 
auch  nicht  von  ihnen  unterdrückt  werden.  Wir  wollen  einen  freien 
wirtschaftlichen  Bund  zweier  freier,  voneinander  unabhängiger 
Staaten.  Ein  Schrei  der  Entrüstung  ging  durch  die  bürgerlichen 
Parteien,  als  die  ungarische  Schmach  besiegelt  war.  Aber  die  Leute, 
die  heute  am  meisten  schreien  im  Parlament,  sind  dieselben  Leute, 
die  in  den  Delegationen  immer  den  Rücken  gebeugt  haben,  wenn 
das  dynastische  Interesse  für  den  Gesamtstaat  Opfer  heischte,  und 
alle  geforderten  Millionen  bewilligten.  Diese  Leute  übrigens,  diese 
giftigsten  Feinde  der  Wahlreform,  die  gewohnt  sind,  mit  „patrioti- 
schem Opfermut"  Summen  zu  bewilligen,  die  das  Volk  bezahlen 
muß,  verweigern  dem  Kaiser  den  Gehorsam  in  einem  Augenblick, 
wo  er  von  ihnen  selbst  zum  ersten-  und  einzigenmal  ein  persön- 
liches patriotisches  Opfer  fordert,  das  Opfer  ihrer  schändlichen, 
den  Staat  ruinierenden  Privilegien. 

Nun  stehen  wir  vor  einer  neuen  Regierung,  deren  Haupt  uns 
geschildert  wird  als  besonders  kluger,  erfahrener  und  energischer 
Mann.  Wir  wissen  nicht,  ob  sein  Ruf  der  Wahrheit  entspricht,  aber 
wir  werden  es  in  längstens  vierzehn  Tagen  genau 
wissen.  Die  entscheidende  Probe  wird  er  bei  der  Wahlreform 
zu  bestehen  haben.  Nicht  ungeschickt  war  ja  die  Art,  wie  er  die 
deutschen  und  tschechischen  Abgeordneten  in  sein  Ministerium 
bekam.  Das  war  ja  nicht  leicht.  Ob  aber  die  parlamentarischen 
Minister  ihre  Parteien  hinter  sich  haben  werden.  Mann  für  Mann, 
das  ist  noch  die  Frage  . . .  Wenn  Sie  sich  die  bürgerlichen  Parteien 
SO  vorstellen  wie  uns.  als  eine  organisierte  Armee  mit  einheitlichem 


346  Der  Sic«  des  gleichen  Wahlrechts. 


Willen  und  gleichem  Ziel,  so  sind  Sie  im  Irrtum.  Wenn  in  einer 
solchen  Partei  25  Leute  sitzen,  so  haben  sie  M)  Meinungen.  (Heiter- 
keit.) Sie  versammeln  sich  nur  unter  den  allgemeinsten  Schlag- 
worten, denn  es  kann  in  diesem  Parlament  ja  gar  kein  ernstes  poli- 
tisches Streben  ausreifen,  kein  ernster  Wille  zum  Ausdruck  kommen. 
Aber  das  muß  man  nun  doch  ernstlich  verlangen,  daß  die  Minister 
für  ihre  Parteien  verantwortlich  sind  und  diese  auch  die  Verant- 
wortung für  sie  nicht  ablehnen  werden,  denn  dem  Spiele  mit  dem 
ewigen  Abwälzen  der  Verantwortung  von  der  Regierung  auf  die 
Parteien  und  umgekehrt  haben  wir  lange  genug  ruhig  zugesehen. 

Wo  die  Regierung  zunächst  und  sofort  ihren  einheitlichen  Willen 
und  ihre  Fähigkeit  zu  regieren  bekunden  wird  müssen,  der  Prüf- 
stein für  ihre  Lebensfähigkeit  ist  die  Wahlreform.  Und  ihre  Tage 
sind  schon  gezählt,  wenn  sie  sich  unfähig  erweisen  sollte,  dieses 
Werk  rasch  und  prompt  zu  verrichten.  Es  kann  nicht  schwer  sein, 
denn  wenn  sie  mit  dem  faulen  Schwindel,  daß  die  Ehre  und  die 
Machtstellung  der  deutschen  und  tschechischen  Nation  von  zwei 
Mandaten  auf  oder  ab  abhängt,  nicht  fertig  werden,  und  wenn  sie 
mit  der  Pflanzpolitik  der  Festlegung  der  Wahlordnung  durch 
Zweidrittelmajorität,  die  den  Deutschen  nichts  nützen  und  den 
Tschechen  nichts  schaden  kann,  nicht  aufzuräumen  vermöchte,  dann 
wäre  sie  von  vornherein  fertig.  Heute  brauchen  wir  nicht  mehr  zu 
warten,  bis  sich  die  Regierung  mit  den  Parteien  einigt.  Regierung 
und  Parteien  sind  heute  eines  und  uns  solidarisch  verantwortlich 
dafür,  daß  nunmehr  die  Wahlreform  vorwärts  geht.  Es  wird  noch 
immer  schwer  werden,  selbst  beim  besten  Willen.  Die  Zeit  drängt 
bereits,  und  so  groß  ist  die  Begeisterung  der  Privilegierten,  die  den 
Wahlreformbeschluß  doch  als  eine  Art  Harakiri  betrachten,  denn 
doch  nicht,  daß  sie  sich  gar  sehr  zu  beeilen  wünschten.  Aber  ein 
bißchen  Einsicht  muß  den  Herren  sagen,  daß  jede  Verzöge- 
rung ein  gefährliches  Spiel  ist. 

Ich  zweifle  nicht,  daß  die  morgige  Regierungserklärung  ein  Be- 
kenntnis zur  Wahlreform  enthalten  wird,  nicht  so  begeistert  viel- 
leicht wie  das  des  Prinzen  Hohenlohe,  aber  darum  herumkommen 
kann  heute  keine  Regierung.  Was  aber  notwendig  ist,  ist  der  Ent- 
schluß, rasch  zu  handeln,  denn  jedes  Zögern  bringt  Gefahr,  d  i  e 
Gefahr,  da  ßdasProletaria  teseinfachnichtlängeraus- 
h  ä  1 1.  Begeisterung  können  wir  ja  von  einem  Grafen  Dzieduszycki 
nicht  verlangen,  aber  ein  rascher  Entschluß  tut  auch  den  Polen 
not  und  sie  wissen,  daß  Sie  wissen,  daß  auch  ihnen  das  Feuer  auf  den 
Nägeln  brennt  und  daß  Galizien  eine  böse  Erntezeit  beschieden  sein 
könnte,  wenn  die  Wahlreform  bis  dahin  nicht  fertig  ist.  Wie  sich 
die  Herren  innerlich  und  prinzipiell  zur  Wahlreform  stellen,  ist  uns 
sehr  gleichgültig,  stimmen  sollen  die  Herren!  (Sehr  richtig!) 

Ich  nehme  an,  daß  die  Herren  klug  genug  sind,  zu  begreifen;  daß 
es  sich  für  sie  dabei  um  Leben  und  Sterben  handelt,  denn 
darüber  können  sie  wohl  nicht  im  Zweifel  sein,  daß  sie  weggefegt 
würden  von  einem  gewaltigen  Sturm,  wenn  sie  nur  einen  Augen- 
blick den  Versuch  der  Täuschung  machen  würden.  Hoffen  wir,  daß 


Bienerths  und  Becks  Erklärungen. 

die  Wahlreform  nicht  noch  ein  drittes  Ministerium  verschlingt  daß 
diese  Regierung  vernünftig    genug  sein    wird,    sich  und    uns    d  i 
Äußerste  zu  ersparen.   Für   uns  aber  lieil.it  es  nun  die   Augen  offen 
halten,    Gewehr    bei  Fuß    stehen    und    bereit    sein    zur    letzten    und 
größten  Kraftanstrengung*).  (Stürmischer,  anhaltender  Beifall.) 

Ich  weiß,  Genossen,  daß  es  sehr  schwer  ist,  eure  auf  harte  Probe 
gestellte  Geduld  noch  länger  zu  zügeln.  Sollte  der  schicksalsschwere 
Fall  eintreten,  daß  sie  die  Wahlreform  noch  bis  zum  Herbst  ver- 
schleppen wollen,  so  wäre  das  der  Kriegsfall  und  dann  allerdings 
müßte  ohne  Hedenken  zum  Äußersten  geschritten  werden.  (Stürmi- 
sche Zustimmung.)  Wenn  die  Gegner  nur  ein  einzigesmal  einen 
Blick  tun  könnten  in  das  Innere  der  Arbeitermassen,  wenn  sie  das 
Volk  sehen  könnten,  von  dem  sie  immer  reden,  dann  würden  sie 
schaudernd  zurückbeben  davor,  diese  Verantwortung  zu  über- 
nehmen und  das  noch  hinausschieben  zu  wollen,  was  sich  nicht  mehr 
verhindern  läßt.  Freilich,  der  Staat  hat  Kanonen  und  die  S  t  ü  r  g  k  h 
und  P  e  r  g  e  1 1  wissen,  daß  sie  nicht  für  ihr  armseliges  Leben  zu 
zittern  brauchen.  (Rufe:  Wer  weiß!)  Aber  es  stehen  heiligere  und 
größere  Güter  auf  dem  Spiele  als  das  nichtige  Leben  dieser  Herren. 
(Stürmischer  Beifall.)  Jetzt  aber,  Genossen,  müssen  Sie  warten, 
müssen  Geduld  haben,  die  Entscheidung  ist  nahe!  Halten  Sie  sich 
bereit!  (Rufe:  Wir  sind  bereit!) 

Bienerths  und  Becks  Erklärungen. 

Wahlreformausschuß,  7.  und  8.  Juni  190  6**). 

Dr.  Adler  erklärte,  er  müsse  sich,  so  sehr  er  der  Ansicht  sei, 
daß  der  Ausschuß  nicht  mehr  Zeit  verlieren  soll,  der  Situation 
fügen,  und  stimme  dem  Vorsitzenden  darin  zu,  daß  man  die  Er- 
klärungen des  Ministerpräsidenten  abwarten  soll.  Er  richtet  aber 

*)  Man  kann  schon  aus  dieser  Rede  erkennen,  wie  lächerlich  die  Be- 
hauptung ist,  die  unter  anderem  von  Josef  Redlich  in  seinem  Buch  über  den 
Kaiser  Franz  Josef  aufgestellt  wurde,  daß  Kaiser  Franz  Josef  „in  der  Tat 
der  wahre  Schöpfer  des  allgemeinen  Wahlrechtes"  sei.  Hier  und  ebenso  in 
den  späteren  Reden  kann  man  sehen,  mit  welchem  Druck  die  Arbeiter  diese 
Wahlreform  erzwingen  mußten.  Jeder  wußte,  daß  man  in  den  Beratungen 
der  Partei  schon  den  Massenstreik  erwog,  der  wenige  Tage  später  schon 
ganz  offiziell  angedroht  wurde.  (Siehe  die  Bemerkungen  bei  der  Rede  vom 
11.  Juni.) 

**)  Am  7.  Juni  stellte  sich  dem  Abgeordnetenhaus  die  neue  Regierung 
13  e  c  k  mit  einer  ausführlichen  Programmrede  des  neuen  Ministerpräsidenten 
vor.  Beck  begann  mit  der  Erklärung,  mit  Rücksicht  auf  die  Teilnahme  von 
Mitgliedern  und  Vertrauensmännern  großer  Parteien  des  Hauses  glaube  die 
Regierung  das  ehrende  Beiwort  einer  parlamentarischen 
Regierung  in  Anspruch  nehmen  zu  dürfen.  Die  Mitwirkung  dieser  Ver- 
trauensmänner biete  dem  Parlament  die  Bürgschaft  dafür,  daß  es  mit  Be- 
ruhigung der  Führung  der  Regier  u  n  g  folgen  könne.  Dann  sprach  er 
ausführlich  von  dem  Verhältnis  zu  Ungarn  —  die  Angelegenheit,  über  die 
sein  Vorgänger  Hohenlohc  gestürzt  war.  Als  sein  Programm  erklärte  er 
hier:  wenn  sie  möglich  ist,  eine  Vereinbarung  mit  Ungarn,  wenn  sie  un- 
möglich ist,  Selbständigkeit  für  Österreich... 


348  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


an  den  M  i  n  i  s  t  e  r  d  e  s  Innern  die  A  n  f  r  a  g  e,  ob  das  von  dem 
früheren  Ministerpräsidenten  Prinzen  Hohenlohe  für  die  nächste 
Ausschußsitzung  in  Aussicht  gestellte  Material  bezüglich  der 
Mandats-  und  der  Wahlkreiseinteilung  für  die  einzelnen  Kron- 
länder fertig  sei  und  ob  die  Regierung  geneigt  sei,  dieses  Material 

Zur  Wahlreform,  die  er  als  eine  Quelle  der  Verjüngung  und  Stärke 
des  parlamentarischen  Lebens  bezeichnete,  sagte  er: 

Die  Regierung  befindet  sich  der  Wahlreformvorlage  gegenüber  in  der 
Lage  eines  Universalerben.  Ohne,  über  den  Stand  des  Nachlasses 
zweier  Vorgänger  im  Amte  im  einzelnen  mich  aussprechen 
zu  wollen,  gebe  ich  doch  die  Erklärung  ab,  daß  die  Regierung  die 
Erbschaft  ohne  Vorbehalt  antritt. 

Die  Regierung  übernimmt  die  Vorlage  und  will  sie  ent- 
schlossen dem  Ziele  zutragen.  Ihr  Leitwort  ist:  Die  Verständi- 
gung in  der  Wahlreform  m  u  ß  g  e  f  u  n  d  e  n  werden.  Sie  weiß, 
in  welchem  Maße  diese  Frage  das  gesamte  politische  Leben  beherrscht 
und  wie  unerläßlich  eine  baldige  gedeihliche  Lösung 
i  s  t,  um  die  Tätigkeit  des  Parlaments  für  das  Problem  des  Verhältnisses 
zu  Ungarn,  für  die  in  so  vielen  Beziehungen  dringende  Modernisierung 
unserer  staatlichen  Einrichtungen,  für  die  Fragen  der  inneren  Verwaltung 
und  Wirtschaftspolitik  und  ähnliche  Probleme  freizumachen,  für  diese 
großen  Aufgaben  ein  gekräftigtes,  volkstümliches,  in  den  Ideen  der  Be- 
völkerung fest  wurzelndes  Abgeordnetenhaus  zu  besitzen. 

Die  Regierung  wird  daher  alles  daranwenden,  um  die  Hindernisse, 
die  sich  dem  Fortschreiten  der  parlamentarischen  Verhandlungen  über 
diese  Vorlage  bisher  entgegenstellen,  zu  bewältigen,  und  wird 
es  als  ihren  ersten  Erfolg  betrachte  n,  wenn  es  gelingt, 
durch  eine  Verständigung  über  die  noch  strittigen  Punkte  der  Wahl- 
reform die  Beschlußfassung  über  diese  Vorlage  im  Hause  herbeizuführen 
und  zu  beschleunigen.  Und  dies  wird  auch  gelingen,  wenn  wir  die  Ver- 
ständigung im  Geiste  der  Einmütigkeit,  der  Gerechtigkeit, 
der  Billigkeit  und  mit  starkem  Wollen  suchen,  wenn  wir  bereit 
sind,  mit  kleinen  Opfern  eine  so  große  Errungenschaft 
zu  erkaufen.  Dann  wird  aber  auch  die  Wahlreform  als  die  Ema- 
nation des  großen  Gesamtempfindens  aller  Völker 
Österreichs  erscheinen  und  das  Werk  des  natio- 
nalen Friedens  fördern.  (Gelächter  bei  den  Alldeutschen.) 

Die  „Arbeiter-Zeitung"  nannte  es  eine  „klug  verfaßte  und  geschickt  auf- 
gebaute Rede,  die  auf  die  Stimmungen  des  hysterischen  Parlaments  so 
gänzlich  eingehe,  daß  vieles  darin  mehr  taktische  Erwägung  als  prinzipielle 
Programmpolitik"  sei. 

An  die  Rede  schloß  sich  keine  Erklärungsdebatte.  Die  Wahlreformgegner 
hatten  es  beantragt,  das  Haus  lehnte  es  ab. 

An  demselben  Tage  hielt  der  Ausschuß  nur  eine  kurze  Sitzung  ab.  Beck 
hätte  ursprünglich  hier  erscheinen  und  eine  Erklärung  zu  den  meritorischen 
Fragen  der  Reform  geben  sollen.  Er  war  aber  am  Erscheinen  verhindert, 
da  er  an  dem  Hofdiner  zu  Ehren  des  beim  Kaiser  Franz  Josef  zu  Besuch 
weilenden  Kaisers  Wilhelm  teilnehmen  mußte.  Die  Ausschußsitzung  dauerte 
auch  deshalb  nur  kurz,  weil  die  Ausschußmandate  von  vier  Mitgliedern 
(Derschatta,  Prade,  Marchet,  Dzieduszycki),  da  sie  Minister  geworden 
waren,  erloschen  waren  und  Neuwahlen  vorgenommen  werden  mußten, 
was  erst  am  nächsten  Tag  geschah.  Der  bisherige  Obmann  Dr.  Marchet 
wurde  durch  den  bisherigen  Vizeobmann,  den  Slowenen  Dr.  P  1  o  j,  ersetzt. 


Die  letzte  Warnung.  349 


bis  morgen  zur  Verfügung  zu  stellen.  Wie  immer  sich  die  Regie- 
rung zu  den  Anregungen  des  Prinzen  Mohcnlohe  stellen  werde, 
jedenfalls  werde  es  wünschenswert  sein,  die  konkreten  Einzelheiten 
darüber  zu  wissen. 

Dr.  Adler*)  bemerkt,  es  sei  außerordentlich  bedauerlich,  daß 
gerade  Böhmen  und  Mähren  eine  Lücke  in  den  Ausarbeitungen  des 
Ministeriums  bilden;  aber  es  werde  schon  von  großem  Vorteil 
sein,  wenn  der  Obmannstellvertreter  sich  mit  dem  Büro  des 
Hauses  in  Verbindung  setze  und  dafür  sorge,  daß  das  bereits  über- 
sendete Material  dem  Ausschuß  morgen  zur  Verfügung  gestellt 
werde.  Die  Regierung  aber  möge  sich  bemühen,  den  noch  feh- 
lenden Teil  des  Materials  bis  zur  morgigen  Ausschußsitzung  bei- 
zustellen. Für  jeden  Fall  halte  ich  es  für  völlig  ausgeschlossen,  daß 
die  morgige  Sitzung  aus  irgendeinem  Grunde  ausfalle.  Die  für 
morgen  zu  erwartenden  Erklärungen  des  Ministerpräsidenten 
müssen  gehört  werden,  und  wir  werden  sofort  zur  Fortführung  der 
Diskussion  und  zur  Beschlußfassung  in  der  Lage  sein.  Er  beantrage 
deshalb,  die  nächste  Sitzung  morgen  um  5  Uhr  nachmittags  ab- 
zuhalten und  auf  die  Tagesordnung  die  Fortsetzung  der  Verhand- 
lung und  eventuell  auch  die  Wahl  eines  Obmannes  zu  stellen**). 

Die  letzte  Warnung. 

Zehn  Versammlungen  am   11.   Juni   1906***). 

Es  ist  eine  sehr  ernste  Stunde,  in  der  wir  Sie  zusammengerufen 
haben.  Seit  dem  28.  November,  wo  angesichts  des  Volkes  Baron 

*)  Auf  die  Anfrage  Adlers  antwortete  der  Minister  des  Innern  Doktor 
v.  B  i  e  n  e  r  t  h,  infolge  des  Regierungswechsels  habe  das  Büro  des  Hauses 
das  ihm  übermittelte  Material  noch  nicht  drucken  lassen,  es  werde  aber 
schon  vor  der  nächsten  Sitzung  erfolgen.  Das  Material  sei  allerdings  nicht 
ganz  vollständig,  da  die  Zusammenstellungen  für  zwei  Kroniänder  noch  nicht 
erfolgen  konnten. 

**)  Am  nächsten  Tage  wurden  dem  Ausschuß  tatsächlich  die  Vorschläge 
Hohenlohes  über  die  Wahlkreiseinteilung  vorgelegt. 

In  dieser  Sitzung  sprach  auch  Beck,  der  sich  aber  im  wesentlichen  auf 
seine  Erklärungen  im  Hause  berief.  Dann  sagte  er,  der  Wahlrechtskampf 
müsse  bald  abgeschlossen  werden,  wenn  unser  öffentliches  Leben  völlig 
gesunden  solle.  Darum  bittet  er  dringend:  Gehen  Sie  mit  uns  ohne  Zögern 
an  diese  verantwortungsvolle  Aufgabe,  von  deren  Lösung  wir  im  Wege 
einer  Konzentration  der  Volkskräfte  ein  verjüngtes  Parlament,  ein  ver- 
jüngtes Österreich  erwarten...  Was  den  formalen  Vorgang  betrifft,  glaubt 
die  Regierung,  daß  sofort  in  die  vom  Ausschuß  bereits  beschlossene  Spezial- 
debatte  eingegangen  werden  soll . . . 

Da  der  Alldeutsche  Stein  zu  der  Erklärung  lange  sprach,  protestierte 
Adler  dagegen,  daß  man  an  Stelle  der  Spezialdebatte  eine  Erklärungs- 
debatte zulasse.  Es  sei  keine  Zeit  mehr  zu  verlieren.  Die  Nerven  der  Be- 
völkerung hätten  auch  nur  ein  gewisses  Maß  von  Elastizität,  das  n  i  c  h  t 
überspannt  werden  dürfe  ...  Stein  verwahrt  sich  dann  gegen  diese 
Drohungen. 

'*)  Die  großen   nationalen  Parteien  des  Bürgertums  hatten  sich   durch 
den  Eintritt  in  die  Regierung  Beck  für  die  Wahlreform  ausgesprochen.  Beck 


350  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


Gautsch  im  Namen  und  im  Auftrag  des  Kaisers  das  allgemeine 
gleiche  Wahlrecht  versprochen  hat,  haben  die  Arbeiter  Österreichs 
gewartet,  ruhig,  mit  angehaltenem  Atem,  ohne  sich  zu  rühren,  weil 
sie  wußten,  daß  das,  was  die  Wahlreform  unüberwindlich  macht, 
nicht  nur  der  Wille  des  Volkes,  sondern  auch  das  Lebensinteresse 
des  Staates  ist.  Krone  und  Volk  sind  einig,  was  steht  also  noch  im 
Wege?  (Rufe:  Die  Lumpen  im  Parlament!)  Ja,  wenn  diese  Leute 
nur  Lumpen  wären,  wenn  sie  nicht  auch  die  Macht,  nicht  außer 
Niederträchtigkeit  auch  die  Schlauheit  und  Kaltblütigkeit  hätten, 
der  Wahlreform  immer  Prügel  vor  die  Füße  zu  werfen.  Zwei  Mini- 
sterien haben  sie  schon  verzehrt.  Baron  Gautsch  ist  gefallen,  weil 
die  Schlachta  seinen  Kopf  verlangt  hat,  und  Prinz  Hohenlohe  ist 
gestürzt,  weil  er  das  Recht  Österreichs  ehrlich  vertreten  hat  und 
sich  nicht  vor  Ungarn  beugen  wollte.  Und  nun  sucht  man,  die 
einen  bewußt,  die  anderen  unbewußt,  den  Streit  mit  Ungarn  an 
die  erste  Stelle  zu  rücken,  damit  die  Wahlreform  zurücktrete.  Wir 
haben  niemals  einen  Zweifel  übriggelassen,  daß  wir  das  Verhältnis 
zu  Ungarn  gründlich  lösen  wollen,  daß  wir  dieses  Österreich  zu 
einem  freien,  selbständigen  Staat  machen  wollen.  Aber  die  Ver- 
handlungen, die  da  notwendig  sind,  werden  sich  monatelang  hin- 
ziehen müssen,  und  die  erste  Bedingung,  daß  sie  überhaupt  zum 
Vorteil  Österreichs  ausschlagen,  ist,  daß  Österreich  eine  wirkliche 
Volksvertretung  erhalte.  (Lebhafter  Beifall.)  Darum,  wenn  wir  uns 
auch  im  Parlament  der  Abwehr  der  ungarischen  Übergriffe  ange- 

hatte  als  sein  Leitwort  erklärt,  die  Verständigung  über  die  Wahlreform 
müsse  gefunden  werden.  Aber  die  Gefahr  lag  darin,  daß  die  Arbeiten  des 
Wahlreformausschusses  durch  die  Wahlreforrnfeinde  behindert  wurden. 
Diese  Feinde  waren  vor  allem  die  Großgrundbesitzer,  unter  denen  besonders 
die  Grabmayr  und  S  t  ü  r  g  k  h  einen  gehässigen  Kampf  einleiteten,  dann 
die  Schreier  und  Krawallmacher  des  Parlaments,  der  Alldeutsche  Franko 
Stein  und  der  Graf  Adalbert  Stern  berg.  Als  dann  die  Sitzungen  des 
Wahlreformausschusses  die  versteckte  Obstruktion  offenbar  machten,  wurde 
am  10.  Juni  ein  Aufruf  der  Partei,  der  Fraktion  und  der  Gewerkschafts- 
kommission veröffentlicht,  der  ankündigte,  daß,  „falls  die  Dinge  weitergehen 
wie  bisher",  in  den  allernächsten  Wochen  eine  dreitägige  Arbeits- 
ruhe eintreten  werde,  der  im  äußersten  Notfall  der  allgemeine  Massen- 
streik folgen  solle.  Dann  hieß  es: 

Die  Arbeiter  Österreichs  werden  sich  durch  schmutzige  Intrigen  nicht 
um  ihr  Recht  betrügen  lassen.  Mag  die  Krone  es  dulden,  daß  eine 
kleine  Bande  von  Junkern,  Advokaten  und  Lumpen- 
Proletariern  ihren  Willen,  der  diesmal  mit  dem  Willen  und  dem 
Rechte  des  Volkes  eins  ist,  mißachtet  ...  die  Arbeiter  werden  sich 
dem  Privilegiengesindel  nicht  beugen  und  werden  für 
das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht  kämpfen  mit  allen  Mitteln 
und  bis  zum  äußersten! 

Am  11.  Juni  fanden  dann  sieben  Massenversammlungen  statt,  die  so 
stark  besucht  waren,  daß  zehn  Versammlungen  daraus  wurden.  Beim  Wim- 
berger  in  Fünfhaus  sprach  Adler.  (Siehe  übrigens  zu  diesen  Versamm- 
lungen und  zu  den  weiter  unten  angeführten  Äußerungen  des  Kaisers  auch 
die  Rede  im  Wahlreformausschuß  am  19.  Juni  über  sozialdemo- 
kratischen Terrorismus.) 


Die  letzte  Warnuti  351 


schlössen  haben,  so  sind  wir  doch  nicht  gewillt,  geschehen  zu 
lassen,  daß  die  Wahlreform  dadurch  in  Vergessenheit  gerate. 

Nebenbei:  Herr  Dr.  Lueger  hat  uns  immer  gehöhnt,  daß  wir  die 
Demonstrationen  machen,  die  wir  mit  der  Polizei  ausgehandelt 
haben.  (Gelächter.)  Was  hat  Dr.  Lueger  gestern  anderes  gemacht*)? 

Es  ist  nämlich  ganz  selbstverständlich,  daß,  wenn  eine  Demon- 
stration angekündigt  wird,  das  Polizeipräsidium  pflichtgemäß  die 
Veranstalter  ruft  und  sie  fragt,  was  denn  geschehen  soll?  Wir  sind 
gewöhnlich  in  der  Lage,  den  Herren  zu  sagen:  Was  wir  machen 
wollen,  ist  vorgestern  in  der  „Arbeiter-Zeitung11  gestanden,  und 
das  werden  wir  machen!  Wir  haben  auch  noch  immer  Wort  ge- 
halten. Auch  Dr.  Lueger  hat  mit  der  Polizei  ver- 
handelt, er  hat  dem  Polizeipräsidenten  gesagt:  Sie  können 
ruhig  schlafen,  es  wird  nichts  passieren!  Der  Polizeipräsident  hat 
dem  Dr.  Lueger  geglaubt,  wie  er  uns  glaubt.  Nur  ist  der  Unter- 
schied der,  daß  wir  den  Willen  und  die  Macht  und  unsere  Genossen 
die  Disziplin  haben,  daß  wir  auch  Wort  halten.  Wenn  wir  erklären: 
„So  wird  es  gemacht !",  so  wird  das  strikt  eingehalten. 
Dafür  sind  wir  ja  Männer!  Dr.  Lueger  scheint  seine  Partei,  wenn 
man  das  so  nennen  will,  nicht  so  in  der  Hand  zu  haben.  Denn 
obwohl  er  dem  Polizeipräsidenten  den  Rat  gegeben  hat,  zu 
schlafen  —  der  Minister  des  Innern  hat  den  Rat  auch  gar  in 
Hietzing  besorgt  — ,  ist  trotzdem  etwas  geschehen,  was  Dr.  Lueger 
selbst  sehr  unangenehm  ist.  Ich  bin  nicht  gerade  ängstlich  und 
meine,  daß  es  in  ernsten  Zeiten  auf  ein  paar  Fensterscheiben  nicht 
ankommen  soll,  wenn  ich  auch  der  Ansicht  bin,  daß  man  nicht 
unbedingt  Fensterscheiben  einwerfen  muß.  Wir  waren  unzählige- 
mal  vor  dem  Parlament,  aber  noch  nie  ist  dort  auch  nur  eine 
Fensterscheibe  eingeschlagen  worden.  Ein  einziges  Mal  wurden 
aber  vor  vierzehn  Tagen  dort  Scheiben  eingeschlagen,  und  da 
waren  es  nicht  wir,  sondern  die  Leute  des  Dr.  Lueger**).  Ich  halte 
das  für  kein  Unglück.  Der  Staat  hat  Geld  genug  in  seinem  Säckel, 
um  die  paar  Scheiben  leicht  verschmerzen  zu  können.  Aber  ich 
will  damit  nur  sagen,  daß  wir  darauf  halten  —  und  das  ist  die 
Grundlage  unserer  ganzen  Organisation  und  unserer  Kampf- 
fähigkeit — ,  daß  sich  jeder,  der  unsere  Demonstrationen  mitmacht, 
wie  der  Soldat  in  der  Uniform  fühlt,  mit  dem  vollen  Pflichtgefühl 
und  dem  vollen  Bewußtsein  seiner  Verantwortlichkeit.  Diese 
Sicherheit  der  Disziplin  fehlt  der  christlichsozialen  Partei  und  den 
Schichten,  aus  denen  sie  sich  zusammensetzt,  und  darum  sind 
gestern  Dinge  geschehen,  die  Dr.  Lueger  heute  so  sehr  tadelt. 

*)  Am  Sonntag  den  10.  Juni  hatten  die  Christlichsozialen  vor  dem  Rat- 
haus eine  Versammlung  Ke^en  Ungarn  und  zogen  dann  durch  die  Bankgasse, 
um  dort  vor  der  ungarischen  Delegation,  die  dort  ihre  Sitzung  hielt,  zu 
krawallieren. 

)  Am  25.  Mai  hatten  die  christlichsozialen  Kaufleute  eine  Kundgebung 
^e^reu  die  Konsumvereine  vor  dem  Rathaus.  Dann  zo.cren  sie  lärmend  zum 
Parlament,  wo  sie  die  h'ensterseheibeu  des  großen  Tores  zerschlugen.  Dabei 

keim  es  mit  der   Polizei   zu  Zusammenstößen. 


352  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Der  Kampf  gegen  Ungarn  ist  sehr  wichtig,  aber  dieser  Kampf 
wird  binnen  wenigen  Monaten  nicht  entschieden  werden.  Davon 
wird  das  Schicksal  der  Regierung  nicht  abhängen.  Aber  abhängen 
wird  ihr  Schicksal  von  der  Wahlreform,  denn  die  ist  das  einzige, 
was  in  den  nächsten  Wochen  gemacht  werden  kann  und  gemacht 
werden  muß.  Hier  ist  der  Punkt,  wo  die  Regierung  zeigen  muß,  ob 
sie  der  Situation  gewachsen  ist,  und  wo  insbesondere  die  parla- 
mentarischen Minister  zeigen  müssen,  ob  sie  wirklich  die  Wort- 
führer und  die  Führer  des  Parlaments  sein  können.  Denn  ein  par- 
lamentarisches Ministerium  muß  vor  allem  das  Parlament  in  poli- 
tischen Lebensfragen  hinter  sich  zu  bringen  wissen. 

Diesen  Freitag  ist  es  zum  erstenmal  offenbar  geworden,  daß 
die  Koalition  der  Wahlrechtsfeinde  die  Wahlreform  obstruiert  und 
daß  die  Majorität  des  Wahlreformausschusses  sich  von  dieser 
Koalition  terrorisieren  läßt.  (Pfuirufe.)  Dieses  Spiel  kann 
nicht  länger  fortgehen!  (Stürmische  Bravorufe.)  Die 
Arbeiterschaft  und  weit  über  die  Arbeiterschaft  hinaus  die  Völker 
Österreichs  sind  nicht  geneigt,  sich  von  diesen  Herren  um  die 
Wahlreform  prellen  zu  lassen.  Wir  haben  nicht  mehr  viel  Zeit  vor 
uns.  Aber  ich  sage  den  Herren  voraus,  wenn  sie  jetzt  nicht 
arbeiten,  werden  sie  in  der  heißen  Zeit  schwer  an  die  Ostsee  oder 
nach  Ischl  kommen.  (Beifall  und  Heiterkeit.)  Die  Einsicht,  daß  es 
Neuwahlen  unter  dem  alten  Wahlgesetz  nicht  mehr  geben  kann, 
hat  sich  nun  allmählich  über  alle  politisch  denkenden  Leute  ver- 
breitet. Gestern  hat  der  Kaiser  selbst,  der  sich  in  Einzelheiten  der 
Politik  selten  einmischt,  dasselbe  erklärt*).  (Stürmischer  Beifall.) 
Wenn  das  der  Kaiser  sagt,  hat  keiner  gerade  von 
diesen  Herren  mehr  das  Recht,  dagegen  zu 
sprechen.  Sie  geben  sich  doch  immer  als  die  ersten 
Stützen  des  Thrones  aus.  In  den  Delegationen  wenigstens 
treten  dieselben  Herren  immer  als  die  treuesten  Diener  des  Kaisers, 
als  die  opferwilligen  Stützen  der  Dynastie  auf,  und  die  Hunderte 
von  Millionen,  die  da  verlangt  werden,  werden  sie  gehorsam  dem 
Willen  des  Kaisers  auf  dem  Altar  des  Vaterlandes  niederlegen  — 
aus  den  Taschen  des  Volkes!  Gehorsam  dem  Kaiser,  wo  sie  aus 
den  Taschen  des  Volkes  zahlen  können.  Aus  den  Delegationen 
gehen  sie  direkt  in  den  Wahlreformausschuß.  Auch  da 
ist  ein  Wille  des  Kaisers.  Aber  da  geht  der  Wille 
des  Kaisers  nicht  auf  Opfer  des  Volkes,  sondern 
auf  Rechte  des  Volkes.  Und  da  werden  die  patriotischen 
Herren,  die  sich  in  den  Delegationen  vor  dem  Willen  des  Kaisers 
beugen,  die  dort  mit  dem  Nabel  die  Erde  berühren  vor  Ehrfurcht, 

*)  Am  10.  Juni  fand  der  feierliche  Empfang  der  Delegation  statt  und  da 
sagte  der  Kaiser  zum  jungtschechischen  Abgeordneten  Dr.  Kramarsch; 
wie  berichtet  wurde,  „mit  ungewöhnlichem  Nachdruck":  „Die  Wahl- 
reform muß  gemacht  werden.  Auf  Grund  der  alten 
Wahlordnung  kann  nicht  mehr  gewählt  werde  n."  Kra- 
marsch, so  hieß  es  in  dem  Bericht  der  Zeitungen  weiter,  dankte  dem 
Kaiser  für  eine  so  entschiedene  Willenskundgebung  und  schilderte  die 
Gefahren,  die  eine  Verschleppung  der  Wahlreform  heraufbeschwören  würde. 


Die  letzte  Warnun 


nun  sagen:  Nein!  Wenn  das  Volk  will  und  der  Kaiser  will,  wir 
wollen  nicht!  Denn  hier  gilt  es  nicht  ein  Opfer  aus  den  Taschen 
des  Volkes!  Hier  tfilt  es  das  Recht  des  Volkes!  Hier  gilt  es,  daß 
sie  selbst  ein  Opfer  bringen,  wenn  man  es  ein  Opfer  nennen  kann, 
zu  verzichten  auf  den  Raub,  auf  das  Unrecht,  auf  das  jahrzehnte- 
lang verübte  Verbrechen  an  allen  Völkern  Österreichs!  (Stür- 
mische Rufe  der  Entrüstung  und  tosender  Beifall.) 

Wie  kann  nun  der  Widerstand  der  (iegner  überwunden 
werden?  Das  kann  nur  geschehen,  wenn  die  Regierung  das 
eiserne  Muß  einsieht  und  eine  eiserne  Energie  entfaltet,  und  wenn 
die  Parteien,  die  für  die  Wahlreform  sind,  die  widerspenstigen 
Feinde  zwingen.  Daß  aber  dieses  Muß  ein  eisernes  ist, 
daß  es  kein  Entrinnen  gibt  und  daß  nur  unter  den 
größten  Gefahren  für  den  Frieden  des  Staates 
und  für  die  Ruhe  in  diesem  Staate  der  Versuch 
gemacht  werden  kann,  die  Wahlreform  zu  ver- 
eiteln, das  muß  diesen  Leuten  bewiesen  werden. 
Und  darum  haben  wir  beschlossen,  einen  Schritt  weiter  zu  gehen 
als  bisher.  (Stürmischer  Beifall.)  Alle  bisherigen  Mittel  haben  ver- 
sagt. Es  gibt  Abgeordnete,  die  sagen:  Mag  die  Welt  zugrunde 
gehen,  wenn  Dr.  P  e  r  g  e  1 1  oder  ein  anderer  Stürgkh*)  kein  Mandat 
bekommt,  kann  das  Volk  sein  Recht  nicht  bekommen!  (Stürmische 
Pfuirufe.)  Da  gelten  nun  alle  Argumente  nichts!  Wir  müssen  nun 
weiter  gehen.  Wir  haben  schon  auf  unserem  Parteitag  das  Mittel 
in  Aussicht  genommen,  das  in  vielen  politischen  Kämpfen  und 
zuletzt  in  Rußland  solchen  Erfolg  erzielt  hat.  Wir  haben  dieses 
Mittel  damals  als  äußerstes  Mittel  in  Aussicht  genommen,  und  wir 
Sozialdemokraten  machen  keine  Phrasen,  wenn  wir  in  ver- 
antwortungsvoller Stunde  und  an  verantwortungsvollem  Ort  als 
Vertrauensmänner  der  Partei  sprechen.  Aber  wir  haben  uns  lange 
überlegt,  ob  wir  dieses  Mittel  schon  anwenden  sollen,  und  obwohl 
wir  aus  allen  Provinzen  und  tagtäglich  Kundgebungen  unserer 
Genossen  erhielten,  doch  endlich  den  Massenstreik  zu  pro- 
klamieren, obwohl  zum  Beispiel  die  Metallarbeiter  und  die 
Eisenbahner  überall  Beschlüsse  fassen  und  uns  zurufen:  „Nun 
endlich  los!"  (Stürmischer  Beifall),  hat  die  Parteivertretung  den- 
noch beschlossen,  noch  einmal  eine  Warnung  zu  geben,  ehe  sie 
dem  Unheil  seinen  Lauf  läßt.  Wenn  die  tückische  Bosheit  im  Wahl- 
reformausschuß auch  diese  Woche  frei  schalten  darf,  dann  wird 
die  Arbeiterschaft  von  Wien  eine  Demonstration  veranstalten,  wie 

' )  Per  g  e  I  t  war  der  liberale  Abgeordnete  von  Rumburg,  ein  Feind  der 
Wahlreform,  der  seine  Feindschaft  mit  nationalen  Motiven  bemäntelte.  In 
Wirklichkeit  handelte  es  sich  ihm  darum,  einen  Wahlkreis  in  Warnsdorf  so 
zuzuschneiden,  daß  er  dort  gewählt  werden  könne.  Das  gelang  ihm  wirklich, 
so  daß  er  tatsächlich  1907  in  der  Stichwahl  gegen  Pernerstorfer  gewählt 
wurde.  (Pernerstorfer  hatte  ein   Mandat  in  Wiener-Neustadt.) 

Graf  Stürgkh,  der  vom  Großgrundbesitz  gewählt  wrar,  konnte  auf  diese 
Weise  nicht  zufriedengestellt  werden.  —  Stürgkh  ist  der  nachmalige 
Ministerpräsident  während  des  Krieges,  der  die  Einberufung  des  Parlaments 
verhinderte   und  dann  von   Friedrich  Adler  erschossen   wurde. 

Adler,  Briefe.   X.   Ud.  23 


354  Der  Sic^  des  gleichen  Wahlrechts. 

sie  noch  nicht  da  war  in  Österreich.  (Stürmischer  Beifall.)  Die 
Arbeiter  von  Wien  werden  ein  Opfer  bringen;  aber  dieses  Opfer 
soll  ein  empfindlicher  Schlag  gegen  diese  Gesellschaft  sein,  die 
ihren  Willen  dem  Willen  und  dem  Rechte  des  Volkes  entgegen- 
zusetzen wagt.  Wir  wollen,  wenn  es  nötig  ist,  über 
Wien  einen  dreitägigen  Massenstreik  ver- 
hängen. (Stürmischer,  andauernder  Beifall.)  Wir  wissen  genau, 
daß  das  ein  großes  Opfer  für  Sie  ist,  aber  wir  wissen,  daß  Sie 
dieses  Opfer  mit  Begeisterung  bringen  werden.  Wir  hoffen,  daß 
diese  Warnung  genügt,  sollte  sie  aber  nicht  genügen,  dann  folgt  der 
Massenstreik  in  ganz  Österreich.  (Neuerlicher  jubelnder  Beifall.) 

Aber  wir  fordern  Sie  nicht  nur  auf,  sich  auf  einen  dreitägigen 
Kampf  gefaßt  zu  machen.  Wir  fordern  Sie  nicht  nur  auf,  sich  auf 
noch  größere  Opfer  vorzubereiten,  selbst  wenn  der  Kampf  mehr 
als  drei  Tage  dauern  sollte.  (Beifall.)  Wenn  wir  vom  Massenstreik 
sprechen,  so  sagen  wir  damit  noch  lange  nicht,  daß  wir  auf  die 
anderen  Mittel  unseres  Kampfes  verzichten;  vor  allem  nicht  darauf 
verzichten,  auch  auf  die  Straße  zu  gehen  und  uns  zu  zeigen. 
(Neuerlicher  Beifall.)  Aber  eine  Straßendemonstration,  die  viel- 
leicht von  10  Uhr  bis  1  Uhr  dauert,  kann  es  nicht  richten.  Wir  sind 
entschlossen,  jetzt  tiefer  in  das  Fleisch  zu  schneiden.  (Erneuter 
stürmischer  Beifall,  der  so  lange  andauert,  daß  der  Redner 
minutenlang  nicht  weitersprechen  kann.)  Ich  bin  kein  ungestümer 
Dränger  und  Stürmer,  man  wirft  mir  bisweilen  das  Gegenteil  vor 
(Heiterkeit),  und  ich  weiß,  welche  Verantwortung  wir  alle  tragen: 
Aber  wir  haben  Sie  zurückgehalten,  solange  es  nur  möglich  war, 
nun  ist  die  Stunde  gekommen,  wo  wir  Sie  nicht  mehr  zurückhalten 
dürfen.  (Stürmische,  leidenschaftliche  Rufe:  Nieder  mit  den  Wahl- 
rechtsfeinden!) Es  hängt  vom  Wahlreformausschuß,  es  hängt  von 
der  Regierung,  die  viel  mehr  Wirkung  auf  den  Ausschuß  üben 
kann,  als  sie  bisher  getan  hat,  ab,  ob  wir  weitergehen  werden. 
Die  Arbeiter  sind  immer  bereit  zum  Frieden,  sie 
drängen  sich  nicht  zu  dem  Opfer,  das  sie  bringen 
müssen,  aber  betrügen  lassen  sie  sich  nicht  von 
einer  Bande  von  Gauklern.  (Riesiger  Beifall.)  Wir  werden 
nicht  dulden,  daß  das  Resultat  dieser  geschichtlichen  Zeit,  die  für 
Österreich  wirklich  die  Quelle  der  Verjüngung  sein  kann,  die  ein- 
zige Möglichkeit,  aus  diesem  Sumpfe  herauszukommen,  in  dem  wir 
sonst  verrecken,  uns  vorenthalten  werde,  weil  ein  paar  gewissen- 
lose Streber,  weil  ein  paar  bezahlte  Kerle  es  wollen!  (Stürmischer 
Jubel.)  Warten  Sie  ruhig  ab,  was  die  nächsten  Tage  bringen 
werden,  aber  warten  Sie  nicht  müßig!  Tragen  Sie  den  Gedanken 
des  Massenstreiks  weiter,  treffen  Sie  alle  Vorbereitungen,  daß  der 
Massenstreik  die  ganze  Arbeiterschaft  erfasse. 

Mögen  die  Herren  nicht  glauben,  daß  sie  es  aushalten,  wrenn  in 
den  Fabriken  nicht  gearbeitet  wird,  wenn  keine  Zeitungen  er- 
scheinen und  kein  Brot  gebacken  wird!  Es  gibt  noch  Mittel,  diesen 
Herren  klarzumachen,  daß  man  nicht  über  ein  ganzes  Volk  eine 
Katastrophe  verhängen  darf  als  einzelner  Verbrecher  am  Rechte 


Wahlkreiseinteilung  in  Wien. 

des  Volkes!  Es  gibt  Verbrechen,  die  viel  geringer  sind.  Der  Mensch, 
der  ein  Menschenleben  am  Gewissen  hat,  ist  ein  Mörder  und  wird 
schwer  bestraft.  Wenn  aber  Leute  da  sind,  die  gewissenlos,  ohne 
Bedenken,  aus  Egoismus,  aus  brutalem  Zynismus  Ereignisse  herauf- 
beschwören, an  denen  mehr  hängt  als  e  i  n  Menschenleben,  mehr 
als  Menschenleben  überhaupt:  sollen  diese  Leute  frei  ausgehen 
dürfen,  sie,  die  ärgere  Verbrecher  sind?  (Stürmische  Rufe:  Nein! 
Nein!)  Alles  hat  ein  Ende,  auch  unsere  Geduld!  Was  aber  kein 
Ende  haben  darf,  das  ist  unser  Pflichtgefühl,  unsere  Besonnenheit, 
unsere  Festigkeit  und  unsere  Solidarität!  Wir  werden,  wenn  es 
notwendig  wird,  in  den  Kampf  gehen,  und  wir  werden  ihn  führen: 
überlegt,  ruhig,  diszipliniert,  als  einige,  feste,  geschulte  Armee.  So 
werden  wir  ihn  führen,  so  werden  wir  siegen,  so  werden  wir  das 
allgemeine  gleiche  Wahlrecht  erobern,  für  uns  und  für  den  Staat. 
(Stürmischer,  andauernder  Beifall.) 

Wahlkreiseinteilung  in  Wien. 

W  a  h  1  r  e  f  o  r  m  a  u  s  s  c  h  u  ß,  13.  Juni  190  6*). 

Dr.  Adler  betont,  daß  die  Sozialdemokratie  an  der  Wahlkreis- 
einteilung in  Niederösterreich  mitinteressiert  sei.  Bei  den  Verhand- 
lungen, die  darüber  stattgefunden  haben,  haben  die  Vertreter  dieser 
in  Niederösterreich  nicht  unbeträchtlichen  Partei  nicht  mit- 
gewirkt, da  sie  zur  Konferenz  nicht  zugezogen  wurden.  Die 
Sozialdemokraten  wären  also  an  die  getroffenen  Abmachungen  auch 
nicht  gebunden.  Er  stelle  auch  fest,  daß  in  allen  Kronländern  und 
insbesondere  in  Niederösterreich  die  Abgrenzung  der  Wahlbezirke 
in  sehr  hohem  ürade  zuungunsten  des  Proletariats  ge- 
macht wurde  unter  dem  Vorwand,  daß  man  nicht  die  Bevölkerungs- 
zahl allein  oder  vorwiegend,  sondern  die  angebliche  Steuerleistung 
zur  Grundlage  genommen  habe,  denn  die  Steuerleistung,  die  von  der 
Innern  Stadt  Wien  getragen  wird,  welcher  Bezirk  nicht  weniger 
als  vier  Mandate  erhält,  ist  tatsächlich  eine  Leistung  ganz  anderer 
Leute  als  jener,  die  in  der  Innern  Stadt  wohnen.  In  der  Innern  Stadt 
kommt  auf  ungefähr  12.000  bis  13.000  Einwohner  ein  Mandat, 
während  in  Ottakring  erst  auf  70.000  Einwohner  ein  Mandat  ent- 
fällt.    Trotzdem     werde     er     selbst     keine     Abänderung  s- 

*)  In  der  Sitzung  des  Wahlreformausschusses  vom  13.  Juni  wurde  die 
Wahlkreiseinteilung  von  drei  Kronländern  erledigt.  Gegen  diese  Einteilung 
wurden  wesentliche  Einwürfe  nicht  erhoben.  Bei  den  Wiener  Wahlkreisen 
beantragte  Dr.  Lech  er  im  Namen  der  Wiener  Freisinnigen,  statt  dem 
kleinen  Mariahilf  dein  größeren  Margareten  zwei  Mandate  zu  geben.  Ob- 
wohl die  Einteilung,  wie  sie  die  Regierungsvorlage  vorschlug,  auf  einem 
von  Hohenlohe  vermittelten  Kompromiß  der  bürgerlichen  Parteien  beruhte 
und  die  Arbeiter  wesentlich  benachteiligte,  erklärte  Dr.  Adler,  er  werde, 
um  ein  gutes  Beispiel  zu  geben,  für  die  Vorschläge  des  Referenten  —  der 
der  Abgeordnete  der  Stadt  Linz,  Dr.  Locker  von  der  deutschen  Volks- 
partei, war  stimmen.  Alle  Abänderungsvorschläge  wurden  übrigens  ab- 
gelehnt. 

23* 


356  her  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

anfrage  stellen,  er  werde  sogar  gegen  den  Antrag  Lecher 
stimmen,  obwohl  darin  für  Margareten  ein  zweites  Mandat  verlangt 
werde,  in  welchem  Bezirk  die  Arbeiterschaft  wesentlich  stärker 
vertreten  sei  als  in  Mariahilf.  Er  werde  für  die  vom  Abgeordneten 
Dr.  Locker  aufgenommenen  Regierungsvorschläge  stimmen,  um 
ein  gutes  Beispiel  zu  geben  und  den  Weg  zu 
zeigen,  auf  dem  allein  die  Wahlreform  Gesetz 
werden  kann,  nämlich  durch  Unterordnung  der 
Interessen  von  Gruppen  unter  die  große  Sache, 
die  der  Ausschuß  zu  fördern  hat.  Er  empfehle,  direkt 
gegen  das  Interesse,  das  er  hier  auch  im  einzelnen  vertreten  müßte, 
auch  den  Antrag  Lecher  zu  opfern. 

Die  Angriffe  des  Dr.  Demel*). 

Dr.  Adler  ergreift  das  Wort  zu  einer  persönlichen  Bemerkung: 
Ich  muß  meine  Verwunderung  darüber  aussprechen,  daß  der  Ob- 
mann es  dem  Abgeordneten  Demel  ermöglicht  hat,  Dinge  hier 
hereinzuziehen,  die  nicht  hieher  gehören.  Wohin  würde  man 
kommen,  wenn  man  die  Parteipresse  hier  einer  Zensur  unterziehen 
würde?  Wenn  die  „Arbeiter-Zeitung"  eine  falsche  Angabe  gemacht 
hat,  so  steht  es  dem  Abgeordneten  Demel  frei,  dies  festzustellen 
oder  zu  berichtigen.  (Zwischenrufe  des  Abgeordneten  Demel:  Das 
habe  ich  getan!)  Die  Presse  untersteht  in  Österreich  noch  immer 
der  Zensur  des  Staatsanwalts,  aber  sie  untersteht  nicht  der  Zensur 
des  Parlaments  oder  dieses  Ausschusses.  Ich  lege  Verwahrung  da- 
gegen ein,  daß  hier  Zeitungsartikel  zum  Gegenstand  der  Erörte- 
rungen gemacht  werden.  Was  nun  die  „Arbeiter-Zeitung",  der  an- 
zugehören ich  die  Ehre  habe,  anlangt,  so  hat  sie  mit  den  hier 
zitierten  Ausführungen  wahrscheinlich  nicht  die  Absicht  gehabt,  dem 
Abgeordneten  Demel  angenehm  zu  sein,  und  diesen  Zweck  hat  sie, 
wie  ich  mit  Befriedigung  feststelle,  vollständig  erreicht.  Gegen  die 
zum  Teil  in  sehr  verletzenden  Ausdrücken  hier  vorgebrachten 
Klagen  über  angeblichen  Terrorismus  der  „Arbeiter-Zeitung"  und 
gegen  die  Bemerkungen  in  Privatgesprächen,  die  ich  gemacht  haben 
soll  oder  wirklich  gemacht  habe,  erkläre  ich,  daß  ich  hier  als  Ab- 
geordneter und  Mitglied  des  Ausschusses  sitze  und  nicht  als  Heraus- 
geber der  „Arbeiter-Zeitung".  Als  Mitglied  des  Ausschusses,  als  das 

*)  Zu  Beginn  der  Sitzung  beklagte  sich  der  liberale  Abgeordnete  von 
Teschen,  Dr.  Demel,  einer  der  fanatischesten  Wahlreformfeinde  — 
vertrat  er  doch  eine  dünne  Schicht  des  deutschen  Bürgertums  in  der  vor- 
nehmlich slawischen  Stadt  —  darüber,  daß  die  „Arbeiter-Zeitung"  in  ihren 
Berichten  über  die  Beratungen  des  Ausschusses  einen  unerhörten 
Terrorismus  an  diesen  Mitgliedern  des  Ausschusses  übe.  Demel  hatte 
übrigens  auch  der  „Arbeiter-Zeitung"  eine  Berichtigung  geschickt,  die  aber 
einer  Berichtigung  des  Abgeordneten  Kaiser  widersprach.  Die  „Arbeiter- 
Zeitung"  stellte  demgegenüber  fest,  daß  Demel  und  Kaiser  jeder  für  etwas 
gestimmt  haben  wolle,  wofür  der  andere  nicht  gestimmt  haben  will . . .  Die 
Beschwerden  über  den  „Terrorismus"  richteten  sich  übrigens  mehr  gegen 
die  Androhung  des  Massenstreiks,  was  man  sich  aber  nicht  recht  zu  sagen 
traute.  (Siehe  die  Bemerkungen  zur  folgenden  Rede  vom  17.  Juni.) 


I  >.is  Signal  zum  Kampf.  357 


allein  Ich  der  Zensur  des  Obmannes  unterstehe,  habe  ieh,  da: 
müssen  mir  alle  Anwesenden  bezeugen,  niemals  jemand  auch  nur 
mit  einem  Worte  verletzt.  (Unterbrechungen  bei  den  Alldeutschen: 
Sie  drohen  hei  jeder  Gelegenheit!  Frechheit!)  Sie  werden  mich  nicht 
aus  meiner  Ruhe  bringen.  Die  verletzenden  Worte,  die  Sie  hier 
gegen  mich  richten,  stehen  unter  dem  Niveau  m  einer  B  e- 
a  c  h  t  u  n  g.  (Rufe  bei  6c\\  Alldeutschen:  Frechheit!)  Ich  wiederhole 
mit  Nachdruck:  unter  dem  Niveau  meiner  Beachtung.  Ich  kon- 
statiere nochmals,  daß  ich  eine  Kritik  an  meiner  Tätigkeit  außer- 
halb dieses  Saales  und  außerhalb  meines  Mandats  als  Abgeordneter 
und  Ausschußmitglied  mir  hier  nicht  gefallen  lasse. 

Das  Signal  zum  Kampf. 

V  e  r  s  a  m  m  1  u  n  g  i  m  Rathaus,   17.   Juni   190  6*). 

Wenn  Sie  hinaussehen  aus  diesem  Saale,  sehen  Sie  eine  un- 
geheure Menschenmenge,  die  den  ganzen  Platz  ausfüllt  vom  Rat- 
haus bis  zum  Ring,  und  als  Sie  hiehergingen,  sahen  Sie  in  allen 
Straßen  Ströme  von  Menschen,  die  alle  hieherzogen.  Aber  wenn 
Sie  heute  in  ganz  Österreich  in  jedem  Orte  eine  Versammlung  ein- 
berufen würden,  würden  überall  in  den  Hauptstädten  "wie  in  den 
kleinsten  Dörfern  sich  die  arbeitenden  Menschen  drängen,  um  zu 
bekunden,  daß  sie  ihr  Recht  wollen.  (Beifall.)  Wir  brauchen  keine 
Volksabstimmung  mehr,  das  Volk  hat  seine  Stimme  deutlich  erhoben 
und  hat  sich  gezählt.  Und  wer  wagt  es,  sich  diesem  Strome  der 
Gedanken,  diesem  Strome  des  Wollens  in  den  Weg  zu  stellen!  Die 
heute  im  Wahlreformausschuß  gegen  das  gleiche  Recht  ankämpfen, 
das  sind  die  Wortführer  und  Bevollmächtigten,  sind  die  Werkzeuge 
jener  kleinen  Klassen,  die  heute  wie  Blutegel  am  Körper  des  Volkes 
schmarotzen  (lebhafter  Beifall);  diejenigen,  die  das  Recht,  Gesetze 
zu  geben  und  zu  verwalten,  als  ein  Familienprivileg  ansehen.  Es 
ist  nicht  allein  Torheit,  nicht  allein  Gewissenlosigkeit,  was  die 
Herrschaften  bewegt.  Ihr  Größenwahn  ist  ebenso  groß  wie  ihre 
Torheit,  ebenso  groß  wie  ihre  Gewissenlosigkeit:  Herr  Stürgkh 
meint  wirklich,  Österreich  müsse  kaput  gehen,  wenn  seine  hohe 
Weisheit  ihm  nicht  mehr  zur  Verfügung  steht.  (Heiterkeit.)  Herr 
Baernreither**)  meint  wirklich,  Österreich  könne  nicht  leben, 


*)  Arn  14.  Juni  war  eine  von  der  Gesamtvertretung  einberufene  Konfe- 
renz zusammengetreten,  die  über  alle  Einzelheiten  des  Massenstreiks  die 
notwendigen  Beschlüsse  faßte,  und  um  diesen  Beschlüssen  den  erforderlichen 
Nachdruck  zu  verschaffen,  wurde  am  Sonntag  den  17.  Juni  in  die  Volkshalle 
des  Rathauses  eine  Versammlung  einberufen,  zu  der  die  Massen  in  un- 
geheuren Zügen  mit  roten  Fahnen  heranzogen.  Während  in  der  Volkshalle 
S  e  h  u  h  m  e  i  e  r  ,  S  e  i  t  z,  Daszynski,  Ellenbogen,  Krona- 
wetter  und  Adler  sprachen,  drängten  sich  die  Massen  auch  vor  dem 
Rathaus. 

)  Dr.  Josef  Maria  v.  B  a  e  r  n  r  e  i  t  li  e  r  war  gleich  Stürgkh  Abgeordneter 
des  Großgrundbesitzes  und,  wenn  auch  nicht  gar  so  gehässig  wie  dieser, 
Bekämpfer  der  Wahlrcform.  Er  hat,  wie  bereits  in  der  Wahlrechtsbroschüre 


358  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

wenn  nicht  die  Großgrundbesitzer  in  anererbter,  durch  Jahrhunderte 
herangezogener  Weisheit  (lebhafte  Heiterkeit)  ihm  ihre  Ratschläge 
geben,  jene  Ratschläge,  die  Österreichs  Völker  so  weit  gebracht 
haben,  wie  sie  heute  sind,  daß  sie  heute  gezwungen  sind,  einen 
Verzweiflungskampf  um  ihr  Recht  zu  führen;  daß  sie  heute  erst 
anfangen  müssen,  sich  einen  Staat  zu  geben,  den  sie  bis  heute  nicht 
haben.  (Lebhafter  Beifall.)  Torheit,  Gewissenlosigkeit,  Größenwahn 
sind  es,  die  sich  dem  Recht  entgegenstellen,  und  zum  Teil,  das 
wollen  wir  gar  nicht  verkennen,  rein  persönlicher,  lumpiger  Egois- 
mus schlechtester,  niedrigster  Art.  Aber  seien  wir  gerecht,  es  sind 
nicht  alle  dort  so;  wir  haben  es  nicht  notwendig,  die  Wahrheit  zu 
verschleiern,  wir  sind  groß  genug  und  unsere  Sache  ist  groß  genug. 
daß  wir  anerkennen  können,  daß  es  dort  eine  Anzahl  ehrlicher,  auf- 
richtiger Wahlreformfreunde  gibt.  (Bravo!)  Wobei  ich  gleich  wieder 
die  Einschränkung  mache,  daß  gar  viele  sich  als  Freunde  der  Wahl- 
reform aufspielen,  die  diese,  die  vorliegende  Wahlreform,  am 
liebsten  erwürgen  möchten,  die  „prinzipiell"  für  das  allgemeine 
Wahlrecht  sind,  aber  nur  ja  nicht  für  das  Gesetz,  das  das  all- 
gemeine Wahlrecht  erst  zum  Recht  macht.  In  -Wahrheit  handelt  es 
sich  heute  um  ganze  sechs  bis  acht  Mandate,  eine  Bagatelle,  wenn 
man  überlegt,  daß  wir  bereits  bei  495  Mandaten  stehen.  (Zwischen- 
rufe.) Es  ist  gewiß  nicht  gut,  wenn  das  Parlament  allzu  groß  ist. 
Aber  man  muß  zugeben,  daß  in  Österreich  ein  größeres  Haus  not- 
wendig ist  als  anderswo.  Denn  -während  es  in  anderen  Ländern  nur 
notwendig  ist,  daß  die  einzelnen  Klassen  der  Bevölkerung  aus- 
reichend vertreten  seien,  müssen  in  Österreich  nicht  nur  die 
Klassen,  sondern  die  Klassen  in  jeder  Nation  eine  ausreichende  Ver- 
tretung haben.  Darüber  also,  wenn  es  auch  für  das  nächste  Haus 
eine  Unbequemlichkeit  sein  wird,  sich  zu  grämen  oder  zu  raunzen, 
wie  es  die  Großgrundbesitzer  tun,  ist  gar  kein  Anlaß.  So  gescheit 
wie  das  heutige  Parlament  mit  seiner  Großgrundbesitzerkurie  wird 
das  Volkshaus  auch  sein,  selbst  wenn  es  hundert  Abgeordnete  mehr 
hat.  (Heiterkeit  und  Beifall.) 

Schuhmeier  und  andere  haben  davon  gesprochen,  daß  ich,  weil 
ich  im  Wahlreformausschuß  sitze,  das  Zeichen  geben  soll,  wann  der 
Massenstreik  losbrechen  soll.  Der  Posten,  auf  dem  ich  im  Wahl- 
reformausschuß stehe,  ist  —  wenn  auch  kein  angenehmer,  doch  ein 
ehrenvoller  und  ich  werde  selbstverständlich  meine  Kraft  zu- 
sammennehmen und  werde  die  Augen  offen  haben.  Aber  die 
Arbeiter  haben  es  nicht  notwendig,  sich  auf  die  Augen  eines  armen 
einzelnen  zu  verlassen.  Das  Spiel,  das  dort  gespielt  wird,  wird 
vor  der  ganzen  Öffentlichkeit  und  vor  Ihren  eigenen  Augen 

von  Adler  mitgeteilt  ist,  schon  im  Jahre  1893  einen  Antrag  auf  Schaffung 
einer  eigenen  Kurie  für  die  krankenversicherungspflichtigen  Arbeiter  ein- 
gebracht. Sonst  war  er  sozialpolitisch  gebildet,  hat  für  die  südslawische 
Frage  ein  verständnisvolles  Interesse  gezeigt,  wie  auch  seine  von  Josef 
Redlich  herausgegebenen  Tagebücher  beweisen.  Im  Ministerium  Thun 
war  er  Handelsminister  gewesen.  Im  Jahre  1917  war  er  Minister  für  soziale 
Fürsorge  im  Ministerium  C  1  a  m  -  M  a  r  t  i  n  i  c.  Er  ist  im  Jahre  1925  ge- 
storben. (Siehe  die  Bemerkungen  bei  der  Versammlung  vom  2.  April  1906.) 


l);is  Signal  zum  Kampf. 


gespielt.  So  ist  es  nicht,  daß  das  ein  Geheimnis  w;irc  und  daß  nur 
ich  dieses  Geheimnis  durchdränge  und  ich  Urnen  eine  Losung  geben 
müßte.  Wenn  der  Ausschuß  weiter  verzettelt,  wenn  er  die  (iefalir 
heraufbeschwört,  daß  wir  das  Gesetz  nicht  fertig  machen  können, 
dann  wird  es  keines  Zeichens  von  innen  heraus  bedürfen,  sondern 
dann  werden  Sie  alle  es  sehen:  Jetzt  ist  es  Zeit!  Und  es  wird 
wirklich  nur  des  Signals  bedürfen,  das  Ihnen  die  Parteileitung  geben 
wird,  des  Trompetenstoßes,  den  jeder  Soldat  abwartet,  obwohl  er 
weiß,  daß  er  hart  vor  der  Schlacht  steht. 

Nicht  leichtsinnig  ziehen  wir  in  den  Kampf,  nicht  leichten  Herzens 
haben  wir,  Ihre  Vertrauensmänner,  an  Sie,  die  Arbeiter  Wiens,  die 
Aufforderung  gerichtet,  sich  schußbereit  zu  halten  für  den  letzten 
Kampf.  Wir  fühlen  die  Verantwortung  für  die  Opfer,  die  Sie  werden 
tragen  müssen,  aber  wir  fühlen  auch  die  Verantwortung  dafür,  daß 
wir  Sie  nicht  den  geschichtlichen  Moment  ver- 
säumen lassen  dürfen  (stürmischer  Beifall),  um  gar  keinen 
Preis!  Darum  nehmen  wir  in  dem  Bewußtsein,  daß  die  Arbeiter- 
schaft diese  Opfer  bringen  will  und  daß  die  Arbeiterschaft  in  ganz 
Österreich  mit  Sehnsucht  wartet,  wann  auch  sie  in  den  Kampf  ge- 
rufen wird,  die  Verantwortung  auf  uns,  daß.  wenn  eine  wirkliche 
Gefahr  eintritt,  wir  das  Signal  zum  Kampfe  geben,  bevor  noch  die 
Sache  verloren  ist.  Wenn  die  Herrschaften  glauben  —  und  viele 
glauben  es  — ,  daß  sie  uns  schön  langsam  über  den  Sommer  hinweg- 
schwindeln werden,  daß  man  vielleicht  die  Wahlreform  bis  auf 
den  Herbst  verschieben  wird,  so  sagen  wir  ihnen,  daß  es  das 
nicht  gibt.  (Stürmischer  Beifall.)  Man  wird  uns  sagen:  Jetzt  habt 
ihr  schon  dreißig  Jahre  gewartet,  so  wartet  noch  diese  drei  Monate. 
Aber  der  Zustand  der  Völker  Österreichs  in  diesen  dreißig  Jahren 
und  der  seit  dem  Oktober  des  vorigen  Jahres  ist  ein  völlig  anderer. 
Was  vor  zwanzig  Jahren  noch  möglich  war,  ist  heute  zur  Un- 
möglichkeit geworden.  Heute  ist  es  unmöglich,  länger  zu  warten, 
weil  es  jeder  einzelne  Bürger  als  eine  Schmach  empfinden  würde, 
als  einen  Schlag  ins  Gesicht,  daß  wir  nach  einem  Wahlrecht  wählen 
sollen,  das  von  niemand  respektiert  wird,  das  von  jedem  als  ein 
Unrecht  empfunden  wird,  das  vom  Kaiser  bis  zum  letzten  Prole- 
tarier und  vom  letzten  Proletarier  bis  zum  Kaiser  einmütig  als  ein 
Verbrechen  am  Staate  und  am  Volke  angesehen  wird.  (Stürmische 
Zustimmung.)  Warum  sollte  man  sich  der  Gefahr  aussetzen,  daß 
in  diesen  drei  Monaten,  wo  allerhand  passieren  kann,  den  Herren 
Zeit  gegeben  werde,  wieder  die  Wahlreform  zu  verschleppen  und 
zu  verhindern.  Die  Herren  mögen  an  der  Ostsee,  in  Ischl  und  Karls- 
bad ihre  kranken  Leiber  pflegen,  wir  gönnen  es  ihnen;  aber  erst 
mögen  sie  die  Arbeit  tun,  zu  der  sie  verpflichtet  sind,  die  sie  nicht 
unterlassen  können,  ohne  ein  Verbrechen  zu  begehen.  (Neuerlicher 
stürmischer  Beifall.) 

Der  Ministerpräsident  hat,  als  er  im  Ausschuß  sprach,  ein  wenig 
beachtetes  Wort  gesagt,  das  aber  mir  persönlich  aus  dem  Herzen 
gesprochen  war :  Der  Wahlrechts  kämpf,  sagte  er,  muß 
einmal  ein  Ende  ncli  rn  e  n.  Ja,  er  muß  ein  Ende  nehmen.  Und 
da  er  kein  Ende  nehmen  kann  mit  der  Vereitelung  der  Wahlreform. 


360  Der  Sickr  des  gleichen  Wahlrechts. 

so  darf  und  kann  er  nur  ein  Ende  nehmen  mit  der  Eroberung  der 
Wahlreform.  Denn  der  Staat  hält  ihn  nicht  mehr  aus,  denn  er  wird 
sich  von  Woche  zu  Woche,  von  Monat  zu  Monat  noch  weiter 
steigern.  Meint  man  denn,  man  werde  in  üalizien  während  der 
Ernte  Ruhe  haben,  wenn  der  ruthenische  Bauer  nicht  weiß,  daß 
sein  Wahlrecht  gesichert  ist?  Meint  man,  man  werde  in  den 
nächsten  Monaten  die  gute  Konjunktur  in  den  Fabriken  ausnützen 
können,  wenn  die  Arbeiter  in  Sorgen  an  ihr  Wahlrecht  denken 
werden?  Meint  man,  die  Arbeiter  werden  ihnen  eine  schöne,  ruhige 
Saison  gestatten  und  ihnen  die  Säcke  füllen,  zum  Lohn,  daß  sie 
die  Wahlreform  wieder  verschoben  haben?  (Stürmische  Rufe:  Nein! 
Nein!)  Wir  halten  den  Wahlrechtskampf  nicht  mehr  aus!  Wir  haben 
andere,  wichtige  Dinge  auch  noch  zu  tun,  wichtige  Dinge  für  das 
Volk  und  für  den  Staat.  Und  wir  wollen  endlich  dieses  eine  Kapitel 
beendet  haben.  Und  da  sage  ich:  Lieber  ein  Ende  mit 
Schrecken,  als  ein  Schrecken  ohne  Ende!  (Riesiger, 
andauernder  Beifall.) 

Als  wir  auf  dem  letzten  Parteitag  von  dem  Siege  der  russischen 
Revolution  hörten,  da  sagten  wir  alle:  Es  gibt  Fälle,  wo  das  eigene 
Leben  an  Wert  verloren  hat;  wenn  wir  nicht  leben  können  als 
Menschen,  mit  vollem  Recht  in  einem  freien  Staate,  dann  werfen 
wir  das  Leben  freudig  in  die  Schanzen!  (Brausender  Beifall.)  Man 
könnte  ja  von  Rußland  viel  lernen.  Man  könnte  lernen,  wie  es  geht, 
wenn  man  das  Volk  mit  einem  gefälschten  Wahlrecht  betrogen  hat, 
und  es  wäre  noch  zu  untersuchen,  ob  unser  Wahlrecht  viel  besser 
ist  als  das  für  die  Duma.  Das  Volk  läßt  sich  nicht  betrügen  und  es 
zeigt  sich  nicht  nur,  daß  das  gefälschte  Recht  auch  zu  einem 
falschen  Frieden  führt,  sondern  auch,  daß  auf  die  Niederschlagung 
und  den  Betrug  an  der  Revolution  auch  dort  die  echte  Revolution 
wieder  vor  den  Türen  steht.  (Stürmische  Hochrufe  auf  die  russische 
Revolution.)  Mögen  sich  die  Herren  die  Lehren  der  Geschichte,  die 
sich  nun  so  ganz  in  ihrer  Nähe  vollzieht,  merken.  (Begeisterter 
Beifall.) 

Aber  die  Herren  verlassen  sich  darauf,  daß  sie  warm  sitzen 
werden  in  ihren  Villegiaturen,  wenn  der  Kampf  losgeht,  und  daß 
die  Kanonen  und  Gewehre,  wenn  es  notwendig  wird,  ihre  teuren 
Leiber  schützen  werden.  Und  sie  hoffen,  daß  der  Staat  zum  Danke 
dafür,  daß  sie  ein  selbstsüchtiges  Attentat,  ein  himmelschreiendes 
Verbrechen  am  Staate  begehen,  sie  mit  seinen  Gewehren  schützen 
wird.  (Große  Bewegung  und  Pfuirufe.)  Mit  den  Gewehren,  die  aus 
den  Taschen  des  Volkes  bezahlt  sind,  und  daß  sie  geschützt  werden 
durch  dieselben  Proletarier,  denen  sie  selbst  das  gleiche  Wahlrecht 
verweigern.  So  stellen  sie  es  sich  vor.  Gestützt  auf  das  unter- 
drückte, rechtlose  Proletariat  hoffen  sie,  dieses  Proletariat  rechtlos, 
und  unterdrückt  erhalten  zu  können.  Aber  die  Sache  hat  ein  Loch 
und  es  ist  nicht  immer  so,  daß  am  sichersten  ist,  der  hinter  dem 
Ofen  sitzt,  und  daß  verliert,  der  am  meisten  Opfer  bringt. 

Wir  aber  schließen :  Nieder  mit  den  Wahlrechts- 
feinden! Hoch  das  allgemeine  und  gleiche  Wahl- 
recht! (Brausender,  minutenlang  andauernder  Beifall.) 


Sozialdemokratischer  Terrorismus.  36! 


Der  Redner  beantragt  hleraui  folgende 

Resolution. 

Die  heutige,  von  vielen  Zehntausenden  Wiener  Arbeitern  besuchte 
Massenversammlung  erklärt  • 

Das   arbeitende   Volk    aller   Zungen,    Millionen    von   Staatsbürgern    er- 
warten  mit    steigender   Ungeduld,   daß   endlich    das   allgemeine 
gleiche   und   direkte   Wahlrecht   zum   (iesetz   werde. 

Das  arbeitende  Volk  sieht  mit  wachsender  Erbitterung,  daß  das 
Parlament  und  sein  Wahlreformausschuß  von  einer  kleinen,  aber 
gewissenlosen  Clique  von  Privilegierten  gehindert  werden,  dem  Volke 
sein   Recht   zu   geben  und   die   Wahlreform   zu    vollenden. 

Das  arbeitende  Volk  Wiens  erklärt,  daß  es  die  Verschleppung  der 
Wahlreform  nicht  ruhig  mitansehen  wird,  sondern  diesem  Ver- 
brechen gegen  Volk  und  Staat  mit  allen  Mitteln  und  unter 
allen  Opfern  einen  Kampf  entgegensetzen  wird,  dessen  erster  Schritt 
der  dreitägige  Massenstreik  in  Wien  sein  wird*). 

Sozialdemokratischer  „Terrorismus". 

Wahlreformausschuß,  19.  Juni  1906**). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  verweist  darauf,  daß  er  schon  in  der 
letzten  Sitzung  gegen  ähnliche  vorgebrachte  Proteste  Verwahrung 
eingelegt  habe,  weil    er    der    Ansicht    sei,    daß    es    nicht    angehe, 

*)  Erst  nach  dieser  Versammlung  kam  die  Arbeit  im  Wahlreformausschuß 
in  Gang. 

**)  Der  größte  Teil  der  Sitzung  des  Ausschusses  war  am  19.  Juni  mit 
einer  Debatte  über  „sozialdemokratischen  Terrorismus" 
ausgefüllt.  Die  Riesendemonstration  vom  Sonntag,  über  die  ja 
an  anderer  Stelle  berichtet  wird,  und  die  Ankündigung  des  Massenstreiks, 
waren  Anlaß  dazu.  Vor  Eingehen  in  die  Tagesordnung  meldete  sich  der 
Alldeutsche  M  a  1  i  k,  da  „der  unerhörte  Terrorismus  der  Sozialdemo- 
kratie, die  immer  ungeschminkter  hervortretenden  Drohungen,  die 
gegen  den  Ausschuß  und  dessen  Mitglieder  ausgestoßen  werden,  vom 
Ausschuß  die  gebührende  mannhafte  Antwort  erheischen.  Man  be- 
gnüge sich  nicht  mehr  mit  allgemeinen  Drohungen.  Auch  in  Brück  an  der 
Mur  ist  in  einer  Versammlung  von  einem  Parteigenossen  der  Sozialdemo- 
kratie die  Revolution  ausgerufen  worden.  Unter  Berufung  auf  die  Worte,, 
die  der  Kaiser  an  Dr.  Kramarsch  richtete  (Beim  Delegationsdiner  hatte 
der  Kaiser  zum  Abgeordneten  Kramarsch  gesagt:  Die  Wahlreform 
muß  gemacht  werden.  Auf  Grund  der  alten  Wahlordnung  kann  nicht 
mehr  gewählt  werden  siehe    dazu    Adlers    Rede     am    11.  Juni  1906, 

wo  er  über  diese  Bemerkungen  des  Kaisers  sprach,  und  die  Fußnote 
dazu)  werde  von  Dr.  Adler  propagiert,  daß  jetzt  Mord,  Totschlag 
und  die  unerhörtesten  Beschimpfungen  Platz  zu  greifen  haben.  Er 
selbst  sei  der  letzte,  der  sich  fürchte.  Aber  diesem  verbrecheri- 
schen Treiben  müsse  durch  eine  mannhafte  Tat  des  Ausschusses  ein 
Ende  bereitet  werden.  Er  stellt  den  Antrag,  mit  dem  Tage  des  Be- 
ginnes des  von  den  Führern  der  sozialdemokratischen  Partei  ange- 
kündigten dreitägigen  Massenstreiks  für  Wien  die  Sitzungen  des  Wahl- 
relormausschusses  für  vierzehn  Tage  zu  unterbrechen.  Das  solle  die  Ant- 
wort   des    Ausschusses    auf    die    Drohungen    sein,    welche    die    Sozialisten,, 


362  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Diskussionen  in  Volksversammlungen  und  in  der  Presse  zum 
Gegenstand  von  Erörterungen  in  diesem  Ausschuß  zu  machen.  Es 
wäre  Sache  des  Obmannes  gewesen,  diese  Erörterung  nicht  zuzu- 
lassen. Was  das  Urteil  des  Abgeordneten  Malik  über  die  40.000  bis 
50.000  Menschen,  die  am  Sonntag  ihren  Wunsch  zum  Ausdruck 
brachten,  daß  die  Wahlreform  gemacht  werde,  und  die  Bezeich- 
nung anlangt,  die  der  Abgeordnete  Malik  gegenüber  diesen  Ar- 
beitern gebrauchte  (Abgeordneter  Malik:  Die  sich  so  etwas  er- 
laubt haben,  sind  Pöbel!),  so  würde  Redner  nur  wünschen,  daß  die 
Ausschußmitglieder  so  viel  kaltes  Blut  bewahren  wie  die  Arbeiter 
selbst,  die  an  diesen  Beschimpfungen,  die  ihnen  hier  zuteil  werden, 
gewiß  mit  der  größten  Ruhe  und  Kaltblütigkeit  und  mit  der 
den  Herren,  die  hier  schimpfen,  gebührenden 
Schätzung  vorübergehen.  (Abgeordneter  Malik:  Die  Photo- 
graphien der  Mitglieder  des  Ausschusses  werden  gesammelt,  damit 
man  jedes  einzelne  Ausschußmitglied  durchprügeln  kann!)  Was  den 
Antrag  selbst  anlangt,  so  meint  der  Redner,  daß  er  des  Ernstes 
völlig  entbehre  und  nicht  Gegenstand  der  Verhandlungen 
des  Ausschusses  sein  könne.  Der  Redner  wolle  die  Verhandlungen 
des  Ausschusses  nicht  verzögern,  deshalb  vermeide  er  es,  auf  die 
provozierenden  Reden  des  Abgeordneten  Malik  hier  einzugehen. 
Er  hoffe  jedoch,  daß  es  diesem  Abgeordneten  nicht  gelingen  werde, 
die  Arbeiten  des  Ausschusses  noch  länger  aufzuhalten*). 


welche  sich  der  Pöbel  auszusprechen  erfrecht  hat.  (Abgeordneter  Doktor 
Adler:  Nehmen  Sie  sich  in  acht,  Sie  sprechen  von  Tausenden  von 
Arbeitern!)  Wer  Drohungen  ausstößt,  ist  bei  mir  ein  Pöbel  und  verdient 
nicht  den  Namen  einer  ernst  zu  nehmenden  Partei. 

Auch  der  tschechische  Agrarier  Zazvorka  regt  sich  über  die  Drohun- 
gen auf  und  erklärt,  daß  er  den  angekündigten  Streik  nur  als  eine  Vogel- 
scheuche betrachte,  auf  die  kein  Wert  zu  legen  sei.  Ihm  erwidert  sofort 
Adler.  Daß  es  sich  übrigens  Malik  nur  um  einen  Obstruktionsantrag 
handelte,  geht  daraus  hervor,  daß  er,  nachdem  man  fünfviertel  Stunden 
lang  über  die  Sozialdemokraten  geschimpft  hatten,  höhnisch  sagte,  „e  r 
habe  seinen   Zweck   erreich  t". 

*)  Dann  protestierte  der  Pole  Abrahamowicz;  der  Alldeutsche  Stein 
fragte,  wie  es  die  Regierung  dulden  konnte,  daß  eine  solche  Versammlung 
unter  freiem  Himmel  abgehalten  werde  und  meinte,  mit  dem  Wort  „Pöbel" 
seien  die  Führer  gemeint.  Der  Volksparteiler  Dr.  C  h  i  a  r  i  (ein  reicher 
Fabrikant,  der  die  Stadt  Sternberg  in  Mähren  vertrat),  meinte,  daß  jede 
Beeinflussung  des  Ausschusses  energisch  zurückgewiesen  werden  müsse. 
Darauf  erklärte  Beck,  daß  die  Äußerungen  bei  den  Versammlungen  gerade- 
zu einen  drohenden  Charakter  angenommen  hätten  und  gab  die  bündigste 
Versicherung,  daß  auch  die  größten  Demonstrationen,  seien  sie  selbst  mit 
Gewalttätigkeiten  verbunden,  für  die  Regierung  nicht  die  Bedeutung  auch 
nur  des  geringsten  Arguments  haben  und  daß  die  Regierung  allen  Aus- 
schreitungen, die  mit  dem  Gesetz  in  Widerspruch  stehen,  mit  allem  Nach- 
druck entgegentreten  und  es  verstehen  werde,  mit  den  ihr  zu  Gebote 
stehenden  Mitteln  dem  Gesetz  auf  allen  Gebieten  Achtung  zu  ver- 
schaffen . . .  Nachdem  noch  einige  Redner  gesprochen  hatten,  erwiderte 
wieder  Dr.  Adler. 


Sozialdemokratischer  „l  errorismus". 


Abgeordneter  Dr.  Adler:  Von  den  49  Mitgliedern  dieses  Aus- 
schusses bin  icli  das  einzige,  das  die  Ehre  hat,  die  sozialdemo- 
kratische Partei  liier  zu  vertreten.  Das  Kräfteverhältnis  in  der 
Bevölkerung  ist  allerdings  ein  wesentlich  anderes,  und  es  sind  große 
Massen,  die  das  Zustandekommen  der  Wahlreform  als  ihr  Lebens- 
interesse ansehen.  Es  ist  Ihnen,  meine  Herren,  nicht  übelzunehmen, 
da  Ihnen  jede  Fühlung  mit  den  Massen  abgeht,  daß 
Sie  nicht  begreifen,  daß  die  Stimmung,  die  unleugbar  herrschende 
Erregung,  von  den  sozialdemokratischen  Vertretern  im  Parlament, 
die  Sie  zum  Gegenstand  Ihrer  Angriffe  machen,  nicht  provoziert 
und  nicht  hervorgerufen,  vielmehr  nach  Kräften  eingedämmt  wird. 
Die  Erregung  der  Massen  und  die  auf  Sie  unangenehm  wirkenden 
Demonstrationen  sind  erklärlich,  wenn  man  bedenkt,  mit  welchen 
Verzögerungen  die  Wahlreform  im  Abgeordnetenhaus  und  ins- 
besondere in  diesem  Ausschuß  verhandelt  oder  vielmehr  nicht  ver- 
handelt wurde.  Es  ist  mir  durchaus  nicht  erstaunlich,  daß  die  letzte 
Demonstration  in  Wien  und  die  Demonstrationen  auch  außerhalb 
Wiens  einen  tiefen  Eindruck  auf  die  Mitglieder  des  Aus- 
schusses gemacht  haben.  Dieser  Eindruck  äußert  sich  hier,  und  ich 
nehme  es  mit  der  größten  Befriedigung  und  aufrichtiger  Freude  zur 
Kenntnis,  daß  sich  heute  viele  Herren  hier  und  insbesondere  auch 
der  Vertreter  Schlesiens  mit  wahrer  Wärme  zum  allgemeinen 
gleichen  Wahlrecht  bekannt  haben.  Es  wäre  freilich  sehr  nützlich, 
wenn  dieser  Eifer  sich  dahin  bewähren  würde,  daß  längere  und 
häufigere  Sitzungen  des  Ausschusses  abgehalten 
würden.  Sie  beklagen  sich  über  die  Erregung  in  den  Massen,  aber 
wir  sozialdemokratischen  Abgeordneten,  die  nur  ein  schwacher  Ex- 
ponent der  Stimmung  der  Massen  sind  und  die  alle  Mühe  anwenden, 
um  die  Erregung  einzudämmen . . .  (Lebhafte  Zwischenrufe.)  Gewiß, 
so  ist  es!  Wir  haben  die  Möglichkeit  nicht,  diese  Erregung  ver- 
schwinden zu  machen.  Das  kann  allein  dieser  hohe  Ausschuß.  S  i  e 
haben  ein  ausgezeichnetes  Mittel,  um  die  Er- 
regung der  Massen  sofort  verschwinden  zu 
machen,  und  Sie  könnten  das,  wenn  Sie  die  Güte 
hätten,  anstatt  dieser  Debatte,  die  so  lang  ge- 
worden ist  und  die  unsere  Aufgabe  nicht  fördert, 
sich  der  Arbeit  widmen  würden,  die  dem  Aus- 
schuß zugewiesen  ist. 

Ich  will  auf  die  Dinge,  die  hier  ganz  gegen  die  Geschäfts- 
ordnung zur  Sprache  gebracht  wurden,  auf  den  Charakter  und 
das  Wesen  der  sozialdemokratischen  Partei,  auf  die  Vorgänge  des 
Jahres  1897,  auf  das  Versammlungsrecht  und  seine  eventuelle  Ab- 
änderung hier  im  Wahlreformausschuß  nicht  eingehen.  Wenn  die 
Herren  finden,  daß  die  Polizei  zu  wenig  scharf  gegen  die  Arbeiter 
einschreitet,  so  stehen  ihnen  andere  Wege  zur  Verfügung,  um  die 
Polizei  zu  einem  schärferen  Vorgehen  gegen  die  Wiener  Arbeiter 
zu  veranlassen.  Ich  bemerke  eines  noch:  Ich  habe  meine  Partei- 
genossen draußen  an  diesem  Orte  nicht  zu  verteidigen.  Sie  bedürfen 
meiner   Verteidigung   wahrhaftig   nicht.   Aber   darum   darf   ich   Sie, 


364  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


meine  Herren,  bitten,  daß  die  Art,  wie  die  Arbeiter  die  Wahlreform 
am  besten  fördern  können,  der  Arbeiterschaft  überlassen  werde. 
und  ich  meine,  daß  es  hier  im  Ausschuß  am  Platze  wäre,  zu  erörtern, 
wie  dieser  Ausschuß  die  Wahlreform  fördert*). 

Deutschböhmische  Ränke. 

Versammlung  in  Reichenberg,   1.   Juli   190  6**). 

Wir  versammeln  uns  in  ernster  Zeit,  wenn  auch  die  Reichen- 
berger  gerade  jetzt  die  WTelt  von  der  rosigen  Seite  zu  sehen  ge- 
wohnt sind.  Das  macht  ihre  wunderbare  Ausstellung  da  draußen, 
die  wirklich  ein  Ruhmesblatt  in  der  Geschichte  dieses  Landes  ist. 
Wenn  wir  die  äußerst  lehrreiche  Ausstellung  überblicken,  sehen 
wir  nicht  das  Werk  von  heute  und  gestern,  wir  haben  die  reife 
Frucht  der  Arbeit  von  Generationen  vor  uns,  und  nicht  allein  von 
Generationen  der  Unternehmer  und  der  Firmen,  die  alle  diese 
schönen  Sachen  mit  ihren  Namen  markieren,  der  beste  Schweiß  und 
das  Blut  der  nordböhmischen  Arbeiterschaft  verkörpern  sich  in  der 
Ausstellung.  Hunderttausende  der  Ungenannten  mußten  in  Kummer 
und  Not  dahingehen,  bis  die  deutschböhmische  Industrie  ihre  heutige 
Reife  erreichte.  So  erfreulich  und  so  erhebend  auch  das  Bild  der 
Ausstellung  ist,  eines  fehlt  —  es  ist  nicht  zum  Ausdruck  gebracht, 
wer  die  Träger  dieser  Produktion  sind  — ,  auf  der  Aus- 
stellung der  deutschböhmischen  Arbeit  fehlen 
die  deutschböhmischen  Arbeiter.  Auch  den  Mehrwert 
an  Ruhm  und  Anerkennung  heimst  der  Unternehmer  für  sich  ein. 
Das  soll  uns  aber  nicht  hindern,  auf  das  Kulturresultat,  das  sich  in 
solchen  Bildern  zeigt,  stolz  zu  sein.  Wir  haben  mehr  Recht  darauf 
wie  so  viele,  die  den  Ruhm  davontragen  werden.  Wir  wissen  es, 
daß    die    Ausstellung    gerade    der    Arbeiterschaft    ein 


*)  Nach  Adler  kamen  noch  einige  Proteste  gegen  den  Terror,  worauf  der 
Antrag  M  a  1  i  k  mit  allen  gegen  die  zwei  alldeutschen  Stimmen  a  b- 
gelehnt  wurde. 

Nachdem  noch  über  die  Mandatsverteilung  in  der  Steiermark 
einige  Redner  gesprochen  hatten,  wurde  die  Verhandlung  wieder  vorzeitig 
abgebrochen. 

Dabei  erinnerte  Dr.  Adler  daran,  daß  die  letzte  Sitzung  frühzeitig 
abgebrochen  worden  sei,  und  zwar  wie  sich  später  unwidersprochen 
herausgestellt  habe,  um  für  ein  Souper  im  Sacher-Garten  Platz 
zu  gewinnen.  Es  stelle  sich  nunmehr  heraus,  daß  die  heutige  Sitzung 
früher  geschlossen  werden  soll,  weil  ein  anderes  Diner  in  Aus- 
sicht stehe.  Sein  Antrag,  die  Sitzung  fortzusetzen,  wurde  aber  ab- 
gelehnt. 

**)  Eine  Pause  in  den  Beratungen  des  Wahlreformausschusses  benutzte 
Adler,  um  in  mehreren  Versammlungen  in  seinem  Wahlkreis  —  in 
Grottau,  Warnsdorf  und  Reichenberg  —  über  die  Ver- 
schleppung der  WTahlreform  durch  die  Ränke  der  deutschböhmischen 
bürgerlichen  Abgeordneten  zu  berichten. 

(Siehe  darüber  die  Bemerkungen  bei  der  Rede  Adlers  im  Ausschuß  vom; 
19.  Juli  über  die  Mandate  von  Böhmen,  Seite  374.) 


Deutschböhmische  Ränke. 


Reifezeugnis  ausstellt,  wie  es  deutlicher  nicht  sein  kann.  Der 
politische  Zustand,  in  dem  sich  die  Arbeiterschaft  befindet,  ent- 
spricht diesem  Zeugnis  allerdings  noch  immer  nicht.  Noch  immer 
wird  uns  der  heftigste  und  schwerste  Kampf  aufgezwungen  um 
unser  erstes,  primitivstes  Recht:  u  in  d  a  s  politische  W  u  h  I- 
r  e  c  li  t. 

Abgeordneter  Adler  schilderte  nun  die  Phasen  des  Wahlrechts- 
kampfes von  Oktober  bis  heute,  von  den  Tagen,  da  neben  günstiger 
politischer  Konstellation  der  Wille  der  Arbeiterklasse  die  Ent- 
scheidung fällte,  von  dem  28.  November  1905,  der  für  die  Geschichte 
Österreichs  eine  ähnliche  Bedeutung  hat  wie  der  13.  März  1848,  der 
ja  auch  das  alte  Österreich  von  einem  neuen  Österreich  schied, 
von  diesem  Tage  bis  zum  heutigen,  wo  wir  unsere  Feinde  noch 
immer  daran  sehen,  das  Werk,  das  gemacht  werden  muß, 
wenigstens    zu    verschleppen,    seine    Vollendung   hinauszuschieben. 

Der  Ministerpräsident  Beck  meinte,  es  solle  recht  ruhig  und 
rasch  gehen.  Der  Meinung  sind  wir  auch.  Aber  die  Patrioten  wollen 
nicht.  Es  gibt  kein  Land,  wo  der  Träger  der  Krone  einen  so  unge- 
heuren Einfluß  hat  wie  in  unserem.  Für  den  Adel  und  das  Groß- 
bürgertum heißt  in  Österreich  Patriot  sein:  Tun,  was  der  Kaiser 
will.  Will  der  Kaiser  Kanonen,  Gewehre,  Soldaten,  alles  bekommt 
er,  wenn  es  auch  das  Volk  nicht  will.  Nun  will  einmal  der  Kaiser 
etwas,  das  auch  das  Volk  will.  Immer  hat  man  uns  gesagt,  wir  sind 
schlechte  Patrioten,  weil  wir  das  nicht  wollen,  was  der  Kaiser  will. 
Jetzt  wollen  wir,  was  der  Kaiser  will  —  oder,  wenn  Sie  es  so  auf- 
fassen wollen:  der  Kaiser  will,  was  wir  wollen  — ,  jetzt  sind  wir 
mit  dem  Kaiser  einig,  daß  das  bisherige  Parlament  für  den  Teufel 
zu  schlecht  ist;  aber  im  selben  Moment  versagen  die  Patrioten,  die 
immer  gegeben  haben,  was  das  Volk  nicht  wollte,  was  es  bedrückte, 
und  die  nun,  da  dem  Volk  ein  Raub  zurückgegeben  werden  soll, 
allen  ihren  Patriotismus,  ihre  Loyalität,  dynastische  Treue  und  ehr- 
furchtsvollste Ergebenheit  über  Bord  werfen.  Plötzlich  haben  wir 
es  mit  Leuten  zu  tun,  die  Mannesstolz  vor  Königsthronen  mimen. 
Graf  S  t  ü  r  g  k  h  (Pfuirufe)  beugt  sich  nicht,  ist  plötzlich  ein  auf- 
rechter Mann,  weil  der  Kaiser  ein  Recht  des  Volkes  will.  Und  mit 
ihm  einige  deutschböhmische  Abgeordnete  (erneute  Pfuirufe)  — 
wenn  Sie  schon  jetzt  anfangen,  Pfui  zu  rufen,  was  werden  Sie  denn 
dann  tun?  (Heiterkeit)  — ,  einige  Abgeordnete  der  Sudetenländer 
überhaupt,  die  P  e  r  g  e  1 t*),  D  e  m  e  1  und  Kaiser,  die  alle  Tage 
sagen,  im  Prinzip  sind  wir  für  das  Wahlrecht,  und  daneben  jeden 
Verschleppungsantrag  fördern  und  unterstützen.  Da  müssen  wir 
schon  sagen,  wir  pfeifen  auf  euer  Prinzip,  nicht  um  das  Prinzip 
dreht  es  sich,  sondern  um  die  Wahlreform,  die  jetzt  vorliegt,  um 
dieses  bestimmte  Gesetz  mit  allen  seinen  Vorzügen  und  Mängeln. 

i  Dr.  Pergelt,  Abgeordneter  der  Städtekurie  in  Rumburg,  liberal 
(fortschrittlich).  Dr.  v.  Demel,  Abgeordneter  der  Stadt  Teschen  in 
Schlesien,  ebenfalls  den tsebfor Lschrittlich.  Professor  Kaiser,  Abgeord- 
neter der  Landgemeinden  von  Freudcnthal  in  Schlesien,  Deutsche  Volks-* 
Partei,    Vizepräsident   des   Abgeordnetenhauses. 


366  Der  Sic^r  des  gleichen  Wahlrechts. 


Darin  ieigt  sich  die  arge  Heuchelei  —  und  das  muß  hier  in  N  o  r  d- 
1)  ()  h  m  e  n  gesagt  werden  — ,  die  arge  Heuchelei  gerade  auch 
einiger  deutscher  Abgeordneten  Nordböhmens, 
die  sich  zur  Wahlreform  schlechter  und  volksfeindlicher  verhalten 
als  die  deutschbürgerlichen  Abgeordneten  der  Alpenländer,  die  in 
ihrer  großen  Mehrzahl  ehrlich  zur  Wahlreform  stehen. 

Die  Opposition  im  Wahlreformausschuß  hat  eine  merkwürdige 
Gesellschaft  vereinigt.  Dr.  Pergelt,  Herold  aus  Saaz,  Baernreither 
und  schließlich  auch  der  Franko  Stein  (Ein  Ruf:  Dieses  Subjekt 
ist  zu  niedrig!),  der,  angeblich  von  sogenannten  „deutschvölkischen 
Arbeitern"  gewählt,  nun  im  Parlament  in  feindseligster  Art  mit 
allen  Waffen  gegen  die  Sache  der  Arbeiterschaft  losgeht.  (Zahl- 
reiche Entrüstungsrufe.  Ein  Ruf:  Solche  Menschen  sind 
Lumpen!)  Regen  Sie  sich  nicht  auf.  Es  ist  mir  vollständig  gleich- 
gültig, was  dieser  Mensch  sagt.  Vom  Ochsen  kann  man  nur  Rind- 
fleisch haben.  (Heiterkeit.)  Lassen  Sie  sich  durch  diese  persön- 
lichen Dinge  gar  nicht  irritieren.  Wichtiger  aber  ist,  daß  diese 
Lumpereien  von  Leuten  mitgemacht  werden,  die 
vorgeben,  daß  sie  ernste  Politiker  sind,  die  vorgeben, 
Freunde  der  Wahlreform  zu  sein. 

Herr  Herold  entdeckt  plötzlich  die  Herzogtümer  Auschwitz  und 
Zator*)  —  wie  kommt  Herr  Pergelt  dazu,  diesem  Kinderstreich  zuzu- 
stimmen. (Ein  Ruf:  Haderlumpen!)...  Haderlumpen,  das  ist  denn 
doch  schwer  zu  sagen.  Man  weiß  oft  nicht,  wo  so  ein  deutscher 
Politiker  aufhört  und  der  Haderlump  anfängt.  Ich  glaube  vielmehr, 
es  ist  den  Leuten  ernst  damit.  Sie  reden  sich  so  hinein.  Wenn  ich 
nicht  mehr  gewählt  werde,  sagt  sich  jeder  dieser  Herren,  so  ist  das 
persönlich  unangenehm,  für  Österreich  ist  es  aber  eine  Katastrophe. 
(Heiterkeit.)  Die  Stürgkh  und  Pergelt  haben  bisher  zwar  nichts 
getan  als  mitgeholfen,  den  Karren  in  den  Dreck  zu  bringen;  aber 
sie  meinen  doch,  es  geht  nicht,  wenn  sie  nicht  dabei  sind.  Der 
Karren  liegt  im  Dreck,  aber  sie  haben  ihn  doch  hineingefahren. 
(Große  Heiterkeit.)  Es  ist  also  nicht  alles  Schlechtigkeit  und  böse 
Absicht. 

Der  Minister  Beck  hat  gesagt:  Der  Wahlrechtskampf  muß  ein- 
mal ein  Ende  nehmen.  (Ein  Ruf:  Höchste  Zeit!)  Er  hat  gemeint,  daß 
wir  aufhören  sollten;  aber  heute,  wo  er  schon  ein  paar  Wochen 
im  Amte,  also  ein  alter  Minister  ist  (Heiterkeit),  muß  er  schon 
wissen,  daßderWahlrechtskampfkeinEndenehmen 
wird,  ehe  nicht  die  Wahlreform  gesichert  ist.  Die 
Arbeiterschaft  hat  seit  dem  28.  November  geduldig  gewartet.  Als 
aber  vor  etwa  vierzehn  Tagen  im  Ausschuß  wieder  einmal  alles 


*)  Die  Deutschnationalen  entdeckten  plötzlich,  daß  OswiQcim  in  Galizien 
auf  deutsch  Auschwitz  heiße  und  eigentlich  nicht  zu  Galizien  gehöre. 
Auschwitz  war  nämlich  einmal  die  Hauptstadt  der  westgalizischen  Herzog- 
tümer Auschwitz  und  Zator,  die  im  15.  Jahrhundert  einzeln  an  Polen  ver- 
kauft, aber  im  17.  Jahrhundert  wieder  vereinigt  wurden.  1773  fielen  sie  an 
Österreich.  —  Dr.  Josef  Herold  war  der  deutschradikale  Abgeordnete 
von  Brüx. 


I  teutschböhmische  Ränk(  Al>7 


versandet  war,  da  merkten  wir,  daß  es  den  Herren  darum  ZU  tun 
ist,  den  heißen  Sommer  über  Ferien  zu  halten,  um  dann  Im  Herbst 
in  den  zwei  kurzen  Monaten  bis  Mitte  Dezember  die  Wahlreform 
verzetteln  zu  können  da  machten  wir  ihnen  so  weit 
unsere   Kraft   reicht  einen    dicken    Strich    durch    die    Rechnung. 

(Großer  Beifall.  Kufe:  Hoch  der  Massenstreik!) 

Genossen!  Sie  kennen  mich  seit  zwanzig  Jahren.  Sie  wissen,  ich 
bin  kein  Springinsfeld.  Aber  ich  sage  Ihnen,  wenn  es  notwendig  ist, 
müssen  wir  selbst  den  Massenstreik  wagen;  wir  müssen  ihn 
wagen,  trotzdem  wir  wissen,  welches  harte  Opfer  wir  den 
Arbeitern  auferlegen,  welche  schwere  Störung  die 
Industrie  erfahren  wird,  welche  Gefahren  für  die  Orga- 
nisation uns  —  für  einige  Zeit  wenigstens  -  drohen.  Wir  wollen 
nicht  gewissenlos  und  leichtfertig  sein.  Aber  wir  wären  ge- 
wissenlos und  feig  zugleich,  wenn  wir  Sie  nicht 
rufen  würden,  sobald  der  Kampf  notwendig  wird. 
(Großer,  langwährender  Beifall.) 

Die  Regierung  sucht  das  alte  Rezept  hervor.  Sie  beruft  Soldaten. 
Aber  es  kann  doch  niemand  den  Bäcker  niederschießen,  wenn  er 
nicht  die  frischen  Semmeln  für  den  Frühstückstisch  schaffen  will. 
Das  wird  schwer  gehen.  Wenn  es  nötig  werden  sollte,  über  Wien 
mit  dem  Streik  hinauszugehen,  in  welche  Lage  kommen  dann  die 
parlamentarischen  Minister?  Seiner  Exzellenz  Prade*)  wird  es 
doch  recht  unangenehm  sein,  gegen  seine  Reichenberger  Mitbürger 
Soldaten  zu  schicken;  will  er  seine  Reichenberger  niederschießen 
lassen?  Und  auch  der  Exzellenz  P  a  c  a  k  wird  es  unangenehm  sein, 
gegen  seine  tschechischen  Landsleute  in  Prag  mit  Kanonen  loszu- 
gehen. Das  verträgt  ein  parlamentarisches  Mini- 
sterium nicht  und  ich  sage,  daß  die  Tage  dieser  Regierung 
gezählt  sind,  wenn  wir  durch  die  Haltung  des  Wahlreformaus- 
schusses und  durch  die  Schwäche  der  Regierung  gezwungen 
werden  würden,  in  den  Kampf  einzutreten.  Auf  die  Einsicht  und 
Kraft  der  Regierung  allein  können  wir  uns  leider  nicht  verlassen, 
sondern  wir  werden,  so  weit  wir  vermögen,  durch  unsere 
Kraft  schützen,  was  wir  durch  unsere  Einsicht  als 
notwendig  erkannt  haben.  (Großer  Beifall.)  Wir  lassen  uns  nicht 
einschüchtern  —  auch  nicht  durch  Kanonen.  (Erneuerter,  großer 
Beifall.) 

Die  Unternehmer  jammern,  daß  auf  dem  Rücken  der  Unter- 
nehmer, der  Unschuldigen,  die  ohnehin  fürs  Wahlrecht  sind,  der 
Kampf  ausgefochten  werden  soll.  Sagen  Sie  ihnen  erstens:  das  ist 

' )  Prade,  Abgeordneter  der  Stadt  Reichenberg,  deutscher  Landsmann- 
minister im  Kabinett  Beck.  Pacak,  Abgeordneter  der  Landgemeinden 
von  Czaslau,  tschechischer  Landsmannminister. 

Die  Regierung  hatte,  als  die  sozialdemokratische  Konferenz  am  H.Juni 
den  Generalstreik  androhte,  militärische  Vorbereitungen  getroffen,  um  bei 
Ausbruch  des  Streiks  Bahnhöfe,  öffentliche  Gebäude,  Fabriken  militärisch 
besetzen  zu  lassen,  und  in  den  niederösterreichischen  Landstädten  waren 
die     Truppen    bereit,    jeden    Augenblick    nach    Wien    abzumarschieren. 


'368  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


einmal  der  Krieg,  der  erschossene  Soldat  hat  auch  den  Krieg  nicht 
angezettelt;  dann  aber  sagen  Sie  ihnen,  daß  sie  die  Prügel  reichlich 
verdient  haben.  Dr.  P  e  r  g  e  1 1  ist  doch  i  h  r  Abgeordneter,  der 
Abgeordnete  der  Unternehmer;  warum  nehmen  sie  ihn  nicht  beim 
Kopfe  und  warum  ziehen  sie  ihn  nicht  zur  Verantwortung  dafür,  daß 
ihm  sein  persönliches  Interesse  oder  doch  seine  persönliche  Ver- 
bohrtheit mehr  gilt  als  das  Interesse  der  Industrie,  die  er  zu  ver- 
treten hat?  Wenn  die  Unternehmer  für  das  Wahlrecht  demon- 
strieren würden,  könnten  wir  es  uns  ersparen. 

Nicht  wir  werden  das  Signal  zum  Kampfe  geben;  das  Signal 
kommt  von  den  anderen,  wenn  sie  nichts  arbeiten,  es  kommt  von 
der  Regierung,  wenn  sie  nicht  die  Kraft  hat,  sie  zur  Arbeit  zu 
zwingen;  nicht  wir,  sondern  die  Schwäche  der  Regierung  und  die 
Halsstarrigkeit  der  Gegner  würden  das  Signal  zum  Kampfe  geben. 
Kommt  aber  das  Signal,  dann  werden  sich  auch  die  nordböhmischen 
Proletarier  sagen:  „Jetzt  geht  es  in  die  Schlacht",  und  sie  werden 
die  Arbeit  niederlegen.  (Demonstrativer  Beifall,  der  sich  immer 
wieder  erneuert.)  Ich  schließe  mit  dem  alten  Rufe:  Hoch  das 
allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht! 

„Sozialistische  Durchseuchung/4 

Wahlreformausschuß,  4.  Juli  190 6*). 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ich  würde  zu  diesem  Gegenstand  nicht 
das  Wort  genommen  haben,  wenn  nicht  in  der  Rede  der  Abgeord- 
neten Lemisch  und  Ploj  die    „sozialistische  Durchseuchung"    eine 

*)  Bei  der  Wahlkreiseinteilung  von  Kärnten  beantragte  der  slowenische 
Klerikale  Dr.  Ploj  —  übrigens  im  Einvernehmen  mit  den  deutschen 
Christlichsozialen  in  Kärnten  — ,  aus  dem  dritten  Kärntner  Wahlbezirk 
Ferlach  drei  „sozialdemokratisch  verseuchte"  Gemeinden  auszuscheiden 
und  dem  Bezirk  Klagenfurt  zuzuweisen.  Damit  sollte  der  Bezirk  für  die 
slowenischen  Klerikalen  vermehrte  Sicherheit  erhalten.  Dagegen  wehrten 
sich  wieder  die  Deutschbürgerlichen,  deren  Redner  Dr.  Lemisch  aus- 
rechnete, daß  die  Deutsche  Volkspartei  ohnedies  ein  Mandat  an  die  Sozial- 
demokraten werde  abgeben  müssen.  Da  übrigens  die  Orte,  um  die  es  sich 
handelte,  von  Klagenfurt  und  voneinander  weit  entfernt  liegen,  wurde  der 
Antrag  abgelehnt. 

Als  Dr.  Adler  zu  sprechen  begann,  lärmten  die  alldeutschen  Abge- 
ordneten Malik  und  Stein  und  Malik  erklärte,  er  werde  Adler  nicht 
reden  lassen,  da  man  ihn  in  Brunn  auch  nicht  habe  reden  lassen. 
Malik  hatte  nämlich  in  Brunn  eine  Versammlung  abhalten  wollen,  verlor 
aber  den  Mut  hinzufahren,  als  er  hörte,  daß  die  Sozialdemokraten  in  der 
Nähe  seines  Lokals  eine  Versammlung  abhalten  wollen,  obwohl  ihm  aus- 
drücklich versichert  wurde,  die  Arbeiter  selbst  würden  für  seine  Sicher- 
heit bürgen.  Deshalb  schrie  er  jetzt  ununterbrochen:  „Rache  für 
Brunn!" 

Diese  Szene  schildert  der  Sitzungsbericht  folgendermaßen:  Der  Vor- 
sitzende Baron  Malfatti  erteilt  dem  Abgeordneten  Dr.  Adler  das 
Wort.  Nun  springt  der  Malik  auf  und  schreit:  Dr.  Adler  wird  nicht 
sprechen.  Ich  habe  gesagt,  daß  ich  ihn  nicht  sprechen  lasse  und  werde 


.Sozialistische  Durchseuchung,"  ;'''' 


Rolle  gespielt  hätte.  Der  Alltrag  des  Herrn  Dr.  Ploj  wünscht,  eine 
Anzahl  (iemeinden  mit  sozialdemokratischen  Arbeitern  ans  dem 
Bezirk  3  auszuscheiden  (andauernde  lärmende  Zwischenrufe  der 
Abgeordneten  Stein  und  Malik)  und  sie  in  den  Wahlbezirk  Klagen- 
furt  zu  versetzen.  Ich  begreife  vollkommen,  daß  es  beiden  Herren 
unangenehm  ist,  Arbeiter  in  ihrem  Wahlbezirk  zu  haben.  Ich  werde 
gegen  diesen  Antrag  stimmen.  Was  die  Sozialdemokraten  in 
Klagenfurt  angeht,  so  werden  sie  die  rote  Durchseuchung  schon 
selbst  und  allein  besorgen.  (Fortdauernder  Lärm.)  Ich  kann  aber 
unmöglich  dafür  sein,  daß  Orte,  die  sehr  weit  voneinander  entfernt 
sind,  in  einen  Bezirk  zusammengezogen  werden.  (Fortdauernder 
Lärm.)  Ich  kann  absolut  nicht  zugeben,  daß  diese  Arbeiterorte  von 
ihrer  Umgebung  abgeschnitten  und  einem  entfernten  Bezirk  zuge- 
schlagen werden.  (Unausgesetzte  lärmende  Zwischenrufe.)  Das  ist 


es  halten!  Baron  Malfatti  ersucht  um  Ruhe.  Adler  beginnt  zu 
sprechen.  Malik  zieht  nun  eine  Nummer  der  „Arbeiter-Zeitung"  heraus 
und  erklärt,  er  werde  die  Rede  Adlers  in  der  Volkshalle  verlesen.  Adler 
erwidert  ruhig:  Das  mag  ja  sehr  interessant  sein,  aber  ich  will  jetzt  eine 
neue  Rede  halten.  Malik  schreit  und  lärmt  ununterbrochen,  worauf 
Adler  sich  an  den  Vorsitzenden  wendet:  Selbstverständlich  ist  es  nicht 
meine  Aufgabe,  hier  die  Ordnung  zu  wahren;  das  ist  Pflicht  des  Obmannes 
und  Sache  des  Ausschusses  selbst.  Malik  fährt  fort  zu  schreien  und 
wiederholt  eintönig:  Ich  lasse  ihn  nicht  sprechen!  Ich  lasse  ihn  nicht 
sprechen!  Der  Vorsitzende  gibt  das  Glockenzeichen  und  macht 
schüchterne  Versuche,  Herrn  Malik  zu  hindern,  weiter  zu  spektakulieren. 
Der  aber  schreit  ununterbrochen:  Wenn  er  mich  draußen  nicht  reden  läßt, 
lasse  ich  ihn  hier  nicht  reden.  Das  ist  meine  Rache  für  Brunn! 
Worauf  ihm  Adler  antwortet:  Für  Brunn  haben  Sie  nicht  an  mir  Rache 
zu  nehmen.  Sie  hätten  dort  reden  können,  so  viel  Sie  wollten,  wenn  Sie 
den  Mut  gehabt  hätten,  nach  Brunn  zu  fahren.  Dr.  Adler  beginnt 
nochmals  zu  sprechen,  wird  aber  nun  wieder  von  dem  Geschrei  unter- 
brochen, bei  dem  nun  dem  Malik  auch  der  Stein  zu  Hilfe  kommt,  der 
unausgesetzt  brüllt:  Terrorismus  gegen  Terrorismus!  Einzelne 
Abgeordnete,  insbesondere  Kramarsch  und  der  Ruthene  W  a  s  s  i  1  k  o, 
rufen:  Das  geht  doch  nicht!  Das  ist  unmöglich!,  während  die 
anderen  mit  ruhiger  Objektivität  der  Szene  zuschauen.  Der  Vor- 
sitzende schlägt  dann  Dr.  Adler  vor,  auf  das  Wort  zu  verzichten,  was 
Adler  ganz  energisch  ablehnt,  indem  er  erklärt:  Ich  ersuche  den  Obmann, 
mir  mein  Recht  zu  wahren:  ich  verzichte  absolut  nicht.  Ich 
weiß,  Herr  Obmann,  daß  Sie  sehr  wenig  Macht  haben,  aber  ich  werde 
mich  unter  keiner  Bedingung  fügen!  Malik:  Sie  dürfen  unter 
keiner  Bedingung  sprechen.  Abgeordneter  Ploj  gibt  dem  Vorsitzenden 
den  Rat,  die  Sitzung  zu  schließen.  Adler  erklärt:  Ich  protestiere  auf 
das  entschiedenste  dagegen.  Ich  bin  in  meinem  Recht  und  werde  mich 
unter  keiner  Bedingung  diesem  Terrorismus  fügen.  Stein:  Sie  werden 
sich  fügen  und  der  ganze  Ausschuß  wird  sich  fügen  müssen!  Die  beiden 
schreien  dann  weiter.  Als  Adler  wieder  zu  sprechen  anfängt,  schreit 
Malik:  So  stark  wie  Sie  kann  ich  auch  schreien!  Adler:  Ich  kann 
überhaupt  nicht  schreien:  ich  bin  kein  Schreier.  Während  nun  Malik 
und  Stein  mit  Aufgebot  ihrer  ganzen  Lungenkraft  brüllen  und,  als  ihnen 
die  Stimme  ausgeht,  mit  Linealen  auf  den  Tisch  schlagen, 
führt   Adler  seine   Rede   zu   Fndc. 

Adler,  Briefe.   X.  Bd.  24 


370  Der  Sic«  des  gleichen  Wahlrecht. 

der  (irund,  warum  ich  gegen  den  Antrag  des  Abgeordneten  Dr.  Ploj 
stimmen  werde.  (Fortdauernde  lärmende  Zwischenrufe.)  So,  ich  bin 
fertig.  Stimme  haben  Sie  ja  mehr  als  ich.  Ihr  Kehlkopf  ist  stärker! 
(Andauernder  Lärm.) 

Das  Mandat  von  Gottschee. 

Ausschuß,  6.  Juli  190  6*). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  erinnert  daran,  daß  er  bei  mehreren 
Gelegenheiten  bereits,  wo  es  sich  um  die  Vermehrung  von  Mandats- 
zahlen gehandelt  habe,  und  zwar  wo  es  sich  um  ein  italienisches, 
um  ein  slowenisches  und  um  das  armenopolnische  Mandat**)  in  der 
Bukowina  handelte,  erklärt  habe,  daß  die  Sozialdemokraten  von 
ihrem  Standpunkt  eine  Vermehrung  der  Mandate  nicht  zugeben 
können,  wenn  dies  nicht  auf  dem  Wege  des  Kompromisses  geschieht. 
Das  Festhalten  an  der  Vorlage  ist  im  Interesse  des  Zustande- 
kommens der  Wahlreform  die  einzig  vernünftige  und  zum  Ziele 
führende  Haltung.  Er  bedauere  sehr,  den  Standpunkt  auch  hier  gegen- 
über dem  Gottscheer  Mandat  einnehmen  zu  müssen,  obwohl  er 
wisse,  daß,  wenn  auch  der  Forderung  nach  diesem  Mandat  die  sach- 
liche Begründung  fehle,  damit  einem  Herzenswunsch  der  deutschen 
Abgeordneten  entsprochen  werden  würde.  Die  Sozialdemokraten 
könnten  nur  unter  der  Bedingung  für  ein  Gottscheer  Mandat 
stimmen,  daß  das  von  der  Regierung  vorgeschlagene  Kompromiß 
wirklich  zustande  kommt.  Wenn  das  nicht  geschieht,  sei  er  selbst- 
verständlich genötigt,  auch  gegen  das  Gottscheer  Mandat  zu 
stimmen. 

Noch  einmal  Gottschee. 

Ausschuß,   12.  Juli   19  06***). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  bemerkt,  er  hätte  es  vorgezogen,  wenn 
eine  Vermehrung  der  Mandate  überhaupt  nicht  vorgenommen  und 

*)  Das  Mandat  der  deutschen  Sprachinsel  Gottschee  in  dem  sonst 
slowenischen  Krain  war  ein  großer  Streitgegenstand,  der  die  Wahlreform 
bedrohte.  Der  slowenischklerikale  Führer  Schusterschitz  bot  den 
Deutschen  schließlich  das  Kompromiß  an,  gegen  ein  slowenisches  Mandat 
in  Steiermark  ihnen  das  Mandat  zu  bewilligen.  Auf  dieser  Grundlage  ist 
dann  das  Gottscheer  Mandat  geschaffen  worden.  Es  wurde  im  neuen 
Parlament  vom  Fürsten  Karl  Auersperg,  der  dort  begütert  war  und  dessen 
Familie  überdies  den  Titel  „Herzog  von  Gottschee"  führte,  im  zweiten 
Parlament  von  einem  Grafen  Barbo  besetzt.  (Siehe  übrigens  Adlers 
zweite  Rede  über  diese  Frage  in  der  Ausschußsitzung  vom  12.  Juli.) 

**)  Auch  das  war  eine  Frage,  nämlich  ob  die  „Armenopolen",  das  ist  die 
polonisierten  Nachkömmlinge  der  Armenier  in  der  Bukowina,  ein  Mandat 
erhalten  sollten! 

***)  In  einer  sehr  bewegten,  den  ganzen  Tag  dauernden  Sitzung  des  Aus- 
schusses wurde  am  12.  Juli  endlich  das  deutsche  Mandat  in  Gottschee 


Das    Mandat    von   Qottschee.  Noch    einmal    GottSChee.  Ml 


auch  das  Gottscheer  Mandat  abgelehnt  worden  wäre;  da  das  aber 
nun  einmal  geschehen,  müsse  man  aus  der  neuen  Situation  die  Kon- 
sequenzen ziehen.  Der  Abgeordnete  stein  habe  heute  /um  erstenmal 

anerkannt,  dal.»  die  Sozialdemokraten  die  nationale  Frage  in  ihrer 
vollen  Bedeutung  erkennen.  Die  Sozialdemokraten  erkennen  nicht 
nur  die  nationale  Frage  au,  sie  Rehen  viel  weiter,  sie  suchen  sie  für 
das  Parlament  zu  1  ö  s  e  n,  und  es  gelingt  ihnen,  trotz  den  nationalen 
Verschiedenheiten  und  Reibungen,  die  ja  unvermeidlich  sind,  ein 
gemeinsames  Programm,  eine  gemeinsame  Organisation  und  poli- 
tische Tätigkeit  im  Interesse  des  Proletariats  herbeizuführen.  Trotz 
den  Schwierigkeiten,  die  sich  ebenso  wie  dem  Bürgertum  auch  der 
Sozialdemokratie  hier  entgegenstellen,  ist  ihr  bisher  dieser  Versuch 
vollkommen  gelungen.  Die  Sozialdemokraten  erkennen  eben  die 
gemeinsamen  Interessen  und  die  Notwendigkeit  des 
gemeinsamen  Kampfes  und  sie  richten  sich  danach  ein.  Aus  der 
Erkenntnis,  daß  in  Österreich  nun  einmal  Slawen,  Deutsche  und 
Italiener  zusammenleben  müssen,  muß  man  ehrlich  und  mit 
aller  Entschiedenheit  die  Konsequenzen  ziehen, 
und  die  Sozialdemokratie  hat  sie  auch  tatsächlich  gezogen.  Ich  sage 
das  darum,  weil  wir  hier  bei  der  Arbeit  für  die  Wahlreform  in  einer 
ganz  ähnlichen  Lage  uns  befinden  wie  das  Proletariat  in  Österreich. 
Daß  die  Wahlreform  gemacht  werden  muß  und  wird,  darüber  sind 
selbst  deren  heftigste  Gegner,  die  mit  aller  Gewalt  und  mit  allen, 
mitunter  nicht  ganz  zulässigen  Mitteln  ihr  Zustandekommen  ver- 
hindern wollen,  im  letzten  Winkel  ihres  Gehirns  nicht  im  Zweifel. 
Jeder  weiß,  daß  Neuwahlen  nach  der  gegenwärtigen  Wahlordnung 
nicht  mehr  möglich  sind.  Wenn  aber  das  jeder  weiß,  so  bleibt 
wirklich  nichts  anderes  übrig,  als  an  der  Erfüllung  dieser 
gemeinsamen  Notwendigkeit  gemeinsam  mit- 
zuarbeiten und  sich  gegenseitig  Konzessionen 
zu  machen.  Wenn  Sie  die  Wahlreform  wollen,  dann  müssen 
Sie  auch  die  Mittel  wollen,  mit  deren  Hilfe  sie  zu 
verwirklichen  ist,  und  wer  erklärt,  daß  er  prinzipiell  für  die 
Wahlreform  ist,  aber  die  Mittel,  um  sie  zu  verwirklichen,  zu  ver- 
eiteln trachtet,  ist  entweder  ein  unklarer  Kopf  oder  er 
heuchelt.  Durch  die  Annahme  des  Gottscheer  Mandats  ist  ein 
Herzenswunsch  der  Deutschen  erfüllt  worden,  und  deswegen 
müssen  auch  die  Deutschen  ein  Opfer  dafür  zu  bringen  wissen.  Es 
ist  vom  Abgeordneten  Stein  ausdrücklich  festgestellt  worden,  daß 
Abgeordneter  Dr.  Pommer  zuerst  auf  den  in  seinem  Sinne  unglück- 


bcschlosscn,  nachdem  die  Deutschbürgerlichen  zugestimmt  hatten,  daß  die 
Slowenen  dafür  als  Kompensation  wieder  ein  Mandat  mehr  in  Steiermark 
erhalten.  Aber  obwohl  es  sich  da  um  ein  Kompromiß  handelte,  jammerten 
die  Deutschnationalen,  unter  ihnen  am  giftigsten  der  Graf  S  t  ü  r  g  k  h,  der 
ja  ein  steirischer  Großgrundbesitzer  war,  über  Vergewaltigung  und  Unrecht. 
Mit  welcher  verlogenen  Demagogie  dabei  vorgegangen  wurde,  zeigt  die 
Tatsache,  daß  der  Redner  der  Deutschen  Volkspartei,  der  Abgeordnete 
Kaiser,  den  Minister  P  r  a  d  e,  einen  Fraktionsgenossen,  als  einen 
Agenten  der  Slawen  hinstellte.  In  der  Debatte  nahm  auch  Adler  das  Wort. 

24* 


372  Der  Sic«  des  gleiche*!  Wahlrechts. 

liehen  Gedanken  eines  Kompensatiönsmandats  in  Steiermark  ge- 
kommen ist.  Dr.  Pommer*)  hätte  sich  eben  für  das  Gottscheer  Mandat 
in  Stücke  reißen  lassen.  Es,  war  eine  fixe  Idee  von  ihm,  und  da  ist 
es  begreiflich,  daß  er  eingesehen  hat,  man  müsse  für  dieses  Mandat 
den  Slowenen  ein  anderes  Mandat  konzedieren.  Im  politischen 
Leben  ist  eben  umsonst  nur  der  Tod,  und  den  Tod  der  Wahlreform 
werden  Sie  wegen  eines  slowenischen  Mandats  nicht  herbeiführen 
wollen  und  nicht  erreichen  können.  Sie  geben  sich  auch  darüber 
einer  Täuschung  hin,  wenn  Sie  glauben,  daß  die  Aufregung  in  den 
Massen  über  ein  slowenisches,  deutsches  oder  italienisches  Mandat 
eine  so  große  ist.  Diese' Feinheiten,  die  sich  hier  oft  in  Grobheiten 
ausdrücken,  diese  Details  interessieren  die  Massen  mit  gutem 
Rechte  nicht.  Die  Massen,  und  zwar  nicht  nur  die  Massen  des  Pro- 
letariats, sondern  ebenso  auch  des  Bürgertums,  haben  den  ver- 
nünftigen Instinkt  und  sagen  sich :  Wenn  eine  so  große 
Sache  gemacht  werden  soll,  dann  geht  es  eben 
ohne  Späne  n  ich  t.  Allen  kann  man  nicht  recht  tun.  Es  ist  die 
alte  Wahlordnung  auch  nicht  über  jeden  Zweifel  erhaben.  Die 
Massen  wissen  ganz  genau,  daß  es  sich  in  dieser  Sache  um  ganz 
andere  Dinge  handelt  und  daß  die  politische  Macht  und  der  poli- 
tische Einfluß  weder  der  Slawen  noch  der  Deutschen  an  einem  ein- 
zelnen Mandat  hängen.  Auchdie  Deutschen  wissen  ganz 
gut,  daßihreStellungin  Österreich  nicht  davon 
abhängt,  ob  sie  oder  die  Slawen  ein  Mandat  mehr 
bekommen  oder  nicht.  Nehmen  Sie  sich  —  ich  will  nicht 
unbescheiden  sein  ^-  an  den  Sozialdemokraten  ein  Beispiel.  Wir 
sind  bei  der  Mandatsverteilung  —  vielleicht  mit  der  einzigen.  Aus- 
nahme von  Krain  -^-  i  rT  allen  Kronländern  auf  das 
ärgste  übervorteilt  worden,  und  es  ist  möglich,  daß  man 
bei  den  noch  nicht  verhandelten  Kronländern  weiter  versuchen 
wird,  gewisse  Bezirke  proletarierrein  zu  machen.  Allein  wir  gehen 
darüber  lächelnd  hinweg,  wir  wissen,  daß  die  Macht  und  der  wach- 
sende politische  Einfluß  des  Proletariats. nicht  von  einem  oder  selbst 
einem  halben  Dutzend  Mandate  abhängen,  daß  nicht  die  Mandate 
die  Macht  geben,  soridern'daß  die  Macht  schließlich 
auch  die  M  an  d  a  tebr  i  ngt.  Sie  sollten  es  sich  überlegen  und 
bedenken,  daß  es  der  Würde  und  der  Macht  des  deutschen  Volkes 
in  Österreich  nicht  ganz  entspricht,  wenn  Sie  fortwährend,  an  eine 
Unbeträchtlichkeit  anknüpfend,  die  ganze  Ehre  und  den  ganzen 
Einfluß  des  deutschen  Volkes  in  Österreich  in  Frage  stellen.  Ihre 
Wähler  werden  die  Sache  wohl  begreifen  und  mit  der  Kompensation 
sich  abzufinden  wissenf  Ich  glaube,  Sie  können,  so  wie  ich,  mit 
gutem  Gewissen  für  den  Antrag  stimmen. 


*)  Ein  deutschnationaler  ^Abgeordneter  von  Cilli  in  Untersteiermark,  an- 
sonsten Gymnasialprofessor,  >  in  Wien,  ein  verdienstvoller  Sammler  von 
Volksliedern  — -in  der 'Politik' aber  ein  fanatischer  Nationalist,  ein  Feind  der 
Wahlreform,  da  er  ja  in  der  größtenteils  slowenischen  Stadt  nur  eine  kleine 
Schicht  deutscher  BürxeElietwr : vertrat.  " 


Tncvt.  973 


Triest. 

'  ; 

Aussch  u  ß,  I  3»  Juli  1  906?). 

Abgeordneter  I)r.  Adler  bemerkt,  daß  man,  für  Triest  dureh  das 
abgeschlossene  Kompromiß  anstatt  der  sechs  Mandate,  welehe  die 
Vorlage  Hohenlohe  vorsehe,  die  fünf  Mandate  der  Gautschischen 
Vorlage  in  Vorschlag  bringe.  Dagegen  sei  nichts  einzuwenden,  ob- 
wohl die  Interessen  der  Arbeiterschaft  dabei  nicht  gut  wegkommen, 
da  die  Arbeiterschaft  bei  sechs  Mandaten  jedenfalls  mehr  Chancen 
gehabt  hätte.  Das  Naturgemäße  wäre  jedoch  gewesen,  daß  man, 
wenn  man  bei  der  Mandatszahl  auf  die  ursprüngliche  Regierungs- 
vorlage zurückgreift,  auch  die  in  dieser  Regierungs- 
vorlage vorgeschlagene  Wahlkreiseinteilung 
angenommen  hätte,  außer  es  wäre  eine  Bedingung  des  natio- 
nalen Kompromisses  gewesen,  die  Wahlkreiseinteilung  abzuändern, 
damit  das  slowenische  Mandat  in  Triest  größere  Sicherung  erfahre. 
Das  sei  aber  nicht  geschehen,  denn  das  fünfte  Mandat  in  Triest,  das 
den  Slowenen  zukomme,  bleibe  unverändert,  wie  es  die  Regierungs- 
vorlage Qautsch  vorschlug.  Wohl  aber,  habe  man  eine. andere  Ein- 
teilung der  vier  ersten  Bezirke  Triests  beliebt,  die  mit  dem 
nationalen  Kompromiß  nichts  zu  tun  habe,  sondern 
durch  welche  bloß  eine  andere  Gruppierung  der  italienischen  Stadt- 
teile und  insbesondere  jenes  Bezirkes  stattfindender  nach  der  Regie- 
rungsvorlage eine  große  Majorität  y  on  Arbeitern  ent- 
hielt. Der  Bezirk,  in  dem  San  Giacomo  und  San  Vito  in  der  Regie- 
rungsvorlage vereinigt  waren,  soll  nun  auseinandergerissen 
und  San  Giacomo  in  den  ersten  und  San  Vito  in  den  vierten  Wahl- 
bezirk eingeteilt  werden.  Dadurch  würde  es  den  Arbeitern  er- 
schwert, in  Triest  ein  Mandat  zu  erhalten.  Das  habe  mit  den  bis- 
herigen  Kompromißverhandlungen   absolut   nichts    zu    tun, 

*)  Auch  die  italienischen  Mandate  waren  lange  ein  Streitgegenstand  und 
die  Italiener  haben  wiederholt  im  Ausschuß  krawallierL  Hohenlohe  hatte 
den  Italienern  zwei  neue  Mandate  versprochen,  von  denen  je  eines  in  Süd- 
tirol und  in  Triest  sein  sollte.  Das  gab  Schwierigkeiten  und  es  kam  nur 
ein  Kompromiß  über  die  Wahlkreiseinteilung  im  Küstenland  (Istrien,  üörz 
und  Gradiska,  Triest)  zustande,  wonach  die  beiden  italienischen  Mandate 
in  Istrien  und  Görz  sein  sollten^  so  daß  also  in  beiden  Ländern  Italiener 
und  Slowenen  je  drei  Mandate  haben  sollten,  Triest  aber  nur  fünf  (statt  der 
von  Hohenlohe  versprochenen  sechs,  wie  in  der  Gautsch'schen  Vorlage 
fünf)  Mandate.  Die  italienischen  Abgeordneten  benützten  das  Kompromiß, 
um  in  Triest  die  italienischen  Arbeiter  um  ein  Mandat  zu  betrügen,  indem 
sie  eine  neue  Einteilung  durchsetzten,  deren  einziger  Zweck  eben  war, 
einen  ausgesprochenen  Arbeiterbezirk  zu  zerreißen. 

Siehe  übrigens  die  Bemerkungen  über  dals  Triester  Mandat  in  dem 
Rückblick  auf  die  letzten  Phasen  bei  der  Rede  Adlers  vom  20.  Juli  „Das 
neueste  Attentat  auf  die.  Wahlrefoi'm",  wo  ausführlich  dar- 
gelegt ist,  wie  auch  in  Triest  die  italienischen  Wählreformfeinde  von  den 
Arbeitern  durch  die  schärfsten  Mittel  —  Straßenkämpfe  mit  der 
Polizei,  Generalstreikbeschluß  —  zur  Einstellung  ihres 
Kampfes  gezwungen  werden  mußten. 


374  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


das  sei  nur  ein  Zugeständnis,  das  den  Italienern  nicht  als  nationaler, 
sondern  als  bürgerlicher  Partei  zuungunsten  der  Arbeiter- 
schaft gemacht  wurde.  Aus  diesem  Grunde  und  weil  er  selbst  immer 
für  die  Vorschläge  der  Regierungsvorlage  einzutreten  erklärt  habe, 
beantrage  er,  daß  die  ursprüngliche  Wahlkreis- 
einteilung der  Regierungsvorlage  Qautsch  der 
Abstimmung  zugrunde  gelegt  werde.  Es  sei  dadurch 
nur  ein  Arbeiterinteresse  berührt,  aber  durchaus  nicht  ein  nationales 
Interesse,  da  es  bloß  im  Interesse  der  herrschenden  Parteien  liege, 
die  Wahlkreiseinteilung  in  dieser  Weise  abzuändern.  Den  italie- 
nischen Mitgliedern  des  Ausschusses  seien  durch  das  Kompromiß  in 
nationaler  Hinsicht  ganz  erhebliche  Zugeständnisse  gemacht  worden, 
und  man  sollte  erwarten,  daß  sie  auf  diesem  Gebiet  keine  wei- 
teren Forderungen  stellen  werden. 

Die  Mandate  von  Böhmen. 

Ausschuß,  19.  Juli  1906*). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  fühlt  sich  verpflichtet,  in  die  Diskussion 
mit  einigen  Bemerkungen  einzugreifen,  denn  er  sei  ein  deutsch- 
böhmischer Abgeordneter,  er  vertrete  hier  die  Interessen  der 
Arbeiter  in  dem  industriellsten  Teile  Böhmens,  er  vertrete  hier  eine 
große  Anzahl  von  Arbeitern,  und  zwar,  wie  er  mit  allem  Nachdruck 
betone,  von  deutschen  Arbeitern.  Diese  Deutschen  in 
Böhmen  wollen  auch  gehört  werden  und  haben  ein  Recht,  zu  sagen, 
wie  sie  sich  zu  den  Fragen  stellen,  die  hier  erörtert  werden.  I  n 
voller  Übereinstimmung  mit  der  gesamten 
deutschen  Arbeiterschaft  Böhmens,  mehr  noch, 
in  Übereinstimmung  mit  einem  großen  Teil  des 
Bürgertums  Böhmens,  das  es  mit  der  politischen 

*)  Die  Sitzung  des  Wahlreformausschusses  vom  19.  Juli  war  wie  die 
vorige  mit  der  Beratung  des  Antrages  P  e  r  g  e  1 1  ausgefüllt,  der  einen 
neuen  Anschlag  gegen  die  Wahlreform  darstellte.  Pergelt  hatte  beantragt, 
daß  die  Zahl  der  deutschen  Mandate  in  Böhmen  um  acht  vermehrt  werden 
sollte,  ohne  den  Tschechen  auch  nur  eines  mehr  zu  bewilligen.  Die  übrigen 
deutschbürgerlichen  Abgeordneten  wagten  es  nicht  recht  dagegen  zu  sein, 
und  der  Abgeordnete  der  Deutschen  Volkspartei  Professor  Kaiser  hielt 
sogar  eine  giftige  Rede  gegen  diejenigen,  die  diesen  Antrag  ablehnen 
sollten,  und  selbst  Geßmann  erklärte,  die  Christlichsozialen  würden  dem 
Antragsteller  die  Verantwortung  überlassen  und  für  den  Antrag  Pergelt 
stimmen,  um  zu  beweisen,  daß  sie  neben  ihrer  aufrichtigen  Freundschaft 
für  die  Wahlreform  auch  „den  Interessen  der  Deutschen,  seien  sie  nun 
wahre  oder  bloß  angebliche",  ihre  volle  Würdigung  zuteil  werden  lassen. 
Das  gehörte  mit  zu  den  Schwierigkeiten  der  Wahlreform,  daß  die  bürger- 
lichen Parteien  es  nicht  wagten,  gegen  einen  mit  nationalistischen  Argu- 
menten motivierten  Vorstoß  der  Wahlreformfeinde  aufzutreten,  aus  Furcht, 
dann  als  Nationsfeinde  hingestellt  zu  werden,  und  es  den  Sozialdemokraten 
überließen,  den  Anschlag  allein  abzuwehren. 

Wieder  war  also  eine  Krise.  (Siehe  übrigens  Adlers  Rede  in 
Reichenberg  am  1.  Juli  über  „deutschböhmische  Ränke*'.) 


Die  Mandate  von  Böhmen.  375 


Verantwortlichkeit  ernst  nimmt,  und  im  Na  m  e  n 
derselben  könne  er  erklären,  daß  die  Anträge  des 
Abgeordneten  Dr.  P  er  ff  e  1 1  nicht  im  Interesse  der 
deutschen  Bevölkerung  Böhmens,  daß  sie  nicht 
im  Interesse  des  deutschen  Volkes  in  Österreich 
überhaupt  liegen. 

Dr.  Geßmann  habe  gesagt,  er  vertraue  sich  der  Führung  der 
Herren  aus  Deutschböhmen  noch  einmal,  und  zwar  zum  letztenmal, 
an.  Man  braucht  diese  letzte  Probe  auf  das  Exempel  nicht  mehr 
abzuwarten.  Es  ist  klar,  daß  der  vorliegende  Antrag  weder  im 
Interesse  der  Wahlreform  noch  in  dem  der  politischen  Macht- 
stellung und  politischen  Entwicklung  des  deutschen  Volkes  liegt. 
Er  begreife  ja,  daß  man  Anträge  gegen  Anträge  stellt.  Wenn  Abge- 
ordneter Choc  den  Antrag  auf  Vermehrung  der  tschechischen  Man- 
date auch  um  acht  gestellt  hat  —  es  scheint  das  die  mystische  Zahl 
zu  sein,  um  die  sich  ohne  sichtbares  Motiv  die  extremen  Parteien 
bewegen  — ,  wenn  er  selbst  etwa  eine  gerechte  Einteilung  der 
Mandate  in  Böhmen  nach  der  Bevölkerungszahl  verlangen  würde, 
eine  direkte  Einteilung  der  Bezirke,  die  dahin  führen  müßte,  daß  die 
heute  von  der  Regierung  dem  Bürgertum  zugebilligte  Einteilung 
gänzlich  umgeworfen  und  viel  mehr  sozialdemokratische  Mandate 
in  Aussicht  stehen  würden,  so  könnte  der  Abgeordnete  Choc  oder 
er  noch  immer  für  sich  in  Anspruch  nehmen,  daß  sie  hier 
allein  sind,  daß  jeder  von  ihnen  der  einzige  Vertreter  in  der 
Partei  hier  ist,  daß  also  daraus  keine  Gefahr  entsteht; 
diese  Anträge  würden  nicht  angenommen  werden  und  sie  so  ihren 
prinzipiellen  Standpunkt  wahren  können,  ohne  die  Wahlreform  in 
Gefahr  zu  bringen.  Der  Abgeordnete  Choc  v/erde  aber  ent- 
schuldigen, wenn  er  sage:  Was  uns  zukommt,  kommt  anderen  nicht 
zu.  Quod  licet  bovi,  non  licet  Jovi!*)  (Heiterkeit.)  Er  nehme  diese 
Worte  auf  sich.  Die  Anträge  werden  aber  von  sehr  mäch- 
tigen Herren  gestellt,  die  imstande  sind,  eine  solche  Forde- 
rung, von  der  sie  wissen,  daß  sie  sich  weder  wirklich  begründen 
läßt,  noch  Aussicht  hat,  im  Rahmen  der  Wahlreform  angenommen 
zu  werden,  zu  einem  Gebot  für  die  ganze  Linke  im  Ausschuß,  für 
jeden  deutschen  Abgeordneten  zu  machen.  Er  wolle  das  Gewissen 
der  Herren  nicht  erforschen,  aber  er  sei  fest  überzeugt,  es  sei  keiner 
in  diesem  Saale,  der  nicht  mit  ihm  überzeugt  sei,  daß  die  deutschen 
Abgeordneten  mit  Widerstreben  für  diesen  Antrag  stimmen,  einfach, 
weil  sie  sich  dem  Machtgebot  der  Herren  aus  Deutschböhmen 
beugen. 

Man  möge  auch  ihm  einmal  gestatten,  das  fortwährend  ge- 
brauchte Wort  Terrorismus  anzuwenden  und  zu  sagen,  die 
Herren    beugen    sich    dem    Terrorismus    der    nationalen    Phrase. 

Zwischen  nationaler  Phrase  und  nationalem  Interesse  ist  ein 
großer    Unterschied.    Wer    ein    nationales    Interesse    vertritt,    muß 

*)  Der  alte  lateinische  Spruch  „Quod  licet  Jovi,  non  licet  bovi"  (Was 
fuplter   erlaubt   ist,  ist   nicht  dem   Vieh  erlaubt)   wird  hier  umgedreht« 


376  Der  Sic«  des  gleichen  Wahlrechts. 

seinen  deutschen  Genossen  auch  sagen  können:  So  kommen  wir 
nicht  weiter,  mit  einer  leeren  Forderung  gefährden  wir  das  Interesse 
des  deutschen  Volkes;  wenn  wir  diese  Wahlreform  vereiteln,  ge- 
fährden wir  das  deutsche  Interesse.  Denn  darüber  sind  Sie  in  Ihrem 
Innersten  alle  nicht  im  Zweifel:  Wenn  Sie  die  Wahlreform  um- 
bringen könnten  —  was  Sie  freilich  zu  vollbringen  nicht  imstande 
sind  — ,  so  müßte  jede  spätere  Wahlreform  nicht  zum  Vorteil  der 
anderen,  aber  zum  größeren  Nachteil  der  Deutschen 
ausschlagen.  Heute  sind  gewisse  Machtverhältnisse  der  sla- 
wischen Völker  noch  verhüllt,  sie  kommen  nicht  voll  zum 
Ausdruck.  Die  Deutschen  haben  heute  noch  eine  Macht,  die  sie 
diesem  Gesetzwerk  aufprägen  können;  eine  Macht,  der  nicht  mehr 
ganz  entspricht  und  in  kurzer  Zeit  nicht  mehr  entsprechen  wird  die 
Machtverschiebung,  die  mit  Notwendigkeit  eintritt.  Er  wisse,  daß 
die  Herren  ihn  nicht  zu  den  tschechischen,  nicht  zu  den  deutschen 
Abgeordneten  rechnen;  daß  sie  ihn  nicht  als  Deutschen  betrachten, 
das  lasse  ihn  ganz  kalt,  und  doch  sei  er  überzeugt,  daß  er 
in  diesem  Moment  das  wahre  Interesse  des  deutschen  Volkes  ver- 
trete. 

Die  deutschen  Arbeiter,  die  darauf  drängen,  daß  die  Wahlreform 
in  diesem  Moment  gemacht  und  vollendet  werde,  vertreten 
weit  mehr  das  Interesse  des  deutschen  Volkes 
als  die  Herren  mit  ihren  Forderungen,  die  sie  in 
gewissenhafter  Weise  nicht  erheben  könnten, 
wenn  sie  nicht  annehmen  würden,  daß  andere  so 
gescheit  sein  werden,  sie  abzulehnen.  Er  werde  des- 
halb dem  Beispiel  Dr.  Geßmanns  und  dessen  Partei  n  i  c  h  t  f  o  1  g  e  n. 
Ihm  stehe  der  Weg  nicht  zu,  eine  falsche  politische  Taktik  der 
Deutschen  ad  absurdum  zu  führen;  er  glaube,  sie  sei  absurd 
genug.  Ich  bescheide  mich  damit,  sagte  der  Redner,  das  wirkliche 
Interesse  der  Deutschen  zu  vertreten,  und  bitte  Sie  —  nicht  um 
diese  Regierung  zu  schützen,  die  selbstverständlich  durch  Ihren 
Antrag  gesprengt  werden  muß  —  ich  habe  kein  Interesse  an  dieser 
oder  einer  anderen  Regierung,  mir  ist  jede  Regierung  lieb,  die  die 
Wahlreform  macht,  und  ich  werde  gegen  jede  eintreten,  die  sich 
nicht  gewillt  oder  nicht  kräftig  genug  erweist,  die  Wahlreform  zu 
machen;  das  ist  heute  das  Lebensinteresse  des  Volkes,  und  diesem 
Lebensinteresse  muß  alles  untergeordnet  werden.  Nicht  also,  weil 
Sie  diese  Regierung  gefährden  (vielleicht  haben  Sie  Ihre  Gründe 
dazu,  sie  zu  sprengen,  Gründe,  die  Sie  zwar  geheimhalten,  die  aber 
wichtig  sein  mögen)  —  aber  in  Ihrem  eigenen  Interesse,  im  Interesse 
der  Wahrheit,  die  Sie  Ihrem  Volke  schulden,  im  Interesse  der  Ver- 
antwortung, die  Sie  zu  tragen  haben  —  denn  hinterher  werden  Sie 
nicht  sagen  können,  daß  die  Gründe  Dr.  Pergelts  so  bestechender 
Natur  waren,  daß  Sie  sich  ihnen  nicht  entziehen  konnten  — ,  im 
Interesse  der  schweren  und  großen  Pflichten,  die  Ihnen  obliegen, 
bitte  ich  Sie,  lehnen  Sie  diesen  Antrag  ab,  suchen  Sie  das  Kom- 
promiß, wo  es  möglich  ist,  suchen  Sie  mit  Ihren  tschechischen 
Landesgenossen  einen  Ausgleich  zu  treffen. 


Die  Mandate  von  Böhmen.  377 

Sic  sehen  ja,  wie  eine  Unvorsichtigkeit  von  dieser  Seite  selbst- 
verständlich sofort  eine  Unvorsichtigkeit  auf  der  anderen  Seite 
hervorruft.  Die  Tschechen  müssen  sicli  heute  gefallen  lassen,  daß 
die  Zahl  der  Mandate  nicht  nach  der  Kopfzahl  verteilt,  sondern  daß 
den  Deutschen  ein  ganz  beträchtliches  Präzipuum  zugewiesen  wird. 
Sie  müssen  es  sich  gefallen  lassen,  nicht  weil  sie  sich  damit  als 
minderwertig  erklären.  Niemand  nimmt  das  Wort  des  Dr.  Kramarsch, 
daß  ihnen  damit  das  Brandmal  der  Minderwertigkeit  auf  die  Stirn 
gedrückt  werden  würde,  ernst,  niemand  erklärt  sie  für  minder- 
wertig; aber  man  beurteile  einfach:  wie  groß  ist  heute  ihre  poli- 
tische Macht?  Sie  ist  größer,  als  sie  vor  zehn  Jahren  war;  sie  wird 
vielleicht  einmal  größer  sein  als  heute;  aber  daß  sie  heute  mehr  für 
sich  in  Anspruch  nehmen  können,  als  sie  die  Kraft  haben,  durch- 
zusetzen, ist  unvernünftig.  Es  ist  aber  durchaus  keine  Beleidigung, 
wenn  man  ihnen  genau  das  zumißt,  was  ihnen  nach  ihrer  Kraft 
zukommt.  Sowie  aber  die  deutschen  Abgeordneten  darüber  hinaus- 
gehen, erwachen  auf  der  anderen  Seite,  auf  verhältnismäßig  ge- 
mäßigter Seite,  auch  Begehren,  für  sich  in  Anspruch  zu  nehmen, 
was  man  sonst  nicht  in  Anspruch  nehmen  könnte.  Der  Antrag 
Baernreither  ist  in  der  Tat  eine  Gefahr,  und  wenn  er  ein  tsche- 
chischer Abgeordneter  wäre  und  so  für  tschechische  Wahlbezirke 
in  Niederösterreich  schwärmen  würde,  wie  die  Tschechen  es  tun, 
so  würde  ich  dem  Abgeordneten  Dr.  Baernreither 
eine  Dankadresse  votieren. 

Es  liege  aber  nicht  im  Interesse  des  nationalen  Friedens,  nicht 
im  Interesse  insbesondere  der  Wahlreform,  diese  Frage  hier  auf- 
zurollen. Dr.  Baernreither  hat  mit  einem  Aufwand  von  ungeheurer 
Gelehrsamkeit  diese  Dinge  begründet;  er  hat  sich  vielleicht  von 
gelehrten,  aber  durchaus  nicht  von  politischen  Erwägungen  leiten 
lassen.  Die  Historie  und  die  historische  Betrachtung  hat  sich  nicht 
mit  dem  Gewesenen  zu  beschäftigen  —  das  ist  Sache  der  anti- 
quarischen Betrachtung  — ,  sondern  mit  dem  Gewordenen,  und  das 
ist  das  Lebendige;  und  wenn  man  zehnmal  erzählt,  daß  in  irgend- 
einem Orte  zuerst  die  Deutschen  gewesen  sind,  so  handelt  es  sich 
hier  nicht  darum,  wer  im  15.  Jahrhundert  an  einem  Orte  saß, 
sondern  wer  heute  dort  sitzt.  Wir  haben  hier  nicht  das 
Tote,  sondern  das  Lebendige  zu  wahren.  Wir  haben  eine 
Wahlreform  zu  machen  nicht  für  die  Vergangenheit,  sondern 
für  die  Gegenwart  und  die  Zukunft,  und  deshalb  muß 
diese  Art  der  historischen  Betrachtung  zurückgewiesen  werden. 
Ich  warne  Sie  davor,  den  Weg,  den  Dr.  Baernreither  da  gezeigt  hat, 
zu  betreten,  im  eigenen  Interesse  der  Deutschen! 

Ich  sehe  kaum  einen  Ausweg.  Ein  Kompromiß  lehnen  Sie  ab,  und 
Ihre  eigenen  Anträge,  deren  Annahme  niemand  mehr  fürchtet  als 
Sie  selbst,  wollen  Sie  vorläufig  nicht  zurückziehen.  Im  Gegenteil, 
gerade  Sie  errichten  das  kaudinische  Joch,  von  dem  Sie  gestern 
gesprochen  haben,  nicht  aber  für  andere  Nationen,  sondern  für  Ihr 
eigenes  Volk,  ein  kaudinisches  Joch,  unter  dem  Ihre  eigenen  Volks- 
genossen   gegen    ihre  politische  Überzeugung   und  gegen    ihr  Ge- 


378  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

wissen  durchkriechen  müssen,  wenn  Sie  nicht  früher  zu  Verstand 
kommen.  Ich  weiß,  das  ist  ein  unhöfliches  Wort,  aber  nicht  un- 
höflich ist,  was  ich  damit  meine.  Sie  stehen  unter  einer  Sug- 
gestion, von  der  Sie  sich  befreien  müssen,  wenn  Sie  Ihre  Pflicht 
als  Vertreter  des  deutschen  Volkes  tun  wollen.  Ich  würde  das 
Interesse  der  deutschen  Arbeiter  verraten,  wenn  ich  hier  nicht 
erklären  würde,  daß  ich  ebenso  wie  gegen  die  einseitigen  Anträge 
der  Tschechen,  die  keine  Aussicht  haben,  durchgesetzt  zu  werden, 
und  die  ich  für  ebenso  töricht  halte,  auch  mit  dem  Bewußtsein, 
meine  volle  Pflicht  als  Deutscher,  als  Sozialdemokrat  und  als 
Österreicher  zu  tun,  gegen  die  Anträge  des  Abgeordneten 
Dr.  Pergelt  stimmen  werde. 

Das  neueste  Attentat  auf  die  Wahlreform. 

Versammlung  in  Favoriten,  2  0.  Juli  190 6*). 

Parteigenossen!  Ich  will  Sie  nicht  lange  auf  die  Folter  spannen, 
sondern  Ihnen  gleich  sagen,  wie  die  Sache  steht. 

Ein  definitives  Resultat  bin  ich  leider  nicht  in  der  Lage,  Ihnen 
zu  melden,  wohl  aber  kann  ich  Ihnen  sagen,  daß  einige  Aussicht 
vorhanden  ist,  daß  die  letzten  Schwierigkeiten,  die  durch  den  Vor- 


*)  Als  am  19.  Juli  infolge  der  neuesten  Intrige  der  Wahlreformfeinde 
die  Arbeiten  des  Wahlreformausschusses  wieder  stockten,  wurden  für  den 
nächsten  Tag  zwei  Versammlungen  mit  der  Tagesordnung  „D  a  s  n  e  u  e  s  t  e 
Attentat  auf  die  Wahlrefor  m"  einberufen.  Innerhalb  weniger 
Stunden  wurde  die  Agitation  vorgenommen  und  trotz  des  schlechten 
Wetters  waren  die  Versammlungen  massenhaft  besucht.  In  der  Ver- 
sammlung im  Favoritner  Arbeiterheim  sprach  Adler,  beim  Stalehner 
in  Hernais  Schuhmeier. 

Der  Wahlreformausschuß  hatte  am  20.  Juli  keine  Sitzung.  Dagegen 
fanden  den  ganzen  Tag  Besprechungen  statt,  um  die  Krise  zu  überwinden. 
Es  gelang  dabei  so  wreit  zu  kommen,  daß  es  widerspruchslos  hingenommen 
wurde,  daß  die  Tschechen  in  Böhmen  drei,  die  Deutschen  vier  oder  fünf 
neue  Mandate  erhalten  sollten.  Diese  gegenseitigen  Konzessionen  sollten 
nach  dem  Vorschlag  der  Regierung  mit  einer  Vermehrung  der  Mandate 
auch  der  arideren  Länder  verknüpft  werden.  Es  sollte  durch  ein  „G  e  n  e- 
r  a  1  k  o  m  p  r  o  m  i  ß"  die  Zahl  der  Mandate  um  19,  also  auf  516,  vermehrt 
werden.  Das  ist  schließlich  auch  das  Endergebnis  gewesen.  Die  Versöhn- 
lichkeit der  Deutschbürgerlichen  wurde  allerdings  wesentlich  durch  die 
Nachrichten  aus  Böhmen  herbeigeführt.  In  Reichenberg  und  in  Warnsdorf. 
aber  auch  in  Prag  und  Brunn  beschlossen  Vertrauensmännerversammlungen 
neue  Aktionen  vorzubereiten,  wenn  die  Wahlreform  in  Gefahr  komme. 

Mittags  hatte  im  Parlament  eine  Konferenz  der  Klubobmänner  statt- 
gefunden, in  der  über  die  weiteren  Arbeiten  vor  den  Ferien  beraten  wurde. 
Dabei  führte  Adler  unter  anderem  aus: 

Ich  begreife  ja,  daß  die  Herren  alle  nach  Hause  wollen  und  be- 
sonders diejenigen,  die  Landwirte  sind.  Aber  andere  Parlamente,  wo  es 
auch  Landwirte  gibt,  wie  das  ungarische  und  italienische,  tagen  ruhig 
weiter;  aber  von  dieser  Analogie  abgesehen,  ist  dieses  Haus  in  einer 
Situation,  die   ohne   alle   Analogie  ist.   Wir   können  absolut   nicht  aus- 


|).is  neueste  Attentat  aui  die  Wahlrctoiin.  379 


stoß  der  Wahlrechtsfeinde  aus  Deutschböhmen  gemacht  wurden, 
morgen  früh  überwunden  sein  werden.  (Bravol)  Der  Wahlrelorni- 
atisschuß  hat  in  den  letzten  Wochen  mit  großen  Schwierigkeiten, 
aber  immerhin  gearbeitet.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  eine  eigent- 
liche Verschleppung  in  den  letzten  Wochen,  und  zwar  seit  der  Zeit, 


einandergehen,   bevor   der   Walilreformuusscluiß   zu   einem   Abschluß   ge- 
kommen ist,  der  die  Wahlreform  sichert.  Unter  diesen  Umständen   wird 
es  sich  empfehlen,  heute  und  morgen  Ausschußsitzungen  zu  halten  und 
das  Haus  noch  Dienstag  tagen  zu   lassen,  statt  es  in   unwürdiger  Eile 
einen  ganzen  Haufen   von  Vorlagen   erledigen   zu   lassen.   Ms  ist  wieder 
die   Idee  aufgetaucht,   den  Ausschuß   tagen  zu   lassen   und   das   Haus  auf 
Ferien   zu   schicken,   eine    Idee,   die   in   der   letzten   Konferenz  sehr   viel 
Widerspruch  fand.  Wenn  ja,  dann  ist  es  aber  jetzt  unmöglich,  den  Aus- 
schuß  ohne  das   Haus   tagen   zu   lassen.   Es   handelt  sich  übrigens   bloß 
um  wenige  Tage,  und  es  wäre  eine  sehr  schlechte  Ökonomie,  jetzt  mit 
der  Arbeit   zu   sparen,   da   das   uns   alle  sehr   viel   mehr  Zeit,  sehr   viel 
mehr  Opfer  und  Schwierigkeiten  kosten  könnte  als  heute  erfordert  wird. 
Das   wurde   auch   schließlich  zugestanden.   Am   21.    Juli   kam   dann    tat- 
sächlich die  Einigung.  Mit  28  gegen  19  Stimmen  wurde  die  Zahl  der  Man- 
date   in    Böhmen    mit     130    festgestellt,    wovon    die    Deutschen    75,     die 
Tschechen   55   erhalten   sollten.  Dieses   Ergebnis   war   gegen   die   Stimmen 
der    Deutschbürgerlichen    wie    der    Tschechischbürgerlichen    aus    Böhmen 
zustande  gekommen. 

Das  Abgeordnetenhaus  sollte  nun  516  Mandate  haben,  davon 
233  deutsch,  108  tschechisch.  8U  polnisch,  34  erhielten  die  Ruthenen,  37  die 
Südslawen,  19  die  Italiener,  5  die  Rumänen.  Der  sagenhafte  deutsch- 
romanische Block  sollte  257,  der  slawische  259  haben,  die  Spannung  sollte 
also  zwei  Mandate  betragen.  Unter  Gautsch  hatte  sie  5  (225  :  230),  unter 
Hohenlohe  3  (246  :  249)  betragen. 

Aber  halten  wir  nun,  da  das  Haus  auf  Sommerferien  geht,  einmal  Rück- 
schau auf  die  Arbeiten  des  Wahlreformausschusses,  wobei  wir  auch  eine 
Anzahl  Details,  die  sich  früher  in  den  Rahmen  der  Erzählung  nicht  ein- 
fügen ließen,  nachtragen  wollen. 

Langsam,  sehr  langsam  arbeitete  der  Wahlreformausschuß.  Arn 
27.  März  wurde  er  gewählt  und  zweieinhalb  Monate  dauerte  es,  bis  er 
endlich  die  Wahlreformvorlage  zu  beraten  begann.  Diese  erste  Ver- 
zögerung mochte  man  noch  immerhin  begreifen.  Der  Widerstand  der 
Wahlreformfeinde  hatte  zwei  Ministerien  auf  die  Strecke  gebracht,  aber 
die  Wahlreform  war  aus  diesen  Kämpfen  siegreich  hervorgegangen.  Seit- 
her war  aber  wieder  ein  Monat  verstrichen  und  noch  immer  war  nicht 
abzusehen,  wann  der  Ausschuß  mit  seinen  Arbeiten  fertig  werden  sollte. 
Am  13.  Juni  hatte  die  Spez  ialb  e  r  a  tu  ng  im  Ausschuß  begonnen  und 
es  war  ein  Beweis,  wie  wenig  selbst  die  wütendsten  Feinde  des  all- 
gemeinen Wahlrechtes  an  eine  Vereitlung  der  großen  Reform  denken 
konnten,  daß  man  damals  sofort  an  die  Beratung  der  Wahlkreiseinteilung 
ging.  Und  nun  beriet  man  schon  einen  vollen  Monat  darüber  und  wurde 
nicht  fertig  damit.  Es  ist  ja  richtig,  daß  dieses  Stück  Arbeit,  das  jetzt  ge- 
leistet wurde,  der  schwierigste  Teil  der  Arbeit  war.  Hier  handelte  es  sich 
um  die  Verteilung  der  Macht  nicht  nur  unter  den  einzelnen 
N  a  t  i  o  n  e  n,  sondern  auch  unter  den  einzelnen  Schichten  und  Klassen, 
ja  unter  den  Parteien  innerhalb  der  Nationen. 

Hier  mußten  Kompromisse  geschlossen  werden,  und  hier  mußten  die 
nationaleil  Abgeordneten  nationale  Konzessionen  machen.  Hier  also  konnten 


380  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

wo  wir  hier  in  Wien  und  im  ganzen  Reiche  genötigt  waren,  zu 
erklären,  daß  eine  Verschleppung  der  Wahlreform  für  uns  den 
Kriegsfall  bedeutete  (So  ist  es!  Generalstreik!),  nicht  vor- 
gekommen ist;  wohl  aber  müssen  wir  feststellen,  daß  der  Ausschuß 
nur  mit  der  größten  Mühe  und  unter  den  größten  Schwierigkeiten 


einerseits  die  ultraradikalen  Nationalisten  und  die  Wahlrcformfeinde  die- 
jenigen Abgeordneten,  die  um  der  Wahlreform  willen  zu  Kompromissen 
geneigt  waren,  des  nationalen  Verrates  beschuldigen.  Die  Wahl- 
reformvorlage selbst  war  ja  das  Produkt  eines  nationalen  Kom- 
promisses. Die  Deutschen,  die  mit  den  Italienern  und  Rumänen  zu- 
sammen die  Majorität  im  Parlament  besaßen,  sollten  diese  Majorität  auf- 
geben, andererseits  sollten  aber  die  Slawen  wieder  weniger  Mandate 
erhalten,  als  ihnen  nach  ihrer  Zahl  gebühren  würde.  War  schon  die  Ver- 
teilung der  Mandate  unter  den  einzelnen  Nationen  sehr  schwer,  so  wurde 
diese  Schwierigkeit  bei  der  Verteilung  innerhalb  der  einzelnen  Länder 
noch  schwieriger.  Und  wiederholt  schien  es,  als  ob  die  Wahlreform 
scheitern  würde,  weil  diese  Schwierigkeiten  unüberbrückbar  schienen. 

Gleich  im  Anfang  kam  es  denn  auch  zu  einer  Stockung  der  Arbeiten,  da 
man  sich  nicht  einigen  konnte,  mit  welchem  Kronland  man  anfangen  solle 
und  die  Gegner  diese  Schwierigkeit  noch  durch  allerlei  Geschäftsordnungs- 
bedenken komplizierten.  Damals  griff  die  Arbeiterschaft  ein,  indem  sie  den 
Massenstreik  in  Wien  ankündigte,  falls  die  Stockung  andauern 
sollte.  Die  Abgeordneten  schrien  über  Terrorismus  und  drohten  den 
Massenstreik  mit  der  Einstellung  der  Arbeiten  des  Ausschusses  zu  beant- 
worten. Die  Arbeiter  gaben  auf  diese  Drohung  wieder  die  Antwort,  nicht 
nur  in  einer  riesigen  Demonstration  in  Wien,  sondern  auch  in  der  osten- 
tativen Vorbereitung  des  Massenstreiks  in  Wien,  wie  im  ganzen  Reiche. 
In  allen  Industrieorten  wurden  Streikkommissionen  gewählt,  die  mit  der 
Leitung  der  ganzen  Aktion  betraut  wurden;  außerdem  wurden  überall  auch 
Ersatzmitglieder  gewählt,  deren  Namen  geheim  gehalten  wurden  und  die 
ihr  Amt  antreten  sollten,  wenn  die  Hauptkommission  verhaftet  werden  sollte. 
Die  Kommissionen  wurden  in  Permanenz  erklärt  und  warteten  auf  das 
Signal,  das  ihnen  von  Wien  aus  gegeben  werden  sollte.  Die  Abgeordneten 
zeterten  noch  weiter  über  Terrorismus,  aber  da  sie  sahen,  daß  die  Arbeiter- 
schaft Ernst  zu  machen  gewillt  war,  machten  sie  gute  Miene  zum  bösen 
Spiel  und  begannen  zu  arbeiten.  Aber  die  sachliche  Arbeit  brachte  bald 
sachliche  Schwierigkeiten.  In  den  rein  deutschen  Ländern  gelang  es  rasch, 
Kompromisse  zu  erzielen.  In  den  gemischtsprachigen  Ländern  ging  es 
schwerer,  als  man  gedacht  hatte.  So  in  G  a  1  i  z  i  e  n.  Immerhin  kam  man 
da  nach  langen  Verhandlungen  zu  einem  Kompromiß,  das  zwar  den  Ru- 
thenen  nicht  ihr  volles  Recht  gewährte,  aber  doch  die  Sicherheit  gab, 
daß  sie  in  den  ihnen  zugestandenen  Wahlkreisen  von  der  Schlachta  nicht 
mehr  durch  die  bekannten  galizischen  Wahlpraktiken  betrogen  werden 
könnten.  Aber  der  Ausschuß  geriet  bald  wieder  in  ein  allzu  langsames 
Tempo.  Da  griff  der  Ministerpräsident  Freiherr  von  Beck  ein  und  er- 
klärte sehr  entschieden,  der  Ausschuß  müsse  die  Wahlreform  rasch 
machen  und  er  werde  nicht  früher  auf  Sommerferien  geschickt  werden, 
als  bis  er  die  Reform  zu  Ende  beraten  habe.  Überhaupt  sei  gar  kein 
Grund  vorhanden,  warum  man  nicht  die  Reform  vor  den  Ferien  auch 
noch  in  das  Haus  bringen  sollte.  Nun  ging  es  wieder  einige  Zeit.  (Für 
diejenigen,  die  es  nicht  wissen,  sei  hier  eingeschaltet,  daß  die  R  u  t  h  e- 
n  e  n,  von  denen  in  den  galizischen  Fragen  immer  die  Rede  ist,  jetzt 
gewöhnlich  als  Ukrainer  bezeichnet  werden.  Ehemals  nannte  man  sie 


Das  neueste  Attentat  auf  die   Walilreforni.  381 

Stück  für  Stück  hat  vorwärtskommen  können.  Sic  können  sich 
denken,  wie  ein  solcher  Ausschuß,  wo  so  viele  offene  und  noch 
mehr  versteckte  Wahlrechtsfeinde  sitzen  (Pfui  Pergelt!),  arbeitet, 
wo  es  sich  um  ein  wirklich  schwieriges  Werk  handelt.  Wenn  man 
bei  uns  Sozialdemokraten  in  einem  Saale  solche  Reden  hielte,  wie 


wohl  auch  Kleinrussen,  wie  ja  die  russischen  Nationalisten  immer  be- 
haupten, daß  die  Ukrainer  eigentlich  nur  einen  russischen  Dialekt 
sprechen  —  eine  Behauptung,  die  durch  die  Tatsache  einer  bedeutenden 
eigenen   ukrainischen   Literatur  so   namentlich   durch   die    Poesie   eines 

S  c  h  e  w  t  s  c  h  e  n  k  o   —  ausreichend    widerlegt   wird.) 

Aber  plötzlich  kam  wieder  eine  Störung,  und  zwar  diesmal  von  einer 
Seite,  von  der  man  sie  nicht  erwartet  hatte,  von  den  Italienern.  Diesen 
hatte  Prinz  Hohenlohe  in  seiner  Abänderung  der  Qautsch'schen  Vorlage 
zwei  Mandate  mehr  gegeben,  aber  nicht,  wie  sie  es  verlangt  hatten,  in 
Istrien  und  Görz,  sondern  in  Tirol  und  Triest.  Eine  an  sich  recht  unbeträcht- 
liche Differenz  und  die  Italiener  hätten  im  Ausschuß  ganz  leicht  die  Er- 
füllung ihrer  Wünsche  durchgesetzt.  Aber  die  beiden  italienischen  Aus- 
schußmitglieder wurden  plötzlich  nervös  und  ohne  abzuwarten,  bis  ihre 
Sache  an  die  Reihe  komme,  verlangten  sie  schon  bei  der  Beratung  von 
Krain,  daß  man  ihnen  für  die  Gewährung  ihrer  Wünsche  in  Istrien  und 
Görz  Garantien  gebe.  Und  als  man  dieses  Begehren  nicht  erfüllte,  begannen 
sie  den  Ausschuß  zu  obstruieren.  Sie  hielten  stundenlange  ita- 
lienische Reden  im  Ausschuß,  warfen  Geschäftsordnungsfragen  auf, 
wie  eben  im  österreichischen  Parlament  Obstruktion  gemacht  wurde.  Nun 
griffen  die  italienischen  Arbeiter  ein.  An  demselben  Tage,  da  die  Nachricht 
von  der  Obstruktion  italienischer  Abgeordneter  in  T  r  i  e  s  t  anlangte,  wurde 
dort  eine  große  Demonstrationsversammlung  gegen  die  Obstruktion  ab- 
gehalten und  als  das  nichts  wirkte,  die  italienischen  Abgeordneten  vielmehr 
im  Parlament  die  Demonstration  zu  verkleinern  versuchten  und  behaup- 
teten, die  italienischen  Arbeiter  stünden  auf  ihrer  Seite,  wurden  die  Demon- 
strationen in  verschärfter  Tonart  wiederholt.  Den  nationalistischen  ita- 
lienischen Zeitungen  wurden  die  Fenster  eingeschlagen,  die  Wagen 
der  Triester  Straßenbahn  umgestürzt,  Straßenkämpfe  mit  der 
Polizei  geführt  —  es  gab  auf  beiden  Seiten  eine  größere  Zahl  Ver- 
wundeter —  und  gleichzeitig  wurde  für  den  nächsten  Tag  der 
Generalstreik  in  Triest  und  die  vollständige  Lahmlegung  des 
Verkehrs  in  diesem  wichtigsten  österreichischen  Hafen  angekündigt.  Das 
wirkte.  Abends  konnten  die  Demonstrationen  eingestellt  werden.  Die  ita- 
lienischen Abgeordneten  hatten  die  Obstruktion  aufgegeben  gegen  das 
bloße  Zugeständnis,  daß  man  mit  ihnen  noch  verhandeln  werde.  (Siehe  die 
Bemerkungen  bei  der  Rede  Adlers  vom  13.  Juli  über  Triest,  wie  überhaupt 
die  Bemerkungen  über  Gottschee,  Böhmen  usw.  bei  den  bezüglichen  Reden.) 

Diese  Gefahr  war  beseitigt,  aber  eine  andere  Gefahr  tauchte  auf.  Die 
Deutschen  hatten  seit  jeher  für  die  kleine  Sprachinsel  Gottschee  in 
Krain  ein  deutsches  Mandat  verlangt.  Vergebens  hatte  man  sie  davon  ab- 
zubringen versucht  und  ihnen  nachgewiesen,  daß  das  Mandat  in  spätestens 
zwei  Sessionen  den  Slowenen  zufallen  müsse,  da  die  deutsche  Bevölkerung 
immer  mehr  von  Gottschee  auswandert.  Das  Mandat  in  Gottschee  war  eine 
nationale  Ehrensache  geworden.  Immerhin  wußten  die  Deutsch- 
nationalen, daß  sie,  wenn  das  Mandat  bewilligt  werden  sollte,  als  Kompen- 
sation ein  neues  slowenisches  Mandat  bewilligen  mußten.  Als  aber  Gott- 
schee und  auch  das  slowenische  Mandat  bewilligt  war,  kam  der  Katzen- 
jammer.  Die    Deutschen   fürchteten,   daß   sie   das   (jottscheer   Mandat   zu 


382  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


sie  in  diesem  Ausschuß  gehalten  werden,  würden  die  Leute  einfach 
hinausgeworfen;  denn  niemand  würde  es  sich  gefallen  lassen,  daß 
man  bei  der  Wahlkreiseinteilung  für  Steiermark  bei  Adam  und  Ev.a 
anlangt  und  bei  der  Wahlkreiseinteilung  für  Böhmen  vom  Mittel- 
alter erzählt,  was  die  Przemysliden  geleistet  haben.  (Heiterkeit.) 
Wenn  man  von  dem  einfachen  Prinzip,  für  50.000  oder  60.000  Men- 
schen einen  Wahlkreis  zu  bilden,  abgeht,  dann  ist  es  ja  ungeheuer 
schwer,  abzumessen,  um  wieviel  mehr  man  dem  einen  und  um  wie- 
viel weniger  man  dem  anderen  geben  soll.  Es  würde  auch  bei  uns 
nicht  ohne  Schwierigkeiten  gehen,  wenn  wir  Sozialdemokraten  die 
Sache  zu  machen  hätten.  Jetzt  stellen  Sie  sich  aber  vor,  daß  nun  eine 
Anzahl  Leute  da  ist,  die  fortwährend  hineinspucken,  die  bei  jeder 
Gelegenheit  den  Streit  vom  Zaune  brechen  und  die  Leidenschaften 

teuer  bezahlt  hatten,  weil  in  Qottschee  nicht  ein  nationaler  Deutscher, 
sondern  ein  Klerikaler  oder  ein  Großgründler  gewählt  werden  dürfte,  viel- 
leicht gar  der  dortige  Pfarrer,  der  überdies  slowenischer  Abstammung  war. 
Um  die  Aufregung  der  Deutschen  wieder  zu  besänftigen,  erwog  man,  ob 
man  nicht  wieder  ihnen  Kompensationen  bieten  solle  oder  ob  man  nicht 
die  Abstimmung  wieder  annullieren  und  Gottschee  mitsamt  der  Kompen- 
sation ablehnen  solle. 

Das  waren  aber  nicht  die  einzigen  Schwierigkeiten.  Es  waren  zwar 
schon  die  meisten  Länder  erledigt,  aber  Böhmen,  Mähren  und 
Schlesien,  wo  Deutsche  und  Tschechen  wohnen,  waren  noch  zu  er- 
ledigen. Schlesien  und  Böhmen  konnten  vielleicht  ohne  allzu  große  Be- 
schwernis gehen.  Höchstens,  daß  bei  Böhmen  Jungtschechen  und  tsche- 
chische Agrarier  aneinander  geraten  konnten;  aber  schwer  mußte  eine 
Einigung  in  Mähren  zu  erzielen  sein.  In  Mähren  bildeten  die  Tschechen 
vier  Fünftel  der  Bevölkerung,  sie  sollten  wohl  von  den  46  Mandaten  des 
Landes  28  bekommen  (bisher  hatten  sie  nur  die  Hälfte):  sie  verlangten 
aber,  daß  man  ihnen  wenigstens  ein  Mandat  mehr  gebe,  was  aber  die 
Deutschen  um  keinen  Preis  bewilligen  wollten.  Wie  diese  Differenz  beseitigt 
werden  sollte,  ließ  sich  im  Augenblick  noch  nicht  absehen. 

Die  Hoffnung,  daß  man  vor  den  Sommerferien  im  Ausschuß  mit  der  Be- 
ratung der  Wahlreform  fertig  werden  würde,  schien  sich  nicht  erfüllen  zu 
wollen.  Die  Abgeordneten,  selbst  viele,  die  unzweifelhaft  Freunde  der 
Wahlreform  waren,  erklärten,  auf  die  Ferien  im  August  nicht  verzichten 
zu  können  und  tatsächlich  erklärte  sich  der  Ministerpräsident  zu  dem  Zu- 
geständnis bereit,  daß  der  Ausschuß  bloß  die  Wahlkreiseinteilung  und  die 
Festlegung  des  allgemeinen  Wahlrechtes  beschließen  müsse,  die  übrige 
Arbeit  aber  bis  nach  den  Ferien  verschieben  könne.  Dadurch  wurde  aber 
die  Gefahr  für  die  Wahlreform  heraufbeschworen,  daß  ihre  Feinde  die 
kurze  Zeit,  die  dem  Ausschuß  dann  noch  zur  Verfügung  stand,  zur  Ver- 
hinderung der  Reform  benützen  könnten.  Mit  Ende  dieses  Jahres  —  es  galt 
als  strittig,  ob  Anfang  Dezember,  wo  vor  6  Jahren  der  erste  Abgeordnete 
gewählt  wurde,  oder  Mitte  Jänner,  wo  damals  das  Parlament  einberufen 
wurde  —  mußte  die  Mandatsdauer  der  Abgeordneten  ablaufen,  so  daß,  wenn 
das  Haus  im  September  wieder  zusammentreten  sollte,  dann  nur  drei, 
höchstens  vier  Monate  für  die  weitere  Beratung  im  Ausschuß,  im  Haus  und 
schließlich  im  Herrenhaus  zur  Verfügung  stehen  mußten.  Man  erwog  schon 
ernstlich,  die  Session  durch  ein  Gesetz  um  einige  Monate  zu  verlängern,, 
um  so  Zeit  zu  gewinnen. 

Jedenfalls  war  aber  klar,  daß  für  den  Herbst  noch  schwere  Kämpfe  be- 
vorstünden, ob  im  Parlament  selbst  oder  auf  der  Straße . . . 


Das  neueste  Attentat  aul  die  Wahlreform.  'M.t 


anfachen,  daß  da  der  Stürgkh  (Pfui!),  der  Pergelt  (Nieder  mit  ihm!), 
der  Kaiser  (Pfui!)  sitzen,  Leute,  die  nicht  nur  vom  Haß  gegen  das 
gleiche  Recht,  sondern  auch  durch  eine  Menge  anderer  Gehässig- 
keiten getrieben  werden.  Es  hat  gestern  jemand  einen  sehr  guten 
Spaß  gemacht.  Er  meinte,  am  raschesten  brächte  der  Landsmann- 
minister  Prade  das  Kompromiß  zustande,  wenn  er  den  Herren 
sagte:  Nehmen  Sic  das  Kompromiß  an,  und  ich  lege  mein  Porte- 
feuille nieder  und  mache  einen  Ministerstuhl  frei,  auf  den  sich  dann 
ein  anderer  niedersetzen  kann.  (Heiterkeit.) 

Wir  haben  im  Wahlreformausschuß  eine  Anzahl  Parteien,  die 
sich  von  Anfang  an  für  die  Wahlreform  erklärten,  wie  die  Jung- 
tschechen, die  Christlichsozialen  und  die  Slowenen,  dann  Parteien, 
die  erst  nach  und  nach  dafür  gewonnen  wurden;  das  sind  vor  allem 
die  Polen.  Die  waren  anfangs  dagegen,  haben  dann  vierzehn 
Mandate  mehr  gekriegt,  das  Geschäft  gemacht,  und  man  kann  mit 
ihnen  verfahren  wie  mit  richtigen  Geschäftsleuten.  Anders  steht  es 
mit  jenen,  die  sich  von  vornherein  als  Wahlrechtsfreunde  aus- 
gespielt haben.  Dazu  gehört  die  Deutsche  Fortschrittspartei,  die  den 
Minister  M  a  r  c  h  e  t,  und  die  Deutsche  Volkspartei,  die  die  Minister 
Derschatta  und  Prade  in  der  Regierung  sitzen  hat,  die  sich 
für  die  Wahlreform  ausgesprochen  hat  und  deren  Leben  und  Exi- 
stenz mit  der  Wahlreform  verknüpft  sind.  Diese  Parteien  bringen  es 
nicht  zuwege,  diejenigen  ihrer  Mitglieder,  die  fortwährend  gQgen  die 
Wahlreform  wühlen,  zum  Schweigen  und  zur  Disziplin  zu  bringen. 
Es  ist  ein  ganz  unerhörter  Zustand,  daß  eine  Partei  es  nicht  zustande 
bringt,  taktisch  einheitlich  vorzugehen.  Wenn  die  Deutschen  jemals 
gezeigt  haben,  daß  sie  nicht  befähigt  sind  zu  herrschen,  so  haben 
sie  das  bei  dieser  Wahlreform  gezeigt.  Wer  regieren  will,  wer 
herrschen  will,  muß  erst  sich  selbst  beherrschen.  Eine  Partei,  die 
herrschen  will,  die  muß  eine  Seele  und  ein  Körper  sein.  Eine  Partei, 
die  zerrissen  ist  durch  verschiedene  Meinungen,  durch  persönliche 
Gehässigkeiten,  die  nicht  imstande  ist,  zu  einem  großen  gemein- 
schaftlichen Zwecke  einheitlich  zusammenzuwirken,  ist  keine 
Partei,  sondern  ein  zusammengelaufener  Haufen  von  Menschen  und 
kann  nichts  durchsetzen.  (Lebhafter  Beifall.)  So  steht  es 
aber  mit  den  Deutschen,  und  so  ist  es  möglich  geworden,  daß,  als 
man  zur  Wahlkreiseinteilung  für  Böhmen  kam,  selbst  die  deutschen 
Parteien  vor  Überraschungen  standen,  als  Herr  Pergelt  plötzlich 
für  Deutschböhmen  um  acht  Mandate  mehr  verlangte  ohne  jede 
Kompensation  an  die  Tschechen.  Nun  müssen  Sie  sich  erinnern,  daß 
die  Deutschen  in  der  Wahlreform  durchaus  bevorzugt  sind.  Trotz- 
dem verlangte  Herr  Pergelt  diese  Vermehrung  der  deutschen  Man- 
date, von  denen  er  ganz  genau  wußte,  daß  sie  nicht  angenommen 
werden  können,  von  den  Tschechen  nicht,  von  niemand,  weil  sie 
das  ganze  Werk  zersprengten.  Wenn  sie  das  verlangen,  so  kann 
das  nicht  der  Grund  sein,  daß  sie  so  naiv  wären  und  die  Welt  nicht 
kennten,  wenn  das  die  Pergelt  und  Baernreither  verlangen,  so  weiß 
man,  das  ist  ein  bewußter  Plan,  um  die  Wahlreform  im  letzten 
Moment    in  die  Luft    zu  sprengen.    (Nieder    mit    den   Wahl- 


384  Der  Sie;;  des  gleichen  Wahlrechts. 

rechts!  einden!  In  ganz  Österreich  streiken!  Ein- 
mal anfangen  mit  dem  üeneral  streik!)  Der  Herr 
Pergelt  weiß  heute  noch  nicht,  wo  seine  acht  Wahlkreise  in 
Böhmen  liegen  sollen.  Keine  Spur;  darüber  hat  er  nicht  nach- 
gedacht. Sie  werden  sich  mit  weniger  begnügen  müssen,  und  es 
wird  ihnen  da  schwer  fallen,  die  Plätze  zu  finden.  Sie  suchen  natür- 
lich Gegenden,  wo  sie  sind  und  nicht  wir;  aber  es  ist  halt  leider  in 
Deutschböhmen  schwer,  ein  Fleckchen  zu  finden,  wo  keine  Fabrik 
steht;  und  wo  heute  keine  steht,  ist  man  nicht  sicher,  daß  nicht 
schon  morgen  eine  dort  steht.  (Heiterkeit.)  Den  Fabriken  aber 
weichen  sie  aus.  Und  dabei  sind  sie  stolz  auf  ihre  Industrie,  freuen 
sich  der  wirklich  herrlichen  Reichenberger  Ausstellung,  die  so 
prächtig  zeigt,  was  die  deutschböhmische  Industrie  leistet,  und  den 
Leuten,  den  Arbeitern,  die  die  Grundlage  dieser  Pracht  sind, 
müssen  sie  politisch  ausweichen,  weil  sie  nicht  ihr  Vertrauen  be- 
sitzen. Es  würde  den  Deutschen  nichts  nützen,  wenn  sie  wirklich 
im  Wahlreformausschuß  die  acht  Mandate  durchbrächten,  weil  sich 
die  anderen  Völker  das  nicht  gefallen  ließen.  Nun  ist  aber  die  Wahl- 
reform nicht  bloß  vom  Standpunkt  der  Arbeiterschaft,  nicht  bloß 
vom  Standpunkt  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  eine  Notwendig- 
keit, sondern  sie  ist  auch  eine  Notwendigkeit  für  alle  Nationalitäten, 
vor  allem  auch  für  die  Deutschen.  Jedes  einzelne  Volk  muß  die 
Tage  zählen,  bis  es  sich  endlich  befreit  hat  von  den  Feinden  jedes 
Volkes,  von  den  Blutegeln,  von  den  politischen  Schmarotzern,  von 
den  Leuten,  die  sich  an  seiner  Unterdrückung  und  Bevormundung 
hinaufgefressen  haben  und  die  heute  schon,  wo  die  Kurien  noch 
bestehen  und  die  Großgrundbesitzer  lebendig  im  Hause  herum- 
wandeln, zur  völligen  Leerheit,  zur  völligen  Bedeutungslosigkeit 
herabgedrückt  sind.  Sie  können  nicht  mehr  nützen,  sie  können 
nur  mehr  schaden.  (Beifall.) 

Nun  ist  die  neueste  Gefahr  von  den  Deutschböhmen  gekommen. 
(Laute  Entrüstungsrufe.)  Die  Herren  Pergelt,  Kaiser  und  wie  sie 
heißen,  die  uns  kühn  vorwerfen,  daß  wir  die  nationalen  Interessen 
des  deutschen  Volkes  nicht  vertreten,  haben  sich  als  die 
ärgsten  Feinde  des  deutschen  Volkes  erwiesen. 
(Stürmischer  Beifall.)  Sie  schänden  den  Namen  des  deutschen 
Volkes,  indem  sie  soviel  getan  haben,  das  Volk  um  sein  Recht  zu 
bringen.  (Laute  Zustimmungsrufe.)  Als  der  Antrag  Pergelt 
kam,  hat  sich  Baron  Beck  —  das  muß  anerkannt  werden,  wenn 
wir  auch  mit  der  Nachgiebigkeit  nicht  zufrieden  sind,  die  er  bei 
Festsetzung  der  Termine  bewies  —  redliche  Mühe  um  das  Werk 
gegeben,  und  es  ist  zu  hoffen,  daß  ein  Kompromiß  zustande  kommt, 
das  den  Wünschen  der  Deutschen  und  der  Tschechen  Rechnung 
trägt.  Gestern  hat  es  in  Reichenberg  gebrodelt  (Bravo- 
rufe der  ganzen  Versammlung),  und  die  Arbeiter  Nordböhmens 
haben  die  Vorbereitungen  getroffen,  um  nötigenfalls  Montag  mit 
dem  Massenstreik  zu  beginnen.  (Großer  Jubel.  Rufe  von  allen 
Seiten:  Was  ist  es  mit  Wien?  Auch  in  Wien  könnt'  es  losgehen!) 
Ich  habe    nie  daran    gezweifelt,    daß    auch  Sie,    Genossen,    bereit 


Das   neueste   Aüent;i!   ;ml   die   Wiililreloi  in.  385 


sind,  loszuschlagen,  aber  jetzt  geht  die  Sache  in  erster  Linie  die 
nordböhmischen  Arbeiter  an.  Bilden  Sie  sich  nicht  ein,  daß,  wenn 
jetzt  in  Wien  der  Streik  nicht  gemacht  wird,  die  Gelegenheit  dazu 
schon  vorbei  sein  muß.  Auch  für  uns  in  Wien  kann  die 
Zeit  noch  k  o  m  inen!  Früher  als  es  unbedingt  notwendig  ist, 
soll  es  nicht  geschehen. 

Der  Antrag  der  acht  deutschen  Mandate  in  Böhmen  besteht 
heute  nicht  mehr.  Nicht  daß  er  zurückgezogen  worden  wäre.  So 
ehrlich  sind  die  Leute  nicht;  aber  es  wird  verhandelt.  Es  werden 
die  Tschechen  drei  neue  Mandate  und  die  Deutschen  vier  oder  fünf 
neue  Mandate  bekommen  und  dementsprechend  auch  in  anderen 
Ländern  die  Mandate  vermehrt  werden.  Wenn  die  Bestien  wild 
werden,  muß  halt  wieder  eine  allgemeine  Fütterung  vorgenommen 
werden.  Wenn  es  auch  im  Anzug  ist,  so  muß  ich  offen  gestehen, 
daß  eine  Bürgschaft,  daß  dieses  Kompromiß  wirklich  zustande 
kommt,  in  diesem  Moment  nicht  gegeben  werden  kann.  (Leiden- 
schaftliche Rufe:  Streiken!  Generalstreik!)  Ich  komme  schon  dazu. 
Die  Sicherheit  würde  ich  nur  dann  haben,  wenn  ich  die  Leute,  die 
da  zu  entscheiden  haben,  für  gewissenhafte,  ehrliche,  ihr  Vaterland 
und  ihr  Volk  liebende  Menschen  hielte.  Es  wird  die  schwierigste 
Arbeit  geschehen  sein,  wenn  morgen  das  Kompromiß  fertig  ist; 
aber  die  Wahlreform  wird  damit  noch  nicht  gegen  zu- 
künftige Attentate  gesichert  sein,  und  ich  möchte  Sie 
auffordern,  sich  nicht  bei  dem  Gedanken  zu  beruhigen,  daß,  weil 
die  schwierigste  Arbeit  überstanden  ist,  wir  jetzt  die  Waffen  aus 
der  Hand  legen  könnten.  (Stürmische  Rufe:  Niemals!  Nie- 
mals! Wir  haben  zu  lange  gewartet!)  Ich  höre  hier  eine 
Stimme,  wir  hätten  zu  lange  gewartet.  Nein,  nein,  Sie  sind  im  Irr- 
tum und  dürfen  nicht  vergessen,  daß  zu  den  wichtigsten  Tugenden 
des  Politikers,  und  das  sind  wir  ja  alle,  die  Geduld  gehört.  Wir 
haben  nichts  versäumt,  und  überall  haben  unsere  Genossen  recht- 
zeitig eingegriffen:  als  die  Italiener  Obstruktion  machten,  unsere 
Genossen  in  Triest  (Bravo!  Nur  wir  auch  einmal!),  und  als  vor- 
gestern Herr  Pergelt  seinen  Antrag  einbrachte,  protestierten  schon 
am  Abend  unsere  Genossen  in  Reichenberg  und  Warnsdorf,  und  sie 
telegraphierten  sofort,  wenn  es  notwendig  ist,  steht  Montag  ganz 
Deutschböhmen  im  Streik.  (Allgemeiner  Jubel  und  tausendstimmige 
Rufe:  Wir  auch!  Wir  auch!)  Man  traut  auch  unserer  Ruhe  in  Wien 
nicht,  und  heute  waren  Polizisten  im  Parlament,  weil  die  Herren 
offenbar  meinten,  sie  hätten  einen  Besuch  der  Wiener  Arbeiter  ver- 
dient. (Heiterkeit.)  Aber  die  Leute  kennen  unsere  Taktik  noch  lange 
nicht.  Sie  wissen  noch  nicht,  daß  wir  nichts  unternehmen,  was 
einem  Putsch  gleichkäme.  Wenn  die  Wahlreform  gefährdet  ist, 
dann  werden  wir  ganz  anders  eingreifen  als  mit  einer  Demon- 
stration, mit  der  fünfzig  Polizisten  fertig  werden  könnten.  (Stür- 
mischer Beifall  und  Rufe:  Generalstreik!)  Allerdings,  Genossen,  die 
Herren  sollen  wissen,  daß  der  eiserne  Wille  der  Arbeiterschaft  fest 
hinter  der  Wahlreform  steht  und  daß,  wenn  wir  nicht  jetzt  den 
Kurnpf  beginnen  (Ungeduldige  Rufe:  Warum  nicht?  Nur  an- 
Adler, Briefe.  X.  Bd.  25 


386  Her  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

fangen!),  wir  es  nur  darum  nicht  tun,  weil  wir  nicht  unnütz 
Kräfte  verschwenden  wollen.  Wenn  es  aber  notwendig  werden 
sollte,  dann  wird  die  ganze  Arbeiterschaft,  wie  wir  nun  zwei  Stich- 
proben in  Triest  und  Reichenberg  hatten,  sofort  auf  dem  Kampf- 
platz sein,  von  Vorarlberg  bis  zum  galizischen  Osten,  von  Triest 
bis  Nordböhmen.  Wir  drängen  uns  nicht  zu  dem  opferreichen 
Kampfe,  denn  die  Opfer  sind  überflüssig.  Wenn  ihn  aber  die  Herren 
haben  wollen,  werden  sie  ihn  haben.  Also  halten  Sie  sich  bereit! 
(Brausender  Beifall*).) 

Das  Prinzip  des  allgemeinen  Wahlrechts. 

Ausschuß,  13.  September  19  06**). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  stellt  fest,  daß  im  §  7  das  allgemeine, 
gleiche  und  direkte  Wahlrecht  ausgesprochen  werde,  soweit  es 
eben  überhaupt  anerkannt  wird.  Eine  Einschränkung  des  gleichen 
Wahlrechtes  kommt  darin  nicht  vor.  Gegenüber  dem  Abgeordneten 
Dr.  Tollinger  bemerkt  er:  Wenn  Bedingungen,  wie  die  Seßhaftig- 
keit, die,  so  einschneidend  sie  ist,  immerhin  eine  Bedingung  zweiten 
Grades  darstellt,  unter  die  Sanktion  eines  Grundgesetzes  gestellt 
werden,  so  müßte  logischerweise,  wenn  man  ein  ungleiches  Wahl- 
recht fixieren  wollte,  eine  solche  Bestimmung  gleichfalls  unter  die 
Sanktion  des  Grundgesetzes  gestellt  werden. 

In  der  Frage  des  Frauenwahlrechtes  stehe  die  Partei 
des  Redners  auf  dem  prinzipiellen  Standpunkt,  daß  der  Frau  un- 
bedingt das  gleiche  politische  Wahlrecht  wie  dem  Manne  gebührt. 
Er  gebe  sich  aber  keiner  Täuschung  darüber  hin,  daß  der  Antrag, 
das  Wahlrecht  auf  die  Frauen  auszudehnen,  hier  sehr  wenige 
Stimmen  finden  würde,  und  daß  es  aussichtslos  wäre,  dafür  heute 

*)  Nachdem  das  Wahlrechtskompromiß  am  21.  Juli  im  Ausschuß  an- 
genommen worden  war,  wurde  der  Reichsrat  vertagt  und  die  Abgeordneten 
konnten  in  die  Ferien  gehen.  Am  18.  September  nahm  das  Abgeordneten- 
haus wieder  seine  Sitzungen  auf;  am  12.  September  bereits  der  Wahl- 
reformausschuß. 

**)  Am  12.  September  trat  der  Wahlreformausschuß  wieder  zusammen. 
In  seiner  ersten  Sitzung  betonte  der  Ministerpräsident  Beck  die 
unbedingte  Notwendigkeit  der  Wahlreform  und  forderte  den  Ausschuß  auf, 
nicht  auf  halbem  Wege  stehen  zu  bleiben.  Am  13.  September  wurde  der 
§  7  des  Grundgesetzes  über  die  Reichsvertretung  angenommen,  wonach 
das  Wahlrecht  jeder  männliche  Staatsbürger  hat,  der  24  Jahre  alt  ist  und 
in  der  Gemeinde  seit  einem  Jahr  seinen  Wohnsitz  hat.  Damit  war  das 
Prinzip  des  allgemeinen  Wahlrechtes  festgelegt.  Dabei  machten  allerdings 
die  Wahlreformfeinde  Versuche,  auf  Umwegen  Bresche  in  die  Gleichheit 
des  Wahlrechtes  zu  schlagen.  Vor  allen  versuchte  der  tschechische  Agrarier 
Hruby  den  Schein  eines  Frauenwahlrechtes  vorzutäuschen,  indem  er 
beantragte,  daß  die  Frauen,  die  in  öffentlichen  Diensten  stehen  oder  selb- 
ständig ein  Gewerbe  oder  die  Landwirtschaft  ausüben,  das  Wahlrecht  be- 
kommen; der  Abgeordnete  der  Deutschen  Volkspartei,  Professor  Kaiser, 
beantragte  die  Verlängerung  der  Seßhaftigkeit  auf  zwei  Jahre.  Alle  diese 
Anträge  wurden  aber  abgelehnt. 


h.is  Prinzip  des  allgemeinen  Wahlrechts.  387 


einen  prinzipiellen  Kampf  zu  iTiliren.  Selbstverständlich  werde  er 
Für  den  Antrag  Choc  stimmen.  Merkwürdig  angemutet  habe  aber 
der  Antrag  Hruby  und  insbesondere  seine  Ergänzung  und  Be- 
gründung durch  den  Abgeordneten  Kaiser.  Man  hat  sehr  viel  zarte 
Empfindung  dafür,  daß  einer  sehr  kleinen  Anzahl  von  Frauen  ein 
sehr  verdünntes  Wahlrecht  heute  zukommt,  das  ihnen  genommen 
werden  soll,  und  dieses  Vorrecht  will  man  jenen  Frauen  konser- 
vieren. Man  vergißt  aber  an  die  Hunderttausende  von 
Frauen,  welche  selbständig  erwerbende  Arbeiterinnen  sind.  Die 
gestellten  Anträge  haben  mehr  den  Anschein  einer  freisinnigen 
Auffassung,  als  daß  sie  sie  wirklich  betätigen. 

Die  in  dem  Gesetzentwurf  für  das  Wahlrecht  aufgestellte 
Altersgrenze  des  vierundzwanzigsten  Lebensjahres  ist  wohl 
eine  hergebrachte,  aber  unbillig  hohe.  In  unserer  Zeit  sind  die 
breiten  Schichten  der  arbeitenden  Bevölkerung  viel  früher  mündig. 
Das  sozialdemokratische  Parteiprogramm  verlangt  die  Feststellung 
der  Altersgrenze  mit  einundzwanzig  Jahren,  wo  die  Militärpflicht 
beginnt.  Er  stelle  trotzdem  einen  Antrag  nicht,  weil  er  damit  so  gut 
wie  allein  bliebe. 

Die  einschneidendste,  praktisch  wirksamste  Einschränkung  des 
Wahlrechtes  erfolgt  durch  die  Bedingung  der  Seßhaftigkeit, 
die  ziemlich  ausschließlich  gegen  die  Arbeiterklasse  gerichtet  ist. 
Der  klassische  Ausdruck  dafür  ist  das  Wort  „Wahlrechtsraub".  Das 
Wahlrecht  für  den  Reichsrat  ist  nicht  ein  lokales,  an  den  be- 
schränkten Interessenkreis  in  der  Gemeinde  sich  knüpfendes.  In 
den  Reichsrat  wählt  man  nicht  als  Gemeindebürger,  sondern  als 
Staatsbürger.  Auf  dem  Wege  des  Kompromisses  ist  man,  wie 
der  Minister  selbst  gesagt  hat,  in  der  Regierungsvorlage  zu  der 
einjährigen  Seßhaftigkeit  gekommen.  Es  scheint  aber  die  Meinung 
obzuwalten,  als  ob  das  eine  so  geringe  Beeinträchtigung  der 
Arbeiterklasse  wäre,  daß  man  sie  noch  vermehren  muß.  Die  ein- 
jährige, ja  schon  die  sechsmonatige  Seßhaftigkeit  beeinträchtigt  aber 
das  Wahlrecht  insbesondere  der  Arbeiterschaft  in  ganz 
empfindlicher  Weise.  Sie  wendet  sich  nicht  etwa  bloß 
gegen  jene  Schichten,  die  man  mit  einer  gewissen  Geringschätzung 
fluktuierende  Elemente  nennt,  weil  sie,  wie  die  Kava- 
liere, ihr  Gewerbe  im  Umherziehen  ausüben.  Große  Arbeiter- 
schichten sind  durch  die  Art  ihrer  Arbeit  genötigt,  einen 
Teil  des  Jahres  in  der  einen,  einen  Teil  in  einer 
anderen  Gemeinde  zu  verbringen,  ohne  dadurch  den 
Interessen  des  Staates,  ja  auch  nur  den  Interessen  der  Gemeinde, 
in  der  sie  leben,  entfremdet  zu  werden.  Es  wird  immer  darauf  ver- 
wiesen, daß  bei  einem  Kanalbau  oder  einer  Flußregulierung  ein  paar 
hundert  Arbeiter  in  eine  Gemeinde  strömen  und  diese  majorisieren 
könnten.  Abgesehen  davon,  daß  dieser  Fall  zu  den  äußerst 
seltenen  gehört,  daß  die  Wahlbezirke  so  groß  sind,  daß  das 
Wahlresultat  vielleicht  in  einem  Teile  eines  Gemeindebezirkes,  aber 
durchaus  nicht  in  einem  ganzen  Wahlbezirk  beeinflußt  würde,  so 
ist  dies  doch  kein  Grund,  den  Leuten,  die  den  Kanal  bauen,  die 
österreichische   Staatsbürger    sind    und    die    Lasten    dieser 

25* 


388  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Staatsbürgerschaft  vielleicht  in  höherem  Maße 
zu  tragen  haben  als  andere,  ihre  politischen 
Rechte  zu  rauben.  Aber  um  diesen  Ausnahmefall  handelt  es 
sich  gar  nicht  in  erster  Linie,  sondern  um  einen  Teil  der  ganz 
seßhaften  Arbeiterschaft,  die  zeitweilig  fortzuziehen  ge- 
nötigt ist.  Sind  die  Tausende  von  Schneidern  oder  Schuhmachern, 
die  gezwungen  sind,  alljährlich  aus  den  großen 
Zentren  in  die  Badeorte  zu  gehen,  um  ihr  Gewerbe 
auszuüben,  schlechtere  Österreicher  als  der 
Arzt,  der  im  Sommer  nach  Karlsbad  geht?  Man 
könnte  und  sollte  dem  Beispiel  des  deutschen  Reichsgesetzes  ruhig 
folgen,  das  den  Begriff  der  Seßhaftigkeit  als  Bedingung  für  das 
Wahlrecht  überhaupt  nicht  kennt. 

Die  einjährige  Seßhaftigkeit  würde  in  Wien  im  Durchschnitt  fünf 
Prozent  aller  Großjährigen  vom  Wahlrecht  ausschließen.  Bei  dem 
Alter  zwischen  24  und  30  Jahren  erhöht  sich  dieser  Satz 
bis  a  u  f  9'6  Prozent.  Es  ist  mit  großer  Befriedigung  zu  konsta- 
tieren, daß  der  Eifer  der  christlichsozialen  Partei,  die  diesen  Punkt 
lange  mit  besonderem  Nachdruck  verfochten  und  eine  weit  höhere 
Seßhaftigkeit  gefordert  hat,  ein  geringerer  geworden  ist.  Das  Nach- 
lassen dieses  Eifers,  vielleicht  die  Zurückstellung  dieser  Forderung 
überhaupt,  dürfte  der  allmählich  erwachenden  Erkenntnis  zuzu- 
schreiben sein,  daß  von  der  Einschränkung  des  Wahl- 
rechtes nicht  die  sozialdemokratische  Partei 
allein,  sondern  alle  Parteien  getroffen  werden. 
Wie  kann  man  es  vom  nationalen  Standpunkt  verantworten,  den 
eigenen  Stammesgenossen  zu  einem  erheblichen  Bruchteil  das 
Wahlrecht  einzuschränken?  Ich  bin  überrascht,  daß  der  Vorstoß 
zu  einer  Verlängerung  der  Seßhaftigkeitsdauer  nicht  von  christlich- 
sozialer Seite  kommt,  sondern  daß  ein  Mitglied  der 
Deutschen  Volkspartei  diese  Arbeit  für  andere  Parteien 
auf  sich  genommen  hat.  Es  ist  übrigens  wohl  ausgeschlossen,  daß 
sie  zu  einem  Resultat  führe.  Die  einjährige  Seßhaftigkeit  ist  das 
Äußerste,  was  die  Arbeiterschaft  ertragen  kann.  Sie  hat  auf  dem 
Gebiet  der  Wahlkreiseinteilung  eine  ganze  Reihe  von  Beeinträchti- 
gungen in  jedem  Kronland  über  sich  ergehen  lassen,  ohne  mit  der 
Wimper  zu  zucken,  um  das  große  Ganze  zu  sichern.  Sie  hat  auch 
die  Einschränkung  des  gleichen  Rechtes  durch  die  einjährige  Seß- 
haftigkeit zwar  nicht  akzeptiert,  aber  als  das  Resultat  eines  unab- 
wendbaren Kompromisses  über  sich  ergehen  lassen.  Jede  weitere 
Einschränkung  aber  wäre  unerträglich. 

Die  Tendenz  einer  solchen  Erweiterung  der  Seßhaftigkeit  hat 
auch  die  Anregung  des  Abgeordneten  Kaiser,  die  Seßhaftigkeit  mit 
einem  Stichtag  festzusetzen.  In  Frankreich  besteht  dieser  Stich- 
tag wohl,  aber  er  hat  nur  in  Verbindung  mit  der  dort 
vorhandenen  Einrichtung  der  permanenten 
Wählerlisten  einen  Sinn.  Ich  werde  selbstverständlich  den 
Antrag  auf  Beseitigung  der  Seßhaftigkeit  überhaupt  stellen.  Wenn 
aber  irgendeine  Seßhaftigkeitsfrist  bestimmt  wird,  so  beantrage  ich 


D.is  Prinzip  des  allgemeinen  Wahlrechts.  .W) 


im  §  7  Statt  der  Worte:  „in  der  Gemeinde,  in  welcher  das  Wahlrecht 
auszuüben  Ist",  zu  setzen:  „in  dem  Wahlbezirk,  in  welchem 
das  Wahlrecht  auszuüben  ist,  oder  im  Falle  eine  Gemeinde  in 
mehrere  Wahlbezirke  geteilt  ist,  in  einem  derselben."  Auch 
für  diese  Bestimmung  kann  ich  mich  auf  die  Autorität  der  deutschen 
Reichsverfassung  berufen,  die  allerdings  die  Forderung  einer  Seß- 
haftigkeit nicht  kennt,  aber  in  bezug  auf  die  Ausübung  des  Wahl- 
rechtes an  dem  Orte,  wo  der  Wähler  zur  Zeit  der  Wahl  seinen 
Wohnsitz  hat,  die  Bestimmung  in  obiger  Weise  formuliert.  Diese 
Formulierung  würde  sich  darum  empfehlen,  weil  sonst  ganz  gegen 
die  Absicht  der  Vorlage  sehr  viele  durchaus  seßhafte  und  durch- 
aus nicht  fluktuierende  Personen  um  ihr  Wahlrecht  kommen 
werden.  In  allen  Industriezentren  —  ich  erinnere  an  die  Umgebung 
Reichenbergs,    Brunns    usw.  gibt    es    zahlreiche  Fabriksdörfer, 

deren  Grenzen  zusammenfließen,  die  aber  jedes  eine  selbständige 
Gemeinde  bilden.  Der  Mann,  der  aus  einer  dieser  Gemeinden  in 
die  benachbarte  zieht,  verändert  seinen  Wohnsitz  so  wenig  als  der, 
der  von  einer  Seite  der  Mariahilferstraße  auf  die  andere,  von  Maria- 
hilf auf  den  Neubau  zieht.  Trotzdem  wird  er  nach  der  Fassung  der 
Regierungsvorlage  seine  Seßhaftigkeit  unterbrechen  und  sein  Wahl- 
recht verlieren.  Diese,  wie  ich  annehme,  ungewollte  Unbilligkeit 
zu  verhindern,  ist  der  Zweck  des  Antrages. 

Das  wichtigste  aber  ist  die  Abwehr  jeder  Verlängerung  der  Seß- 
haftigkeit, und  ich  schließe  mit  der  Bitte,  der  Arbeiterschaft  den 
Kampf  gegen  eine  weitere  Einschränkung  des  Wahlrechtes  nicht 
aufzuerlegen. 

Dr.  Adler*)  findet  es  merkwürdig,  daß  man  jetzt,  in  letzter  Stunde 
noch  versuche,  in  einem  sehr  wichtigen  Punkte  auf  einem  Umweg 
eine  Erhöhung  der  Seßhaftigkeit  herbeizuführen,  also  jene  Bestim- 
mungen abzuändern,  welche  das  Resultat  sehr  eingehender  Kom- 
promißverhandlungen bilden.  Befremdend  ist  es  auch,  daß  der  Ab- 
geordnete Dr.  P  e  r  g  e  1 1,  der  in  so  anerkennenswerter  Weise  für 
die  politischen  Rechte  der  Militärdienenden  eingetreten  sei,  in  dem- 
selben Atemzug  einem  Antrag  das  Wort  geredet  hat,  der  ganz  offen 
eine  Verlängerung  der  Seßhaftigkeit  —  in  gewissen  Fällen,  je  nach- 
dem, wann  die  Wahlen  stattfinden,  bis  zur  Verdopplung  —  bedeutet. 
Die  Feststellung  der  Seßhaftigkeit  ist  eine  der  schwierigsten  Auf- 
gaben bei  Herstellung  der  Wählerlisten  und  insbesondere  diejenigen, 
die  mit  den  Wiener  Verhältnissen  vertraut  sind,  werden  zugeben 
müssen,  daß  man  auf  diesem  Gebiet  sehr  unangenehme  Erfahrungen 
machen  kann,  wenn  die  Behörden  nicht  volle  Objektivität  walten 
lassen.  Jeder  Monat  und  jeder  Tag,  um  den  die  Seßhaftigkeit  erhöht 
wird,  bedeutet  aus  diesem  Grunde  eine  weitere  Einschränkung  des 
Wahlrechtes,  und  dies  liegt  doch  wohl  weder  in  den  Intentionen  der 

*)  Nach  Adler  sprach  der  Minister  des  Innern  B  i  e  n  e  r  t  h,  der  die 
unveränderte  Annahme  der  Regierungsvorlage  empfahl.  Dann  beantragte 
der  Liberale  Dr.  P  e  r  g  e  1  t,  daß  die  einjährige  Seßhaftigkeit  am  1.  Jänner 
vor  der  Wahlausschreibung  vollstreckt  sein  müsse.  Darauf  erwiderte 
Adler.   Auch   dieser   Antrag    wurde   selbstverständlich   abgelehnt. 


390  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


Mehrheit  des  Ausschusses  noch  in  denen  der  Regierung.  Es  kann 
keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  in  den  Anregungen  des  Abgeord- 
neten Kaiser  eine  schwere  Ungebühr  und  eine  Verletzung  von 
Rechten  liegen,  welche  in  erster  Linie  die  Arbeiterklasse  treffen, 
und  daß  mit  ihnen  der  Versuch  gemacht  wird,  einer  weiteren,  heute 
ziffermäßig  nicht  festzustellenden,  aber  jedenfalls  sehr  beträchtlichen 
Anzahl  von  Staatsbürgern  das  Wahlrecht  zu  entziehen.  Er  richte 
an  den  Ausschuß  die  Bitte,  in  der  Bevölkerung  nicht  das  Gefühl  zu 
erwecken,  daß  man  heute,  wo  man  darangeht,  das  allgemeine 
Wahlrecht  zu  statuieren,  es  in  einer  so  empfindlichen  Weise  zu- 
ungunsten der  Arbeiterklasse  einschränke.  Wenn  auch  der  Antrag, 
die  Seßhaftigkeit  überhaupt  nicht  zu  fixieren,  abgelehnt  werde,  so 
möge  der  Ausschuß  doch  im  schlimmsten  Falle  bei  der  Regierungs- 
vorlage bleiben,  in  keinem  Falle  aber  über  diese  Bestimmung 
hinausgehen. 

Der  polnische  Verschleppungsantrag. 

Ausschuß,  14.  September  190  6*). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  betont,  daß  vom  Standpunkt  derjenigen, 
die  wünschen,  daß  die  Wahlreform  so  rasch  und  glatt  als  möglich 
abgewickelt   werde,    der    gestellte  Antrag    nicht   gerade    er- 

*)  Am  13.  September  war  das  Prinzip  des  allgemeinen  Wahlrechtes 
beschlossen  worden  und  schon  am  nächsten  Tage  stellten  die  Polen  einen 
Antrag,  der  unter  Umständen  geeignet  war,  die  Wahlreform  wieder  zu 
verschleppen.  Beim  Artikel  II  des  Gesetzes,  der  bestimmt,  daß  die  §§  6 
und  7  des  Grundgesetzes  über  die  Reichsvertretung  geändert  werden, 
verlangten  die  Polen,  daß  das  Grundgesetz  auch  in  den  Bestimmungen 
der  §§  11  und  12  geändert  werde,  die  die  Kompetenz  des  Reichsrates  und 
der  Landtage  regeln,  und  zwar  in  dem  Sinne,  daß  die  Kompetenzen  des 
Landtags  auf  dem  Gebiet  der  Landeskultur  vermehrt  werden.  Vergebens 
wurde  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  der  Wahlreformausschuß  nur  die 
Wahlreform  zu  beraten  habe  und  daß  auch  die  von  der  Regierung  be- 
antragte Änderung  der  Bestimmungen  über  die  Immunität  der  Abgeord- 
neten nicht  diesem  Ausschuß,  sondern  dem  Verfassungsausschuß  zuge- 
wiesen wurde,  vergebens  verwies  man  darauf,  daß  dann,  wenn  dieser  Be- 
schluß gefaßt  würde,  der  Artikel,  mit  dem  die  Abänderung  des  Wahlgesetz- 
paragraphen schon  beschlossen  war,  nochmals  geändert  werden  müßte. 
Die  Polen  hatten  seinerzeit,  als  sie  die  Wahlreform  verhindern  wollten, 
ihre  verfassungsrechtlichen  Forderungen  in  den  Vordergrund  geschoben. 
Jetzt  aber,  nachdem  sie  durch  ausreichende  Mandatszuteilung  für  Galizien 
befriedigt  waren,  konnten  sie  von  dem  populären  Schlagwort  der  Ver- 
stärkung der  Länderautonomie  nicht  loskommen.  Allerdings  verlangte  der 
Antrag  Starzynski  nur  ein  neungliedriges  Subkomitee  zur  Über- 
prüfung dieser  Paragraphen  und  Sicherstellung  der  Landesgesetzgebung, 
aber  sie  beantragten  zugleich,  die  Abstimmung  über  die  Eingangsformel 
des  Artikels  II  vorläufig  zu  vertagen.  Den  Wahlreformfeinden  schien  die 
Gelegenheit  günstig  und  auch  die  Anhänger  der  verstärkten  Länderauto- 
nomie konnten  der  Versuchung  schwer  widerstehen  und  so  gab  es  gleich 
eine  umfangreiche  Debatte  über  Föderalismus  und  Zentralismus.  Auch  der 
Ministerpräsident    Beck    stimmte    der     sachlichen    Notwendigkeit    einer 


Der  polnische  Verschleppungsantrag  391 


freu  Meli  sei.  Er  wirke  auch  ein  wenig  überraschend,  denn  man 
hätte  sich  darüber  schon  früher  benehmen  und  einen  Ausweg  finden 

können.  Die  Bedenken  bezüglich  der  Kompetenz  dieses  Ausschusses 
treffen  vollständig  zu.  Gerade  der  Abgeordnete  Ritter 
v.  Abrahamowicz  war  es,  der  im  Plenum  des  Abgeordnetenhauses 
die  Anträge  bezüglich  der  Zuweisung  der  einzelnen  Gesetzentwürfe, 

die  die  Regierung  in  Verbindung  mit  der  Wahlreform  eingebracht 
habe,  gestellt  hat.  Gerade  Ritter  v.  Abrahamowicz  war  derjenige, 
der  ganz  sachlich  und  richtig  jenen  Teil  der  Verfassungsreform,  der 
sich  auf  die  Abänderung  des  Staatsgrundgesetzes  bezüglich  der 
Immunität  der  Abgeordneten  bezieht,  dem  Verfassungsausschuß  zu- 
zuweisen beantragte,  wohin  er  eben  gehört.  Wenn  die  Herren  vom 
Polenklub  nun  betonen,  daß  die  Abgrenzung  der  Kompetenz 
zwischen  Reichsrat  und  Landtagen  mit  dem  Wahlgesetz  einen 
innigen  Zusammenhang  habe,  so  werden  sie  wohl  auch  zugeben 
müssen,  daß  der  Gesetzentwurf  über  die  Immunität  der  Abgeord- 
neten auch  einen  gewissen  Zusammenhang  mit  der  Gestaltung  des 
Reichsrates  hat.  Es  wäre  also  nur  selbstverständlich,  daß,  wenn  im 
Zusammenhang  mit  der  Wahlreform  eine  Interpretation  bezüglich  der 
Kompetenzen  zwischen  Reichsrat  und  Landtagen  gewünscht  werde, 
der  betreffende  Antrag  in  den  Verfassungaus- 
schuß gehört.  Schon  von  diesem  rein  formalen  Standpunkt  aus 
könne  er  sich  für  den  Antrag  Starzynski  nicht  erklären.  Er  wolle 
dem  schlechten  Beispiel,  das  gegeben  wurde,  aus  diesem 
Anlaß  die  ganze  Geschichte  der  Verfassung  aufzurollen,  gewiß  nicht 
folgen.  Er  möchte  nur  sagen,  daß  die  Sozialdemokraten  nicht  auf 
dem  Standpunkt  stehen,  Österreich  solle  ein  Länderstaat  bleiben, 
sondern  daß  sie  aus  diesem  Länderstaat  einen  Völkerstaat 
machen  wollen. 

Vom  Standpunkt  der  Praxis  kann  man  durchaus  der  Ansicht 
sein,  daß,  wenn  auch  die  wirtschaftliche  Entwicklung  mit  ganz  un- 
überwindlicher Gewalt  zu  einer  Zentralisierung  der  ganzen  Ver- 
waltungsagenden drängt,  in  der  Aufteilung  der  Kompetenzen  eine 

neuen  Abgrenzung  der  Kompetenzen  zu  und  empfahl  auch  die  Einsetzung 
des  Subkornitees;  zugleich  aber  meinte  er,  daß  dabei  nur  eine  Resolution 
herauskommen  könne.  Der  Vertagung  trat  er  aber  energisch  entgegen. 
Zur  Überraschung  der  Antragsteller  wurde  der  Antrag  mit  21  gegen 
19  Stimmen  angenommen.  Diese  Mehrheit  kam  dadurch  zustande,  daß 
Graf  Stürgkh,  obwohl  er  als  „verfassungstreuer"  Großgrundbesitzer  prinzi- 
piell ein  Gegner  der  Länderautonomie  war,  um  der  Wahlreform  ein  Bein 
zu  stellen,  sich  mit  noch  einem  Großgrundbesitzer  zu  den  Polen  schlug 
und  die  Klerikalen  aus  agrarischen  Gründen  mitstimmten.  Ein  Vermitt- 
lungsantrag  Geßmanns,  daß  sich  die  Kompetenzänderungen  auf  die  Fragen 
der   Landeskultur    beschränken,   kam    nicht   mehr   zur   Abstimmung. 

Bei  dem  Subkomitee  kam  natürlich  schließlich  nichts  heraus  als  vier 
Resolutionen,  von  denen  eine  (von  Tollinger)  die  Regierung  aufforderte, 
über  die  Abänderung  der  Kompetenzen  bei  den  Landesausschüssen  eine 
UmfruKe  zu  halten,  die  anderen  (zwei  des  Abgeordneten  Starzynski  und 
eine  des  Abgeordneten  Geßrnann)  sich  als  Interpretationen,  zwar  nicht 
„authentischer  Art"  (wozu  ein  Gesetz  notwendig  wäre),  aber  doch  mit 
„richtunggebender  Kraft"  darstellten. 


392  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Reihe  von  Härten  und  Schwierigkeiten  besteht,  die  einen  schleppen- 
den Gang  bei  der  Regelung  gewisser  Verhältnisse  mit  sich  bringen. 
Er  gebe  auch  zu,  daß  Ritter  v.  Starzynski  schon  in  seiner  ersten 
Rede,  die  er  im  Ausschuß  hielt,  auf  eine  Reihe  solcher  Schwierig- 
keiten in  sehr  zutreffender  Weise  hinwies.  Was  geht  das  aber 
den  Wahlreformausschuß  an?  Dieser  Ausschuß  hat  nicht 
die  Aufgabe,  diese  Frage  zu  regeln.  Zwar  wisse  er  leider  sehr  gut, 
daß  alle  Erörterungen  nichts  nützen.  Die  Polen  haben  einen  Antrag 
gestellt  und  die  Bedenken,  die  vorgebracht  werden,  werden  sie  von 
diesem  Antrag  nicht  abbringen.  Was  er  aber  nicht  verstehe,  seien 
die  Versicherungen,  daß  die  Polen  die  Arbeiten  des  Wahlreform- 
ausschusses nicht  stören  wollen.  Mit  diesen  Versicherungen  steht 
der  Antrag  auf  Vertagung  in  einem,  vielleicht  ungewollten,  Wider- 
spruch. Es  sei  nicht  einzusehen,  was  zu  dieser  Vertagung  zwinge. 
Man  hat  eine  unbestimmte  Angst  vor  den  Schwierigkeiten  der 
Reassumierung,  die  aber  ganz  überflüssig  ist.  Wenn  aber  in  einer 
so  wichtigen,  einschneidenden,  das  ganze  Staatsleben  treffenden 
Frage  die  Parteien  die  Kraft  haben  würden,  eine  Änderung  des 
Staatsgrundgesetzes  durchzusetzen,  wird  dann  diese  Kraft  stehen- 
bleiben vor  dem  mechanischen  Hindernis  der  Unmöglichkeit,  auch  die 
Abstimmung  über  Artikel  II  zu  reassumieren?  Das  glaubt  doch  wohl 
niemand.  Wenn  die  Majorität  des  Ausschusses  eine  Abänderung  des 
Gesetzes  durchsetzen  zu  können  glaubt,  dann  wird  sie  nichts 
hindern,  ein  besonderes  drittes  Gesetz  zu  schaffen,  das 
sich  mit  der  Abänderung  der  §§11  und  12  des  Staatsgrundgesetzes 
beschäftigt.  Die  Schwierigkeiten  der  Wahlreform  sind  ja  bekannt 
und  es  ist  bezeichnend,  daß  Graf  Stürgkh,  der  gewiß  nicht  zu  den 
Förderern  der  Wahlreform  gehört,  eine  Aktion  unterstützt,  die  der 
Erledigung  der  Wahlreform  nicht  dienen  kann.  Aus  ungefähr  den- 
selben Gründen  sei  er  begreiflicherweise  absolut  gegen  die 
Vertagung  und  er  bitte  den  Ausschuß  und  insbesondere  die 
Herren  vom  Polenklub,  mindestens  auf  diesen  Vertagungsantrag  zu 
verzichten.  Nach  seiner  Überzeugung  sei  eine  solche  Vertagung 
auch  für  die  Zwecke  des  Polenklubs  vollständig  über- 
flüssig. Redner  hätte  auch  gewünscht,  daß  der  Ministerpräsident, 
so  sehr  er  seine  sachlichen  Ausführungen  vielfach  für  gerechtfertigt 
halte,  in  dieser  Beziehung  energischer  gesprochen  und 
energischer  die  Schwierigkeit,  die  Arbeit  zu  bewältigen,  betont 
hätte. 

Nach  den  Sommerferien. 

Versammlung,  17.  September  1906. 

Als  wir  uns  das  letztemal  hier  in  diesem  Saale  im  Juni*)  sahen, 
war  es  eine  heiße  Zeit.  Heiß,  drückend  und  gewitterschwanger  für 

*)  Am  11.  Juni,  als  die  Arbeiter  mit  dem  Massenstreik  drohen  mußten, 
um  die  Intrigen  der  Gegner  zu  durchkreuzen.  (Siehe  oben  „Die  letzte 
Warnun  g".) 

Am  21.  Juli  war  das  Abgeordnetenhaus  in  die  Sommerferien  gegangen 
und  am  18.  September  trat  es  wieder  zusammen.  In  sechs  massenhaft  be- 


Nach  ik'n  Sommerferien. 


ganz  Österreich.  Wir  waren  darauf  gefaßt  und  im  Begriff,  unser 
Äußerstes  einzusetzen,  um  die  Wahlreform,  die  im  Ausschuß  auf 
allerhand  Obstruktion  gestoßen  war,  zum  Gelingen  zu  bringen.  Es 
ist  zu  diesem  Äußersten  nicht  gekommen,  es  hat  gentigt,  dal.»  die 
Arbeiterschaft  ihre  Kampfbereitschaft  zeigt,  um  auch  die  Regierung 
und.  diejenigen  Parteien,  die  der  Wahlreform  nicht  abgeneigt  sind, 
neuen  Mut  schöpfen  zu  lassen  und  die  Beratung  im  Ausschul)  über 
den  schwierigsten  Punkt  zu  führen.  Dafür  wurde  namentlich  von 
den  Feinden  des  allgemeinen  Wahlrechtes  die  Aufteilung  der  Man- 
date unter  den  Nationen  erklärt.  Wir,  die  V  e  r  t  r  a  u  e  n  z  u  i  h  r  e  m 
Volke  haben,  Deutsche  zu  Deutschen,  Tschechen  zu  Tschechen 
und  so  fort,  würden  uns  überhaupt  nicht  auf  eine  mathematisch  ab- 
gezirkelte Verteilung  der  Mandate  eingelassen  haben.  Die  politische 
und  kulturelle  Entwicklung  einer  Nation  hängt  von  anderen  Dingen 
ab  als  von  einem  halben  Dutzend  Mandate  mehr  oder  weniger. 
Aber  die  Verteilung  der  Mandate  in  Österreich  ist  abhängig  von 
dem  politischen  Kräfteverhältnis  im  gegebenen 
Moment.  Es  ist  eine  Tatsache,  daß  der  politische  Einfluß  der 
Deutschen  gegenwärtig  stärker  ist  als  etwa  der  der  Ruthenen,  und 
es  ist  wunderbar,  wenn  dieses  Verhältnis  auch  in  der  Aufteilung 
der  Mandate  zum  Ausdruck  kommt.  Ein  gleiches  Wahlrecht  gibt 
es  nur  im  sozialen  Sinne  innerhalb  derselben  Nation.  Diese 
soziale  Ungleichheit  im  Wahlrecht  ist  jetzt  beseitigt.  Der  Ausgleich 
in  den  nationalen  Wünschen  ist  zustande  gekommen  auf  der  Grund- 
lage der  allgemeinen  Unzufriedenheit  (Heiterkeit),  unter  dem 
Drucke  der  absoluten  Notwendigkeit.  (Zustimmung.)  Im  Ausschuß 
ist  man  heute  allgemein  der  Ansicht:  „Es  ist  am  gescheitesten,  wenn 
wir  die  Sache  machen."  Wir  stehen  heute  nicht  mehr  allein  auf 
dem  Standpunkt  des  allgemeinen  Wahlrechtes,  wir  sprechen  im 
Namen  aller  Völker  ohne  Unterschied  der  Klassen.  (Leb- 
hafter Beifall.)  Die  eigentlichen  Feinde  der  Reform  sind  im  Aus- 
schuß die,  welche  den  politischen  Tod  für  sich  selbst  vorhersehen. 
Graf  Stürgkh  ist  ein  deutscher  Mann,  seine  Großgrundbesitzer 
glauben  es  ihm;  er  fürchtet  nur,  daß  es  ihm  kein  deutscher  Wahl- 
kreis glauben  wird.  (Heiterkeit.)  Herr  v.  Paris  h*)  ist  ein  guter 
Tscheche,  die  Feudalen  glauben  es  ihm,  sie  sind  es  nämlich  ebenso 
wie  er,  aber  er  fürchtet,  einer  tschechischen  Wählerversammlung 
seine  tschechische  Gesinnung  nicht  klarmachen  zu  können:  er  kann 
nämlich   nicht   tschechisch.   (Schallende   Heiterkeit.)   Diese   Herren 

suchten  Versammlungen  wurde  den  Wiener  Arbeitern  über  die  Wahlreform 
und  ihre  Gegner  berichtet.  Unter  den  Anschlägen  war  wohl  der  Antrag  auf 
Verfassungsrevision  im  Sinne  einer  Verstärkung  der  Länderautonomie,  der 
gleich  bei  der  Wiederaufnahme  der  Beratungen  des  Ausschusses  gestellt 
worden  war  (siehe  die  Rede  über  den  polnischen  Verschleppungsantrag  vom 
14.  September),  der  aktuellste,  wenn  er  auch  nur  ein  Demonstrationsantrag 
war.  Daneben  spukte  aber  bereits  die  Idee  des  „Mehrstimmenrechts",  der 
P  1  u  r  a  1  i  t  ä  t,  für  die  Besitzenden.  Beim  Wimberger  referierte  Dr.  Adler. 
Die  Tagesordnung  lautete:  „Der  Stand  der  Wahlreform." 

*)  Die  böhmischen  Feudalen  gaben  sich  als  Tschechen,  sprachen  aber 
meist  nicht  tschechisch. 


394  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

möchten  der  Reform  gern  Schwierigkeiten  bereiten,  wenn  sie 
könnten.  Kämpfe  waren  für  den  §  7  zu  erwarten,  der  das  allgemeine 
Wahlrecht  festsetzt  und  es  zugleich  durch  zwei  Bestimmungen  ein- 
schränkt. Erstens  gilt  es  nur  für  Männer.  Prinzipiell,  als  Partei,  sind 
wir  natürlich  auch  für  das  Frauenwahlrecht.  Aber  wir  wären 
schlechte  politische  Rechner,  wenn  wir  uns  auf  diese  gegenwärtig 
absolut  nicht  durchsetzbare  Forderung  versteift  hätten.  Zweitens 
aber  wird  auch  das  Wahlrecht  der  Männer  beschränkt,  einmal 
durch  die  Festsetzung  der  Altersgrenze  von  24  Jahren  und  durch 
die  einjährige  Seßhaftigkeit.  Wir  fordern  das  Wahlrecht  mindestens 
für  das  militärpflichtige  Alter,  also  für  21  Jahre;  aber  das  ver- 
stehen die  Bürgerlichen  einfach  nicht.  Auch  die  einjährige  Seß- 
haftigkeit bedeutet  einen  Ausgleich  zwischen  unseren  Wünschen 
und  den  noch  weit  über  ein  Jahr  hinausgehenden  Forderungen  der 
Gegner.  Ich  will  den  Genossen  keine  Begeisterung  für  die  einjährige 
Seßhaftigkeit,  die  auch  Wahlmogeleien  Raum  läßt,  einreden,  aber 
man  darf  ein  sicheres  allgemeines  Wahlrecht  mit  dieser  Seßhaftig- 
keit nicht  einem  sehr  unsicheren  ohne  Seßhaftigkeit  opfern.  Weitere 
Schwierigkeiten  werden  erst  beim  §  5  der  Wahlordnung,  für  die 
im  Abgeordnetenhause  die  einfache  Majorität  genügt,  eintreten. 
Der  Antrag  Starzynski  ist  eine  aufgebauschte  Lächerlichkeit. 
Das  Subkomitee,  das  ihn  beraten  soll,  ist  noch  gar  nicht  zustande 
gekommen.  Ernster  und  nicht  zu  unterschätzen  ist  die  Gefahr,  die 
dem  §  5  droht.  Hier  wollen  die  Feinde  mit  dem  Schwindel  der 
P  1  u  r  a  1  i  t  ä  t  einsetzen.  Sie  schlagen  beispielsweise  vor,  eine 
zweite  Stimme  jedem  über  35  Jahre  alten  Manne  zu  geben.  Aber 
statistisch  entfallen  auf  je  100  „Selbständige"  noch  solche 
80  Stimmen,  auf  hundert  Arbeiter  aber  nur  52.  Die  gleichen  Ziffern 
gelten  auch  für  die  Familienhäupter.  Denn  Besitz  bedeutet  auch 
Gesundheit,  Leben  und  Familie.  Die  Pluralität  wäre  also  ein 
Verrat  am  Prinzip  des  allgemeinen  Wahlrechtes,  das  in  der  Wahl- 
reform durchzusetzen  die  Regierung  vom  Kaiser  nicht  nur  er- 
mächtigt, sondern  beauftragt  ist.  Die  Arbeiterschaft  wird  die 
Herren  darauf  festnageln.  Wir  wollen  uns  nicht  einschläfern  lassen. 
Noch  immer  heißt  es:  Bereit  sein  und  wach  sein!  Trotz 
allem  habe  ich  die  Hoffnung,  daß  wir  in  einem  Vierteljahr  auf 
Grund  des  allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Wahl- 
rechtes wählen  werden.  (Stürmischer  Beifall.) 

Jeder  Ort  Wahlort. 

Ausschuß,  17.  September  190  6. 

Abgeordneter  Dr.  Adler*)  kündigt  an,  daß  er  bei  §  9  den  Antrag 
stellen  werde,  daß  alle  Wahlen  an  einem  Tage  stattzu- 

*)  Am  17.  September  gelangte  der  Ausschuß  endlich  zur  Beratung  der 
Wahlordnung.  Gleich  beim  §  3  kam  es  zu  einer  längeren  Auseinander- 
setzung. Dieser  bestimmte,  daß  jede  Gemeinde  in  der  Regel  Wahlort  sei, 
daß  aber  Gemeinden  mit  weniger  als  500  Einwohnern  vereinigt  werden 
könnten.  Der  Pole  Starzynski  beantragte,  daß  Orte  bis  zu  1500  Ein- 


Jeder  Ort   Walilort. 


finden  haben.  Die  Versuche,  die  Wahlorte  vom  Wohnort  zu 

entfernen,  müsse  er  bekämpfen.  Es  kann  doch  nicht  schwerer  sein, 
einen  Abgeordneten  zu  wählen  als  zum  Beispiel  Wahlmänner, 
und  doch  ist  in  den  Landgemeinden  bei  indirekten  Wahlen  jede 
Gemeinde  Wahlort.  Line  andere  Bestimmung  damit  zu  motivieren, 
daß  bisher  indirekte  Wahlen  stattfanden,  gehe  also  nicht  an.  Lr 
möchte  überhaupt,  daß  alle  Undeutlichkeiten  und  Möglichkeiten  zu 
abweichendem  Vorgehen  möglichst  ausgeschaltet  werden,  wenn 
er  auch  zur  Regierung  das  Zutrauen  habe,  daß  sie  von  der  im  8  3 
einzuräumenden  Möglichkeit  in  den  Kronländern  nicht  Gebrauch 
machen  wird,  wo  bereits  andere  Bestimmungen  gelten.  Er  be- 
antrage deshalb,  die  Worte  „In  der  Regel"  zu  streichen  und  den 
ersten  Satz  des  §  3  in  folgender  Fassung  anzunehmen:  „Jede 
Ortsgemeinde  und  jeder  irn  Anhang  besonders  angeführte 
Gemeindeteil  (Ortschaft,  Stadtbezirk,  Stadtteil)  ist  Wahlort."  Dies 
sei  jedenfalls  der  Antrag,  durch  den  jede  Ausnahme  aus- 
geschlossen werde.  Sollte  der  Antrag  nicht  akzeptiert  werden, 
könnte  er  mit  der  Textierung  der  Regierungsvorlage  nur  dann  zu- 
frieden sein,  wenn  die  Ziffer  500  als  Maximalgrenze  festgesetzt  und 
gesagt  werde,  daß  unter  die  Ziffer,  die  in  der  Landesgesetzgebung 
festgesetzt  ist,  nicht  herabgegangen  werden  darf.  Man  sollte  keine 
Bestimmungen  in  das  Gesetz  aufnehmen,  die  der  Bevölkerung 
Lasten  und  Schwierigkeiten  verursachen.  Die  Be- 
fugnis der  Regierung,  Gemeinden  zu  Gruppenwahlorten  zusammen- 
zulegen, sollte  also  durch  die  Bestimmungen  der  Landesgesetz- 
gebung eingeschränkt  werden.  Dem  Antrag  Starzynski,  der  weit 
über  die  Regierungsvorlage  hinausgehe,  müsse  er  ganz  ausdrück- 
lich entgegentreten.  Man  könne  besondere  Verhältnisse  für  jedes 
Land  zugeben,  warum  es  aber  gerade  in  Galizien  künftig  unmöglich 
sein  solle  so  zu  wählen,  wie  man  in  der  fünften  Kurie  bereits  ge- 
wählt hat,  ist  nicht  einzusehen*). 

wohnern  zusammengelegt  werden  könnten.  Demgegenüber  wurde  darauf 
verwiesen,  daß  die  Landesordnung  in  Niederösterreich  250  festsetzt  und  daß 
in  der  Kurie  der  Landgemeinden  jede  Gemeinde,  in  der  allgemeinen  Kurie 
sogar  in  Galizien  jede  Gemeinde  bis  zu  500  Einwohnern  Wahlort  war.  (Über 
den  von  Adler  angekündigten  Antrag  beim  §  9  siehe  die  Ausschußsitzung 
vom  19.  September.) 

*)  Schließlich  wurde  der  Antrag  Adler  angenommen,  aber  für  Galizien 
eine  Ausnahme  gemäß  dem  Antrag  Starzynski  bewilligt.  In  der  nächsten 
Sitzung  am  19.  September  beschwerte  sich  der  ruthenische  Abgeordnete 
Ritter  v.  W  a  s  s  i  1  k  o,  daß  diese  in  seiner  Abwesenheit  beschlossene  Aus- 
nahme für  Galizien  eine  Illoyalität  sei,  da  sie  den  Ruthenen  von  den  ihnen 
in  dem  Kompromiß  zugestandenen  28  galizischen  Mandaten  3  bis  4  weg- 
nehme; denn  wenn  nur  die  großen  Gemeinden  Wahlort  seien,  werde  allen 
ruthenischen  Gebirgsgemeinden,  deren  Wähler  dann  viele  Meilen  weit  gehen 
müßten,  das  Wahlrecht  entzogen.  Er  beantragte  die  Reassumierung  der 
früheren  Abstimmung.  Dr.  Adler  bemerkte  dazu,  er  habe  den  Antrag  des 
Polenklubs  auf  das  schärfste  bekämpft;  er  halte  ihn  für  außerordentlich  un- 
glücklich und  er  wäre  sehr  zufrieden,  wenn  man  den  bezüglichen  Beschluß 
aufheben  könnte.  Die  Reassumierung,  gegen  die  die  Polen  protestierten, 
wurde  aber  mit  17  gegen   16  Stimmen  abgelehnt. 


396  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Alle  Wahlen  an  einem  Tag. 

Ausschuß,  19.  September   19  ü  6*). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  bemerkt,  er  habe  schon  in  der  letzten 
Sitzung  des  Ausschusses  einen  Antrag  angekündigt,  wonach  die 
Wahlen  an  einem  Tage  vorzunehmen  seien,  und  er  sei  der  An- 
sicht, daß  es  durchaus  im  Interesse  einer  vernünftigen  Erledigung 
des  Wahlgeschäftes  liege  und  geradezu  eine  politische  Not- 
wendigkeit sei,  daß  der  Wahltag,  wie  dies  ja  auch  in  anderen 
Staaten  der  Fall  sei,  für  alle  Länder  ein  und  derselbe  sei.  Wenn  von 
der  Regierung  gegen  diesen  Antrag  geltend  gemacht  werde,  daß  sie 
nicht  genug  Beamte  besitze,  um  die  Wahl  gleichzeitig  an  einem  Tage 
durchzuführen,  so  wolle  er  nur  bemerken,  daß  bei  den  Wahlen  nicht 
die  Beamten,  sondern  die  Wähler  die  Hauptsache 
seien,  und  daß  es  ja  auch  nicht  notwendig  erscheine,  die  ganze 
Wahl  gewissermaßen  unter  die  Kuratel  der  Bürokratie  zu  stellen. 
Man  möge  doch  nicht  glauben,  daß  sich  in  der  Bevölkerung  nichts 
vollziehen  kann,  ohne  daß  angestellte  Beamte  des  Staates  dabei 
funktionieren.  In  Deutschland  beispielsweise  ernennt  man  einfach 
aus  der  Bevölkerung  einen  Wahlvorsteher  und  es  wäre  auch  bei 
uns  nicht  unangebracht,  wenn  man  die  Bevölkerung  nach  und  nach 
einigermaßen  zur  Selbständigkeit  erziehen  würde.  Im  übrigen  habe 
man  ja  auch  bisher  überall  dort,  wo  direkte  Wahlen  stattfanden, 
so  zersplittert  auch  die  Wahl  im  allgemeinen  war,  in  einem  Kronland 
innerhalb  der  einzelnen  Kurien  stets  an  demselben  Tage  gewählt. 
Man  kann  durchaus  nicht  glauben,  daß  die  Regierung  dem  Mangel 
an  Beamten  dadurch  abhelfen  will,  daß  sie,  wenn  die  Wahlen  an 
verschiedenen  Tagen  stattfinden,  beispielsweise  Beamte  aus  Gali- 
zien  nach  Wien  dirigiert,  um  hier  bei  den  Wahlen  zu  helfen. 

Der  Redner  bittet  den  Ausschuß,  es  als  ein  durchaus  mögliches 
und  berechtigtes  Prinzip  auszusprechen,  daß  die  Wahl  überall  an 
einem  und  demselben  Tage  stattfinde.  Die  Anordnung  der  Wahl 
habe  durch  die  Regierung  und  die  Aufforderung  zur  Vornahme  der* 
selben  durch  den  Minister  des  Innern  zu  erfolgen.  Für  die  Durch- 
führung der  Wahlen  im  einzelnen  wären  Erlässe  der  politischen 
Landesbehörden  notwendig. 

Abgeordneter  Dr.  Adler**)  war  sehr  erfreut,  die  Anregung  bezüg- 

*)  Dr.  Adler  hatte  bereits  am  17.  September  bei  der  Beratung  des  §  3r 
der  vom  Wahlrecht  handelt,  angekündigt,  daß  er  beim  §  9  den  Antrag 
stellen  werde,  daß  alle  Wahlen  an  einem  Tage  stattzufinden  haben.  Nach 
der  Regierungsvorlage  hatten  die  Landesbehörden  die  Tage  zu  bestimmen,, 
an  denen  die  Wahlen  vorzunehmen  seien.  Man  konnte  es  sich  damals  nicht 
anders  vorstellen,  als  daß,  wie  es  bei  den  verschiedenen  Kurien  der  Fall 
war,  in  jedem  Lande  anders  gewählt  werde.  Bisher  hatten  sich  die  Wahlen 
durch  Wochen,  ja  durch  Monate  hingezogen,  was  namentlich  auch  die 
Folge  der  „indirekten"  Wahlen  war,  bei  denen  zuerst  Wahlmänner  und  erst 
von  diesen  die  Abgeordneten  gewählt  wurden.  Als  jetzt  der  §  9  zur  Ver- 
handlung gelangte,  kam  Dr.  Adler  auf  dieses  Verlangen  zurück,  daß  die 
Wahlen  im  ganzen  Staat  an  einem  Tage  stattfinden. 

**)    Auf   die   Ausführungen   Adlers   erklärte   der   Minister    B  i  e  n  e  r  t  h 


Das  Pluralitätsattental  noch  verschoben.  397 

lieh  des  Sonntass  als  Wahltag  von  einer  Seite  zu  vernehmen, 
von  der  er  nielit  darauf  gefaßt  war.  Von  der  sozialdemokratischen 
Partei,  werde  diese  Forderung  seit  jeher  erhöhen  und  er  habe  den 
Antrag  nur  darum  nicht  gestellt,  weil  er  seine  Durchsetzung  in 
diesem  Ausschuß  für  aussichtslos  gehalten  habe.  Nachdem 
aber  In  Aussicht  gestellt  wird,  daß  die  Anregung  des  Ab- 
geordneten Dr.  Schu s t er schi t z  nur  in  der  Form  durch- 
gehen könnte,  daß  es  hieße:  „nach  Beendigung  des 
Gottesdienstes",  verzichte  er  allerdings  darauf.  Wohl  aber 
dürfe  man  hoffen,  eine  Majorität  dafür  zu  finden,  daß  die  Wahlen 
an  einem  Tage  durchgeführt  werden.  Was  der  Minister  da  ge- 
sagt habe,  schwäche  die  Berechtigung  dieses  Begehrens  nicht  ab, 
sondern  er  erhärte  sie  geradezu.  Die  Erklärung  des  Ministers,  daß 
die  Regierung  nicht  daran  denke,  die  Wahlen  in  einem  Lande  an 
verschiedenen  Tagen  vornehmen  zu  lassen,  möchte  er  festgestellt 
haben. 

Das  Pluralitätsattentat   noch  vorschoben. 

Ausschuß,  19.  September  190 6*). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  betont,  daß  der  Ausschuß  schon  bei  Be- 
ratung über  §  7  des  Grundgesetzes  damit  überrascht  wurde,  daß 

zwar,  daß  es  die  Absicht  der  Regierung  sei,  die  Wahlen  tunlichst  an  einem 
Tage  vorzunehmen,  sofern  es  technisch  ausführbar  sei.  Die  Regierung 
könne  sich  aber  noch  kein  klares  Bild  darüber  machen,  ob  das  möglich 
sein  werde,  wobei  er  namentlich  darauf  hinwies,  daß  man  kaum  genügend 
viel  Wahlkommissäre  habe,  als  welche  bisher  meist  Staatsbeamte  ver- 
wendet worden  waren.  Er  bat,  der  Regierung  wenigstens  die  Möglichkeit 
zu  geben,  wenn  es  notwendig  sei,  von  der  Einheit  des  Wahltages  abzu- 
gehen. 

Im  Laufe  der  Debatte  regte  der  klerikale  Slowene  Dr.  Sustersic 
an,  als  einheitlichen  Wahltag  einen  Sonntag  zu  fixieren,  aber  den 
Beginn  des  Wahltages  nach  dem  Hauptgottesdienst  festzusetzen.  Dagegen 
wendete  sich  der  polnische  Pfarrer  Dr.  Pastor,  weil  dadurch  der  Sonn- 
tag „profaniert"  würde.  Auch  der  polnische  Schlachziz  Abrahamowicz 
meinte,  daß  das  in  Galizien  allgemeine  Entrüstung  herbeiführen  werde. 
Schusterschitz  blieb  dabei,  daß  keine  religiösen  Bedenken  gegen  die 
Wahlen  am  Sonntag  bestehen,  doch  gebe  er  zu,  daß  die  Zeit  nach  dem 
Gottesdienst  zu  kurz  sei  und  stelle  deshalb  keinen  Antrag.  Für  die  Wahlen 
an  einem  Tage  sprachen  sich  mit  Ausnahme  des  Abrahamowicz  alle  Redner 
aus  und  es  wurde  schließlich  mit  28  gegen  9  Stimmen  ein  Antrag  des 
Deutschfortschrittlichen  Dr.  Groß  angenommen,  der  Minister  des  Innern 
habe  für  alle  Länder  einheitlich  den  Tag  für  die  Vornahme  der  Wahl 
und  den  für  die  engeren  Wahlen  anzuberaumen.  (Zur  Erklärung:  Sustersic 
wird  Schusterschitz  ausgesprochen,  und  daher  wegen  der  Unlesbarkeit 
der  fremden,  mit  Zeichen  versehenen  Buchstaben  im  Deutschen  oft  so 
geschrieben.  —  Das  polnische  „cz",  bei  Abrahamowicz  zum  Beispiel,  wird 
wie  „tsch"  gesprochen,  das  polnische  „sz"  wie  „seh".  —  Im  Tschechischen 
wird  „f"  wie  „rsch"  gesprochen,  also  Kramaf  wie  Kramarsch  und  Fort 
wie  Forscht;   es  wird  daher  hier  oft  auch  so  geschrieben.) 

In  die  Debatte  hat  Adler  auch  zum  zweitenmal  eingegriffen. 

A)   Nachdem  am    19.  September  das  Verlangen   der   Ruthenen,  den   Be- 


398  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Anträge  in  Aussicht  gestellt  wurden,  die  das  Wesen  und  das  Prinzip 

der  Vorlage  auf  das  schärfste  berühren  und  gefährden.  Diese  An- 
träge wurden  damals  aus  der  Verhandlung  über  das  Grundgesetz 
in  die  Verhandlung  über  die  Reichsratswahlordnung  verschoben. 
Dieses  Vorgehen  war  vielleicht  vom  Standpunkt  der  Antragsteller 
durch  taktische  Erwägungen  motiviert.  Es  war  aber  weder  logisch 
noch  geeignet,  die  Beratungen  zu  fördern.  Diejenigen,  die  das  gleiche 
Wahlrecht  wollen,  haben  sich  bei  §  7  enthalten,  über  das  gleiche 
Wahlrecht  zu  sprechen,  weil  ein  konkreter  Gegenantrag  nicht  vor- 
lag. Aber  der  Ausschuß  und  alle  diejenigen  in  Österreich,  die  sich 
für  die  Wahlreform  interessieren,  haben  doch  das  Recht,  endlich 
darüber  Gewißheit  zu  erlangen,  daß  das  Prinzip  und  die  Grundlage 
der  Wahlreform,  das  sozial  gleiche  Wahlrecht,  nicht  mehr  in  Frage 
stehe.  Es  geht  nicht  an,  fortwährend  ein  Gesetz  in 
allen  Einzelheiten  zu  beraten,  wenn  der  Grund- 
stein des  Gesetzes  unter  einem  Damokles- 
schwert, hoffentlich  keinem  gefährlich  e  n,  stehe. 
Wenn  ich  es  auch  begriffen  habe,  daß  es  bei  der  Wahlkreiseinteilung 
notwendig  war,  mit  den  Klubs  darüber  zu  beraten,  so  sei  dies  nicht 
begründet,  wo  es  sich  um  die  Grundlage  des  ganzen  Gesetzes,  die 
ja  von  allem  Anfang  an  in  Diskussion  stand,  handelt.  Jeder  Abge- 
ordnete und  alle  Klubs  müssen  sich  doch  schon  im  klaren  darüber 
sein,  wie  sie  sich  zur  Frage,  die  Abgeordneter  Dr.  Tollinger  be- 
rührte, stellen.  Ich  würde  daher  dringend  wünschen,  daß  man  jetzt 
die  Sache  erledigt.  Der  Ausschuß  kann  nicht  so  lange  warten,  bis 
alle  die  verschiedenen  Wünsche  in  bezug  auf  das  Pluralwahlrecht, 
von  dem  es  158  Systeme  gibt,  in  eine  gemeinsame  Formel 
gebracht  sind. 

Zwei  Wohnsitze. 

Ausschuß,  19.  September  190 6*). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  bemerkt,  er  sei  im  allgemeinen  nicht 
dafür,  daß  man  jedes  Wort  der  Regierungsvorlage  so  unter  die 
Lupe  nehme  und  daran  herumtüftle,  bis  man  irgendeinen  Fehler 

Schluß  über  die  Zusammenziehung  der  Gemeinden  in  Galizien  zu  reassu- 
mieren, abgelehnt  worden  war,  sollte  der  §  5  zur  Beratung  kommen,  der 
festsetzt,  daß  jeder  Wähler  nur  eine  Stimme  hat.  Da  beantragte  der 
Tiroler  Klerikale  Dr.  Tollinger,  diesen  Paragraphen  noch  zurückzu- 
stellen, da  er  einen  Antrag  über  die  Pluralität  stellen,  ihn  aber  wegen 
seiner  prinzipiellen  Wichtigkeit  vorher  den  Klubs  zur  Stellungnahme  mit- 
teilen wolle.  Bei  der  Beratung  des  §  7  des  Grundgesetzes  hatte  er  auf  den 
§  5  der  Wahlordnung  vertröstet,  jetzt  waren  die  Anhänger  der  Pluralität 
noch  immer  nicht  einig.  Dagegen  sprach  nun  Dr.  Adler.  Trotzdem  wurde 
die  Vertagung  mit  21  gegen  10  Stimmen  beschlossen. 

*)  Nachdem  die  Beratung  über  den  §  5,  der  bestimmte,  daß  jeder 
Wähler  nur  eine  Stimme  habe,  auf  Verlangen  des  Abgeordneten  T  o  1 1  i  n- 
g  e  r,  der  mit  seinem  Pluralitätsattentat  noch  nicht  fertig  war,  verschoben 
worden  war,  wurde  der  §  6  in  Verhandlung  gezogen,  der  bestimmt,  daß 
das  Wahlrecht  am  Wohnsitz  auszuüben  sei.  Außerdem  wurde  bestimmt, 


Armenunterstützung  u ml  Wahlrecht. 


daran  cnuicckt.  Selbstverständlich  müsse  jeder  wünschen,  daß  die 
Wahlordnung  so  präzise  abgefaßt  sei,  daß  sie  jede  Möglichkeit  einer 
einseitigen  Praxis  ausschließe.  Nun  sei  es  aber  einfach  aus- 
geschlossen, dem  Gesetz  eine  Fassung  zu  geben,  die  nicht  hei  der 
Absicht  einer  illoyalen  Praktizierung  auch  zu  illoyalen  Ergebnissen 
führen  würde.  Im  großen  und  ganzen  müsse  man  trotz  aller  bösen 
Erfahrungen,  die  gemacht  wurden,  doch  immer  voraussetzen,  daß 
das  Gesetz  in  der  Regel  loyal  praktiziert  werde.  Will  jemand  illoyal 
vorgehen,  so  wird  er,  wenn  das  Gesetz  noch  so  prägnant  gefaßt  ist, 
immer  eine  Pforte  finden,  von  der  aus  er  es  umgehen  kann.  Was  den 
Antrag  des  Abgeordneten  Dr.  Vogler  anlange,  so  müsse  jeder,  der 
die  Schwierigkeiten  kennengelernt  habe,  die  sich  schon  jetzt  bei- 
spielsweise bei  der  Feststellung  der  sechsmonatigen  oder  einjährigen 
Seßhaftigkeit  ergeben  haben,  zugeben,  daß  der  Antrag  nicht  durch- 
führbar sei.  Der  Redner  billige  wohl  die  Intentionen  des  Abgeord- 
neten Dr.  Vogler,  glaube  aber  nicht,  daß  sie  auf  dem  von  demselben 
vorgeschlagenen  Wege  erreicht  werden  können.  Er  beantragt 
schließlich,  anstatt  des  Wortes  „Hauptniederlassung"  das  Wort 
„H  a  u  p  t  w  o  h  n  s  i  t  z"  zu  setzen. 

Armenunterstützung  und  Wahlrecht. 

Ausschuß,  19.  September  190 6*). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  erklärt  sich  prinzipiell  gegen  jede  Ein- 
schränkung des  Wahlrechtes  und  insbesondere  dagegen,  daß  jenen 
Personen  das  Wahlrecht  entzogen  werde,  die  durch  den  herrschen- 
den wirtschaftlichen  Prozeß  am  Ende  eines  arbeitsreichen  Lebens 
oder  noch  arbeitskräftig  in  die  Unmöglichkeit  geraten,  ihren  Lebens- 
unterhalt durch  eigene  Arbeit  zu  finden.  Es  sei  eine  ungeheure 
Härte,  diejenigen,  die  ihr  Leben  lang  arbeiteten  und  infolge  der  be- 
stehenden  gesellschaftlichen  Einrichtungen  nicht  imstande  waren. 

wo  das  Wahlrecht  auszuüben  ist,  wenn  der  Wähler  mehrere  Wohnungen 
habe.  Dabei  verwies  Dr.  Vogler  darauf,  daß  der  Magistrat  wieder,  wie 
früher,  die  Wiener  Feuerwehrleute  in  der  Inneren  Stadt,  wo  sie 
bei   Nacht  kaserniert  sind,  werde  wählen  lassen. 

Schließlich  wurde  der  Paragraph  mit  der  von  Adler  beantragten  Ände- 
rung, das  Wort  „Hauptniederlassung"  durch  „H  a  u  p  t  w  o  h  n  s  i  t  z"  zu 
ersetzen,   angenommen. 

*)  Der  §  8  handelt  von  den  Gründen  der  Ausschließung  vom 
Wahlrecht.  Darunter  war  auch  der  Genuß  der  Armenversorgung  oder 
der  öffentlichen  Mildtätigkeit.  Mit  Rücksicht  darauf,  daß  auch  diese  Be- 
stimmungen dem  Wiener  christlichsozialen  Magistrat  Gelegenheit  zu  einem 
Wahlschwindel  geben  konnten,  beantragte  der  Liberale  Dr.  Vogler  eine 
Reihe  von  Verbesserungen.  Auch  Dr.  Adler  griff  in  die  Debatte  ein  und 
beantragte,  unter  den  Umständen,  die  nicht  als  „Armenversorgung"  gelten 
dürften,  auch  die  „unentgeltliche  Verpflegung  in  den  öffentlichen  Kranken- 
anstalten" aufzunehmen.  Dieser  Antrag  wurde  auch  angenommen,  die 
Anträge  Voglers  aber  abgelehnt.  Im  übrigen  haben  die  Christlichsozialen 
trotzdem  diesen  Paragraphen  zu  ihren  Wahlschwindeleien  auszunützen 
verstanden. 


400  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

sich  so  viel  zurückzulegen,  um  im  Alter  davon  leben  zu  können,  die 
infolgedessen  auf  die  Gemeinde  angewiesen  sind,  die  sie  ja  früher 
durch  ihre  Arbeit  mit  gestützt  und  erhalten  haben,  zum  Danke  dafür, 
daß  sie  sich  zeitlebens  haben  ausbeuten  lassen,  vom  Wahlrecht  aus- 
zuschließen. Deshalb  sei  er  selbstverständlich  gegen  diese  Be- 
stimmung. Kr  werde  aber  trotzdem  keinen  Antrag  stellen,  sie 
zu  streichen,  weil  er  wisse,  daß  seine  Anschauungen  in  diesem 
Kreise  auf  Zustimmung  nicht  rechnen  können.  Er  müsse  auch  zu- 
geben, daß  ähnliche  Bestimmungen  auch  in  anderen  Ländern  be- 
stehen. In  der  Praxis  aber  sei  dieser  Paragraph  entschieden  sehr 
gefährlich.  Der  Begriff  der  Armenpflege  und  der  Armenunter- 
stützung werde  kolossal  ausgedehnt.  In  Wien  sei  es  wiederholt  vor- 
gekommen, daß  man  einem  Arbeiter,  der  Weib  und  Kind  zu  er- 
nähren hat,  das  Wahlrecht  entzog,  weil  sein  alter,  arbeitsunfähiger 
Vater  aus  Gemeindemitteln  eine  Pfründe  von  drei  bis  vier  Gulden 
monatlich  erhält.  Man  sagte,  der  Sohn  habe  die  Alimentationspflicht 
und  wenn  er  dieser  Pflicht  nicht  in  vollem  Umfang  nachkomme  und 
der  Vater,  den  er  ja  trotzdem  erhalten  muß,  da  er  ja  von  den  drei 
Gulden  nicht  leben  kann,  aus  Gemeindemitteln  eine  Zubuße  genießt, 
genieße  sie  indirekt  der  Sohn.  Redner  habe  mit  mehreren  Juristen 
gesprochen,  es  sei  ihm  aber  nicht  gelungen,  eine  Formulierung  zu 
finden,  die  derartige  Auslegungen  ausschließt.  Es  sei  eben  un- 
möglich, jeder  Illoyalität  und  Gewaltsamkeit  und  jeder  bewußten 
unrichtigen  Auslegung  des  Gesetzes  zuvorzukommen.  Man  muß  sich 
deshalb  begnügen,  die  Intentionen  des  Gesetzgebers  so  deutlich  als 
möglich  zum  Ausdruck  zu  bringen  und  das  Gesetz  in  die  Hände  von 
Behörden  zu  legen,  die  entweder  loyal  sind  oder  die  loyal  zu 
machen  wir  uns  bestreben  müssen. 

Eine  erhebliche  Lücke  scheint  aber  darin  zu  liegen,  daß  die  un- 
entgeltliche Verpflegung  in  öffentlichen  Krankenanstalten  nicht  unter 
jene  Fälle  von  Armenversorgung  aufgezählt  erscheint,  die  vom 
Wahlrecht  nicht  ausschließen.  Es  kann  sein,  daß  ein  Nichtversiche- 
rungspflichtiger eine  Zeitlang  im  Spital  zubringen  und  daß  die  Ge- 
meinde dann  für  die  Kosten  aufkommen  muß.  Da  wäre  es  höchst 
ungerecht,  diese  notgedrungene  Unterbrechung  seines  gewohnten 
Erwerbes  als  eine  Armenunterstützung  im  Sinne  der  Bestimmungen 
des  §  8  anzusehen.  Mit  den  Amendements  des  Abgeordneten  Vogler 
jedoch  könne  sich  der  Redner  nicht  einverstanden  erklären,  da,  so 
gut  sie  gemeint  sein  mögen,  das  Ganze  dadurch  nur  verschlechtert 
würde. 

Der  Schwindel  mit  den  Wählerlisten. 

Ausschuß,  20.  Septemberl90  6*). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  findet  es  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
gerechtfertigt,  daß  sich  die  Regierungsvorlage  möglichst  an  die  bis- 
herigen Bestimmungen  halte.  Die  Gewohnheiten  der  Bevölkerung 

*)  Die  Bestimmungen  der  Wahlordnung  über  die  Wählerlisten  gaben 
im  Ausschuß  wie  auch  dann  im  Hause  zu   lebhaften  Debatten  Anlaß,  die 


Der  Schwindel  mit  den  Wählerlisten.  1()1 

Spielen  eine  gewisse  Rolle,  die  berücksichtigt  werden  muß,  aber 
nicht  ohne  Einschränkung.  Wir  haben  eine  Menge  Einrichtungen  aus 
einer  Zeit  mit  herüber  geschleppt,  wo  die  Zahl  der  Wähler  noch  eine 
äußerst  beschränkte  war,  wo  es  noch  einen  Zensus  von  zehn  und 
zwanzig  Gulden  gab,  von  einer  fünften  Kurie  noch  keine  Rede  war. 
Zu  diesen  überkommenen  Gewohnheiten  gehört  zum  Heispiel  die 
allzu  große  Ängstlichkeit,  mit  der  man  alle  Leute,  die  nicht  direkt 
Staatsbeamte  sind,  von  entscheidenden  Funktionen  bei  den  Wahlen 
ausschließen  zu  müssen  meint.  Das  ist  bei  einem  demokratischen 
Wahlrecht  nicht  mehr  möglich.  Er  will  auf  die  Einzelheiten  des 
Kampfes,  den  die  Sozialdemokraten  in  Wien  bei  jeder  Wahl  gegen 
Wahlmißbräuche  zu  führen  haben,  nicht  eingehen,  aber  so 
harmlos,  wie  der  Abgeordnete  Steiner  die  Sache  dargestellt  habe, 
sei  sie  gewiß  nicht.  Er  wolle  den  Vorwurf  eines  bewußt  herbei- 
geführten Mißbrauches  hier  nicht  erheben  und  lasse  es  dahingestellt, 
was  seine  persönliche  Überzeugung  sei,  aber  nicht  zu  leugnen  ist, 
daß  sich  die  Zustände  in  bezug  auf  die  Wählerlisten  in  Wien  mit 
ein  paar  Beispielen  absolut  nicht  abtun  lassen.  Bei  jeder  Wahl  er- 
geben sich  Zehntausende  von  Reklamationen,  bei  jeder  Wahl  er- 

man  jetzt  kaum  versteht,  weil  man  sich  über  die  Art,  wie  der  Wiener 
Magistrat  ehemals  —  nicht  nur  vor  der  Wahlreform,  sondern  auch  noch 
nachher,  solange  eben  die  Christlichsozialen  den  Wiener  Magistrat  be- 
herrschten —  ganz  offen  die  Wahlen  im  Interesse  der  Christlichsozialen 
fälschte,  keine  Vorstellung  machen  kann.  Noch  nach  der  Wahlreform,  wo 
die  gesetzlichen  Bestimmungen  über  die  Wählerlisten  schon  etwas  ver- 
bessert worden  waren  —  am  12.  März  1909  — ,  konnte  Abgeordneter 
Seitz  in  einer  Interpellation,  deren  Abdruck  in  der  „Arbeiter-Zeitung" 
zwölf  Seiten  füllte,  dieses  System  des  magistratischen  Wahlschwindels 
brandmarken.  Und  noch  im  Jahre  1914  machte  ein  christlichsozialer  Wahl- 
schwindler, der  Portier  des  städtischen  Gaswerkes  Guth,  in  einem  Prozeß 
als  Zeuge  Enthüllungen  über  die  Art,  wie  im  Jahre  1911,  als  der  nachmalige 
christlichsoziale  Finanzminister  Dr.  Kienböck  in  der  Leopoldstadt  gegen 
Schuhmeier  kandidierte,  vom  magistratischen  Bezirksamt  geschwindelt 
wurde.  Allerdings  hatten  die  Christlichsozialen  damals  mit  ihrem 
Schwindel  kein  Glück,  weil  es  den  Sozialdemokraten  gelungen  war,  den 
Schwindel  rechtzeitig  zu  paralysieren,  indem  sie  die  Wahlschwindel- 
zentrale aushoben.  Aber  als  dann  am  11.  Februar  1913  Schuhmeier  von 
Paul  Kunschak,  dem  Bruder  des  christlichsozialen  Führers,  ermordet 
worden  war,  war  wieder  Guth  der  Leiter  des  Wahlschwindels  und 
nun  gelang  es  den  Christlichsozialen,  das  Mandat  des  Ermordeten  in  der 
Stichwahl  mit  einer  Mehrheit  von  600  Stimmen  zu  erobern,  aber  es  wurde 
festgestellt,  daß  nicht  weniger  als  837  falsche  Legitimationen  für  die 
Christlichsozialen  abgegeben  worden  waren.  Bald  darauf  allerdings  zer- 
zankte sich  Guth  mit  seinen  Parteifreunden  und  machte  jene  Enthüllungen 
über  die  Organisation  des  Wahlschwindels,  die  alles  bestätigten,  was  die 
Sozialdemokraten  bereits  aufgedeckt  hatten.  Über  den  christlichsozialen 
Wahlschwindel  hat  Dr.  Adler  bereits  in  seiner  Rede  über  die  „M  aro- 
deure  des  K  1  e  r  i  k  a  1  i  s  m  u  s",  die  er  am  11.  Juli  1901  im  nieder- 
österreichischen  Landtag  hielt,  ausführlich  gesprochen.  (Bd.  VIII, 
Seite  420  f.) 

Hieser   christlichsozialc   Wahlschwindel  beruhte  vor   allem   auf  der  un- 
übersichtlichen   Art,    wie    die    Wählerlisten    angelegt    waren    und    im    Zu- 
Adler, Briefe.  X.  Bd.  2(5 


402  Der  Sietf  des  gleichen  Wahlrechts. 

Keben  sich  Überraschungen  in  bezug  auf  die  Listen  für  den 
Magistrat  selbst. 

Der  Magistrat  ist  nicht  imstande,  die  Listen  von  denjenigen  zu 
reinigen,  die  schon  auf  dem  Zentralfriedhof  liegen.  Ganz  abgesehen 
davon,  wessen  Schuld  das  ist,  muß  man  doch  zugeben,  daß  ein  Ge- 
fühl der  Rechtsunsicherheit  herrscht,  das  unbedingt  beseitigt  werden 
muß.  Mag  man  die  Minorität  in  Wien  mit  40  Prozent  der  Wähler 
beziffern,  so  haben  diese  40  Prozent  doch  gewiß  das  Recht,  die 
Überzeugung  zu  erlangen,  daß  ihnen  kein  Unrecht  geschehen  ist. 
Man  muß  wünschen,  daß  auch  die  Gegner  von 
diesen  ewigen  Vorwürfen  befreit  werden.  Es  liegt 
im  Interesse  aller,  daß  dieses  Gift  endlich  aus  dem  politischen 
Kampfe  beseitigt  wird.  Man  bekämpft  sich  ja  auch  in  anderen 
Ländern  politisch  bis  aufs  Messer.  Warum  erreichen  diese  Kämpfe 
bei  uns  den  furchtbaren  Charakter,  den  auch  wir  bedauern?  Weil 
über  den  politischen  Kampf  hinaus  das  Gefühl  der  Übervor- 
teilung herrscht.  Ich  habe  Gelegenheit  genommen,  eine  Reichs- 
tagswahl in  Berlin  in  allen  technischen  Details  mitzumachen  und  zu 
studieren.  Ich  bin  darüber  erstaunt  gewesen,  wie  glatt  sich  dort  alles 

sammenhang  damit  auf  dem  System  der  Legitimationen.  Während  nämlich 
in  Deutschland  die  Wählerlisten  in  den  größeren  Orten,  zum  Beispiel  in- 
Berlin, nach  Straßen  und  Häusern  angeordnet  waren,  so  daß  sie  schon 
von  den  Nachbarn  leicht  kontrolliert  werden  konnten,  war  in  Wien  die 
alphabetische  Reihung,  die  die  Kontrolle  sehr  erschwerte.  Die  Folge  war, 
daß  zahlreiche  Personen,  die  einmal  in  der  Wählerliste  gewesen  waren,, 
darin  verblieben,  wenn  sie  auch  längst  verzogen  oder  gestorben  waren. 
Ihre  Legitimationen  wurden  von  der  Post  als  unbestellbar  an  den  Magi- 
strat zurückgeschickt,  der  sie  dann  den  christlichsozialen  Wahlkomitees 
zur  „Verarbeitung"  abtrat.  Dieses  System,  das  nach  dem  Erfinder,  dem 
Leiter  des  magistratischen  Wahlkatasters,  das  System  P  a  w  e  1  k  a  genannt 
wurde,  war  die   Grundlage  der   christlichsozialen  Siege. 

Auch  die  neue  Wahlordnung  bestimmte  nun  im  §  11,  daß  die  Wähler 
jedes  Wahlbezirkes  in  alphabetischer  Ordnung  in  die  Liste  aufzunehmen 
seien.  Deshalb  beantragte  der  Wiener  fortschrittliche  Abgeordnete  Doktor 
Ludwig  Vogler,  es  sei  nach  den  Worten  „in  alphabetischer  Ordnung"" 
einzufügen:  „In  Städten  von  mehr  als  zwanzigtausend  Einwohnern  aber 
Straßen-  und  häuserweis  e".  überdies  beantragte  er,  daß  die 
Listen  auch  dauernd  zur  öffentlichen  Einsicht  aufliegen  sollen,  um  eine- 
permanente Kontrolle  zu  ermöglichen.  Der  Antrag  Vogler  wurde  von  den 
Christlichsozialen,  die  an  der  Erhaltung  des  Wahlschwindels  so  inter- 
essiert waren,  und  zwar  von  dem  christlichsozialen  Landesausschuß  Leo- 
pold Steiner  und  Dr.  Albert  G  e  ß  m  a  n  n  heftig  bekämpft,  so  daß 
Dr.  Adler  den  Eventualantrag  stellte,  die  Einführung  der  Häuserlisten,, 
wenn  nicht  vorzuschreiben,  doch  wenigstens  zuzulassen.  Der  Minister 
des  Innern,  Dr.  v.  Bienerth,  den  Adler  schon  im  Jahre  1901,  da  er  Statthalter 
von  Niederösterreich  war,  als  den  Protektor  des  christlichsozialen  Wahl- 
schwindels gebrandmarkt  hatte,  unterstützte  durch  gewundene  Redens- 
arten den  christlichsozialen  Widerstand  gegen  die  Verhinderung  des  Wahl- 
schwindels, und  so  wurde  sowohl  der  Antrag  Vogler  wie  der  Eventual- 
antrag Adler  abgelehnt.  Die  einzige  kleine  Verbesserung  des  §  11  wurde 
durch  die  Annahme  des  zweiten  Antrages  Vogler  erzielt,  daß  die  Wähler- 
listen ständig  in  Evidenz  und  zu  jedermanns  Einsicht  offen  zu  halten  sind. 


Der  Schwindel  mit  den  Wählerlisten.  403 


nach  der  technischen  Seile  abgespielt  hat.  Auch  dort  steht  bekannt- 
lich die  Majorität  der  Wählerschaft,  die  sozialdemokratische  Partei, 
mit  dem  Magistrat  und  denjenigen,  die  ihn  in  der  Hand  haben,  nicht 
auf  gutem  Fuße.  Aber  dort  fällt  es  niemand  ein,  solche  Vorwürfe  zu 
erheben,  weil  kein  Anlaß  dazu  besteht. 

Wenn  der  Abgeordnete  Steiner  darauf  verweist,  daß  die  An- 
legung der  Wählerlisten  nach  Häusern  in  Berlin  nicht  obligatorisch 
ist,  so  ist  das  doch  kein  Argument.  Tatsächlich  ist  damit  die 
Möglichkeit  einer  annähernd  tadellosen  Wählerliste  und  Wahl- 
technik erwiesen,  nicht  nur  in  Berlin,  sondern  auch  in  anderen 
Städten,  auch  in  österreichischen.  Der  einfachste  Weg  hiezu  ist  die 
Aufstellung  der  Listen  nach  Häusern.  Es  ist  ausgeschlossen,  daß 
man  bei  einer  alphabetischen  Wählerliste  zu  einer  Klarheit  kommt, 
weil  man  solche  Listen  nicht  klaglos  territorial  zerlegen  kann, 
wie  man  sie  für  die  Wahl,  die  ja  territorial  in  Sektionen  erfolgt,  be- 
nötigt. Wenn  irgendein  „Czermak"  sechsmal  in  der  alphabetischen 
Liste  vorkommt,  einmal  „C",  dann  mit  „Gz",  mit  „ck",  am  Schluß 
mit  einfachem  „k"  und  so  fort,  so  ist  das  unmöglich  zu  kontrollieren. 
Aber  der  Mann  kann  sechs  Namen  haben,  er  hat  nur  eine  Wohnung. 
Nimmt  man  seine  Wohnung  zur  Grundlage,  so  ist  ein  Unfug  aus- 
geschlossen. Die  Mehranmeldungen,  vor  denen  der  Abgeordnete 
Steiner  solche  Angst  hat,  müßten  ja  anderwärts  auch  vorgekommen 
sein;  und  in  welchem  Umfang  sind  solche  Dinge  überhaupt  möglich? 

—  abgesehen  davon,  daß  man  ja  eine  alphabetische  Wählerliste  da- 
neben führen  wird,  wie  es  jede  politische  Partei  tut.  Ich  unterstütze 
also  den  Antrag  Vogler  auf  das  wärmste.  Es  ist  dies  einer  der 
wenigen  Anträge  unter  jenen,  die  der  Abgeordnete  Dr.  Vogler 
zu  vertreten  hat,  die  ich  für  ernst  und  notwendig  halte.  Wenn  aber 
die  Regierung  einen  überflüssig  starken  Widerstand  entgegensetzen 
sollte  und  es  nicht  gelingt,  was  im  Interesse  aller  Parteien  und  eines 
vernünftigen,  würdigen  politischen  Kampfes  liegt,  diese  Bestimmung 
obligatorisch  durchzusetzen,  so  melde  ich  als  Eventualantrag 
an,  daß  es  wenigstens  wie  im  deutschen  Gesetze  fakultativ  zu 
geschehen  hätte.  Ich  bin  überzeugt,  daß  beim  Wiener  Magistrat 
nicht  nur  Parteiinteressen,  sondern  wirklich  auch  Vorurteile 
mit  im  Spiele  sind,  und  daß  manches,  was  man  heute  für  unausführ- 
bar hält,  in  naher  Zukunft  vielleicht  schon  als  das  einzig  Vernünftige 
erscheinen  wird.  Wird  im  Sinne  der  Regierungsvorlage  beschlossen,, 
so  versperrt  man  dadurch  einer  späteren  Erkenntnis  den  Weg. 

Das  geht  nicht  allein  Wien  an.  Obwohl  in  Reichenberg  anläßlich 
der  vor  kurzem  stattgehabten  Wahlen  von  irgendwelchen  größeren 
Beschwerden  im  Verhältnis  zu  den  bei  den  Wiener  Wahlen 
aufgetauchten  Beschwerden  nicht  die  Rede  war,  muß  man 
doch  zugeben,  daß  auch  dort  die  Wählerlisten  nicht  ganz  tadellos 
waren.  Es  wurde  auch  von  den  Organen,  die  mit  dieser  Wahl  zu 
tun  hatten,  sowie  von  Wählern  konstatiert,  daß,  wenn  man  die  Liste 
nach  Häusern  geführt  hätte,  die  Sache  viel  leichter  gewesen  wäre. 

—  Eine  permanente  Wählerliste,  die  mit  einem  bestimmten  Datum' 
abgeschlossen  wird,  wie  es  in  Frankreich  der  Fall  ist,  wäre  bei  uns 
schon  darum  nicht  möglich,  weil  wir  die  Seßhaftigkeit  als  Voraus- 

26* 


404  Der  Sie«  des  gleichen  Wahlrechts. 

setzung  des  Wahlrechtes  statuiert  haben.  Dr.  Vogler  hat  auch  nicht- 
permanente Wählerlisten  in  diesem  Sinne  beantragt;  sein  Antrag 
besagt  nichts  anderes,  als  daß  die  Wählerlisten  permanent  zur  Ein- 
sicht offen  stehen.  Das  ist  etwas  viel  Milderes  und  etwas,  was 
man  wirklich  ohne  Schwierigkeiten  durchführen  kann.  Es  ist  das 
eine  rein  technische  Einrichtung,  die  die  Reklamationen  wesentlich 
vereinfacht  und  erleichtert,  gar  keine  Gefahren  mit  sich  bringt  und 
nicht  einmal  technische  Vorkehrungen  besonderer  Art  braucht,  weil 
in  allen  größeren  Städten  das  Büro  des  Wahlkatasters  ohnedies  eine 
ständige  Einrichtung  ist,  die  ziemlich  viele  Beamte  beschäftigt.  Ich 
schließe  mit  der  Bitte,  die  häuserweisen  Wählerlisten  zu  bewilligen. 
Die  Regierung  und  auch  jede  Partei,  die  im  Besitz  der  kommunalen 
Macht  ist,  würde  sich  damit  den  größten  Dienst 
leisten.  Es  würde  damit  aber  auch  der  Würde  des  poli- 
tischen Kampfes  sehr  gedient. 

Abgeordneter  Dr.  Adler*)  bekämpft  noch  einmal  die  Bedenken 
gegen  die  geforderte  Anlegung  der  Wählerlisten  nach  Häusern.  Auch 
in  der  Regierungsvorlage  ist  nicht  die  reine  alphabetische  Ordnung, 
sondern  besondere  Listen  für  jede  Wahlsektion  vorgesehen.  Da  ist 
also  die  territoriale  Teilung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ja  schon 
durchgeführt,  wobei  noch  die  Einteilung  der  Wähler  in  die  Sektionen 
viel  später  erfolgt  als  die  Wahlausschreibung  selbst.  Er  bitte  noch- 
mals aus  objektiven,  im  Interesse  allerWähler  ohne 
Unterschied  der  Partei  gelegenen  Gründen,  den 
Antrag  auf  Anlegung  der  Listen  nach  Häusern  anzunehmen.  Sollte 
dies  nicht  geschehen,  so  bitte  er  den  Abgeordneten  Dr.  Geßmann, 
sich  vielleicht  seinem  Eventualantrag  zu  konformieren;  insbesondere 
aber  ersuche  er  die  Regierung,  fürdie  Zukunft  wenigstens 
den  Weg  nicht  abzuschneiden,  wenn  die  bessere  Einsicht 
gekommen  sein  wird. 

Abgeordneter  Dr.  Adler**)  weist  darauf  hin,  daß  die  ursprüng- 
lichen Wählerlisten  nach  der  Reklamation  mitunter  wesentliche 
Änderungen  aufweisen,  und  beantragt  deshalb,  am  Schluß  des  §  12, 
wo  von  der  Verabfolgung  von  Exemplaren  der  Wählerlisten  gegen 
Ersatz  der  Kosten  gesprochen  wird,  hinzuzufügen:  „und  die 
eventuellen  Nachtrag  e". 

Abgeordneter  Dr.  Adler  modifiziert  seinen  Zusatzantrag  zu  Ab- 
satz 3  wie  folgt:  „Unter  denselben  Bedingungen  sind  auch  eventuelle 
Nachträge  zur  Wählerliste  jedermann  auszufolgen."  Er  spricht  sich 
gegen  den  Antrag  Geßmann  auf  Weglassung  der  Worte:  „Vom  Be- 

*)  Diese  Rede  hielt  Dr.  Adler  unmittelbar  nachdem  Geßmann  behauptet 
hatte,  daß  der  Antrag  nur  im  Interesse  der  Sozialdemokraten  liege.  Adler 
sprach  dann  im  Laufe  der  Debatte  über  einzelne  Bestimmungen  noch 
zweimal  in  dieser  Sitzung. 

**)  Der  §  12  bestimmte,  daß  jedermann  ein  Exemplar  der  Wählerliste 
gegen  Ersatz  der  Kosten  erhalten  müsse.  Dazu  beantragte  Adler,  daß  auch 
die  eventuellen  Anträge  auszufolgen  sind.  Der  Antrag  wurde  irrtümlich 
abgelehnt,  in  der  später  modifizierten  Fassung  ist  er  dann  in  das  Gesetz 
gekommen. 


Nochmals  Wählerlisten  und  LcgiLiiualioniMi.  .    — 4I& 


gintt  der  Reklamationsfrist  an*)",  aus.  da  die  ganze  Bestim- 
ni  u  n  g  wertlos  wäre,  wenn  diese  Wort  e  ans  der 
R  e  g  i  e  r  n  n  g  S  v  o  r  1  a  g  e  w  e  g  g  e  I  a  s  s  e  n   würde  n. 

Nochmals  Wählerlisten  und 
Legitimationen. 

Ausschuß,  2  1.  September  1906. 

Abgeordneter  Dr.  Adler**)  wendet  sicli  zunächst  gegen  die  Aus- 
führungen des  Ministers  des  Innern  in  betreff  des  Antrages  Vogler, 
wonach  diejenigen,  deren  Streichung  in  der  Wählerliste  vor- 
genommen wird, 

hievon  zu  verständigen  seien. 

Der  Minister  habe  diese  Verständigung  als  eine  unnötige  Weit- 
schweifigkeit bezeichnet.  Die  Ansicht  mag  wohl  in  Landgemeinden 
und  kleineren  Städten  zutreffen,  allein  in  Wien  und  in  den  Landes- 
hauptstädten erscheine  eine  solche  Verständigung  wohl  not- 
wendig; denn  speziell  in  Wien  herrsche  im  Reklamations- 
verfahren eigentlich  ein  Ausnahmezustand.  Während  nämlich  auf 
dem  Lande  derjenige,  dessen  Reklamation  von  der  Bezifkshaupt- 
mannschaft  zurückgewiesen  wird,  das  Rekursrecht  an   die  Statt- 

.*)  Geßmann  hatte  versucht,  den  Vorteil  der  Vervielfältigung  der  Liste 
und  ihrer  Abgabe  an  jeden  Wähler  durch  einen  Kniff  illusorisch  zu  mächen. 
Der  Antrag  wurde  aber  abgelehnt,  so  daß  jeder  die  Listen  zu  einer  Zeit 
bekommen  mußte,  wo  er  sie  noch  für  die  Reklamation  verwenden  konnte. 

**)  Nach  Erledigung  der  §§  11  und  12,  die  von  den  Wählerlisten 
handelten,  wurde  am  folgenden  Tag  §  13,  der  die  Reklamationen  be- 
trifft, verhandelt.  Dabei  mußte  vor  allem  der  schwierige  Nachweis  der 
Seßhaftigkeit  erörtert  werden,  weil  der  Wähler  ja,  namentlich  in  der 
großen  Stadt,  innerhalb  der  einjährigen  Frist  oft  die  Wohnung  mehrmals 
gewechselt  hat  und  sich  für  die  Beweisführung  da  leicht  Lücken  in  den 
Dokumenten  ergeben.  Dr.  Vogler  beantragte  deshalb,  daß  die  Seßhaftigkeit 
erforderlichenfalls  von  Amts  wegen  zu  erheben  sei.  Dagegen  wendeten  der 
Minister  Bienerth  und  Dr.  Geßmann  ein,  daß  der  Reklamant  am  besten 
wisse,  wo  er  die  Ersitzungsfrist  zugebracht,  während  das  Amt  keinen 
Anhaltspunkt  dafür  habe  und  das  nur  auf  sehr  zeitraubendem  Wege  fest- 
stellen könne.  Dem  Einwurf  begegnete  ein  Eventualantrag  Adlers,  der  die 
Behörde  nur  verpflichtet,  die  von  dem  Reklamanten  über  seine  Seßhaftig- 
keit gemachten  Angaben  von  Amts  wegen  zu  ergänzen.  Dieser  Antrag 
wurde  angenommen. 

Die  zweite  Schwierigkeit  bei  der  Reklamation  betraf  die  Tatsache, 
daß  man  aus  der  Wählerliste  hinausreklamiert  werden  konnte,  ohne  sich 
dagegen  wehren  zu  können,  ja  ohne  es  vor  der  Wahl  zu  erfahren.  Deshalb 
beantragte  Dr.  Vogler,  daß  dem  Manne,  dessen  Streichung  verlangt  wird, 
vorher  Gelegenheit  gegeben  werden  müsse,  sich  zu  äußern.  Der  Minister 
wendete  dagegen  ein,  diese  Arbeit  könnten  die  Ämter  nicht  bewältigen 
und  der  Hinausreklamierte  könne  auch  später  rekurrieren.  Da  Adler  aber 
nachweisen  konnte,  daß  es  gerade  in  den  Landeshauptstädten  keinen 
Rekurs  gebe,  die  eventuell  ohne  Anhörung  des  Bedrohten  gefällte  Ent- 
scheidung also  eine  endgültige  ist,  wurde  der  Antrag  Vogler  ange- 
nommen. 


406  Der  Sic«  des  gleichen  Wahlrechts. 


lialterei  besitzt,  muß  man  in  Wien  und  in  den  Landeshauptstädten 
gleich  an  die  Statthalterei  gehen;  sie  ist  also  die  erste  und 
zugleich  auch  die  letzte  Instanz.  Es  führe  also  der  An- 
trag Vogler  keineswegs  zu  einer  unnötigen  Weitschweifigkeit,  son- 
dern er  müsse  einfach  als  eine  Vorkehrung  dagegen  bezeichnet 
werden,  daß  jemand  sozusagen  im  Schla'fe  sein  Wahlrecht  ge- 
nommen werde,  ohne  daß  er  sich  dagegen  irgendwie  wehren  kann. 

Was  den  weiteren  Antrag  des  Abgeordneten  Dr.  Vogler  anlangt, 
daß  die  politische  Behörde  das  Recht  haben  soll,  eine  Reklamation 
dann  abzuweisen,  wenn 

alle  Dokumente 
mit  Ausnahme  jener,  welche  die  Seßhaftigkeit  nachweisen,  fehlen, 
daß  aber  im  Falle  des  Fehlens  auch  der  letzteren  die  poli- 
tische Behörde  von  Amts  wegen  verpflichtet  sein  soll,  diese  selbst 
zu  erheben,  so  hat  sich  der  Minister  des  Innern  auch  gegen  diesen 
Antrag  gewendet.  Gewiß  sei  jeder  selbst  am  besten  in  der  Lage, 
anzugeben,  wo  er  sich  aufgehalten  hat,  allein  man  dürfe  die  Zu- 
stände nicht  vergessen,  in  denen  wir  tatsächlich  leben;  im  all- 
gemeinen herrsche  bei  den  Behörden  nicht  die  Auffassung,  daß  der- 
jenige, der  sein  Wahlrecht  reklamiert,  die  Behörde  wohlwollend  auf 
den  oder  jenen  Mangel  aufmerksam  zu  machen  habe  und  diese  dann 
daran  interessiert  ist,  den  Mangel  zu  beheben.  Im  französischen 
Gesetz  ist  allerdings  ausdrücklich  fixiert,  daß  derjenige,  der  eine 
Richtigstellung  verlangt,  im  öffentlichen  Interesse  handelt.  Bei  uns 
aber  ist  ein  solcher  Mann  eine  unangenehme  Person,  deren 
Bemühungen  abzuwehren  die  Behörde  auf  jede  Weise  versucht. 
Dazu  kommt,  daß  in  Wahlzeiten  selbstverständlich  eine  ungeheure 
Belastung  aller  sich  mit  den  Wahlen  befassenden  Behörden  herrscht 
und  die  Beamten  jene  Reklamationen,  die  nicht  vollständig  dem  Ge- 
setz entsprechen,  einfach  als  eine  Behelligung  auffassen.  Da  ich 
aber  fürchte,  daß  der  Antrag  des  Abgeordneten  Dr.  Vogler,  trotz- 
dem er  in  den  Verhältnissen  wohl  begründet  ist,  nicht  angenommen 
werden  könnte,  stelle  ich  für  den  Fall  der  .Ablehnung  desselben 
folgenden  Eventualantrag :  „Die  Angaben  über  die  Seß- 
haftigkeit sind  erforderlichenfalls  von  Amts 
wegen  zu  erhebe  n." 

Schließlich  beantragt  er,  daß  im  letzten  Absatz  an  Stelle  des 
Wortes  „anzuschließen"  das  Wort  „vorzulegen"  zu  setzen  sei.  Bei 
sehr  vielen  Reklamanten  bildet  das  Arbeitsbuch  das  Haupt- 
dokument, das  in  der  Regel  vom  Arbeitgeber  nur  schwer  und, 
wenn  überhaupt,  nur  auf  kurze  Zeit  zu  erlangen  sei.  Es  wäre  daher 
angezeigt,  daß  dem  Reklamanten  das  Recht  eingeräumt  werde,  sich 
mit  dem  Arbeitsbuch  zur  politischen  Behörde  zu  begeben,  wo  proto- 
kollarisch zu  vermerken  wäre,  daß  das  Arbeitsbuch  korrigiert 
wurde. 

Abgeordneter  Dr.  Adler*)  konstatiert,  daß  die  vom  Abgeordneten 

*)  Geßmann  hatte  Adler  erwidert,  daß  die  Anträge  Vogler  und  Adier 
in  Wien  undurchführbar  seien,  da  hier  mindestens  40.000  Reklamationen 
zu  erwarten  seien.  —  Adler  antwortete  ihm  sofort. 


Nochmals  Wählerlisten  und  Legitimationen.  40? 

Dr.  Geßmann  vorgebrachten  Argumente,  so  verführerisch  sie  aus 
sehen,  nicht  zutreffen.  Dr.  Geßmann  Sagte,  es  nütze  nichts,  wenn 
jemand,  der  hinausreklainiert  werden  solle,  die  Mitteilung  erhalte, 
daß  er  hinausreklainiert  werden  wird,  wenn  er  Zufällig  deshalb 
hinausreklainiert  wird,  weil  er  nicht  in  Wien  anwesend  ist.  Für  diese 
kleine  Zahl  von  Fällen  werde  eben  die  bezügliche  Mitteilung  von 
■der  Post  unerledigt  an  die  Behörde  zurückkommen.  In  neun  Zehn- 
teln der  Fälle  aber  wird  es  sich  nicht  um  die  Abwesenheit  von 
Wien,  sondern  um  eine  behauptete  Armen  Unter- 
stützung und  ähnliches  handeln,  in  welchen  Fällen  dann  die 
Leute  in  die  Lage  versetzt  werden  müssen,  sich  gegen  ein  an  ihren 
Rechten  verübtes  Attentat  zu  wehren.  In  Wien  muß  gegen  die 
Reklamation  vor  der  Entscheidung  eine  Abwehr  möglich  sein,  denn 
nach  der  Entscheidung  ist  eine  solche  unmöglich.  Der  Minister  des 
Innern  hat  es  wohlweislich  vermieden,  auf  meine  Frage,  wo  gegen 
eine  Ausscheidung  reklamiert  werden  soll,  zu  antworten.  Eine  solche 
Reklamation  ist  eben  nicht  möglich;  jede  Abweisung  ist,  da  in  den 
Landeshauptstädten  die  erste  und  die  zweite  Instanz  zusammen- 
fallen, in  Wien  ja  endgültig.  Auch  die  Argumente,  die  Abgeordneter 
Dr.  Geßmann  bezüglich  der  Seßhaftigkeit  anführte,  sind  nicht  stich- 
haltig. Sie  würden  nur  dann  zutreffen,  wenn  im  Gesetz  bestimmt 
würde,  die  Seßhaftigkeit  sei  in  allen  Fällen  von  Amts  wegen  fest- 
zusetzen. Das  wird  aber  nicht  einmal  im  Antrag  Vogler  verlangt; 
meinen  Eventualantrag  aber  trifft  die  Einwendung  des  Abgeord- 
neten Dr.  Geßmann  gar  nicht. 

Abgeordneter  Dr.  Adler*)  bemerkt,  sosehr  er  dasselbe  wünsche, 
wie  Dr.  Vogler,  halte  er  seinen  Antrag  wegen  der  Zustellung  nicht 
für  notwendig,  da  auch  der  Text  der  Regierungsvorlage  es  den  Ge- 
meinden freiläßt,  die  Zustellung  durch  die  Post  vornehmen  zu 
lassen.  Dr.  Geßmann  habe  zu  viel  bewiesen:  nämlich  daß  es  un- 
möglich sei,  die  Legitimationen  durch  die  Post  zuzustellen,  und  daß 
-dies  seit  1901  bereits  geschehen  ist.  Wenn  der  Paragraph  bleibt, 
wie  er  ist,  wird  es  künftig  sein  wie  bisher:  wo  es  für  praktisch 
angesehen  werden  wird,  wird  die  Post  zustellen,  dann  wird  man 
über  die  Post  schimpfen,  oder  es  wird  die  Kommune  zustellen,  dann 
wird  man  über  die  Kommune  schimpfen.  Eine  andere  und  gefähr- 
liche Frage  ist,  was  mit  den  nicht  zustellbaren  Legitimationen  ge- 
schieht. Diese  bilden  in  Wien  ein  Reservoir,  mit  dem  man  —  ganz 
objektiv  gesprochen,  er  führe  die  Diskussion  mit  Ausschaltung  jeder 
Verdächtigung  einer  subjektiven  Absicht  —  für  den  unmöglichen 
Fall,  daß  man  damit  Mißbrauch  treiben  will,  Mißbrauch  treiben 
kann. 

Auch  wenn  der  Antrag  Vogler  angenommen  wird,  ist  eine  abso- 
lute Sicherung  nicht  gegeben.  Vom  Wege  der  mißglückten  Zu- 
stellung bis  zur  Statthalterei  und  von  der  Statthalterei  bis  zur  Wahl- 

*)  Nach  der  Erledigung  des  §  13  kam  noch  in  derselben  Sitzung  der 
§  14  zur  Verhandlung,  der  die  Legitimationen  betraf.  Dazu  beantragte 
Dr.  Vogler,  daß  die  Zustellung  in  der  Regel  durch  die  Post  zu  erfolgen 
habe.  In  der  Vorlage  hieß  es,  daß  sie  in  die  Wohnung  zuzustellen  seien. 
Der  Antra«  wurde  dann  abgelehnt. 


408  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

kommission  ist  eine  ganze  Reihe  von  Zwischenfällen  möglich.  Es 
nützt  gar  nichts,  wenn  der  Ausschuß  jedes  Loch  verstopft,  weil 
wieder  ein  anderes  gefunden  wird.  Wenn  das  nächste  Haus 
ein-  oder  zweimal  mit  annähernd  solcher  Schärfe 
gegen  Wahlmißbräuche  vorgehen  würde  wie  der 
deutsche  Reichstag,  ohne  Unterschied  der  Partei, 
so  werden  diese  Dinge  aufhören.  Solange  sich  das  Haus 
gefallen  läßt,  daß  durch  sechs  Jahre  beanstandete  Wahlen  un- 
erledigt bleiben,  ist  dagegen  nichts  zu  machen.  Ich  möchte  daran 
den  Wunsch  knüpfen,  sich  mit  diesen  Bestimmungen  nicht  gar  so 
viel  zu  beschäftigen.  Ich  habe  ja  selbst  sehr  viele  Beschwerden; 
aber  wenn  ein  Antrag  auf  En-bloc-Abstimmung  gestellt  würde,  so 
schlucke  ich  das  Ganze  samt  den  Beschwerden. 

Öffentlichkeit  des  Wahlaktes. 

Ausschuß,  2  5.  und2 6.  September  190 6*). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  hebt  hervor,  daß  die  Geheimerklärung 
des  Wahlaktes  nicht  nur  zu  allen  möglichen  Unterschleifen,  son- 
dern auch  zu  einer  Verdächtigung  aller  an  dem 
Wahlakt  beteiligten  Funktionäre  Anlaß  geben 
k  ö  n  n  t'e.  Aus  diesem  Grunde,  um  das  Bewußtsein  der  Rechts- 
sicherheit bei  den  Wählern  zu  schaffen,  erscheine  die  Öffentlichkeit 
des  Wahlaktes  als  unbedingt  notwendig.  Er  glaube 
übrigens,  daß  der  Wahlakt  in  der  Regel  ein  öffentlicher  sein  werde 
und  daß  durch  Alinea  2  nur  für  den  Fall  Vorsorge  getroffen 
werden  soll,  als  sich  Ruhestörungen  bei  der  Wahl  ergeben  sollten. 
Aber  auch  für  diesen  Fall  sei  es  notwendig,  daß  Leute  anwesend 
sind,  die  den  Wahlakt  kontrollieren.  Was  die  Vertrauensmänner 
anlangt,  so  halte  er  dafür,  daß  es  am  einfachsten  wäre,  wenn  die 
einzelnen  politischen  Parteien  ihre  Vertrauensmänner  der  Wahl- 
kommission namhaft  machen  und  diese  die  Vertrauensmänner  im 
Sinne  der  gemachten  Vorschläge  bestimme.  Er  bittet  deshalb  den 
Ausschuß,  für  die  Anträge  der  Abgeordneten  Dr.  Stransky  und 
Dr.  Schusterschitz  zu  stimmen.  Er  verlangt  weiter  von  der  Regie- 
rung eine  Aufklärung  über  den  Widerspruch,  der  zweifellos  gelegen 
sei  zwischen  der  Bestimmung  des  §  23,  wonach  die  Wähler  nur 
einzeln  zugelassen  werden  dürfen,  und  jener  des  §  28,  wonach 
Wähler,  welche  zwar  vor  Schluß  der  Stimmenabgabe  anwesend 
waren,  ihre  Stimme  jedoch  nicht  abgeben  konnten,  zur  Wahl  zuzu- 

*)  Während  bisher  auch  in  Österreich  die  Wahl  von  der  Abgabe  der 
Stimmen  bis  zur  Verkündigung  des  Wahlresultats  öffentlich  war,  wollte  die 
Regierungsvorlage  im  §  23  das  geheime  Skrutinium  einführen  und  sie  ließ 
eine  bedenkliche  Einschränkung  der  Öffentlichkeit  bei  der  Stimmenabgabe 
zu.  Der  Wähler  hatte  das  Wahllokal  sofort  nach  Abgabe  der  Stimme  zu 
verlassen.  Überdies  sollten  Wahlagitationen  jeglicher  Art  nicht  nur  im  Wahl- 
lokal und  im  Gebäude,  sondern  auch  noch  in  dem  von  der  Bezirksbehörde 
zu  bezeichnenden  Umkreis  verboten  sein.  Am  25.  und  26.  September  wurde 
darüber  beraten. 


Öffentlichkeit  des  Wahlaktes.  4W 


lassen  seien.  Schließlich  wendet  sich  der  Redner  gegen  die  Bestim- 
mung des  §  23,  derzufolgc  während  der  Wahlhandlung  im  Wahllokal 
sowie  in  dem  (iehäude,  in  dem  sich  dieses  Lokal  befindet,  und  in  der 
näheren  Umgebung  um  das  (iehäude  in  dem  Umkreise,  welcher  von 
der  politischen  Behörde  bestimmt  wird,  Ansprachen  an  die  Wähler 
sowie  sonstige  Wahlagitation  jeder  Art  untersagt  seien.  Durch  diese 
Bestimmung  werde  in  die  Hand  der  politischen  Bezirksbehörde  eine 
allzu  große  Machtvollkommenheit  gelegt.  Für  das 
Wahllokal  selbst  könne  eine  derartige  Bestimmung  wohl  geschaffen 
werden,  damit  die  Wahlkommission  ruhig  arbeiten  könne.  Dem 
Redner  wäre  es  am  sympathischesten,  wenn  der  ganze  Satz  elimi- 
niert würde.  Da  er  aber  nicht  annehme,  daß  er  mit  einem  derartigen 
Antrag  durchdringen  könnte,  beschränke  er  sich  darauf,  zu  bean- 
tragen, daß  die  Worte:  „Sowie  in  dem  Gebäude,  in  dem  sich  dieses 
Lokal  befindet,  wie  in  der  näheren  Umgebung  um  dieses  Gebäude 
in  dem  Umkreise,  welcher  von  der  politischen  Bezirksbehörde  be- 
stimmt wird",  gestrichen  werden. 

Abgeordneter  Dr.  Adler*)  glaubt  im  allgemeinen,  daß  sich  der  Aus- 
schuß seine  Aufgabe  durch  die  zahllosen  Bedenken,  die  im  Laufe 
der  Debatte  über  die  Fassung  des  §  23  vorgebracht  wurden,  über- 
flüssigerweise kompliziere;  ein  großer  Teil  dieser  Bedenken  falle 
weg,  wenn  man  erwäge,  daß  im  Gegensatz  zu  der  bisherigen  Praxis 
die  Wahlen  nur  mehr  geheim,  schriftlich  und  direkt  erfolgen  sollen. 
Dr.  Kramarsch  gehe  mit  seinem  Antrag  über  die  Öffentlichkeit  der 
Wahlhandlung  noch  über  den  Rahme  nd  er  Regierungs- 
vorlagehin aus,  indem  er  prinzipiell  die  Öffentlichkeit  beseitigt. 
In  der  Regierungsvorlage  sei  die  Einzelzulassung  der  Wähler  nur 
in  Ausnahmefällen  aus  rein  technischen  Gründen  vorgesehen,  wäh- 
rend durch  den  Antrag  Kramarsch  die  Einzelzulassung  zur  Regel 
erhoben  werde.  Der  Ausschuß  nehme  in  dieser  Frage  eine  Haltung 
ein,  als  ob  das  Wählen  eine  österreichische  Erfindung  wäre,  als  ob 
man  in  der  ganzen  Welt  überhaupt  noch  nicht  gewählt  hätte  und 
der  Ausschuß  jetzt  sich  darüber  den  Kopf  zerbrechen  müßte,  all  die 
Schwierigkeiten,  welche  bei  Wahlen  zutage  treten  könnten,  zu  be- 
seitigen. Was  speziell  die  sozialdemokratische  Partei  anlange,  so 
sei  die  Arbeiterschaft  durch  eine  Reihe  von  Verfügungen,  die  man 
jetzt  zu  treffen  beabsichtigt,  nicht  berührt;  denn  die  Arbeiter 
wählen  in  der  Regel  zeitlich  früh.  Das  dürfe  aber  nicht  als  eine  Be- 

*)  Am  zweiten  Verhandlungstag  beantragte  Dr.  Kramarsch,  daß 
dem  Wahlakt  auf  Wunsch  der  wahlwerbenden  Parteien  zwei  bis  fünf,  in 
größeren  Städten  bis  zu  zehn  Vertrauensmänner  aus  der  Mitte  der  Wahl- 
berechtigten beizuziehen  seien,  die  bis  zur  Verkündigung  des  Wahlergeb- 
nisses dem  Wahlakt  anzuwohnen  berechtigt  seien.  Dr.  Stransky 
(mährischer  Jungtscheche,  in  der  tschechoslowakischen  Republik  Handels- 
minister  und  später  Senator)  beantragte,  daß  der  ganze  Wahlakt  mit  Ein- 
schluß des  Skrutiniums  öffentlich  sein  solle.  Das  Ergebnis  der  Beratungen 
war  die  Annahme  des  Antrages  Kramarsch,  der  es  zwar  zuließ,  daß  die 
Wahlkommission  den  Wählern  den  Zutritt  zum  Wahllokal  nur  einzeln  ge- 
v'atte,  aber  das  Institut  der  Vertrauensmänner  der  Parteien  einführte,  die 
atll  jeden  Fall   anwesend  sein  durften. 


410  Der  Sieg  des  gleichet  Wahlrechts. 

gründung  dafür  bezeichnet  werden,  daß  es  von  vornherein  aus- 
geschlossen sein  soll,  daß  sich  Wähler  im  Wahllokal  aufhalten.  Der 
Antrag  Kramarsch  werde  jedenfalls,  auch  wenn  er  noch  so  gut  er- 
scheinen mag,  eine  schwere  Einschränkung  der  Wahl- 
handlung zur  Folge  haben. 

Was  die  Bestimmung  hinsichtlich  der  Agitation  in  der  Nähe  des 
Wahllokals  anlange,  so  beharre  er  auf  seinem  Antrag,  wolle  ihn 
jedoch  insofern  modifizieren,  als  er  nur  die  Auslassung  der  Worte: 
„und  in  der  näheren  Umgebung ...  bis  bestimmt  wird",  beantrage. 
Er  bittet  den  Ausschuß,  für  den  Antrag  des  Abgeordneten 
Dr.  Stransky,  der  die  volle  Öffentlichkeit  des  Wahlaktes  bezweckt, 
zu  stimmen. 

Wahlprüfung. 

Ausschuß,  2  7.  September  190 6*). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  konstatiert  zunächst  gegenüber  den  im 
Laufe  der  Debatte  über  die  Agnoszierung  der  Wahl  des  Abgeord- 
neten Seitz  gefallenen  Bemerkungen,  daß  nicht  nur  nicht  der  Protest 
gegen  die  Wahl  des  Abgeordneten  Seitz,  sondern  überhaupt  nur 
sehr  wenige  Wahlproteste  erledigt  worden  seien,  und  daß  in  dem 
fertiggestellten  Referat  über  die  Wahl  des  Abgeordneten  Seitz  als 
einzig  belangreicher  Punkt  das  Überschreiten  des  Mandats  durch 
die  Wahlkommission,  die  nicht  aus  Parteigenossen  des 
Abgeordneten  Seitz  bestanden  habe,  angeführt  er- 
scheine. In  der  Sache  selbst  stimme  er  mit  den  Anschauungen  der- 

*)  Am  27.  September  erledigte  der  Ausschuß  im  wesentlichen  die  Be- 
ratung der  Regierungsvorlage,  mit  Ausnahme  der  zurückgestellten  Para- 
graphen. Es  war  vor  allem  noch  der  §  5  zu  erledigen,  bei  dem  der  ange- 
kündigte Pluraiitätsantrag  verhandelt  werden  sollte,  dann  die  von  Hohen- 
lohe  angeregte,  aber  viel  bestrittene  Bestimmung,  die  die  Wahlkreisein- 
teilung unter  den  Schutz  der  Zweidrittelmehrheit  stellte;  ferner  die  Wahl- 
kreiseinteilung für  Böhmen  und  Mähren,  die  nun  fertiggestellt  worden 
war,  und  schließlich  der  Artikel  II  des  Grundgesetzes,  zu  dem  das  Sub- 
komitee   seine   vier   Resolutionen  beschlossen  hatte. 

Schließlich  kündigte  noch  der  oberösterreichische  Klerikale  Schlegel 
einen  Antrag  über  die  Wahlpflicht  an.     . 

In  der  Sitzung  selbst  wurde  zunächst  die  Angelegenheit  der  g  a  1  i  z  i- 
sehen  Doppelwahlbezirke  geregelt,  in  denen  der  Schutz  der  polni- 
schen Minderheit  dadurch  gewährleistet  wurde,  daß  auch  der  Kandidat,  der 
ein  Drittel  der  Stimmen  erhielt,  das  Minderheitsmandat  erhielt;  dazu 
wurde  nun  bestimmt,  daß  zugleich  auch  für  jeden  Abgeordneten  ein  Ersatz- 
mann gewählt  werden  sollte,  der  beim  Ausscheiden  des  Abgeordneten  ohne 
Wahl  an  seine  Stelle  treten  sollte.  Dann  wurde  zur  Frage  der  Doppel- 
wahlen beschlossen,  daß  der  zweimal  gewählte  Abgeordnete  längstens 
acht  Tage  nach  der  Konstituierung  des  Hauses  zu  erklären  habe,  welche 
Wahl  er  annehme. 

Nun  kam  die  Frage  der  Wahlprüfung  zur  Verhandlung.  Dabei 
wurde  es  von  Stein  als  sonderbar  erklärt,  daß  über  die  Wahl  des  Ab- 
geordneten Seitz  (der  bekanntlich  in  der  Zensuswahl  im  Städtewahl- 
bezirk  Korneuburg-Floridsdorf   gegen  den   Deutschnationalen   Richter    mit 


Walilpriiiimn.  411 


jenigen  überein,  die  die  bisher  geübte  Praxis  als  einen  geradezu 
unwürdigen  Zustand  bezeichnen.  Er  werde  auch  jeden  Antrag,  der 
geeignet  sei,  in  Hinkunft  ein  derart  bedauerliches  Vorgehen  zu  ver- 
hindern, aufs  wärmste  unterstützen.  Er  sei  aber  nicht  so  pessimi- 
stisch, um  zu  Klauben,  daß  das  künftige  Haus  auf  einem  noch 
niedrigeren  Niveau  als  das  gegenwärtige  oder  im  besten  Falle  auf 
•demselben  Niveau  stehen  werde.  Im  Gegenteil  liefere  der 
deutsche  Reichstag  den  Beweis,  daß  ein  auf  Grund 
des  allgemeinen  Wahlrechtes  gewähltes  Parla- 
ment in  diesen  Dingen  objektiv  und  prompt  vor- 
gehe. Die  politische  Moral  sei  im  Deutschen  Reiche  auf  diese 
Weise  außerordentlich  gehoben  worden,  und  da  die  Österreicher 
gewiß  nicht  schlechter  veranlagt  sind  als  die  Deutschen,  sei  zu 
hoffen,  daß  sich,  wenn  nur  einmal  demokratische  Institutionen  in 
Österreich  bestehen,  auch  das  neue  Parlament  auf  dieselbe  Höhe 
erheben  werde  wie  der  deutsche  Reichstag. 

Was  den  Antrag  des  Abgeordneten  Dr.  Vogler  anlangt,  so  sei 
•es  ja  gewiß  außerordentlich  verlockend,  einen  vermeintlich  objek- 
tiven, außenstehenden  Richter  zur  Entscheidung  anzurufen.  Er  habe 
aber  das  Bedenken,  daß  es  nicht  angezeigt  erscheine,  daß  das 
Parlament  seine  eigenen  Befugnisse  auf  außenstehende  Körper- 
schaften übertragen  soll.  Auf  jeden  Fall  sei  es  bei  Beratung  dieser 
Vorlage  und  in  diesem  Zusammenhange  technisch  ein  Ding  der 
großen  Unwahrscheinlichkeit,  daß  ein  Antrag  auf  Schaffung  eines 
Wahlgerichtshofes  jetzt  erledigt  werden  könnte.  So  sehr  er  die 
Motive  des  Abgeordneten  Dr.  Vogler  würdige,  müsse  er  doch  den 
Ausschuß  davor  warnen,  dem  §  40  eine  Stilisierung  zu  geben, 
durch  welche  eine  Erledigung  des  ganzen  Gesetzes  ohne  Einsetzung 
eines  Wahlgerichtshofes  unmöglich  gemacht  und  die  ganze  Vorlage 
in  ein  Junktim  mit  einem  derzeit  noch  ziemlich  nebulosen  Vorschlag 
gebracht  werde. 

Auch  der  Antrag  des  Abgeordneten  Hruby  klinge  ganz  plausibel. 
Jedoch  müsse  wieder  erwogen  werden,  daß  hier  eigentlich  ein  ganz 
unlogischer  Zustand  geschaffen  werde,  denn  es  könne  ganz  leicht 
der  Fall  eintreten,  daß  der  Ausschuß  zwar  sein  Referat  fertiggestellt 
habe,  daß  jedoch  aus  in  der  Geschäftsordnung  gelegenen  Gründen 
die  Verhandlung  über  diesen  Bericht  nicht  auf  die  Tagesordnung 
gelangen  kann.  Er  hält  es  also  im  allgemeinen  überhaupt  nicht  für 

2737  gegen  2679  Stimmen  gewählt  worden  war)  kein  Bericht  erstattet 
werde.  Darauf  erwiderte  Dr.  Vogler,  daß  er  nach  genauer  Prüfung  der 
Akten  einen  Grund  für  eine  Nichtigkeit  der  Wahl  nicht  finde,  daß  kein 
Anlaß  sei,  gerade  über  diese  Wahl  zu  berichten,  wo  andere,  heftig  an- 
gefochtene Wahlen  bestehen  bleiben,  und  daß  deshalb  die  Mitglieder  des 
Ausschusses  gewünscht  hätten,  es  wären  alle  Referate  auf  einmal  dem 
Hause  vorzulegen. 

In  der  Debatte  beantragte  Dr.  Vogler  die  Errichtung  eines  Wahl- 
gerichtshofes, der  tschechische  Agrarier  Hruby  beantragte,  daß 
das  Haus  binnen  sechs  Monaten  die  Wahlen  prüfen  müsse,  widrigenfalls 
das  Mandat  als  agnosziert  (anerkannt)  gelte.  Diese  Anträge  wurden  aber 
abgelehnt. 


412  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

opportun,  daß  sich  der  Ausschuß  mit  Dingen  beschäftige,  die  eigent- 
lich dem  neuen  Hause  überlassen  werden  sollten.  In  diesem  Hause 
werde  eine  ganz  andere  Luft  wehen  als  im  Kurienparlament  und 
es  werde  sicherlich  auch  mehr  Ehre  im  Leibe  haben. 

Die  Wahlpflicht. 

Ausschuß,    1.    Oktober    190  6*). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  konstatiert,  daß  die  gegenwärtig  in  Dis- 
kussion stehende  Frage  von  der  bisherigen  Richtung  und  Tendenz 
der  ganzen  Verhandlungen  und  des  Wahlrechtskampfes  überhaupt 
abweiche.  Das  Wesen  des  Wahlrechtskampfes  besteht  darin,  daß 
man  denjenigen  Leuten,  die  bisher  wählen  wollten,  hiezu  aber  ent- 
weder gar  nicht  oder  nur  in  ganz  unwirksamer  Weise  zugelassen 
wurden,  nunmehr  das  Recht  gibt,  zu  wählen.  In  der  Debatte  über 
die  Wahlpflicht  beschäftigt  man  sich  aber  mit  denjenigen  Leuten, 
die  nicht  wählen  wollen,  hiezu  aber  gezwungen  werden 
sollen.  Er  verwahrt  sich  dagegen,  daß  man  die  Wahlpflicht,  wie 
dies  Abgeordneter  Dr.  v.  Grabmayr  getan  habe,  von  dem  Gesichts- 
punkt der  Einschränkung  der  Freiheit  betrachte.  Würde  er 
selbst  bloß  das  Interesse  seiner  eigenen  Partei  im  Auge  haben, 
dann  hätte  er  keinen  Anlaß,  allzu  scharf  gegen  die 
Statuier  ung  der  Wahlpflicht  aufzutreten,  und  er 
glaube,  man  mache  sich  in  den  Kreisen,'  welche  jetzt  so  sehr  für 
die  Wahlpflicht  eingenommen  sind,  viel  zu  übertriebene  Vor- 
stellungen von  den  Vorteilen,  die  den  reaktionären  oder  konser- 
vativen Parteien  aus  der  Einführung  der  Wahlpflicht  erwachsen 
könnten.  Nach  der  Ansicht  des  Redners  liege  in  der  Wahlpflicht 

eine  reaktionäre  Tendenz 

und  aus  diesem  Grunde  bekämpfe  er  sie  und  werde  auch  gegen 
deren  Einführung  stimmen:  nämlich  die  Tendenz,  das  Gewicht  jener 
Bevölkerungsschichten  zur  Geltung  zu  bringen,  die  politisch 
am  allerwenigsten  nachdenken  und  eigentlich 
keinen  politischen  Willen  besitzen.  Diese  Bevölke- 
rungsschichten finden  sich  an  der  Spitze  des  Bürgertums,  und  zwar 
sind  das  diejenigen  Leute,  die  entweder  zu  faul,  zu  gedanken- 
1  o  s  sind  oder  sich  für  zu  vornehm  halten,  sich  um  Politik  zu 
kümmern.  Sie  befinden  sich  weiter  in  jenen  Kreisen  der  Bevölke- 

*)  In  der  vorigen  Sitzung  hatte  der  Abgeordnete  Dr.  Schlegel  an- 
gekündigt, daß  er  einen  Antrag  auf  Einführung  der  Wahlpflicht  einbringen 
werde.  Nachdem  der  Antrag,  der  offenbar  von  den  Wiener  Christlich- 
sozialen angeregt  war,  in  gewissen  Kreisen  durchberaten  worden  war, 
wurde  er  nun  eingebracht.  Danach  soll  als  letzter  Absatz  des  §  4  folgende 
Bestimmung  aufgenommen  werden: 

Der  Landesgesetzgebung  bleibt  es  überlassen,  die  Wahlberechtigten 
zur  Abgabe  ihrer  Stimme  bei  den  Wahlen  der  Mitglieder  des  Abgeord- 
netenhauses des  Reichsrates  zu  verpflichten  und  die  erforderlichen 
Durchführungsbestimmungen  festzusetzen. 


Die  Wahlpflicht.  413 


ruug,  die  deklassiert  sind  und  ein  politisches  Interesse  über- 
haupt nicht  haben,  und  schließlich  in  jenen  Ständen,  die  sich  aus 
Unbildung  oder  infolge  des  Milieus,  in  dem  sie  leben,  wie  beispiels- 
weise die  Klasse  der  Bedienten,  an  der  Politik  nicht  beteiligen. 

In  der  Absicht,  diese  Schichten  mit  Polizeigewalt  zu  einer  poli- 
tischen Meinungsäußerung  zu  zwingen,  liegt  die  Tendenz,  den 
politisch  nicht  Denkenden  ein  Über- 
gewicht über  die  politisch  Denkenden  zu 
geben.  Es  ist  auch  selbstverständlich,  daß  Leute,  die  mit  Polizei- 
gewalt zur  Urne  getrieben  werden  müssen,  nichtpolitischen  Beein- 
flussungen zugänglicher  sind,  und  es  ist  ebenso  selbstverständlich, 
daß  es  unter  Umständen,  wenn  es  sich  um  zwei  Parteien  handelt, 
die  einander  an  Stimmenzahl  ungefähr  gleich  sind,  gelingen  kann, 
durch  die  Heranziehung  von  Elementen,  die  keiner  Partei  an- 
gehören und  politisch  gedankenlos  sind,  das  Schwergewicht  der 
Wahl  auf  die  eine  oder  die  andere  Seite  zu  bekommen.  Darin 
liegt  der  Grund,  warum  die  Sozialdemokraten  die  Einführung  der 
Wahlpflicht  als  eine  Maßregel  reaktionärer  Natur  ansehen  und  da- 
gegen sind.  Er  wolle  zugeben,  daß  sich  an  die  Wahlpflicht  auch 

Gedankengänge  demokratischer  Art 

knüpfen  können,  allein  die  Einführung  der  Wahlpflicht  werde  den 
Wählern  die  Ausübung  des  Wahlrechtes  als  etwas  Lästiges,  als 
etwas  von  dem  Ausdruck  ihrer  politischen  Überzeugung  Los- 
getrenntes, als  eine  unangenehme  Behelligung  und  Zeremonie 
erscheinen  lassen.  Die  günstigen  Erfahrungen,  welche  die 
Sozialdemokraten  in  Belgien  mit  der  Einführung  der  Wahlpflicht 
gemacht  haben,  mildern  die  prinzipielle  Abneigung  des  Redners 
gegen  die  Einführung  wesentlich.  In  Belgien,  wo  die  Wahl- 
pflicht ursprünglich  aus  reaktionären  Interessen  statuiert  wurde, 
haben  im  Laufe  der  Jahre  gerade  die  Sozialdemokraten 
am  meisten  Vorteil  aus  der  Wahlpflicht  gezogen, 
weil  es  einfach  die  Staatsgewalt  übernommen  hat,  die  Wähler  voll- 
zählig zur  Urne  zu  bringen,  wodurch  der  Partei  eine  Menge 
Schwierigkeiten  und  Kosten  erspart  blieben.  Er  sehe  deshalb  auch 
die  eventuelle  Einführung  der  Wahlpflicht  in  Österreich  nicht 
als  einen  casus  bellian.  Er  würde  aber,  auch  wenn  er  über- 
zeugt wäre,  durch  diese  seine  Haltung  der  eigenen  Partei  zu 
schaden,  gegen  die  Wahlpflicht  Stellung  nehmen,  weil  er  es  nicht 
billigen  könnte,  daß  jenen  Elementen  der  Bevölkerung,  die  poli- 
tischen Willen  besitzen,  solche  entgegengesetzt  werden,  die  keine 
politische  Anschauung  haben.  Er  müsse  es  auch  als  eigentümlich 
bezeichnen,  daß  der  Versuch,  die  Wahlpflicht  in  Österreich  einzu- 
führen, 

so  spät 

gemacht  werde.  Es  sei  gewiß  richtig  gewesen,  in  erster  Linie  an 
die  nationale  Aufteilung  der  Mandate  zu  gehen;  aber  dies  geschah 
nur  unter  der  stillschweigenden  Voraussetzung,  daß  die  in  der 
Regierungsvorlage  enthaltenen  Grundsätze  unverändert  an- 
genommen werden.  Nun  sei  wohl  die  Einführung  der  Wahlpflicht 


414  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

insbesondere  von  christlichsozialer  Seite  wiederholt  als  wünschens- 
wert bezeichnet  worden;  aber  kein  Mensch  konnte  vermuten,  daß 
die  Wahlpflicht  eine  der  Grundlagen  der  Wahlreform  werden  soll, 
und  deshalb  scheint  ja  auch  Abgeordneter  Dr.  Schlegel  den  außer- 
ordentlich klugen  Weg  eingeschlagen  zu  haben,  daß  die  Land- 
tage mit  der  Gesetzgebung  über  die  Wahlpflicht  betraut  werden, 
da  er  selbst  nicht  glaube,  daß  die  Wahlpflicht  noch  jetzt  in  die 
Regierungsvorlage  aufgenommen  werden  wird.  Klug  ist  der  An- 
trag deswegen,  weil  in  unserem  Parlament  einerseits  Leute  sitzen, 
die,  wenn  sie  das  Wort  „Landtage"  hören,  das  objektive  Urteil  über 
den  Inhalt  eines  Antrages  gänzlich  verlieren  und  sich  einfach  als 
Autonomisten  fühlen,  und  andererseits  wieder  Leute,  die,  wenn  sie 
in  einem  Antrag  das  Wort  „Landtage"  finden,  absolut  nein  sagen 
und  sofort  gegen  den  Antrag  eingenommen  sind.  Es  steht  somit  zu 
befürchten,  daß  die  Abstimmung  über  den  Antrag  Schlegel  nicht 
eine  Abstimmung  darüber  sein  wird,  ob  die  Einführung  der  Wahl- 
pflicht in  Österreich  nützlich  oder  schädlich  ist,  sondern  darüber,, 

ob  man  _ 

den  Landtagen 

etwas  überlassen  soll  oder  nicht.  Er  glaube,  daß  selbst  der  Ab- 
geordnete Dr.  v.  Grabmayr  den  Antrag,  der  ja  die  Durchführung 
der  Wahlreform  nicht  gerade  erleichtere,  nicht  so  entschieden  be- 
kämpft hätte,  wenn  damit  die  Autonomiefrage  nicht  verbunden 
wäre.  Wenn  man  aus  der  bisherigen,  teilweise  sehr  schwachen 
Wahlbeteiligung  ein  Argument  für  die  Einführung  der  Wahlpflicht 
konstruieren  wolle,  so  müsse  konstatiert  werden,  daß  die 

Wahlbeteiligung 

überall  dort  eine  verhältnismäßig  schwächere  war,  wo  bisher  ent- 
weder indirekt  gewählt  wurde  oder  wo  die  Wahl  in  der  fünften 
Kurie  das  Wahlrecht  nicht  nur  in  dieser,  sondern  auch  in  den 
anderen  Kurien  entwertet  hat  und  wo  durch  die  Schaffung  un- 
geheuer großer  Wahlkreise  das  Wählen  weniger  interessant  ge- 
worden ist.  Nun  geht  es  aber  nicht  an,  die  bisherigen  Verhältnisse 
mit  den  kommenden  zu  vergleichen,  und  diejenigen,  die  eine  inten- 
sivere Teilnahme  der  Bevölkerung  an  dem  politischen  Leben  herbei- 
führen wollen,  werden  die  Überzeugung  gewinnen,  daß  hiezu  nicht 
die  Anwendung  von  Polizeigewalt  notwendig  ist,  sondern  daß  die- 
jenigen Neuerungen  genügen,  die  eben  durch  die  Wahlreform  ge- 
schaffen werden. 

Ein  Versuch,  der  Landesregierung  die  Regelung  der  Wahlpflicht 
zu  übertragen,  liege  ja  übrigens  in  Österreich  bereits  vor.  Der  §  13 
des  Wiener  Gemeindestatutes  bestimmt,  daß  die  Verpflichtung  der 
Wähler  zur  Ausübung  des  Gemeindewahlrechtes  durch  ein  b  e- 
sonderes  Landesgesetz  zu  normieren  sei.  Dieses  Gesetz 
sei  aber  bis  heute  nicht  geschaffen,  weil  die  christlich- 
soziale Partei  auf  den  Widerstand  der  Regierung  gestoßen  ist,  den 
sie  nicht  überwunden  hat.  Es  ist  auch  vorauszusehen,  daß  in  allen 
anderen  Ländern  ein  derartiges  Gesetz  nicht  zum  Beschluß  erhoben 
würde.  Es  wäre  übrigens  auch  ganz  unzulässig,  daß  die  L  a  n  d- 


Die  Pluralität.  41  r> 


t  a  g  c  darüber  entscheiden,  wie  das  R  e  i  c  h  s  r  a  t  $  w  a  h  1  r  e  c  h  t 
auszuüben  sei.  Man  kann  Joch  dein  Landtag  nicht  das  Recht  über- 
trafen, nicht  nur  ein  Prinzip  einzuführen,  sondern  auch  ein  neues 
Gesetz  ZU  schaffen,  das  dem  Reichsrat  einfach  oktroyiert  wird,  ohne 
daß  er  auch  nur  die  Möglichkeit  hätte,  liier  einzugreifen.  Das  ist 
verfassungstechnisch  eine 

absolute  Unmöglichkeit, 

und  so  wird  der  Vorteil,  den  Abgeordneter  Dr.  Schlegel  dadurch 
zu  erreichen  suchte,  daß  er  einzelnen  Herren  seinen  Antrag  durch 
die  Übertragung  der  Gesetzgebung  an  die  Landtage  sympathischer 
gemacht  hat,  reichlich  dadurch  aufgehoben  werden,  daß  er  damit 
etwas  vorgeschlagen  hat,  was  auch  Leute,  die  sonst  nicht  Zentra- 
listen  sind,  aus  prinzipiellen  Gründen  unmöglich  zugeben  könnten. 
Was  die  Anregung  des  Abgeordneten  Dr.  Schlegel  hinsichtlich  der 
technischen  Durchführung  anlangt,  so  muß  sie  für  jeden  Kenner  der 
Wahltechnik  als  nicht  durchführbar  erscheinen.  Es  wäre  ganz  aus- 
geschlossen, der  Wahlkommission  ein  Jurisdiktionsrecht  einzu- 
räumen, auch  wäre  die  Höhe  der  Strafen,  wie  sie  vom  Abgeordneten 
Schlegel  angeregt  wurde,  viel  zu  gering  und  ich  würde,  falls  man 
schon  die  Einführung  der  Festsetzung  von  Geldstrafen  beschließt, 
dafür  eintreten,  daß  ein  Minimum  von  zwei  Kronen  festgesetzt 
werde,  daß  aber  die  Strafe  dem  Betrag  der  Personaleinkommen- 
steuer eines  Jahres  gleichzukommen  hätte. 

Deshalb  ersuche  ich  Sie  den  Antrag  Schlegel  abzulehnen,  nicht 
weil  er  föderalistisch  oder  reaktionär  ist,  sondern  weil  damit  eine 
Maßregel  getroffen  würde,  die  in  der  vorgeschlagenen  Form  ver- 
fassungsmäßig unmöglich  war  e*). 

Die  Pluralität. 

Ausschuß,  3.  Oktober  1906**). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  bemerkt,  daß  man  mit  der  Diskussion 
über  §  5  eigentlich  zum  Anfang  der  Diskussion  über  das  Wahlrecht 
zurückgekommen  sei.  Meine  Empfindung  und  die  der  gesamten  Be- 
völkerung ist,  daß  man  hier  über  eine  res  iudicata,  über  eine  Sache 

*)  Nachdem  Adler  seinen  Standpunkt  dargelegt  hatte,  setzte  sich 
üeßmann,  der  eigentliche  Vater  des  Plans,  leidenschaftlich  für  die  Wahl- 
pflicht ein,  appellierte  an  die  Solidarität  der  bürgerlichen  Parteien  gegen 
den  „Terrorismus"  und  die  „bewundernswerte"  Organisation  der  Sozial- 
demokratie. Der  Minister  B  i  e  n  e  r  t  h  fand  den  Gedanken  „erwägenswert" 
und  überließ  dem  Ausschuß  die  Entscheidung.  Es  wurde  dann  ein  S  u  b- 
komitee  gewählt.  Schließlich  wurde  es  den  Landtagen  überlassen,  die 
Wahlpflicht  einzuführen.  Der  niederösterreichische  Landtag  hat  die  Wahl- 
pflicht schon  am  24.  Dezember  1906  beschlossen. 

**)  Als  die  Wahlreformfeinde  sahen,  daß  die  Wahlreform  nicht  mehr  zu 
verhindern  sei  und  als  alle  Intrigen  hintertrieben  waren,  sammelten  sie  ihre 
Kräfte  in  dem  Angriff  auf  das  gleiche  Wahlrecht.  Auf  einem  Umweg  sollte 
den  Arbeitern  das  eben  gewährte  Wahlrecht  wieder  gestohlen  werden.  Die 


416  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

spreche,  die  bereits  von  allen  gesetzlichen  Faktoren,  vom  Parla- 
ment, von  der  Regierung  und  von  der  Krone  erledigt  ist.  Man  ist 
in  die  Diskussion  über  die  Wahlkreiseinteilung  und  über  die  Wahl- 
ordnung unter  der 

Voraussetzung  des  gleichen  Wahlrechtes 

eingetreten.  Als  der  Ministerpräsident  Qautsch  am  23.  Februar  die 
Wahlreform  mit  den  Worten  vorgelegt,  daß  sie  auf  dem 
Grundgedanken  der   Beseitigung  aller   Wahlvor- 

Feudalen  hatten  den  feinen  Plan  eines  Pluralwahlrechts  ausgeheckt  und 
fanden  bei  einem  Teil  der  Klerikalen  eitrigste  Unterstützung. 

Am  19.  September  hatte  der  Tiroler  Klerikale  Dr.  Tollinger  (Ab- 
geordneter der  Landgemeinden  von  Schwaz)  angekündigt,  daß  er  einen  An- 
trag über  die  Einführung  des  Mehrstimmenrechtes  einbringen  werde,  den 
er  zunächst  den  Klubs  zur  Beratung  zugestellt  habe  und  der  Ausschuß  hatte 
deshalb  die  Beratung  des  §  5  zurückgestellt,  der  festsetzt,  daß  jeder  Wähler 
eine  Stimme  hat.  Am  2.  Oktober  wurde  endlich  der  Antrag  eingebracht. 
Er  gab  sich  als  Abänderungsantrag  zum  §  5  und  hatte  folgenden  Wortlaut: 

Das  Wahlrecht  kann  nur  persönlich  ausgeübt  werden. 

Jeder  Wahlberechtigte  hat  das  Recht  auf  eine  Stimme. 

Das  Recht  auf  eine  weitere  Stimme  haben  jene   Wahlberechtigten, 

a)  welche  das  35.  Lebensjahr  vollendet  haben,  verheiratet  oder  ver- 
witwet und  Väter  wenigstens  eines  ehelichen  Nachkommens  sowie  In- 
haber einer  selbständigen  Wohnung  als  Eigentümer,  Nutznießer  oder 
Mieter  sind; 

b)  welche  an  einer  inländischen  Mittelschule  oder  Lehrerbildungs- 
anstalt die  Reifeprüfung  abgelegt  oder  eine  den  Mittelschulen  in  bezug 
auf  das  Einjährigfreiwilligenrecht  bei  Ableistung  der  militärischen  Prä- 
senzdienstpflicht gleichgestellte  Fachschule  mit  Erfolg  absolviert  haben; 

c)  welche  eine  selbständige  Unternehmung  betreiben  oder  eine 
Liegenschaft  besitzen,  wofür  direkte  landesfürstÜche  Steuern  im 
Mindestbetrage  von  jährlich  25  Kronen  in  dem  der  Wahlausschreibung 
vorangehenden  Steuerjahr  vorgeschrieben  waren  und  bis  zur  Wahl- 
ausschreibung tatsächlich  entrichtet  wurden. 

Durch  die  Landesgesetzgebung  kann  bestimmt  werden,  daß  der 
Mindestbetrag  von  25  Kronen  im  betreffenden  Kronland,  jedoch  nicht 
unter  den  Betrag  von  8  Kronen  ermäßigt  werde. 

Jenen  Wahlberechtigten,  bei  denen  eine  der  im  vorstehenden  Ab- 
satz a  bis  c  aufgeführten  Voraussetzungen  zutrifft,  kommen  zwei  Wahl- 
stimmen zu. 

Jenen  Wahlberechtigten,  bei  welchen  mindestens  zwei  von  den  er- 
wähnten Voraussetzungen  zutreffen,  kommen  drei  Wahlstimmen  zu. 

Wahlberechtigte,  welchen  mehr  als  eine  Stimme  zukommt,  können 
die  Wahlstimmen  nur  einem  Wahlwerber  zuwenden. 

In  der  Debatte  sprach  auch  der  Ministerpräsident  Beck.  Aber  er  wagte 
es  nicht,  energisch  gegen  die  Pluralität  aufzutreten.  Wohl  sagte  er,  man 
dürfe  nicht  die  günstigen  Wirkungen,  die  man  der  Wahlreform  verdanke, 
nämlich  die  feste  Verankerung  des  Staatsgedankens  bei  den  großen  Massen, 
preisgeben.  Aber  im  wesentlichen  hoffte  er  die  Gegner  der  Wahlreform 
noch  umzustimmen  und  so  erzählte  er,  wie  sich  die  Regierung  alle  Mühe 
gegeben  habe,  ein  Pluralitätssystem  zu  finden,  das  möglich  wäre,  ja  er  er- 
klärte, es  lasse  sich  nicht  leugnen,  daß  die  Bevorrechtung  des  Alters  und 


Die  Plitfalität.  417 


rechte  und  jedes  Zensus  beruhe,  sprach  er  damit  aus, 
daß  die  Krone  und  die  Regierung  einig  sind,  das  allgemeine,  gleiche 
Wahlrecht  einzuführen.  Eis  hat  deshalb  auf  mich  einen  eigentüm- 
lichen Kindruck  gemacht,  als  Ministerpräsident  Baron  Heck  er- 
wähnte, daß  sich  auch  die  Regierung  vielfach  mit  Frwägungen  und 
Möglichkeiten  des  Pluralwahlrechtes  noch  bis  vor  kurzer  Zeit 
abgegeben  hat.  Die  Regierung  des  Baron  Beck  hat  ja  erklärt,  sie 
übernehme  die  Erbschaft  der  Regierungsvorlage  des  Baron  (iautscli 
und  sie  werde  diese  Vorlage  zum  Siege  tragen.  Kein  Mensch  konnte 
dabei  etwas  anderes  denken,  als  daß  Baron  Beck  das  allgemeine, 
gleiche  Wahlrecht  zum  Siege  bringen  wolle.  Trotzdem  ich  diese 
Erklärung  der  Regierung  ein  wenig  inkonsequent  oder  u  n- 
logisch  finde,  hat  sie  doch  auf  mich  einen 

recht  beruhigenden  Eindruck 

gemacht;  denn  wenn  sich  die  Regierung,  die  in  der  Durchbringung 
dieser  Vorlage  ihre  Lebensaufgabe  erblicken  muß,  bemüht  hat, 
Wege  zu  suchen,  ob  man  nicht  den  Wünschen  der  Herren,  die  das 
gleiche  Wahlrecht  gern  verderben  möchten,  auf  eine  unschädliche 
Weise  Rechnung  tragen  kann,  und  die  trotz  des  Aufgebots  aller  ihr 
zur  Verfügung  stehenden  Kräfte  nicht  in  der  Lage  war,  einen 
solchen  Weg  zu  finden,  um  das  Pluralitätswahlrecht  mit  dem  Prin- 
zip der  Vorlage  zu  vereinen,  so  ist  es  wohl  ganz  aus- 
geschlossen, daß  dies  dem  Ausschuß  gelingen  werde. 

Wenn  der  Ministerpräsident  schließlich  sagte,  die  Regierung 
würde  kein  Hindernis  in  den  Weg  legen,  wenn  der  Ausschuß  ein 
Mittel  finden  würde,  um  ein  Kompromiß  zwischen  den  Anhängern 
und  den  Gegnern  des  Pluralwahlrechtes  beziehungsweise  des 
gleichen  Wahlrechtes  zustande  zu  bringen,  so  hätte  der  Minister- 
präsident mit  dem  gleichen  Rechte  sagen  können,  er  würde  sich 
dem  nicht  in  den  Weg  stellen,  wenn  jemand  die 

Quadratur  des  Zirkels 

erfände,  wenn  jemand  Weiß  und  Schwarz,  Gleich  und  Ungleich  in 
eine  Formel  bringen  könnte,  wenn  jemand  diejenigen  unter  eine 
Formel  vereinigen  könnte,  die  zum  gleichen  Wahlrecht  aus  voller 

der  Verehelichung  eine  Reihe  von  Vorzügen  besitze.  Aber  zum  Schluß 
mußte  er  doch  den  Antrag  Tollinger  ablehnen,  wobei  er  allerdings  die  Frage 
offen  ließ,  ob  es  dem  Ausschuß  gelingen  könne,  „ein  die  Fertigstellung  des 
Werkes  förderndes  Kompromiß  der  Parteien"  zu  finden.  Viel  energischer 
trat  allerdings  dann  der  Jungtschechenführer  Dr.  Kramarsch  gegen  die 
Pluralität  auf.  Nach  ihm  kam  Adler  zu  Worte.  Erwähnt  sei,  daß  Baron 
Beck  später,  als  er  die  Empörung  der  Massen  über  die  Pläne  der  Feu- 
dalen sah,  viel  energischer  dagegen  auftrat. 

Der  Antrag  Tollinger  wurde  übrigens  am  6.  Oktober  mit  29  gegen 
19  Stimmen  abgelehnt.  (Siehe  noch  Adlers  Rede  in  der  Parlaments- 
sitzimg  vom  8.  November  über  die  Ränke  gegen  das  Wahlrecht 
und  die  Fußnote  über  die  weiteren  Kämpfe  gegen  die  Pläne  der  Herren- 
häusler, sowie  auch  seine  Rede  über  die  Pluralität  in  der  SpezialdebaUe 
am  21.  November  sowie  die  dort  in  einer  Fußnote  gemachten  Angäbet1 
über  die   Wirkungen   einer  Pluralität.) 

Adler,  Briefe.   X.  Bd.  27 


418  Der  Sie«  des  gleichen  Wahlrechts. 

Überzeugung  ja  sagen,  mit  denjenigen,  die  zum  gleichen  Wahlrecht 
ebenso  aus  voller  Überzeugung  nein  sagen.  Diese  Formel  gibt  es 
aber  nicht  und  es  erscheint  darum  die  Erklärung  des  Minister- 
präsidenten auch  nach  dieser  Richtung  sehr  beruhigend. 

Dr.  Tollinger  sagte,  man  könne  von  einem  Raube,  von  einem 
Unrecht  nicht  sprechen,  man  nehme  ja  niemand  etwas,  was  er 
schon  habe,  sondern  man  weigere  sich  nur,  ihm  etwas  zu  geben, 
was  er  noch  nicht  habe.  Das  ist  ein  großer  Irrtum.  Das  gleiche 
politische  Recht  ist  etwas,  was  nie  und  unter  gar  keinen  Umständen 
jemand  erst  gegeben  zu  werden  braucht.  Es  ist 

das  jedem   Staatsbürger   innewohnende  Recht. 

Es  einschränken  heißt  es  nehmen.  Und  der  chronische  Zustand 
des  Wahlrechtsraubes,  wie  er  in  der  bisherigen  Verfassung  gelegen 
ist,  kann  diesen  Raub  vielleicht  bis  zu  einem  gewissen  Grad  straf- 
los machen,  legalisiert  kann  der  Raub  niemals  werden.  Aber 
auch  vom  Standpunkt  des  Gesetzes  und  der  Rechtsentwicklung  ist 
die  Auffassung  des  Abgeordneten  Dr.  Tollinger  ganz  falsch.  Es  ist 
nicht  richtig,  daß  die  Völker  Österreichs  ohne  Unterschied  der 
Nation  heute  nicht  bereits  im  vollen  Bewußtsein  leben,  daß  sie  das 
gleiche  Wahlrecht  bereits  besitzen.  So  wenig  die  österreichische 
Geschichte  geeignet  ist,  viel  Vertrauen  für  das,  was  oben  vorgeht, 
zu  erregen,  spurlos  sind  die  Ereignisse  der  letzten  Jahre  an  der 
Bevölkerung  nicht  vorübergegangen.  Mußte  nicht  das,  was  ge- 
schehen ist,  den  größten  Eindruck  machen?  Sehen  Sie  nicht,  daß 
die  Ruhe,  die  seit  einem  halben  Jahre  herrscht,  nur  auf  das 

feste  Vertrauen 

zurückzuführen  ist,  daß  in  der  Hauptsache  dem  Volke  bereits  ge- 
währt ist,  was  sein  Recht  ist.  Einzelne  berufen  sich  darauf,  daß 
nicht  alle  Bevölkerungskreise  mit  dem  gleichen  Wahlrecht  ein- 
verstanden sind,  und  der  Abgeordnete  Kaiser  hat  mit  Kassandra- 
stimme einen  Bauernaufstand  angekündigt.  Wo  sind  denn  aber  diese 
unzufriedenen  Bevölkerungen,  von  denen  da  gesprochen  wird? 
Wo  ist  denn  diese  Empörung  in  der  bäuerlichen 
Bevölkerung  gegen  das  gleiche  Wahlrecht?  Diese 
Empörung  besteht  vielleicht  bei  einer  Anzahl  von  Vertrauens- 
männern in  gewissen  Wahlkreisen,  aber  wo  sich  sonst  in  der  bäuer- 
lichen Bevölkerung  eine  Stimme  für  die  Ungleichheit  des  Wahl- 
rechtes oder  für  die  Pluralität  regte,  hat  sie  sofort  einen  starken 
Gegenchor  auch  in  der  Bauernschaft  hervorgerufen.  Zur  Ehre 
der  Bauern  und  des  Bürgertums  sei  es  gesagt,  daß 
die  Bewegung  für  das  gleiche  Wahlrecht  und  das 
Bewußtsein,  daß  dieses  das  allein  Richtige,  Mög- 
liche und  Durchführbare  sei,  wenn  nicht  ein  un- 
erhörter Rechtsbruch  begangen  werden  soll,, 
durchaus  nicht  Eigentum  der  Arbeiterschaft 
allein  ist,  sondern  daß  die  ganze  Bevölkerung, 
Bürger    und    Bauern,    dieser    Überzeugung   leben. 


Die  Pluralität  419 


Die  Herren,  die  für  die  Pluralität  schwärmen,  sind  die  rari  nantes 
in  gurgite  vasto.  (Die  wenigen,  die  in  dem  weiten  Abgrund 
schwimmen.) 

Versteht  der  Abgeordnete  Kaiser  nicht,  daß  die  Arbeiterschaft, 
der  er  so  ungern  auf  der  Ringstraße  begegnet,  für  die  angeblich 
Ausnahmsprivilegien,  eine  absolute  Bewegungsfreiheit  geschaffen 
wurde,  nur  darum  auf  den  Ring  geht,  und  in  ganz  Österreich  diese 
Wahlrechtsbewegung,  die  angeblich  so  fürchterliche  Formen  an- 
genommen hat,  entfesseln  und  in  dieser  hinreißenden  Form  zum 
Siege  bringen  konnte, 

weil  sie  nicht  allein  war, 

weil  sie  die  ganze  Öffentlichkeit,  die  gesamte  Be- 
völkerung mit  sich  gehabt  hat?  Alles,  was  denkt  und 
urteilt,  was  Gefühl  für  Verantwortung  hat  auch  über  die  Stunde 
und  den  engen  Bezirk  seiner  Klasse  hinaus,  war  auf  Seite  der 
Arbeiterschaft.  Wir  sind  nicht  so  dumme  Politiker,  wir  wissen 
schon,  wann  wir  etwas  durchsetzen  können.  Wenn  wir  manchen 
Herren  zuhören,  wir  könnten  den  Größenwahn  bekommen. 
Uns  wird  von  allen  Seiten  gesagt,  die  Sozialdemokratie  habe  die 
Regierung  in  ihren  Bann  gezogen  und  terrorisiert,  habe  das  Bürger- 
tum terrorisiert,  genieße  absolute  Immunität,  brauche  nur  noch  das 
allgemeine  Wahlrecht  und  dann  ist  ihnen  ganz  Österreich  rettungs- 
los ausgeliefert.  Wenn  wir  zu  solchen  Tollheiten  Talent  hätten,  wir 
müßten  den  Worten  dieser  Herren  glauben.  Leider  ist  davon  gar 
keine  Rede.  Die  Arbeiterschaft  hat  gewiß  ein  hervorragendes  Ver- 
dienst an  dem  Zustandekommen  dieser  Vorlage;  aber  wir  reden 
uns  nicht  ein,  daß  wir  diese  Vorlage  zu  irgendeiner  anderen  Zeit 
hätten  willkürlich  provozieren  können.  Wir  haben 
uns  einfach  dessen  bemächtigt,  was  in  diesem  Moment  not- 
wendigwar. Wir  haben  das  Wort  der  Situation,  der  Notwendig- 
keit für  Österreich  ausgesprochen.  In  aller  Bescheidenheit  kann  ich 
im  Namen  unserer  Partei  sagen,  daß  wir  unser  Teil  so  gut  erfüllt 
haben,  als  wir  konnten.  Aber  über  Ihre  übertriebene  Angst 
vor  uns  muß  ich  wirklich  lächeln. 

Ebenso  übertrieben  ist  Ihre  Angst  in  bezug  auf  das  Ergebnis  des 
allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Wahlrechtes.  Der  Abgeordnete 
Dr.  Tollinger  hat  davon  gesprochen,  daß  wir  80  Mandate  erhalten*). 
Das  sind  Fabeln!  Sie  glauben  es  selbst  nicht.  Sie  haben  wirk- 
lich mit  einem  Fleiß  und  einer  Sorgfalt,  die  einer  besseren  Sache 
würdig  wären,  dafür  gesorgt,  daß  die  Arbeiterschaft  auch  unter 
dem  allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Wahlrecht  im  Parlament 
nicht  jenen  Einfluß  erhält,  der  ihr  nach  ihrer  Zahl  und  nach  der 
wirtschaftlichen  und  politischen  Rolle,  die  sie  im  Staate  spielt,  zu- 
kommt. Es  wurde  das  in  jedem  einzelnen  Kronland  und  ins- 
besondere in  den  industriellen  Kronländern  gemacht  und  demnächst 
wird  die  Wahlkreiseinteilung  für  Böhmen  und  Mähren  vorgelegt 
werden,   die    eine   neue   Einschränkung   des   politischen  Gewichtes 

')  hekanntlich  sind  es  dann  noch  mehr  geworden,  nämlich  87  Mandate. 

27* 


420  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

der  Arbeiterschaft  mit  sich  bringt,  herbeigeführt  durch  die  raffi- 
niertesten 

Mittel  der  Wahlkreisgeometrie. 

Wir  haben  dagegen  protestiert,  aber  wir  haben  es  bei  einem 
akademischen  Protest  gelassen,  weil  wir  wissen,  daß  die  Macht- 
verhältnisse so  liegen,  daß  es  unmöglich  ist,  dies  zu  ändern,  und 
weil  wir  es  für  eine  Kräfteverschwendung  halten,  unser  ganzes 
Gewicht  hiefür  einzusetzen.  Wir  haben  dies  auch .  darum  hin- 
genommen, weil  man  heute  die  wirtschaftlichen  Verschiebungen 
nicht  berechnen  kann  und  es  sich  vielleicht  zeigen  wird,  daß  doch 
die  eine  oder  die  andere  der  raffinierten  Spekulationen  auf  Ent- 
rechtung der  Arbeiterschaft  nicht  gelungen  ist. 

Etwas  anderes  aber  ist  es,  wenn  man  nun  auf  die 

Grundlagen  des  Gesetzes, 

auf  das  zurückgreift,  was  allein  dem  Gesetz  einen  Wert  gibt  und 
ohne  was  es  einfach  eine  wertlose  Sache  wird.  Denn  damit  würde 
eine  Vorlage  geschaffen,  die  eine  direkte  Verhöhnung  und  Be- 
schimpfung der  Arbeiterschaft  bedeutet.  Das  verträgt  die  öster- 
reichische Arbeiterklasse  nicht.  Gewiß  ist  die  Arbeiterschaft  allein 
viel  zu  schwach,  um  ein  solches  Attentat  so  zu  strafen,  wie  es  be- 
straft werden  sollte.  In  dieser  Sache  des  gleichen  Rechtes  steht  der 
beste  Teil  des  Bürgertums,  der  städtischen  und  der  länd- 
lichen Bevölkerung  auf  unserer  Seite,  weil  sie  politisches  Verständ- 
nis genug  hat,  um  zu  wissen,  daß  man  nicht  in  peius  (zum  Schlech- 
teren) reformieren  darf,  und  politisch  ist  es  eine  Reform  zum 
Schlechten,  weil  Hoffnungen  wachgerufen,  weil  das  Bewußtsein 
des  Volkes  an  das  gleiche  Recht  gewöhnt  wurde  und  weil  man  in 
dem  Moment,  wo  das  gegebene  Wort  eingelöst  werden  soll,  wo 
es  zu  neun  Zehnteln  bereits  verwirklicht  ist,  es  zurücknimmt.  Die 
meisten  Redner  haben  seinerzeit  in  den  mehrfachen  General- 
debatten erklärt,  sie  seien  keine  prinzipiellen  Gegner  des  all- 
gemeinen, gleichen  und  direkten  Wahlrechtes;  aber  sie  können  sich 
der  Vorlage  nicht  anschließen,  weil  die  nationale  Gefahr  da  ist.  So 
wurde  auf  deutscher  und  tschechischer  und  auch  auf  italienischer 
Seite  gesprochen,  wobei  ich  besonders  hervorhebe,  daß  sich  die 
Italiener  mehrfach  kategorisch  zum  allgemeinen,  gleichen 
und  direkten  Wahlrecht  bekannt  haben.  Überall  hat  man  nur  natio- 
nale Einwendungen  gemacht.  Ich  glaube  nun  nicht,  daß  sich  die 
Abgeordneten  Kaiser  und  Tollinger  aus  nationalen  Gründen  so 
ernsthaft  über  die  Vorlage  zu  beklagen  haben,  daß  sie  sie  ver- 
werfen. Es  würde  mich  wundern,  wenn  den  Abgeordneten  Doktor 
Tollinger  die  Ungleichheit,  mit  der  man  Tirol  behandelt  hat,  so 
empören  würde,  daß  er  für  die  Vorlage  absolut  nicht  stimmen  kann. 
Dr.  Tollinger  hat  sich  über  die  Wahlkreiseinteilung  lustig  gemacht, 
hat  von  Gleichheitsschwindel  gesprochen.  Auch  ich  bin  durchaus 
nicht  von  der  Lösung  der  nationalen  Gleichheit,  wie  sie  in  der  Vor- 
lage geschieht,  entzückt;  aber  es  mutet  doch  sehr  sonderbar  an, 
wenn  jene,  die 


Die  Plurälität.  421 


am  meisten  davon  profitieren, 

zum  Schlüsse  am  meisten  darüber  schimpfen!  Es  mutet  sonderbar 
an,  wenn  ein  Abgeordneter  aus  einem  Lande,  in  dem  32.000  Ein- 
wohner auf  einen  Abgeordneten  kommen,  sieh  über  die  Ungleich- 
heit beklagt,  wo  doeh  in  den  industriellen  Ländern  60.000  Einwohner 
einen  Abgeordneten  zu  wählen  haben? 

Und  dann  kommt  ein  Vertreter  angeblieh  agrarischer,  bäuer- 
licher Interessen,  die  gar  keine  agrarischen,  bäuerlichen  Interessen, 
sondern  Interessen  einer  bestimmten  Partei,  die  um  ihre  Existenz 
fürchtet,  sind,  und  sagt,  es  sei  wahr,  in  dieser  Wahlkreiseinteilung 
sei  eine  Ungleichheit  gelegen,  aber  die  „notwendige  Ergänzung" 
dieser  Ungleichheit  sei,  daß  man  auch  durch  die  Plurälität  eine 
soziale  Ungleichheit  hineinbringe!  Man  würde  es  doch  gewiß  sehr 
sonderbar  finden,  wenn  jemand  einem  armen  Teufel 

seinen  Rock  nimmt 

und  es  dann  als  notwendige  Ergänzung  ansieht,  ihm 

auch  das  Hemd  wegzunehmen. 

Die  nationale  Einteilung  findet  vielleicht  ihre  Erklärung  in  den 
Verhältnissen,  die  wir  alle  miteinander  nicht  ändern  können.  In 
dieser  Wahlreform,  wie  sie  heute  im  allgemeinen  und  im  einzelnen 
vorliegt,  steckt  ein  Schatz  vonpersönlicher  undnatio- 
naler  Selbstverleugnung,  eine  politische  Arbeit,  wie  sie 
in  Österreich  seit  Jahrzehnten  nicht  geleistet  wurde,  sie  ist  das 

Resultat  eines  Ausgleiches, 

der  gewiß  die  besten  Früchte  tragen  muß.  Nun  will  man  aber  die 
Grundlagen  dieses  Ausgleiches  erschüttern!  Wenn  der 
Ministerpräsident  heute  in  seiner  vornehm  abgetönten  offiziellen 
Erklärung  bloß  andeutete,  daß  der  Maßstab  für  den  nationalen  Aus- 
gleich durch  das  Pluralwahlrecht  möglicherweise  erschüttert 
werden  könnte,  so  heißt  das  in  Wirklichkeit,  daß  jedes  Abweichen 
vom  gleichen  Recht  die  ersten  Grundlagen  des  nationalen  Aus- 
gleiches tatsächlich  bedroht.  Man  kann  den  Maßstab  des  nationalen 
Ausgleiches  nicht  hinterher  entfernen,  ohne  das  Ganze  zu  vereiteln. 
Ich  unterlasse  es,  die  Argumentation  des  unmittelbaren  Vor- 
redners für  die  Plurälität  zu  widerlegen,  teils  weil  dies  von  Doktor 
Kra  marsch  schon  geschehen  ist,  teils  weil  ich  es  für  unmöglich 
halte,  daß  die  vorgebrachten  Argumente  eine  ernsthafte  Wirkung 
haben  werden.  Was  die  Pluralisten  wollen,  ist,  als  eine  Einheit  an- 
gesehen, eine 

absolute  Unmöglichkeit 

für  die  übergroße  Mehrzahl  auch  jener  Leute,  die  nur  pluralrecht- 
lichen Erwägungen  zugänglich  waren.  Ich  halte  es  für  aus- 
geschlossen, daß  sich  auch  nur  eine  erhebliche  Anzahl  von  Stimmen 
für  die  Einführung  eines  Zensus  finden  wird,  wodurch  so  brutal  der 
Grundsatz  der  Vorlage  in  sein  Gegenteil  verkehrt  würde.  Über  den 
Intelligenzzensus  lächeln  ja  die  Antragsteller  selbst.  Dieses  Kompli- 
ment vor  der  Wissenschaft  wird  ihnen  niemand  danken.  Wenn  man 


422  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

dem  Manne,  der  mehr  weiß,  mehr  Rechte  geben  will,  weil  er  mehr 
Verdienste  um  die  Gesamtheit  hat,  wieviel  Stimmen  müßte  man 
einem  Rokitansky  oder  Billroth  im  Vergleich  zu  einem  Grafen  mit 
einem  noch  so  großen  Grundbesitz  geben?  Die  ungeklärten 
Meinungen  und  die  Hoffnungen  mancher  konzentrieren  sich  in  der 
Pluralität  des  Alters,  des  Familienstandes  und  der 
Wohnung.  Diejenigen,  die  glauben,  daß  darin  eine  mögliche 
Form  gelegen  ist,  in  der  man  die  Pluralität  in  das  Gesetz  einführen 
könnte,  gehen  von  der  Ansicht  aus,  sie  könnten  es  plausibel  machen, 
daß  es  sich  hier  nicht  um  eine  Pluralität  des  Besitzes,  sondern  nur 
um  eine 

Pluralität  gewisser  moralischer  und  intellektueller  Eigenschaften 

handle.  Es  wird  erklärt,  ein  35jähriger  Mann  sei  besonnener  als  der 
jüngere.  Ich  will  nicht  mit  dem  billigen  Argument  kommen:  Alter 
schützt  vor  Torheit  nicht.  Die  Familienväter  sollen  konservativen 
Anschauungen  huldigen  und  aus  diesem  Grunde  bevorzugt  werden. 
Ein  Mann,  der  eine  selbständige  Wohnung  hat,  denke  gesetzter  als 
ein  Mann,  der  mit  seiner  Familie  als  Aftermieter  wohnen  muß.  Da- 
bei wird  vergessen,  daß  ein  großer  Teil  gerade  der  agrarischen  Be- 
völkerung, so  ziemlich  sämtliche  Knechte,  dadurch  tiefer  gestellt 
würde  als  die  große  Mehrheit  der  industriellen  Arbeiter,  die  selb- 
ständige Wohnungen  haben.  Warum  sagt  man  es  nicht  direkt, 
welchen  Zweck  hat  es,  der  Bevölkerung  derartiges  vorzutäuschen, 
was  doch  kein  Mensch  glaubt?  Was  die  Herren  wollen,  ist  die 
Pluralität  des  Besitzes,  das  Privilegium  der  Be- 
sitzenden gegenüber  dem,  der  ein  Arbeitender  ist.  Wiederholt 
konnte  man  auch  hören,  der  Arbeiter  wird  auch  alt,  er  heiratet  auch, 
er  bekommt  auch  Kinder.  Ja,  der  Arbeiter  altert,  und  er  altert 
früher  als  alle  anderen  Klassen,  aber  er  wird  nicht  alt.  Unter 
1000  Selbständigen  im  wahlfähigen  Alter  sind  800  mehr  als  35  Jahre 
alt  und  sollen  eine  zweite  Stimme  bekommen,  während  unter 
1000  Arbeitern  nur  532  aus  diesem  Grunde  eine  zweite  Stimme  er- 
halten würden.  Ganz  ähnlich  sind  die  Ziffern  bezüglich  der  Ver- 
heiratung. Auch  der  Arbeiter  heiratet,  aber  viel  seltener,  als  man 
annimmt;  auch  er  bekommt  Kinder,  aber  sie  leben  nicht,  sie  gehen 
zu  einem  furchtbaren  Prozentsatz  zugrunde;  ja,  auch  der  Arbeiter 
wohnt,  aber  er  muß  einen  Wucherzins  für  eine  Wohnung  bezahlen, 
die  man  vielleicht  als  eine  selbständige  Wohnung  gar  nicht  an- 
erkennen würde.  Wenn  gesagt  wurde,  die  Pluralität  würde  nicht 
wirksam  werden,  so  muß  ich  dem  entgegentreten.  Die  Plurali- 
tät des  Alters  und  des  Besitzes  würde 

die  Arbeiterschaft  furchtbar  treffen. 

Diese  Pluralität,  die  nur  an  die  Besonnenheit  des  Alters  appel- 
liert, würde  den  Arbeitern,  welche  die  Gesellschaft  dafür,  daß  sie 
arbeiten,  mit  dem  frühen  Tode,  mit  der  Kinder- 
sterblichkeit, mit  der  erzwungenen  Ehelosig- 
keit, mit  schlechten  Wohnungen  straft,  in  einem  hohen 
Grade   ihr  Recht    nehmen.   Wenn   die  Herren  Lust   haben,   dieses 


Die  Pluralität.  423 


Attentat  auf  das  gleiche  Recht  zu  begehen,  dann  mögen  sie  es  tun. 
Sie  mögen  es  aber  nicht  hinter  allerlei  Redensarten  verhehlen, 
sondern  offen  sagen,  sie  wollen  das  gleiche  Recht  nicht, 
sie  wollen  den  Arbeiter  unterkriegen,  sie  wollen 
ihm  selbst  das  bißchen  Recht,  das  ihm  die  Wahl- 
kreiseinteilung gelassen,  verkürzen.  Dann  möge 
man  sich  auch  nicht  wundern,  wenn  die  Arbeiterschaft  und  mit  ihr 
alle,  die  für  das  gleiche  Wahlrecht  sind,  eine  solche  Politik  wahr- 
haftig nicht  als  eine  konservative  anerkennen  werden,  denn  eine 
solche  Politik  ist  eine  subversive  Politik,  weil  sie  alles,  was  in  der 
Arbeiterschaft  und  darüber  hinaus  gerecht  denkt,  alles,  was  von 
dem  Gedanken  des  gleichen  Rechtes  heute  erfüllt  ist,  aufwühlen 
und  zum  äußersten  Kampf  führen  müßte! 

Es  wurde  auseinandergesetzt,  daß 

die  Sozialdemokratie 

so  mächtig  ist  und  so  furchtbare  Gefahren  bringt.  Man  hat  auch 
nicht  verfehlt,  hinzuzufügen,  daß  man  sich  auch  stark  und  energisch 
genug  fühlt,  die  Arbeiterschaft,  wenn  sie  unzufrieden  ist,  niederzu- 
treten. Hier  im  Ausschuß  und  auch  sonst  im  Parlament  laufen  kleine 
Bismarcks  massenhaft  herum:  Blut  und  Eisen.  Man  möge  aber 
nicht  vergessen,  daß  man  mit  Bajonetten  verschiedenes  machen 
kann,  sitzen  kann  man  auf  ihnen  nicht.  Man  möge  auch 
nicht  vergessen,  daß  man  es  nicht  allein  mit  den  Arbeitern,  sondern 
mit  ganz  gewaltigen  Kreisen  der  Bevölkerung  zu 
tun  hätte,  die  den  Betreffenden  sehr  dafür  danken  würden,  was  sie 
in  Österreich  angerichtet  haben,  wenn  es  ihnen  gelingen  würde,  die 
Wahlreform  zu  vereiteln.  Denn  darüber  möge  man  sich  nicht 
täuschen,  dieser  Antrag  hat  nicht  den  Zweck,  die  Wahlreform  zu 
verbessern  und  sie  annehmbarer  zu  machen,  sondern  er  bezweckt 
ausschließlich, 

die  Wahlreform  zu  vereiteln. 

Er  ist  nichts  als  eine  neue  Form  des  Kampfes  gegen  die  Wahl- 
reform, ein  Anschlag  der  Wahlrechtsfeinde.  Mit  dankbarer  Offen- 
heit, ja  fast  mit  Naivität  hat  Dr.  Tavcar*)  dies  heute  vormittags  ein- 
gestanden: weil  er  glaubt,  daß  die  Pluralität  gewissermaßen  eine 
Dynamitpatrone  sei,  die  er  in  diese  Vorlage  hineinstecke,  ist 
er  für  die  Pluralität.  Es  liegt  gewiß  ein  Widerspruch  darin,  daß  auf 
der  einen  Seite  konservative  Leute,  wie  der  Abgeordnete  Dr.  Geß- 
mann,  Dr.  Kramarsch  und  Dr.  Locker,  erklären,  man  brauche  das 
gleiche  Wahlrecht  im  Kampfe  gegen  die  Sozialdemokratie  und  daß 
auf  der  anderen  Seite  Abgeordneter  Kaiser  sagt,  um  die  Sozial- 
demokratie umzubringen,  ist  die  Pluralität  das  beste  Mittel.  Und 
nun  komme  ich  und  schlage  mich  auf  die  Seite  der  einen  Partei  der 
Feinde  der  Sozialdemokratie  und  sage:  Ja,  Sie  haben  recht,  man 

*)  Ein  slowenischer  Liberaler,  Abgeordneter  der  Stadt  Laibach,  der  in 
dem  klerikalen  Land  Krain  nur  als  Vertreter  einer  kleinen  Schicht  von 
Bürgerlichen  gewählt  war  und  deshalb  ein  fanatischer  Feind  der  Wahl- 
reform. 


424  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

bekämpft  uns  am  besten  mit  dem  gleichen  Rechte.  Diese  Wahrheit 
ist  ja  selbst  schon  auf  die  Ministerbank  gedrungen  und  schon 
Ministerpräsident  Baron  Qautsch  hat  erklärt:  Man  bekämpft  die 
Sozialdemokratie  am  erfolgreichsten,  indem  man  ihr  die  wichtigste 
Waffe,  die 

Anklage  gegen  den  Staat, 

daß  die  Minderbemittelten  in  ihrem  Rechte  verkürzt  werden,  ent- 
windet. Wir  liefern  Ihnen  diese  Waffe  gegen  uns  mit  größter 
Freude  aus,  denn  wir  sind  überzeugt,  daß,  so  sicher  der  Klassen- 
kampf eine  Notwendigkeit,  ein  Hebel  der  Weltgeschichte  ist  und 
durch  die  Gewährung  des  gleichen  Rechtes  gewiß  nicht  beendet 
werden  wird,  so  sicher  haben  beide  kämpfenden  Teile,  das  Prole- 
tariat und  die  besitzenden  Klassen,  das  gemeinsame  Interesse,  d  a  ß. 
der  Kampf  auf  einem  Boden,  in  einer  Form  und 
unter  Bedingungen  geführt  werde,  die  unserer 
Natur  entsprechen,  und  daß  wir  unsere  Kräfte 
nicht  müßig  verschwenden  müssen  wegen  einer 
Frage,  die  wir  jetzt  mit  einem  bißchen  Vernunft 
sofort  lösen  können.  Glauben  Sie,  daß,  wenn  es  Ihnen  ge- 
länge, ein  Wahlrecht  mit  der  Pluralität  zu  konstruieren,  dies  von 
den  Arbeitern  würde  ertragen  werden?  Glauben  Sie,  daß  ein  auf 
Grund  eines  solchen  Wahlrechtes  gewähltes  Parlament  auch  nur 
einen  Tag  lang  arbeiten  könnte?  Vom  ersten  Tage  an  würden  die 
Sozialdemokraten  und  mit  ihnen  eine  ganze  Reihe  von 
bürgerlichen  Parteien  den  Kampf  gegen  dieses  neue  Par- 
lament des 

neuen  und  vertieften  Unrechtes 

mit  der  größten  Leidenschaftlichkeit  und  Rücksichtslosigkeit  führen. 
Im  Belgien  hat  man  ja  die  Erfahrungen  mit  dem  Pluralitätssystem 
gemacht  und  dort  ruht  der  Kampf  auch  heute  noch  nicht,  trotz  des 
Proportionalsystems,  und  er  wird  auch  nicht  aufhören,  ehe  nicht 
die  Pluralität  beseitigt  ist.  Sie  können  die  Sozialdemokratie  ein- 
schätzen wie  sie  wollen,  das  eine  Mal  als  eine  wüste  Horde  von 
Leuten,  die  jeder  Demagogie  unterworfen  ist,  das  andere  MaL 
wieder  als  eine  furchtbare,  immer  wachsende  Gefahr;  aber  so  stark 
und  so  fest  ist  die  Sozialdemokratie  heute  gewiß,  so  geweckt  ist  die 
Arbeiterklasse  sicherlich,  daß  dieses  neue  Unrecht  wie  eine  Ver- 
giftung bis  in  die  letzte  Hütte  wirken  und  daß  niemand  ruhen  würde, 
ehe  dieses  neue  schimpfliche  Unrecht  beseitigt  sein  wird.  Wäre  ich 
als  Sozialdemokrat  ein  Katastrophenpolitiker,  ich  könnte  sagen: 
Meine  Herren,  es  ist  gut.  Treibt  uns  nur  die  Massen  zu,  reizt  sie 
auf  und  wir  sind  bereit,  sie  zu  empfangen!  Ihr  macht  agitatorische 
Arbeit  für  uns!  Wozu  brauchen  wir  von  Ort  zu  Ort  zu  gehen,  wenn 
wir  diesen  Wortbruch,  diese  Felonie  —  und  der  Beschluß 
der  Einführung  des  Pluralitätssystems  wäre  eine  Felonie  —  in 
Händen  haben.  Allein  wir  Sozialdemokraten  sind  keine  solchen 
Katastrophenpolitiker.  Wir  haben  noch  andere  Dinge  auf  der  Welt 
zu  verrichten,  als   Österreich   die  Bedingungen   seiner  politischen 


Wahlkreiseinteilung  in  Mähren.  425 

Existenz  zu  verschaffen^  Die  Arbeit,  die  wir  heute  leisten,  leisten 
wir  nicht  für  die  Arbeiterklasse  allein,  sondern  auch  für  den 

ganzen  Staat, 

und  sie  wird  gerade  von  denjenigen  ZU  vereiteln  gesucht,  die  sich 
als  Staatsstützen  aufspielen.  Auch  wir  sagen,  wie  der  Minister- 
präsident, der  Wahlrechtskampf  muß  ein  Ende  nehmen*),  wir  haben 
genug,  wir  haben  Opfer  dafür  gebracht,  wir  haben  aber  auch  noch 
andere  Dinge  zu  tun,  wir  haben  soziale,  positive  Aufgaben,  wir 
wollen  mit  Ihnen  im  Klassenkampf,  aber  in  ei  n  e  m  vernünf- 
tigen Klassenkampf,  ringen  um  den  sozialen  F  o  r  t- 
schritt,  wir  wollen  nicht,  daß  diese 

Seuche  des  Unrechtes 

weiter  frißt  und  daß  dieser  Staat,  an  dem  wir  mit  mehr  Interesse 
hängen  als  Sie  alle,  von  einer  Katastrophe  zur  anderen  eilt.  Wir 
sind  gewiß  nicht  eine  Staatspartei  in  dem  Sinne,  daß  wir  eine  Partei 
des  heutigen  Staates  sind;  dieser  Staat  ist  nicht  danach.  Aber  wir 
sind  eine  Staatspartei  und  dies  mehr  als  die  Parteien  der  bürger- 
lichen Klasse  in  dem  Sinne,  daß  wir  ein  Lebensinteresse  daran 
haben,  daß  sich  der  Staat,  in  dem  wir  leben,  kulturell  ent- 
wickle und  fortschreite,  und  daß  endlich  die 
Grundlagen  für  einen  politischen  Frieden  ge- 
schaffen werden. 

Sie  werden  die  Pluralität  nicht  annehmen,  mögen  Sie  auch  die 
Neigung  dazu  haben.  Denn  Sie  haben  ein  solches  Verantwortlich- 
keitsgefühl in  sich,  daß  Sie  nicht  für  die  Pluralität  stimmen  würden» 
wenn  Sie  nicht  gewiß  wären,  daß  sie  nicht  an- 
genommen wird.  Jeder  von  Ihnen  hat  so  viel  Empfindung  für 
die  Geschicke  des  Staates  und  des  Volkes,  daß,  wenn  es  auf  seine 
Stimme  ankäme,  er  den  Staat  und  die  Völker  nicht  in  dieses  Aben- 
teuer hineinhetzen  würde,  dessen  Konsequenzen  sich  nicht  absehen 
lassen. 

Wahlkreiseinteilung  in  Mähren. 

Ausschuß,  9.  Oktober  1906**). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  polemisiert  gegen  diese  Ausführungen. 
Abgeordneter  Choc  habe  heute  wieder  einmal  behauptet,  daß  die 
Sozialdemokratie  im  Dienste  der  Regierung  stehe  und  von  ihr  mit 
der  Wahlreform  „gekauft"  werde.  Die  Sozialdemokraten  wünschen 
gewiß  diese  Wahlreform,  auch  wenn  sie  sie  nicht  in  allen  Punkten 
für  das  Ideal  halten,  und  sie  kämpfen  mit  der  größten  Anstrengung 
für  diese  Reform,  nicht  weil  durch  sie  das  sozialdemokratische  Pro- 

*)  Rede  des  Ministerpräsidenten  Beck  in  der  Ausschußsitzung  vom 
8.    luni. 

)  In  Mahren  wurde  der  sogenannte  „nationale  Kataster"  ge- 
schaffen: Ganz  Mähren  wurde  für  diejenigen,  die  sich  zur  deutschen 
Nation    bekannten,    in    deutsche    Wahlbezirke    und    für    die    Tschechen   in 


426  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

gramm  vollständig  erfüllt  sei,  sondern  weil  die  Reform  das  gegen- 
wärtig Erreichbare  bringe.  Wenn  Abgeordneter  Choc  behauptet 
habe,  die  sozialdemokratischen  Abgeordneten  hätten  Jahre  hindurch 
nicht  einmal  einen  Antrag  auf  Einführung  des  allgemeinen  Wahl- 
rechtes eingebracht,  so  verweise  ich  darauf,  daß  ein  solcher  Antrag 
zu  Beginn  einer  jeden  Session  von  den  Sozialdemokraten  über- 
reicht wurde  und  daß  sie  auch  einen  dahinzielenden  Dringlichkeits- 
antrag gestellt  haben.  Daß  die  Sozialdemokraten  gerade  jetzt  den 
Kampf  für  das  allgemeine  Wahlrecht  mit  solcher  Intensität  führen, 
habe  darin  seinen  Grund,  daß  ihnen  der  jetzige  Zeitpunkt  am  ge- 
eignetsten hiezu  erscheint  und  daß  es  unvernünftig  gewesen  wäre, 
die  Kräfte  früher,  zu  ungelegener  Zeit,  zu  verbrauchen.  Abgeord- 
neter Choc  hat  auch  erklärt,  ich  hätte  durch  meine  Ausführungen 
im  Parlament  die  Abgeordneten  „terrorisiert",  indem  ich  „erklärt" 
habe,  man  werde  jeden  für  sein  Verhalten  in  der  Frage  der  Wahl- 
reform persönlich  für  verantwortlich  halten.  Gewiß  nehme  jeder 
Abgeordnete  nicht  nur  seinem  Gewissen  gegenüber,  sondern  auch 
gegenüber  der  Öffentlichkeit  und  der  Bevölkerung  durch  seine 
Stellungnahme  zur  Wahlreform  eine  Verantwortung  auf  sich  und 
werde  auch  zur  Verantwortung  gezogen  werden. 

Der  Redner  geht  sodann  zur  Besprechung  der  Wahlkreis- 
einteilung für  Mähren  über  und  führt  aus,  auch  aus  dieser  Ein- 
teilung gehe  klar  hervor,  von  welchen  Intentionen  die  bürgerlichen 
Parteien  bei  Feststellung  der  Wahlkreise  überall  geleitet  gewesen 
seien.  Man  wollte  eben  die  Arbeiterschaft  entweder  in  mög- 
lichst wenige  Bezirke  zusammendrängen  oder  sie 
so  zersprengen,  damit  sie  in  agrarischen  und  kleinbürgerlichen 
Wahlkreisen  untergehen.  Obwohl  zu  einer  eingehenden  Kritik  ein 
genaueres  Studium  nötig  wäre,  zeige  sich  diese  Tendenz  schon  auf 
den  ersten  Blick  bei  der  Behandlung  der  Stadt  und  des  Gerichts- 
bezirkes Sternberg,  der  in  der  Regierungsvorlage  mit  Industrie- 
orten, zu  welchen  er  ja  auch  naturgemäß  gehöre,  zusammengelegt 
war,    während    die    neue  Wahlkreiseinteilung    diesen    Bezirk    z  u 

tschechische  Wahlbezirke  eingeteilt.  Dadurch  war  eine  Majorisierung 
nationaler  Minderheiten,  die  bei  der  gemischten  Siedelung  der  beiden 
Nationen  sonst  unvermeidlich  war,  verhindert.  Darüber  bestand  voll- 
kommene Einigung,  ebenso  auch  über  die  Zahl  der  Mandate:  30  tschechi- 
sche, 19  deutsche  Wahlkreise.  Auch  über  die  Aufteilung  der  Wahlbezirke, 
die  deshalb  wieder  geändert  werden  mußte,  weil  ursprünglich  die 
Tschechen  27,  die  Deutschen  17  Mandate  haben  sollten,  was  aber  im 
Laufe  der  Verhandlungen  eine  Änderung  erfahren  hatte,  war  unter  den 
bürgerlichen  Parteien  eine  Einigung  erzielt  worden.  Nur  die  tschechischen 
Nationalisten  waren  unzufrieden  und  der  Tschechischradikale  Choc  be- 
schwerte sich  wieder  über  die  Vergewaltigung  der  Tschechen  und  darüber, 
daß  sich  die  Sozialdemokraten  von  der  Regierung  hätten  kaufen  lassen. 
Darauf  mußte  Adler  antworten. 

Der  auf  dem  „Personalitätsprinzip"  beruhende  nationale  Kataster 
geht  auf  eine  Idee  zurück,  die  Karl  Renner  unter  dem  Namen  „Synopti- 
cus"  zuerst  gemacht  hatte.  Dieser  nationale  Kataster  wurde  im  Jahre  1905 
zum  erstenmal  für  die  Landtagswahlen  in  Mähren  eingeführt.  (Siehe 
Bd.  VIII,  Seite  141,  Note.) 


Nordbahnverstaatlichung  und  Wahlreform.  427 

O  1  in  ü  t  z  schläft,  um  die  industrielle  Arbeiterschaft  Sternbergs 
um  einen  Teil  ilires  Hinflusses  zu  bringen.  Er  wolle  keinen  Antrag 
auf  Änderung  der  Wahlkreiseiiiteilung  stellen  und  durch  seine  Kon- 
statierung nur  verhindern,  daß  sich  etwa  der  Glaube  festsetze,  die 
Sozialdemokraten  sähen  nicht  ganz  genau,  wie  man  in  dieser  Sache 
verfahre.  Die  Sozialdemokraten  werden  sicherlich  aus  der  partei- 
mäßigen Wahlkreiseinteilung  in  allen  Kronländern  die  Konsequenzen 
ziehen  und  sich  keineswegs  schweigend  in  ihr  Schicksal  fügen. 

Nordbahnverstaatlichung  und  Wahlreform. 

Obmännerkonferenz,  19.  Oktober  190 6*). 

Die  Polen  und  Tschechen  irren,  wenn  sie  vermuten,  daß  die 
Erklärungen  der  Vorredner  gegen  die  Perfektionierung  der  Nord- 
bahnvorlage gerichtet  sind.  Unsere  Partei  ist  prinzipiell  für  die  Ver- 
staatlichung der  Bahnen,  selbstverständlich  wollen  wir  uns  aber 
jedes  einzelne  Geschäft  anschauen.  Ohne  daß  man  auf  die  Nord- 
bahnvorlage näher  eingeht,  läßt  sich  sagen,  daß  uns  ein  ziemlich 
zweifelhaftes  Geschäft  vorliegt.  Aber  es  ist  wahrscheinlich,  daß  es 
nicht  zu  machen,  ein  noch  schlechteres  Geschäft  wäre.  Daraus  er- 
gibt   sich    die    praktische    Haltung.    Niemand    denkt    daran,    die 

*)  Am  19.  Oktober  wurde  eine  Konferenz  der  Obmänner  der  parlamen- 
tarischen Klubs  abgehalten,  weil  sich  die  Polen  und  die  Tschechen 
darüber  beschwerten,  daß  die  Vorlage  über  die  Verstaatlichung  der  Nord- 
bahn, die  für  die  tschechische  Industrie  wie  für  die  galizische  Landwirt- 
schaft wichtig  war,  da  die  Bahn  Wien  mit  dem  mährisch-schlesischen 
Kohlen-  und  Hüttenrevier  und  weiterhin  mit  Galizien  verband,  nicht  endlich 
im  Hause  erledigt  werde.  So  wenig  die  Nordbahnfrage  mit  der  Wahlreform 
zu  tun  hatte,  so  hatte  die  Obmännerkonferenz  für  die  Erledigung  der  Wahl- 
reform doch  eine  große  Bedeutung;  denn  nicht  nur  die  Sozialdemokraten, 
sondern  auch  die  Jungtschechen  und  die  Christlichsozialen  benutzten  das 
Drängen  nach  der  Nordbahnvorlage,  um  den  Drängern  klarzumachen, 
daß  wichtiger  und  dringender  die  Wahlreform  sei  und  daß  die  Majorität 
keine  Lust  habe,  im  Hause  die  Nordbahnvorlage  fertigzustellen,  während 
im  Ausschuß  die  Wahlreform  von  den  polnischen  Wahlreformfeinden  und 
von  den  tschechischen  Radikalen,  unter  denen  besonders  der  mährische 
radikale  Jungtscheche  Dr.  Stransky  und  der  tschechische  Agrarier 
Zazvorka    hervorragten,   obstruiert   werde. 

In  der  Obmännerkonferenz  verlangte  Ritter  v.  Abrahamowicz  im 
Namen  des  Polenklubs  die  rasche  Erledigung  der  Nordbahnvorlage,  damit 
die  Frist,  die  mit  der  Nordbahngesellschaft  vereinbart  sei,  nicht  versäumt 
werde.  Darauf  verwies  Dr.  G  e  ß  m  a  n  n  im  Namen  der  Christlichsozialen 
darauf,  daß  man  die  Vorlage,  die  mit  großkapitalistischen  Interessen  ver- 
knüpft sei,  erledigen  wolle,  während  sich  die  Wahlreform  alle  möglichen 
Verschiebungen  gefallen  lassen  müsse.  Zuerst  müsse  mindestens  im  Aus- 
schuß die  Wahlreform  erledigt  sein.  Der  Jungtscheche  Dr.  Kramarsch 
wieder  erklärte,  es  sei  die  verkehrteste  Politik,  den  Tschechen  gerade  in 
dieser  Frage  das  Messer  an  den  Hals  zu  setzen.  Die  Wahlreform  stehe 
jetzt  auf  dem  schwierigsten  Punkt  und  man  täusche  sich,  wenn  man 
glaube,  sie  durch  solche  Mittel  durchdrücken  zu  können.  Auch  hier  gebe 
es  nur  ein  Kompromiß.  Nun  kam  Dr.  Adler  zu  Worte. 


428  Der  Sieg  (Jus  gleichen  Wahlrechts. 

Regierung  zu  zwingen,  die  Frist  zu  versäumen.  Etwas  anderes  ist 
aber  die  Methode  der  Erledigung  und  die  Zeit,  die  man  dafür  zur 
Verfügung  stellt.  Solange  im  Wahlreformausschuß  eine  endlose 
Debatte  geführt  wird  und  die  Wahlreform  nicht  endgültig  erledigt 
ist,  ist  es  unmöglich,  sich  auf  eine  komplizierte,  weittragende  Ver- 
handlung im  Plenum  einzulassen,  die  die  Nordbahnvorlage  mit  sich 
bringen  würde.  Was  über  die  Stimmung  der  Bevöl- 
kerung gesagt  wurde,  muß  in  der  allerschärfsten 
Weise  unterstrichen  werden.  So  mächtig  die  Interessen- 
ten am  Nordbahngesetz  sein  mögen,  die  Interessenten  an  der  Wahl- 
reform sind  alle  Völker,  und  ihre  Geduld  ist  bis  zum  Äußersten 
angespannt  worden.  Die  Stimmung  im  Hause  in  der  wichtigsten 
Frage,  die  uns  beschäftigt,  läßt  es  absolut  nicht  zu,  daß  wir  uns  auf 
die  Nordbahndebatte  einlassen.  In  dieser  Laune  wird  das  Weib  der 
Nordbahn  nicht  gefreit  werden.  Darum  braucht  die  Verhandlung 
aber  nicht  hinausgeschoben  zu  werden.  Es  ist  nicht  nötig,  daß  der 
Wahlreformausschuß  den  heiligen  Sabbat  und  den  blauen  Montag 
feiert.  Die  Debatte  im  Ausschuß  kann  Anfang  nächster  Woche  be- 
endigt sein  und  dann  mag  man  die  Nordbahn  vornehmen*). 

Prestigefragen. 

Ausschuß,  23.  Oktober   1906**). 

Abgeordneter  Dr.  Adler    führt    aus,    daß    sich    die    Diskussion 
wiederholt  um  Dinge   gedreht   habe,   deren  politische  Wichtigkeit 


*)  Nach  Adler  kam  der  Ministerpräsident  Baron  Beck  zu  Worte,  der 
ersuchte,  die  Nordbahnvorlage,  die  auf  einem  nationalen  Kompromiß  be- 
ruhe, rasch  fertigzustellen.  Die  Vorlage  habe  mit  der  Wahlreform  keinen 
Zusammenhang.  Er  habe  auch  die  Überzeugung,  daß  man  an  den  unleug- 
baren Schwierigkeiten  nicht  scheitern  werde.  Er  sei  überzeugt,  daß  die 
Wahlreform  nicht  scheitern  werde,  weil  sie  nicht  schei- 
tern dürfe.  Adler  schlug  dann  noch  vor,  so  lange  keine  Plenar- 
sitzungen abzuhalten,  bis  der  Wahlreformausschuß  seine  Arbeiten  be- 
endet habe  oder  mindestens  die  gegenwärtigen  Schwierigkeiten  über- 
wunden seien . . .  Man  einigte  sich  schließlich  dahin,  die  nächste  Haus- 
sitzung am  24.  Oktober  abzuhalten,  wie  es  die  Tschechen  und  Polen 
wünschten,  aber  die  Entscheidung,  ob  die  Nordbahnvorlage  auf  die  Tages- 
ordnung dieser  Sitzung  gesteht  werde,  von  der  „Geschäftslage  des  Hauses 
und  des  Ausschusses"  abhängig  zu  machen. 

Tatsächlich  kam  dann  im  Ausschuß  das  Kompromiß  über  die  „Prestige- 
fragen" der  Wahlreform  zustande  (siehe  die  nächste  Rede,  vom  23.  Oktober, 
über  die  Prestigefragen),  das  am  25.  Oktober  im  Ausschuß  genehmigt 
wurde,  und  am  26.  Oktober  wurde  im  Hause  die  Vorlage  über  die  Ver- 
staatlichung der  Nordbahn  angenommen. 

**)  Am  29.  Oktober  wurde  der  Ausschuß  mit  der  Wahlreform  fertig. 
Aber  vorher  hatte  er  noch  eine  schwierige  Frage,  eine  richtige  Prestige- 
frage, zu  erledigen. 

Nachdem  die  Krise,  die  durch  den  Pluralitätsantrag  der  Wahlreform- 
feinde entstanden  war,  beseitigt  war,  brach  plötzlich  wieder  eine  nationale 


Prestigefragen.  489 


sowohl  für  den  Staat  als  auch  für  die  Bevölkerung  und  die  ein/einen 
Nationen  weit  hinter  der  Aufregung  zurückgestanden  sei,  die  im 
Ausschuß  darüber  herrschte.  Nun  sei  man  abermals  hei  einem 
solchen  Punkte  angelangt,  dessen  Wichtigkeit 

ganz  maßlos 

überschätzt  werde.  Die  Wahlreforni  ist  aus  einer  unbedingten  Not- 
wendigkeit für  den  Staat,  aus  der  UnerträKlichkeit  des  heutigen  Zu- 


Krisc  aus,  die  gerade,  weil  es  sich  um  keine  ernste  Frage  handelte,  so 
gefährlich  wurde.  Der  Anlaß  war  belanglos  genug:  die  Deutschen  er- 
klärten, sie  hätten  der  Wahlreform  das  Opfer  gebracht,  auf  ihre  Majorität 
zu  verzichten,  dafür  verlangten  sie  aber  Bürgschaften,  daß  die 
slawische  Majorität  nicht  dazu  ihre  Macht  mißbrauche,  um  die  Zahl  der 
deutschen  Mandate  herabzusetzen  Diese  Bürgschaft  sollte  darin  bestehen, 
daß  Änderungen  der  Wahlkreise  in  Zukunft  nur  mit  Zweidrittelmehrheit 
beschlossen  werden  könnten.  In  der  Tat  hatte  Hohenlohe  dies  im 
neuen  §  42  in  seine  Vorschläge  aufgenommen.  Dieses  Verlangen  war  an 
sich  ganz  harmlos,  aber  auch  überflüssig,  denn  jeder  wußte,  daß  es  ganz 
unmöglich  sei  —  und  im  österreichischen  Parlament  infolge  der  Leichtig- 
keit einer  Obstruktion  weniger  möglich  als  sonstwo  —  Wahlkreisände- 
rungen  gegen  eine  so  große  Nation,  die  überdies  auch  im  neuen  Parlament 
45  Prozent  aller  Mandate  hatte,  durchzuführen.  Kam  es  doch  selbst  unter 
Taaffe,  als  der  sogenannte  „eiserne  Ring"  der  mit  den  Klerikalen  ver- 
einigten Slawen  herrschte,  niemand  in  den  Sinn,  die  deutsch-bürger- 
liche Opposition  auf  diese  Weise  zu  schwächen,  obwohl  damals  die  Waffe 
■der  Obstruktion  noch  nicht  einmal  recht  bekannt  war. 

Aber  die  Jungtschechen  konnten  auf  dieses  Verlangen  wieder  deshalb 
nicht  eingehen,  weil  sie  ihre  Radikalen  im  Nacken  hatten,  die  darin  eine 
Anerkennung  der  deutschen  Wahlgeometrie  für  ewige  Zeiten  sahen.  Die 
.lungtschechen,  die  um  der  großen  Vorteile  willen,  die  das  gleiche  Wahl- 
recht dem  tschechischen  Volke  bot  (die  Zahl  seiner  Vertreter  stieg  von 
60  auf  108),  den  Deutschen  schon  so  viele  Konzessionen  gemacht  hatten, 
wußten,  daß  sie  ihre  Existenz  als  Partei  gefährdeten,  wenn  sie  den 
Deutschen  auch  noch  diese  letzte  Konzession  machten.  Und  darum 
sträubten  sie  sich  mit  Händen  und  Füßen  dagegen  und  drohten  mit  Obstruk- 
tion, wenn  man  sie  überstimmen  wollte.  Unterstützung  fanden  sie  in  dieser 
Frage  nur  bei  den  Südslawen  und  Ruthenen,  während  sich  die  Polen  zu 
den  Deutschen  schlugen.  Die  Polen,  die  bei  der  Reform  durch  die  unge- 
heuerlichste Wahlgeometrie  die  Ruthenen  betrogen  hatten,  fürchteten 
nämlich  mehr  noch  als  die  Deutschen,  daß  in  wenigen  Jahren  eine  Ände- 
rung der  Wahlkreise  eintreten  könnte,  und  sie  waren  es,  die  insgeheim 
die  Deutschen  hetzten,  nicht  nachzugeben. 

Es  war  auf  beiden  Seiten  ein  Kampf  nicht  um  materielle  Vorteile,  son- 
dern einer  jener  für  die  österreichische  Politik  so  symptomatischen 
Kämpfe  um  die  „nationale  Ehre".  Es  war  völlig  gleichgültig,  ob  jene 
Garantie  der  Zweidrittelmehrheit  in  das  Gesetz  aufgenommen  werde  oder 
nicht,  aber  gerade  darum  ward  der  Kampf  auf  beiden  Seiten  mit  größter 
Leidenschaft  geführt.  Lange  bemühte  sich  die  Regierung  vergeblich,  beide 
Parteien  für  ein  Kompromiß  zu  gewinnen.  Dieses  Kompromiß  sollte  darin 
bestehen,  daß  entweder  die  Zweidrittelmehrheit  nur  für  12  oder  18  Jahre 
erforderlich   sein   solle   oder   daß   sie  durch   eine  Dreifünftel-   oder  Sieben- 


430  Der  Sie«  des  gleichen  Wahlrechts. 

Standes  und  aus  dem  Willen  der  Völker  geboren.  Wegen  der  Be- 
dingungen für  die  Möglichkeit  einer  zukünftigen  Änderung 
will  man  nun  die  augenblickliche  Notwendigkeit,  allerdings 
nur  in  Worten,  in  Frage  stellen;  denn  ich  glaube,  daß  keiner  der 
Abgeordneten,  auch  jene  nicht,  die  diesem  §  42  am  allerschärfsten 
widersprechen  oder  daraus  eine  conditio  sine  qua  non  machen,  ernst- 
lich die  Eventualität  in  Aussicht  nimmt,  die  Wahlreform  wirklich 
scheitern  zu  lassen!  Das  Argument  von  der  Zufallsmajorität  ist  nicht 
stichhältig,  wenn  man  weiß,  welch  komplizierter  Apparat  dazu  ge- 
hört, in  unserem  Parlament  den  kleinsten  und  unerheblichsten  An- 


zwölftelmehrheit  ersetzt  werde  oder  daß  die  einfache  Mehrheit  genüge, 
jedoch  die  Anwesenheit  von  zwei  Dritteln  oder  drei  Fünfteln  oder  sieben 
Zwölfteln  aller  Abgeordneten  erforderlich  sein  solle.  Aber  beide  Parteien 
wiesen  diese  Vorschläge  entrüstet  zurück.  Die  Frage  war  eine  Frage  der 
nationalen  Ehre  geworden.  Vergebens  versuchte  der  Ministerpräsident 
Beck,  der  Sache  mit  den  taktischen  Kunststücken  —  in  denen  er  gerade- 
zu ein  Meister  war  —  beizukommen.  Die  Wahlreform  war  wieder  an 
einem  toten  Punkt  angelangt.  Da  die  Wahlreformfreunde  aller  Nationen 
gern  Frieden  geschlossen  hätten,  die  Schwierigkeiten  hauptsächlich  bei 
den  konservativen  Abgeordneten  lagen,  so  veranlaßte  Freiherr  v.  Beck 
den  Kaiser,  wieder  einzugreifen.  So  wurden  denn  plötzlich  eines  Vor- 
mittags die  parlamentarischen  Minister  zum  Kaiser  berufen,  der  ihnen 
seinen  Wunsch  aussprach,  daß  die  Wahlreform  raschest  erledigt  werde, 
und  mit  einer  bei  ihm  ungewohnten  Energie  sie  darauf  aufmerksam 
machte,  daß  auf  Grund  der  geltenden  Wahlordnung  nicht  mehr  gewählt 
werden  könne.  Der  polnische  Landsmannminister  Graf  Dzieduszycki 
schilderte  in  den  Wandelgängen  des  Parlaments  sein  Gespräch  mit  dem 
Kaiser  in  seiner  drolligen  Weise  folgendermaßen:  „Da  sind  wir  jeder  auf 
eine  Bank  gelegt  worden  und  haben  unsere  fünfundzwanzig  bekommen, 
und  damit  war  die  Audienz  vorbei."  Das  war  am  Mittwoch  den 
24.  Oktober.  Und  am  Donnerstag  wurde  mit  32  gegen  12  Stimmen  der 
Kompromißantrag  angenommen,  der  von  einer  Zweidrittelmajorität  nicht 
mehr  sprach,  wohl  aber  die  Anwesenheit  von  343  Abgeordneten 
(344  wären  zwei  Drittel  aller  Abgeordneten)  zur  Beschlußfassung  über 
die  Änderung  von  Wahlkreisen  verlangte,  wobei  aber  das  Präsidium,  die 
amtierenden  Schriftführer  und  die  Minister  nicht  zu  zählen  waren.  Aus. 
diesem  lächerlichen  Kompromiß  ist  die  Natur  des  ganzen  Streites  klar 
zu  erkennen.  Und  doch  war  das  der  gefährlichste  Konflikt  und  um  ein 
Haar  wäre  an  ihm  die  Wahlreform  gescheitert. 

Aber  am  23.  Oktober,  als  Adler  im  Ausschuß  zu  Worte  kam,  war  die 
Sache  noch  sehr  gefährlich,  wenn  die  Stimmung  auch  schon  im  Abflauen, 
war.  Der  erste  Redner  war  der  Abgeordnete  Schusterschitz,  der 
erklärte,  daß  die  Sache  leider  eine  Prestigefrage  geworden  sei.  Infolge- 
dessen sei  die  Stellungnahme  für  die  Slowenen  von  selbst  gegeben;  sie 
würden  in  der  Frage  der  Zweidrittelmajorität  mit  den  Tschechen  stehen 
und  fallen.  Aber  er  trat  doch  in  sehr  eindringlichen  Worten  für  die  zwin- 
gende Notwendigkeit  ein,  eine  Formel  zu  finden,  durch  deren  Annahme 
der  Streit  so  beigelegt  werde,  daß  es  weder  Sieger  noch  Besiegte  gäbe. 
Er  deutete  an,  daß  die  Lösung  darin  liegen  werde,  an  Stelle  der  quali- 
fizierten Majorität  die  qualifizierte  Präsenzziffer  zu  setzen.  Dann  kam 
Dr.  Adler  zu  Wort. 


Prestigefragen.  431 


trag  durchzusetzen.  Worte  wie  Überrumpelung  usw.  sind  nichts 
anderes  als 

rhetorische  Übertreibungen, 

die  geeignet  sind,  in  weiten  Kreisen  der  Bevölkerung  falsche  Vor- 
stellungen zu  erwecken.  Zum  Glücke  ist  es  nicht  gelungen,  die 
Massen  wegen  dieser  Forderung  in  Aufregung  zu  versetzen,  sondern 
die  Debatte,  die  wir  hier  führen,  erregt  bei  dem  größten  Teile  der 
Bevölkerung  nur  das  Gefühl  der  maßlosesten  Verwunde- 
rung und  einer  nicht  mehr  zurückzuhaltenden  Un- 
geduld, weil  man  sich  hier  wegen  einer  Bagatelle  streitet  und  das 
Fertigstellen  der  Wahlreform  verzögert.  Bei  diesem  Anlaß  sei  auch 
festgestellt,  daß  es  ein  schwerer  Irrtum  des  Abgeordneten  Doktor 
Stransky*)  ist,  wenn  er  annimmt,  die  tschechischen  Sozialdemokraten 
würden  es  billigen  oder  auch  nur  ruhig  hinnehmen,  wenn  die  Wahl- 
reform wegen  der  Zweidrittelmajorität  vereitelt  würde.  Dafür,  daß 
das  Gegenteil  richtig  ist,  und  daß  in  der  Entschlossenheit,  für  die 
Wahlreform  einzutreten,  kein  Unterschied  zwischen  tschechischen 
und  deutschen  Sozialdemokraten  besteht,  dafür  hat  Herr  Doktor 
Stransky  heute  schon  einige  Beweise.  (Zwischenruf  des  Abgeord- 
neten C  h  o  c ;  Abgeordneter  Zazvorka**):  Weil  sie  sich  von  Wien 
kommandieren  lassen!)  Sie  haben  von  Ihren  Nationsgenossen,  den 
tschechischen  Arbeitern,  die  sehr  selbständige  Leute  sind,  eine  sehr 
falsche  Anschauung,  wenn  Sie  wirklich  meinen,  sie  würden  eine  Be- 
einflussung von  irgendeiner  Seite  dulden.  (Abgeordneter  Choc: 
Das  haben  wir  ihnen  immer  vorgeworfen.)  Eine  falsche  Behauptung 
wird  dadurch  nicht  zur  Wahrheit,  daß  man  sie  oft  wiederholt. 

Der  nationale  Besitzstand  der  Deutschen  und  Polen  ist  durchaus 
nicht  in  den  Ziffern  fixiert,  die  jetzt  durch  die  Zweidrittel-  oder  eine 
andere  qualifizierte  Majorität  gesichert  werden  sollen.  Es  ist  nicht 
wahr,  daß  der  nationale  Besitzstand  der  Deutschen  der  einfachen 
Majorität  preisgegeben  ist.  Der  wichtigste  ziffermäßige  Inhalt  des 
nationalen  Besitzstandes  der  Deutschen  liegt  nicht  in  der  Einteilung 
der  Wahlkreise,  sondern  in  der  Verteilung  der  Mandate 
auf  die  Länder.  Man  möge  auch  nicht  vergessen,  daß  der  Aus- 
schuß nicht  allein  und  nicht  in  erster  Linie  um  die  Verteilung  der 
Mandate  innerhalb  eines  Kronlandes,  sondern  um  das  Verhältnis  der 
Gesamtzahlen  der  Mandate  der  einzelnen  Nationen  zueinander  zu 
kämpfen  hatte.  Dieses  Verhältnis  ist  aber  im  §  6  des  Staatsgrund- 
gesetzes festgestellt,  der  an  und  für  sich  schon  durch  die  Zwei- 
drittelmajorität gesichert  erscheint.  Es  berührt  deshalb  jeden,  der 
die  Sache  einigermaßen  ruhig  ansieht,  eigentümlich,  daß  man  auf 
beiden  Seiten  die  Sicherung  des  nationalen  Besitzstandes  und  die 


*)  Dr.  Stransky  hatte  in  seiner  Rede  im  Ausschuß  behauptet,  daß  die 
tschechischen  Sozialdemokraten  auf  seiner  Seite  stünden,  und  als  diese 
deutlich  erklärten,  daß  sie  seine  nationalistischen  Treibereien  gegen  die 
Wahlreform  nicht  unterstützen,  und  auch  eine  Demonstration  gegen  ihn 
veranstalteten,  warf  er  ihnen  später  wieder  vor,  daß  sie  Terrorismus  üben 
und   dem  deutschen  Diktat  gehorchen. 

'*)   Zazvorka     war   ein   tscheschischer  Agrarier. 


432  Der  Sietf  des  gleichen  Wahlrechts. 

eventuelle  Möglichkeit,  diesen  Besitzstand  abzuändern,  an  einem 
Orte  sucht,  wo  der  Schwerpunkt  gar  nicht  liegt.  Nach- 
dem die  Verteilung  der  Mandate  nach  Kronländern  bereits  fest- 
gestellt und  das  Präzipuum  der  Deutschen  und  Polen  in  dieser 
Mandatsverteilung  auf  die  Kronländer  sichergestellt  ist,  kann  man 
jetzt  nicht  aus  einer  Frage  einen  Kriegsfall  und  einen  Ehrenpunkt 
machen,  die  in  zweiter  Linie  steht,  nämlich  aus  der  Sicherung  der 
Wahlkreiseinteilung  innerhalb  der  einzelnen  Kronländer.  Man  legt 
darauf  einen  großen  Wert,  obwohl  man  sehr  gut  weiß,  daß  auch 
diese  Festlegung  keiner  mechanischen  Sicherung  bedarf.  Ich  glaube, 
die  Ausschußmitglieder  leiden  sämtlich  an  einer  unmäßigen  Über- 
schätzung des  Wertes  der  einfachen  mechanischen  Ziffern.  Es  ist 
nicht  richtig,  daß  sich  die  politische  Macht  einer  Partei  oder  eines 
Volkes  an  diese  Ziffern  so  bindet,  wie  hier  angenommen  wird.  Es 
ist  auch  nicht  richtig,  daß  diese  Ziffern  mit  der  politischen  Macht 
des  deutschen  oder  tschechischen  Volkes  so  wesentlich  zusammen- 
hängen, daß  die  Macht  der  einen  Nation  dadurch  ins  Ungemessene 
erhöht,  die  der  anderen  Nation  vernichtet  oder  erheblich  vermindert 
wird,  wenn  das  eine  Volk  um  drei  Mandate  mehr,  das  andere  um 
drei  Mandate  weniger  bekommt.  Die  heute  bestehende  Wahlordnung 
ist  durch  alle  möglichen  mechanischen  Schutzmaßregeln  gesichert 
und  liegt  heute  dennoch  in  Trümmern.  Umgekehrt  war  bisher  die 
Wahlkreiseinteilung  nur  unter  die  einfache  Majorität  gestellt  und 
trotzdem  ist  es  niemand  eingefallen,  eine  Abänderung  zu  versuchen, 
und  wenn  einmal  ein  ernster  Versuch  gemacht  wurde,  wie  im  Jahre 
1893,  ist  er  trotz  der  einfachen  Majorität  nicht  gelungen.  Denn  die 

politische  Entwicklung  der  Bevölkerung 

ist  das  Entscheidende,  ob  eine  Einrichtung  befestigt  oder  beseitigt 
werden  soll,  wenn  sie  obsolet  geworden  ist.  Auch  diese  Wahlreform 
wird  gemacht  werden  müssen,  nicht  weil  eine  Zweidrittelmajorität 
im  Hause,  sondern  weil  eine  Zweidrittelmajorität  in  der 
Bevölkerung  dafür  vorhanden  ist.  Eine  Änderung  der  jetzt  zu 
beschließenden  Wahlordnung  wird  erst  dann  wieder  möglich  sein, 
wenn  die  wirklichen  Machtverhältnisse  zwischen  den  Völkern  ver- 
schoben, die  Entwicklung  der  Kultur  eine  derartige  sein  wird,  daß 
die  bestehenden  Zustände  unerträglich  erscheinen  und  durch  neue 
abgelöst  werden  müssen.  Es  scheint  mir,  daß  die  Luft  im  Wahl- 
reformausschuß stark  von  dem  beeinflußt  ist,  was  Karl  Marx  als 
„p  arlamentarischen  Kretinismus"  bezeichnete,  ohne 
damit  selbstverständlich  die  einzelnen  Abgeordneten,  sondern  nur 
die  eigentümliche,  in  den  Parlamenten  entwickelte 

Wahnvorstellung 

zu  meinen,  daß  das  Parlament  nicht  bloß  der  Exponent,  sondernder 
Beweger  der  Dinge  im  letzten  Ende  sei.  Wenn  die  Sozialdemo- 
kraten der  Wahlreform  unbedingt  zum  Durchbruch  verhelfen  wollen, 
so  bedeutet  das  nicht,  daß  sie  sie  für  tadellos  halten.  Sie  wissen,  daß 
einer  der  Hauptmängel  in  der  Verteilung  der  Mandate  liegt,  die  sich 
allerdings    an    die    bestehenden    nationalen  Verhältnisse    mit  Not- 


Prestigefragen.  433 


wendigkeit  anpassen  muß,  und  obwohl  die  Wahlkreiseinteilung  mit 
allem  Raffinement  der  Wahlgeometrie  gegen  die  Arbeiterschaft  ge- 
macht wurde,  weiß  diese  doch,  daß  es  notwendig  sei,  den  Schritt, 
der  in  der  Wahlreform  liegt,  jetzt  zu  machen  und  dasjenige  zu  rea- 
lisieren und  gesetzgeberisch  festzulegen,  was  sich  als  Ergebnis  der 
großen  politischen  Umwälzungen,  in  welchen  wir  in  den  allerletzten 
Jahren  leben,  darstellt.  Speziell  in  Niederösterreich,  Böhmen  und 
Mähren  hat  die  Wahlgeometrie  gegen  die  Sozialdemokraten  wahre 
Orgien  gefeiert  und  deswegen  kann  man  von  unserer  Partei  nicht 
verlangen,  daß  sie  noch  außerdem  Schutzmaßregeln  zu  treffen  hilft, 
damit  Änderungen  dieser  Wahlkreiseinteilung  nicht  möglich  sein 
sollen.  Ich  werde  daher  als  Vertreter  der  Sozialdemokraten  im  Aus- 
schuß auch  gegen  die  Sicherung  der  Wahlkreiseinteilung  durch  eine 
Qualifizierte  Majorität  stimmen.  Die  Sozialdemokraten  verkennen 
aber  nicht,  daß  das  Bestehen  oder  Nichtbestehen  dieser  sogenannten 
Schutzmaßregel  eine  Sache  von  untergeordneter  Wichtigkeit  sei,  und 
erklären,  daß  sie  sich  als  Partei  für  das  Plenum 

vollständig  freie  Hand 

wahren  wollen  und  werden,  um  einen  günstigen  Abschluß  der  Wahl- 
reform zu  fördern  und  zu  sichern.  Die  Sozialdemokraten  stehen  auf 
dem  Standpunkt:  die  geforderten  Schutzmaßnahmen  sind  ebenso 
überflüssig  wie  schädlich,  ihre  Schädlichkeit  aber  ist  so  gering  und 
so  wenig  aktuell,  daß  sie  nicht  in  Betracht  kommt,  wenn  es  sich 
darum  handelt,  das  Zustandekommen  der  Wahlreform  zu  sichern. 
Der  Ausschuß  hat  einfach  die  Aufgabe,  eine  Formel  zu  finden, 

die  den  Ehrenpunkt  beseitigt. 

Man  sollte  meinen,  daß  auch  nationale  Parteien  so  vernünftig 
seien  (Widerspruch  bei  den  Tschechischradikalen.  —  Abgeordneter 
Zazvorka:  Nehmen  Sie  sich  in  acht,  wir  lassen  uns  hier  nicht 
beleidigen!  Sie  haben  die  Vernunft  nicht  gepachtet!)  und  die  tat- 
sächlichen Verhältnisse  so  ansehen  könnten,  wie  sie  in  Wirklichkeit 
liegen.  Diese  Parteien  sind  durchaus  nicht  gezwungen,  sich  fort- 
während auf  falsche  Wertungen  einzulassen  und  sich  durch  diese 
falschen  Wertungen  zu  ihrem  eigenen  Schaden  geradezu  selbst  zu 
täuschen.  Sowohl  die  Tschechen  wie  die  Deutschen  übertreiben  maß- 
los die  Wichtigkeit  der  Frage 

zum  Schaden  ihres  eigenen  Volkes 

und  sie  sind  auf  dem  besten  Wege,  sich  durch  diese  Übertreibungen 
enorm  zu  schädigen.  Fs  wäre  hoch  an  der  Zeit,  daß  endlich  die  klare 
Einsicht  in  die  politische  Notwendigkeit  die  Oberhand  gewinnen 
würde.  Wir  haben  noch  eine  lange  Debatte  und  mithin  eine  große 
Spanne  Zeit  vor  uns,  die  bei  diesem  Punkte  hier  rettungslos  geopfert 
wird.  Allein  ich  darf  die  Hoffnung  aussprechen,  daß  das,  was  ein 
Gebot  der  Notwendigkeit  und  der  politischen  Vernunft  ist,  daß  man 
nämlich  wirkliche  Vorteile  nicht  eingebildeten  Dingen  opfert,  auch 
hier  in  diesem  Ausschuß  bei  dieser  Frage  zum  Durchbruch  kommen 
wird. 

Adler,  Bride.   X.  Bd.  28 


434  Der  Sie^  des  gleichen  Wahlrechts. 

Schutz  der  Wahlfreiheit. 

Ausschuß,  5.  November  190 6*). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  erklärt  es  für  selbstverständlich,  daß 
auch  seiner  Partei  daran  gelegen  ist,  daß  der  Wille  der  Wähler- 
schaft vor  Vergewaltigungen  geschützt  wird.  Allzuviel  erwarte  er 
allerdings  von  strafgesetzlichen  Bestimmungen  nicht.  Das  Wich- 
tigste, was  geschehen  konnte,  um  Delikte  zu  vermeiden,  sei  durch 
die  Wahlreform  geschehen;  denn  dadurch,  daß  jedem  das 
gleiche  Recht  gegeben  wird,  wurde  die  Achtung 
vor  dem  Rechte  desanderen  am  meisten  gefördert 
und  gefestigt.  Die  Delikte,  um  welche  es  sich  bei  Wahlen 
handelt,  sind  aber  solche,  bei  denen  die  wirtschaftlich  Schwachen 
viel  häufiger  Objekt  als  Subjekt  des  Deliktes  sind.  Die  Fälle  aber, 
in  denen  die  wirtschaftlich  Schwachen  Objekt  des  Deliktes  sind, 
kommen  in  den  allerseltensten  Fällen  zur  Anzeige,  geschweige  denn 
zur  Verfolgung  oder  zur  Bestrafung,  während  jene  Fälle,  in  denen 
die  wirtschaftlich  Schwachen  selbst  gegen  das  Gesetz  verstoßen, 
sehr  häufig  zur  Anzeige  und  zur  Bestrafung  gelangen.  Darin  liegt 
etwas  Bedenkliches.  Ich  spreche  nicht  gegen  das  Gesetz; 
ich  akzeptiere  es  im  großen  und  ganzen,  wenn  ich  auch  manche 
Bestimmungen  für  zu  kautschukartig,  andere  für  zu  eng 
halte.  Das  Bedenken  aber  kann  ich  nicht  unterdrücken,  daß  jede 
Pression  in  Wahlangelegenheiten,  die  an  dem  wirtschaftlich 
Schwachen  immer  verübt  worden  ist  und  verübt  werden  wird,  in 
den  allermeisten  Fällen  der  Anzeige  und  um  so  mehr  der  Be- 
strafung entgehen  wird.  Die  Wahlbeeinflussungen,  mit  denen  in 
vielen  Fällen  die  Unternehmer  gegen  die  von  ihnen  wirtschaftlich 
Abhängigen  vorgegangen  sind,  sind  sehr  arger  Natur,  ein  großer 
Teil  dieser  Beeinflussungen  wird  aber  jetzt  durch  die  einfache  Tat- 
sache wegfallen,  daß  die  Wahlen  direkt  und  geheim 
sein  werden.  Es  wird  schwerlich  dazu  kommen,  daß  ein 
Arbeiter  seinen  Unternehmer  wegen  Wahlbeeinflussung  anzeigt,  es 
wird  insbesondere  niemals  dazu  kommen,  daß  eine  öffentliche  Be- 
hörde oder  eine  Gemeinde,  die  zugleich  über  ein  Unternehmen  ver- 
fügt, von  einem  Angestellten  wegen  Wahlbeeinflussung  angezeigt 
wird.  Andererseits  aber  werden  die  Fälle  gewiß  häufig  sein,  in  denen 
die  Unternehmer  jede  starke  Agitation  als  eine  Wahlbeeinflussung 
zur  Anzeige  bringen  und  die  Bestrafung  der  dieser  Delikte  Be- 
schuldigten durchsetzen  werden. 

Eine  andere  Gefahr  des  Gesetzentwurfes  liegt  darin,   daß  der 

Mißbrauch  der  Amtsgewalt, 

der  allerdings  im  Strafgesetz  bereits  mit  sehr  scharfen  Strafen  be- 
droht ist,  darin  völlig  unerwähnt  gelassen  wurde.  Man  kann  alle 

*)  Dem  Wahlreformausschuß  war  außer  der  eigentlichen  Wahlreform 
auch  das  Wahlschutzgesetz  zugewiesen  worden.  Als  es  am  5.  November 
zur  Verhandlung  im  Ausschuß  kam,  legte  Dr.  Adler  die  prinzipielle  Stellung 
dazu  dar. 


Schutz  der  Walillmhcit.  435 


Achtung  vor  der  Legalität  tmcl  dem  Pflichteifer  der  Beamten  haben, 
aber  111:111  kann  doch  nicht  deshalb  so  weit  gehen,  daß  man  den 
Mißbrauch  der  Amtsgewall  für  ein  so  großes  Delikt  hält,  daß  es 
Überhaupt  gar  nicht  vorkommt,  und  daß  man  es  deshalb  in  diesem 
Gesetzentwurf  gar  nicht  erwähnt.  Es  wäre  von  großem  Wert,  wenn 
dieser  spezielle  Fall  des  Mißbrauches  der  Amtsgewalt  durch  Auf- 
nahme in  den  Entwurf  in  den  Bereich  der  realen  Möglichkeiten  und 
der  Bestrafung  gestellt  würde,  wenn  dies  auch  nur  dadurch  ge- 
schehen würde,  daß  von  dem  Mißbrauch  der  Amtsgewalt  gesagt 
wird,  daß  er  nicht  nach  diesem  Gesetz,  sondern  nach  dem  all- 
gemeinen Strafgesetz  zu  bestrafen  ist.  Je  mehr  man  eine  erziehe- 
rische Wirkung  von  diesem  Gesetzentwurf  erwartet,  um  so  not- 
wendiger wird  es  sein,  auch  dem  Beamten  und  dem  amtlichen 
Funktionär,  der  bei  Wahlen  beteiligt  ist,  das  Bewußtsein  einzu- 
prägen, daß  ein  Delikt  gegen  die  Wahlordnung  und 
gegen  das  Recht  der  Wähler  ein  ebensolcher  Miß- 
brauch der  Amtsgewalt  ist  wie  jeder  andere. 

Das  Wählen  im  Auftrag. 

Der  Redner  bespricht  auch  jenen  so  verbreiteten  Wahlmiß- 
brauch, der  wohl  am  allermeisten  vorkommt,  jene  Form  des  Wahl- 
betruges nämlich,  bei  welchem  jemand  für  einen  anderen  wählen 
geht.  Eine  große  Anzahl  der  Fälle,  die  zur  Abstrafung  gekommen 
sind,  haben  sich  in  Wien  ereignet.  Dabei  wurde  auch  eine  Anzahl 
Sozialdemokraten  gestraft  und  er  lege  deshalb  den  größten  Wert 
darauf,  sich  darüber  mit  der  größten  Offenheit  zu  äußern.  Selbst- 
verständlich könne  niemand  billigen  oder  entschuldigen,  wenn  je- 
mand für  einen  anderen  wählt.  Es  ist  ein  solcher  Vorgang  im 
Gegenteil  auf  das  allerschärfste  zu  verurteilen.  Ein  großer  Teil  der 
Wiener  Wählerschaft  aber  befindet  sich  in  der  Stimmung  und  hat 
die  Überzeugung,  daß  ihr  schon  bei  der  Anlegung  der 
Wählerlisten  und  beim  Hergang  der  Wahl  ein 
schweres  Unrecht  geschehen  ist.  Ob  diese  Meinung 
berechtigt  sei  oder  nicht,  darüber  wolle  er  jetzt  nicht  streiten,  aber 
bei  der  Beurteilung  dieser  Vorkommnisse  spielt  das  mit.  Es 
ist  aber  außerdem  ein  wichtiger  Unterschied  festzuhalten.  Wenn 
sich  jemand  Legitimationen  von  Leuten  verschafft,  die  er  nicht 
kennt,  und  sie  ohne  ihre  Zustimmung  und  geradezu  gegen  ihren 
Willen  benützt  und  die  Stimmen  in  einer  Richtung  für  sie  abgeben 
läßt,  die  diese  Leute  am  schärfsten  perhorreszieren,  so  ist  das  ent- 
schieden ein  Wahlbetrug  in  ausgesprochenem  Sinne  des  Wortes. 
Es  gibt  aber  Leute,  die  verhindert  sind,  zur  Wahl  zu  gehen 
und  für  die  nun  andere  —  auch  das  sei  ja  gewiß  illegal  und  straf- 
bar —  unter  Benützung  der  Legitimation  wählen.  Indem  sie  dies 
tun,  vereiteln  sie  nicht  den  Willen  des  anderen,  sie  führen  ihn  viel- 
mehr aus  und  in  sehr  vielen  Fällen  befinden  sie  sich  in  dem  guten 
Glauben,  daß  sie,  obwohl  sie  gegen  das  Gesetz  verstoßen,  doch 
die  Tendenz  des  Gesetzes  und  den  Willen  des  Wählers  gegenüber 
Machinationen,  denen  sie  sonst  nicht  gewachsen  sind,  zur  Geltung 
bringen.    Der    Redner   sei    überzeugt,   daß   auch    dieses   Delikt,    das 

28* 


436  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

moralisch  schwächste,  von  dem  überhaupt  die  Rede  sein  könne, 
nicht  mehr  in  dem  Maße  vorkommen  wird  wie  bisher,  weil  das 
Bewußtsein,  das  gleiche  Recht  zu  haben  wie  der 
andere,  vorwalten  wird.  Wenn  der  Abgeordnete  Abra- 
hamowiez  von  einem  Schutze  der  Kandidaten  sprach,  so 
glaube  er,  der  gerade  in  bezug  auf  das  Kandidieren  eine  sehr  große 
Erfahrung  habe,  daß  es  eines  solchen  Schutzes  nicht  bedürfe.  Ein 
solch  besonderer  Schutz  liege  aber  auch  gewiß  nicht  darin,  wenn 
dem  Kandidaten  das  Recht  eingeräumt  wird,  anstatt  auf  Grund  des 
Strafgesetzes  auf  Grund  des  Wahlgesetzes  zu  klagen.  Wohl  aber 
befürchte  Redner,  daß  die  Gefahr  vergrößert  wird,  was  durch  den 
Gesetzentwurf  überhaupt  heraufbeschworen  wird,  daß  die  Wahl- 
agitation allzusehr  behindert  wird.  Seine  Partei  aber 
wünsche  nicht,  daran  behindert  zu  werden,  die  Wahrheit  auch  über 
die  Kandidaten  zu  sagen.  Der  Redner  wendet  sich  schließlich 
gegen  die  Einsetzung  eines  Subkomitees,  da  die  Übersichtlichkeit 
des  Gesetzentwurfes  und  der  Umstand,  daß  alle  Parteien  in 
gleichem  Maße  daran  interessiert  sind,  eine  Verhandlung  im  Voll- 
ausschuß empfehlen. 

Immer  neue  Ränke. 

Zweite  Lesung  der  Wahlreform, 
8.  November  190  6*). 

Es  sind  jetzt  dreizehn  Monate  her,  daß  hier  Dringlichkeitsanträge 
über  das  allgemeine,  gleiche  Wahlrecht  beraten  wurden.  Im  Ver- 
lauf dieser  dreizehn  Monate  hat  das  allgemeine  Wahlrecht  den  Weg 
von  einer  akademischen  Demonstration  der  Majorität  des  Hauses 
für  das  Prinzip  zu  seiner  Verwirklichung  zurückgelegt.  Heute  stehen 
wir  nicht  mehr  vor  einer  bloßen  Forderung  der  breiten  Massen,  ja 
nicht  einmal  mehr  vor  einer  Vorlage,  die  dies  Produkt  der  Ver- 
zweiflung der  Herrschenden  ist,  der  Verzweiflung  an  dem  Bestand 
und  der  Existenzmöglichkeit  Österreichs  unter  den  alten  Bedin- 
gungen, heute  stehen  wir  vor  einem  Werke,  das  das  gemeinsame 
Arbeitsprodukt   aller  großen  Parteien   dieses  Hauses   ist.   Das   ist 


*)  Am  30.  Oktober  war  der  Wahlreformausschuß  mit  dem  Gesetz  fertig 
geworden.  Aber  noch  immer  drohte  die  Gefahr  der  Obstruktion  im  Parla- 
ment. Also  mußte  auch  dafür  vorgesorgt  werden,  und  im  Namen  der  Wahl- 
reformparteien brachte  Dr.  Geßmann  am  31.  Oktober  im  Hause  einen 
Dringlichkeitsantrag  ein,  daß  der  Bericht  des  Ausschusses  sofort  in  Ver- 
handlung gezogen  werden  solle.  Wie  wichtig  das  war,  geht  daraus  hervor, 
daß  zwanzig  Abgeordnete  —  die  Tschechischradikalen,  die  slowenischen 
Liberalen  und  Sternberg  —  bereits  Obstruktionsanträge  zur  Verhinderung 
der  Beratung  der  Wahlreform  eingebracht  hatten.  Sie  waren  allerdings  zu 
spät  gekommen.  Am  5.  November  kam  der  Dringlichkeitsantrag  Geßmanns 
zur  Verhandlung.  Trotz  der  Krawalle  der  Alldeutschen,  unter  denen  be- 
sonders Schönerer  einen  förmlichen  Anfall  erlitt,  wurde  in  der  nächsten 
Sitzung  am  7.  November  die  Dringlichkeit,  das  heißt  die  sofortige  Ver- 
handlung des  Berichtes  des  Ausschusses,  also  die  Vornahme  der  zweiten 


Immer  neue  Ränke.  4.J7 


nicht  mehr  und  Ich  Sage  das  mit  aller  Schärfe,  um  die  Verant- 
wortlichkeiten sowohl  in  positiver  als  mich  in  negativer  Beziehung 
abzugrenzen  das  allgemeine  Wahlrecht,  wie  es  die  Förderung 
der  Sozialdemokraten  war  und  ist,  sondern 

diese  Vorlage  ist  Ihr  Werk, 

und  eingegraben  sind  diesem  Werke  ebensowohl  der  politische 
Fortschritt,  den  diese  Parteien  im  Verlauf  dieses  Jahres  gemacht 
haben,  als  alle  Rückständigkeiten  der  politischen  Einsicht,  die  diesen 
Parteien  anhaften.  Die  gestrige  Abstimmung  war  eine  historische 
in  dein  Sinne,  daß  das  Parlament,  man  kann  sagen  zu  seiner  Gänze, 
sich  als  Träger  dieser  Reform  erklärt  hat.  Die  Sozialdemokraten 
sehen  diese  Entwicklung  mit  stolzer  Genugtuung,  denn  sie  waren 
die  Fahnenträger  des  gleichen  Rechtes  zu  einer  Zeit,  wo  es  noch 
als  Wahnsinn  galt,  vielleicht  als  menschenfreundliche,  ideologische 
Verirrung  politischer  Phantasten.  (Sehr  gut!)  In  diese  Genugtuung 
mischt  sich  aber  gar  nichts  von  der  Torheit,  zu  meinen,  daß  allein 
die  Arbeiterklasse  und  ihre  Notwendigkeiten  die  Wahlreform  zum 
Siege  getragen  haben.  Die  politische  Notwendigkeit  für  die  Arbeiter- 
klasse ist  zum  Siege  gelangt,  weil  sie  zugleich  die  Notwendigkeit 
dieses  Staates  und  aller  Völker  ist.  Nichts  ist  törichter  als  das 
Gerede,  das  wir  in  diesem  Jahre  so  oft  gehört  haben,  das  Gerede 
von  dem 

Terrorisnius  von  unten 

und  neuerdings  auch  von  der 

Einschüchterung  von  oben» 

Von  der  sehr  feinen,  höchst  aristokratischen  Minorität  —  es 
sind  allerdings  unter  den  Gegnern  auch  einige  Elemente,  die  wohl 
nur  so  viel  Ahnen  zählen,  als  die  tollwütige  Demagogie  in  allen 
politischen  Dingen  Ahnen  zählt  —  wird  mit  Hohn  gesagt,  die 
Regierung  habe  sich  vor  der  Straße  gebeugt,  und  auf  der  anderen 
Seite  wird  allen  Freunden  der  Wahlreform  gesagt,  sie  seien  die 
Sklaven  der  Dynastie. 

Abgeordneter  Seitz:  Bezahlt! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Von  dem  Delirium,  das  wir  gestern 
vernommen  haben,  lassen  Sie  mich  schweigen.  Es  ist  unter  unserer 

Lesung  mit  weit  mehr  als  der  erforderlichen  Zweidrittelmehrheit,  nämlich 
mit  227  .^egen  46  Stimmen  beschlossen.  Noch  am  7.  November  begann  die 
zweite  Lesung.  Die  Generaldebatte  füllte  die  drei  Sitzungen  vom  8.,  9.  und 

12.  November  aus,  die  Spezialdebatte  fünfzehn  Sitzungen,  sie  begann  am 

13.  November  und  endete  am  1.  Dezember. 

Am  8.  November  kam  auch  Adler  zu  Wort.  Nach  ihm  sprach  unter 
anderen  der  Tiroler  Klerikale,  Pfarrer  Schrott,  der  eigentliche  Erfinder 
des  von  Tollinger  eingebrachten  Pluralitätsantrages;  dann  Weis- 
kirchner, der  die  Pluralität  ablehnte.  Vergebens  appellierte  nochmals  der 
Ministerpräsident  Beck  an  die  Großgrundbesitzer,  worauf  Stürgkh 
noch  einmal  ankündigte,  daß  die  Großgrundbesitzer  für  die  Pluralität  und 
in  der  dritten  Lesung  gegen  die  Wahlreform  stimmen  würden. 


t$8  Der  Sietf  des  gleichen  Wahlrechts. 

Würde,  auf  Exzesse  einzusehen,  die  von  einzelnen  Desperados 
besangen  werden,  die  keine  politische  Zukunft  haben  und  denen 
mehr  um  ihre  persönliche  Zukunft  bange  ist...  Aber  ist  es  nicht 
Torheit,  zu  meinen,  daß  die  Massen  oder  die  Krone  terrorisiert 
hatten?  Die  Massen,  die  Krone  und  jene  ungeheure  Mehrheit  der 
großen  Parteien,  die  sich  gestern  gezeigt  hat,  unterliegen  alle  einem 
und  demselben  Zwange.  Meinen  Sie,  daß  die  Krone,  die  Regierungen 
sich  einer  demokratischen  Politik  freiwillig  gebeugt  haben,  daß  sie 
nicht  Vertrauen  in  ihre  Kanonen  haben?  Aber  sie  sind  endlich  so 
klug  geworden  —  es  ist  unbegreiflich,  daß,  wenn  man  einmal  oben 
klug  geworden  ist,  es  noch  immer  Leute  gibt,  die  hinter  dieser 
Klugheit  böse  Absichten  vermuten  — ,  nun  sind  sie  klug  geworden, 
daß  sie  einsehen, 

mit  Kanonen  läßt  sich  die  Sache  nicht  machen. 

Dieselbe  Notwendigkeit,  die  die  Arbeiterklasse  in  den  Kampf 
für  das  Wahlrecht  gezwungen  hat.  die  die  Krone  und  die  Regierung 
in  diesen  Kampf  gezwungen  hat,  ist  es,  die  gestern  dieses  Haus  zu 
einem  Träger  des  allgemeinen  Wahlrechtes  gemacht  hat.  Das  ist 
kein  Druck  von  unten,  das  ist  kein  Druck  von  oben,  das  ist  die 
innere  Logik  und  Notwendigkeit  der  Dinge.  Was  wir  für  uns  in 
Anspruch  nehmen,  ist  nichts,  als  daß  wir  diese  Notwendigkeit  früher 
erkannt  und  mutig  und  opferfähig  verfochten  haben. 

Für  das  vorliegende  Gesetz  im  einzelnen  müssen  wir  die  Ver- 
antwortung ablehnen.  Eine  Reihe  von  Mängeln  haftet  dem  Gesetz 
an,  die  nur  zum  Teil  der  traurigen  Notwendigkeit  der  österreichi- 
schen Verhältnisse  entspringen,  zum  anderen  Teile  aber  der  Rück- 
ständigkeit und  Furchtsamkeit  und  zum  Teil  auch  der  dünkelhaften 
Präpotenz  einzelner  Abgeordneten. 

Wir  haben  nun  ein  allgemeines  Wahlrecht.  Aber  können  wir  das 
ein  allgemeines  Wahlrecht  nennen,  solange  die  Hälfte  der  Bevölke- 
rung ausgeschlossen  bleibt?  Wir  verfechten  mit  allem  Ernst  und 
allem  Nachdruck 

das  Recht  der  Frau  auf  politische  Vertretung 

(Beifall),  auch  wrenn  wir  wissen,  daß  Österreich  noch  nicht  so  weit 
ist,  daß  Aussicht  wräre,  daß  dieses  Recht  Anerkennung  findet.  Wir 
verfechten  dieses  Recht  durchaus  nicht  im  Sinne  jener  Herren,  die 
es  wieder  bloß  für  einzelne  privilegierte  Schichten  in  Anspruch 
nehmen,  bloß  für  die  sogenannten  erwerbenden  Frauen,  womit  nur 
gewisse  Berufe  gemeint  sind,  während  sie  der  breiten  Schichten  des 
arbeitenden  weiblichen  Proletariats,  die  in  derselben  Mühsal  und 
mit  vermehrten  Opfern  und  Schwierigkeiten  im  Dienste  der  Arbeit 
stehen,  die  mehr  als  die  Männer  ausgebeutet  werden  und  denen 
mehr  Lasten  obliegen  als  den  Männern,  vollständig  vergessen.  So- 
lange nicht  die  Frauen  das  Wahlrecht  haben,  besteht  kein  all- 
gemeines Wahlrecht,  und  wir  werden  niemals  aufhören,  für  das 
Frauenwahlrecht  einzutreten.  Wir  glauben  sogar,  daß  die  Bedin- 
gungen dafür  erst  geschaffen  sein  werden,  wenn  das  allgemeine, 


Immer  neue  Ränke.  l '''' 


gleiche  und  direkte  Wahlrecht  für  die  Männer  wenigstens  verwirk- 
licht ist  (Lebhafte  Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten«) 

Aber  auch  für  die  Männer  wird  kein  allgemeines  Wahlrecht  ein- 
geführt und  ich  wiederhole  den  Protest  gegen  die  Einschränkung 
des  Wahlrechtes  durch  die 

einjährige  Seßhaftigkeit. 

Ich  weiß,  auch  die  einjährige  Seßhaftigkeit  ist  ein  Kompromiß, 
wie  ja  die  ganze  Vorlage  ein  Kompromiß  ist  zwischen  der  politischen 
Vernunft  und  den  österreichischen  Verhältnissen.  (Heiterkeit  und 
Beifall.)  Schon  diese  einjährige  Seßhaftigkeit  ist  eine  Konzession 
an  die  Vernunft;  aber  was  man  zur  Begründung  der  einjährigen 
Seßhaftigkeit  vorgebracht  hat,  hat  sich  als  ganz  unstichhältig  er- 
wiesen. Der  einzige  Grund,  den  man  vorbringen  konnte,  ist  der  von 
der  technischen  Notwendigkeit  bei  der  Anlegung  der  Wählerlisten. 
Aber  jeder  Fachmann  weiß,  daß  je  komplizierter  die  Bedingungen 
des  Wahlrechtes  gestaltet  werden,  um  so  schwerer  die  Verfassung 
der  Wählerliste  ist.  Die  Wahrheit  ist,  daß  man  einem  Teile  der 
arbeitenden  Klassen  dadurch  das  Wahlrecht  nehmen  will. 

Ich  komme  nun  zu  dem  Gebiet,  das  den  Ausschuß  am  meisten 
in  Anspruch  genommen  hat.  Der  Wahlreformausschwß  hat  eine 
politische  Arbeit  geleistet,  die  gewiß  alle  Anerkennung  verdient. 
Ich  kann  das  sagen,  denn  an  den  größten  Schwierigkeiten  waren  ich 
und  meine  Partei  nicht  beteiligt.  Er  hat  die  ungeheure  Schwierig- 
keit gelöst,  das  nationale  Kräfteverhältnis  zu  konstatieren  und  in 
Mandatsziffern  zu  fixieren.  Ich  bin  weit  entfernt,  zu  behaupten,  daß 
diese  Arbeit  in  einwandfreier  Weise  geleistet  wurde.  Im  Gegenteil, 
ich  habe  die  Überzeugung,  daß  in  einzelnen  Fällen 
ein  schweres  Unrecht  verübt  wurde. 

Das  politische  Ideal  der  Zuweisung  der  Mandate  nach  der 
Kopfzahl  ist  in  Österreich  heute  eine  unmögliche  Sache.  Darüber 
geben  wir  uns  keiner  Täuschung  hin.  Aber  wer  das  allgemeine 
Wahlrecht  will,  kann  es  nur  unter  Berücksichtigung  der  be- 
stehenden politischen  Verhältnisse  durchzusetzen  trachten.  Es  ist 
ganz  ausgeschlossen,  daß  bei  der  bestehenden  Verteilung  der 
politischen  Macht  jenes  Ideal  durchzusetzen  war,  das  den  be- 
stehenden Machtverhältnissen  so  sehr  widerspricht.  Es  ist  gewiß 
das  erstrebenswerte  Ideal,  daß  alle  Nationen  über  die  gleiche 
politische  Macht  verfügen;  aber  solange  das  nicht  der  Fall  ist, 
ist  die  Verteilung  der  Mandate  nach  der  Kopfzahl  ein  politisches 
Ideal,  das  der 

Notwendigkeit,  heute  die  Wahlreform  zu  schaffen, 

unterzuordnen  ist.  Das  hat  der  Ausschuß  auch  getan.  Er  hat 
Schritt  für  Schritt,  unter  den  furchtbarsten  Kämpfen,  immer 
begleitet  von  den  hinterlistigen  Komplotten  jener,  die  unter  dem 
Vorwand  der  nationalen  Schwierigkeiten  die  Wahlreform  über- 
haupt vereiteln  wollten,  und  von  der  Gefahr,  in  die  listigen  Schlingen 
zu  geraten,  die  diese  Übernationalen  und  Überdemokraten  legten, 
es  vollbracht,  zu  einer  Feststellung  zu  gelangen.  Wir  können  diese 


440  Der  Sieg  des  Kleichen  Wahlrechts. 

__ ___ 0 

Feststellung  im  einzelnen  nicht  billigen,  aber  wer  die  Wahlreform 
will,  muß  alles  anerkennen,  was  ein  wirkliches  Kompromiß  zwischen 
den  Völkern  ist.  Neben  den  Kompromissen  aber  sind  auch  Dinge 
hergegangen,  die  —  das  muß  offen  anerkannt  werden  —  nur  als 
Vergewaltigung  bezeichnet  werden  können.  Auch  diese  Wahlreform, 
sosehr  sie  für  alle  Völker  ein  erlösendes  Werk  ist,  ist  nicht  frei 
von  den  Spuren  der  Vergewaltigung  der  Völker.  Da  spreche  ich 
besonders  von  dem  politisch  schwächsten  der  Völker,  von  den 
Ruthenen.  Es  ist  ganz  sicher,  daß  das  ein  Fleck  auf  der  Wahlreform 
ist.  Alle 

Ausnahmsbestimmungen  für  Galizien 

bedeuten  ebenso  viele  Vergewaltigungen  am  ruthenischen  Volks- 
stamm. (Beifall.)  Es  wäre  aber  eine  Torheit,  wenn  man  aus  Ab- 
neigung gegen  diese  Vergewaltigung,  aus  dem  Wunsche,  den 
Ruthenen  ihr  volles  Recht  zu  verschaffen,  den  Ruthenen  und  auch 
allen  anderen  Völkern  gar  kein  Recht  geben  würde.  (Beifall.)  Ich 
habe  unseren  ruthenischen  Kollegen  keine  Ratschläge  zu  geben, 
aber  ich  möchte  ihnen  wohl  sagen,  daß  sie  niemand  einen 
größeren  Gefallen  tun  könnten,  wenn  sie  sich  den  Wahlrechtsfeinden 
anschließen  aus  berechtigtem  Ingrimm  über  die  ihnen  angetane  Ver- 
gewaltigung, als  den  Erzfeinden  ihres  Volkes  und  aller  Völker. 
(Beifall.)  Mögen  die  Ruthenen  nicht  vergessen,  daß  diese  Wahl- 
reform selbst  in  der  heutigen  Gestalt  erst  die  Möglichkeit,  der  Aus- 
gangspunkt ist  für  eine  Reorganisation,  eine  politische  Entwicklung 
des  ruthenischen  Volkes!  Man  möge  nicht  allzu  sanguinisch  denken, 
eine  andere  Wahlreform  müsse  für  die  Ruthenen  besser  sein. 

Wer  weiß,  wann  wieder  der  nächste  Anfall  von  politischer  Ver- 
nunft in  Österreich  sein  wird?  (Heiterkeit  und  Beifall.)  Dazwischen 
kann  ein  Meer  von  Elend  und  das  Zugrundegehen  vieler  Kultur- 
hoffnungen liegen.  Wem  verdanken  Sie  denn  Ihre  heutige  Ver- 
gewaltigung? Wrem  sonst  als  den  ungünstigen  Machtverhältnissen, 
als  Ihrer  politischen  Schwäche.  Glauben  Sie  aber,  daß  Sie  in  einem 
halben  Jahre  oder  in  zwei  Jahren  eine  größere  politische  Macht 
haben  werden?  Und  würde  irgendein  Parlament  oder  eine  Macht, 
die  eine  andere  Wahlreform  oktroyieren  würde,  mit  etwas  anderem 
rechnen  als  mit  der  wirklichen  politischen  Macht,  die  Sie  dann 
ebensowenig  haben  werden  wie  jetzt?  Dasselbe  gilt  auch  von  den 
anderen  Völkern,  die  sich  benachteiligt  fühlen.  So  benachteiligt  ist 
kein  Volk  durch  die  Verteilung  der  Mandate,  daß  es  nicht  trotzdem 
aus  dieser  Wahlreform  eine  Quelle  reicher  Entwicklung  und 
Lebensfähigkeit  schöpfen  könnte.  Allein  schon  das  direkte  und 
geheime  Wahlrecht  unter  Wegfall  der  Kurien  schafft  eine  Quelle 
von  Mißbräuchen  und  die  Möglichkeit  galizischer  Wahlen  in  sehr 
hohem  Maße  aus  der  Welt. 

Die  ganze  Debatte  im  Wahlreformausschuß  haben  nationale 
Schlagworte  beherrscht.  Bei  der  Verteilung  der  Mandate  innerhalb 
eines  Volkes  aber 

entschied  ausschließlich  das  Klasseninteresse. 


Immer  neu«   Ränke.  441 


Wir  haben  wohl  gewußt,  daß  es  uns  gelingen  kann,  den  stein  ins 
Rollen  zu  bringen;  wir  haben  gewußt,  wie  weit  unsere  politische 

Macht  reicht,  und  deshalb  haben  wir  auch  gewußt,  daß  wir  dann, 
wenn  es  sich  um  die  Einzelheiten  handeln  wird,  auf  den  nicht  sehr 
eilten  Willen  derer  angewiesen  sein  werden,  die  heute  im  Parla- 
ment die  Macht  in  der  Hand  haben  werden.  Die  Wahlbezirke  wur- 
den ganz  rücksichtslos  nach  dem  Klasseninteresse  konstruiert,  so- 
weit es  nur  irgendwie  möglich  war.  Denn  vollständig  konnte  man 
die  Arbeiter  nicht  verschwinden  machen,  nachdem  man  ihnen  ein- 
mal das  Wahlrecht  gegeben  hat.  Gerade  die  Wahlkreiseinteilung 
für  Mähren  gibt  dafür  ein  Beispiel.  Hier  besteht  der  nationale 
Kataster,  so  daß  von  nationalen  Schwierigkeiten  absolut  keine 
Rede  sein  konnte.  Aber  wenn  Sie  alle  die  komplizierten  Wahlkreis- 
einteilungen  —  und  es  sind  höchst  merkwürdige  abenteuerliche 
Kombinationen  darunter  —  durchgehen,  so  ist  darunter  die  Wahl- 
kreiseinteilung für  Mähren  die  abenteuerlichste.  Es  drückt  sich 
darin  nichts  anderes  aus  als  ein  Klassengegensatz,  der  mit  Rück- 
sichtslosigkeit bis  zum  Exzeß  seine  Mittel  wählt.  Dagegen  muß 
protestiert  werden;  aber  wir  geben  uns  nicht  der  Täuschung  hin, 
daß  wir  daran  etwas  ändern  werden.  Wir  wissen  sehr  wohl,  daß 
das,  was  der  Wahlreformausschuß  beschlossen  hat,  so  gut  wie 
unabänderlich  ist  und  daß  die  Macht  der  Sozialdemokraten  nicht 
ausreicht,  um   eine  gerechte  Einteilung  zu   schaffen. 

Ähnlich  steht  es  mit  der  Wahlordnung.  Auch  da  findet  sich  eine 
Reihe  von  komplizierten  Bestimmungen,  die  durchaus  nur  von  dem 

Mißtrauen  gegen  das  Wahlrecht  des  Volkes 

sprechen,  die  nur  von  dem  Wunsche  eingegeben  wurden,  hemmend 
einzugreifen  und  insbesondere  die  Agitation  nach  Möglichkeit  ein- 
zuschränken. Hier  wird  es  hoffentlich  gelingen,  einige  Verbesse- 
rungen durchzuführen  und  die  schlimmsten  Dinge  zu  beseitigen. 
Hier  muß  ich  auch  der 

Wahlpflicht*) 

gedenken.  Wir  Sozialdemokraten  sind  keine  Freunde  der  Wahl- 
pflicht, wir  halten  sie  in  ihren  Wirkungen  für  reaktionär  und  für 
geeignet,  die  politisch  unbeweglichen  und  rückständigen  Elemente 
zu  Entscheidern  des  politischen  Kampfes  zu  machen.  Eine  Gefahr 
aber  sehe  ich  in  der  Wahlpflicht  nicht;  ich  erblicke  darin  nichts, 
was  die  Tendenz  des  Entwurfes  vereiteln  würde,  und  wir  gestehen 
Ihnen,  daß  unsere  Abneigung  gegen  die  Wahlpflicht  wesentlich 
gemildert  wurde  durch  die  günstigen  Erfahrungen,  die  unsere  belgi- 
schen Parteigenossen  damit  gemacht  haben.  Wenn  die  Herren 
geglaubt  haben,  die  Wahlpflicht  sei  etwas,  was  speziell  der  Sozial- 
demokratie den  Strick  um  den  Hals  legen  oder  sie  wenigstens  — 

*)  Die  Wahlpflicht  war  von  Geßmann  durchgesetzt  worden,  allerdings 
nicht  obligatorisch,  sondern  nur  für  jene  Länder,  deren  Landtage  sie  be- 
schließen.   (Siehe   Ausschußsitzung   vom    1.   Oktober,   oben,   Seite  412  f.) 

Der  niederösterreichische  Landtag  hat  schon  am  24.  Dezember  1906 
die  Wahlpflicht  beschlossen. 


442  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlreehts. 

icli  weiß,  die  Herren  sind  nicht  grausam  —  an  die  Leine  legen  soll 
(Heiterkeit),  so  werden  Sie  sich  damit  irren.  Die  Sozialdemokratie 
hat  schlimmere  Kampfbedingungen  überstanden  als  die  Wahlpflicht. 
Es  war  gewiß  schwerer,  den  politischen  Kampf  zu  einer  Zeit  zu 
führen,  wo  man  die  Arbeiterschaft  zu  den  Urnen  nicht  zulassen 
wollte,  als  es  zu  einer  Zeit  sein  wird,  wo  man  sie  zur  Urne  treiben 
wird.  (Heiterkeit  und  Sehr  gut!) 

Wir  werden  uns  selbstverständlich  bei  der  zweiten  Lesung  dar- 
auf beschränken,  nur  wenige  Anträge  und  nur  in  den  allerwichtigsten 
Dingen  zu  stellen,  wo  entweder  ein  großes  Prinzip  in  Frage  kommt 
oder  wo  die  Möglichkeit  winkt,  eine  Verbesserung  durchzusetzen. 
So  bescheiden  und  zurückhaltend  aber  unser  Bestreben  sein  wird, 
die  Wahlreform  positiv  zu  verbessern,  so  energisch  und  rücksichts- 
los wird  die  Verteidigung  der  Wahlreform  gegen  Verschlechterungen 
sein.  (Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten.) 

Und  da  möchte  ich  Sie  denn  doch  vor  der  Zuversicht  warnen, 
daß  die  Prinzipien  der  Wahlreform  heute  schon  geborgen  seien. 
Nein! 

Die  Feinde  der  Völker  sind  immer  viel  fleißiger  und  eifriger  als  die 

Freunde. 

Die  Herren  rüsten  nicht  ab  und  man  hat  bis  zum  letzten  Moment 
zu  gewärtigen  . . . 

Abgeordneter   Daszynski:    Im  Herrenhause! 
Abgeordneter  Dr.  Adler:  . . .  einen 

Versuch,  durch  das  Pluralwahlrecht*) 

die  Wahlreform  zu  vereiteln.  (Zustimmung.)  Das  Plural- 
wahlrecht bedeutet  aber  nicht  allein  eine  Verschlechterung  und  Ver- 
unzierung, sondern  eine  Verderbung  und  Vernichtung  der  Wahl- 
reform. (Lebhafter  Beifall.)  Möge  aber  jedermann  wissen,  daß  nach 
wie  vor  das  gleiche  Wahlrecht  die  Grundbedingung  ist,  unter  der 
diese   Vorlage   Gesetz   werden   kann.   Möge   sich   jedermann   zum 


*)  Tatsächlich  hat  dann  die  Pluralität  noch  eine  große  Rolle  gespielt: 
Am  19.  November  begründete  der  Tiroler  Klerikale  Dr.  Tollinge  r  sein 
Minoritätsvotum  auf  Schaffung  eines  Pluralwahlrechtes  und  dieses  wurde 
am  21.  November  mit  201  gegen  143  Stimmen  abgelehnt.  Am  10.  Dezember 
beschloß  die  fierrenhauskommission  mit  14  gegen  4  Stimmen  eine  Alters- 
pluralität.  Am  14.  Dezember  hielt  dann  die  Gesamtexekutive  der  Sozial- 
demokratischen Partei  gemeinsam  mit  dem  Abgeordnetenverband  eine 
Sitzung  ab,  in  der  beschlossen  wurde,  die  Vertrauensmänner  der  politi- 
schen Organisationen  und  der  gewerkschaftlichen  Verbände  aufzufordern, 
sich  sofort  bereitzumachen,  um  unmittelbar  nach  der  Abstimmung  im 
Herrenhaus,  wenn  notwendig,  zu  einer  außerordentlichen  Reichskonferenz 
in  Wien  zusammenzutreten  und  die  zur  Durchführung  des  neuen  Wahl- 
rechtskampfes notwendigen  Beschlüsse  zu  fassen.  Zugleich  sollten  die 
seit  Mai  bestehenden  Generalstreikausschüsse  wieder  in  Funktion  treten. 

Darauf  lehnte  am  21.  Dezember  das  Herrenhaus  die  Pluralität  mit  großer 
Mehrheit  ab.  (Siehe  auch  Adlers  Rede  im  Ausschuß  vom  3.  Oktober  sowie 
die  in  der  Spezialdebatte  vom  21.  November  über  die  Pluralität  und  die 
Fußnote  über  die  Bedeutung  der  Pluralität.) 


Immer  neue  Ränke.  44.'* 


Bewußtsein  kommen  lassen,  daß  es  ohne  gleiches  Wahlrecht  eine 
Wahlreform  in  üsterreieh  nicht  «eben  kann  und  nicht  «eben  wird. 
(Lebhafter  Beifall.) 

Die  Gegner  der  Wahlreform  haben  sich  gestern  als  eine  nicht 
allzu  zahlreiche  Armee  präsentiert.  Man  darf  aber  die  Zähigkeit  und 
Rastlosigkeit  dieser  Herren,  ihreNeigung  zum  Terrorismus  und  zum 
Terrorisieren  an  Stellen,  die  weit  empfindlicher  gegen  Terrorismus 
sind  als  dieses  Haus,  nicht  unterschätzen.  Man  darf  ihre  altererbte 
Schlauheit,  ihre  Kunst,  zu  herrschen  mit  kleinen,  ohne  Rücksicht 
gewählten  Mitteln,  nicht  unterschätzen.  Wir  sind  in  der  Politik  alle 
noch  Knechte  der  Moral  und  Sittlichkeit.  Diese  alten  Herrscher  und 
Aussauger  der  Völker  stehen  längst  und  haben  immer  gestanden 
jenseits  jeder  Moral,  jenseits  jeder  Sittlichkeit,  sie  haben  immer 
rücksichtslos  und  ohne  Gewissensbisse  und  Skrupel  zur  einzigen 
Maxime  das  gemacht, 

was  sie  ihr  Herrenrecht  nennen 

(lebhafte  Zustimmung),  dessen  dekrepideste  und  kläglichste  Er- 
scheinung*) durch  die  Wahlreform  ein  Ende  nehmen  soll.  (Lebhafter 
Beifall.)  Unterschätzen  Sie  diese  Herren  nicht,  seien  Sie  auf  der 
Wacht,  und  Sie  können  das  um  so  besser,  je  schneller  Sie  die 
Wahlreform  zu  Ende  führen. 

Wir  haben  den  wichtigsten  Teil  der  Wahlreformaktion  hinter 
uns  und  obwohl  die  Wahlreform  noch  nicht  Gesetz  ist,  spürt  man 
bereits 

die  wohltätigen  Folgen  dieser  ganzen  Aktion. 

Dieses  Haus,  das  jede  Würde  preisgegeben  hat,  das  hoffnungslos 
und  desperat  in  die  eigene  Kraft  absolut  kein  Vertrauen  setzte,  das 
vollständig  entmannt  war,  hat  sich  schon  durch  den  Gedanken 
der  Wahlreform  und  den  Entschluß,  etwas  Notwendiges  und  Ver- 
nünftiges zu  tun,  aufgerafft,  und  es  ist  heute  tatsächlich  gewachsen. 
Das  hat  schließlich  auch  Leute  überzeugt,  die  dem  gleichen  Wahl- 
recht sehr  fern,  ja  fremd  und  feindselig  gegenüberstehen.  Ob  die 
große  Majorität,  die  sich  gestern  für  die  Frage  der  Dringlichkeit 
gefunden  hat,  aus  lauter  überzeugten  Freunden  des  gleichen  Rechtes 
besteht,  das  untersuchen  wir  nicht;  wir  haben  die  Gewissen  nicht 
zu  erforschen.  Für  den  politischen  Fortschritt  dieses  Hauses  ist  das 
auch  vollständig  gleichgültig.  Es  ist  durchaus  gleichgültig,  aus 
welchen  Motiven  und  seit  welcher  Zeit  man  Anhänger  des  gleichen 
Rechtes  ist.  Sie  aber,  meine  Herren,  die  sich  etwas  darauf  einbilden, 
weil  Sie 

stolz  auf  den  Ruinen  des  Unrechtes  sitzen  bleiben, 

haben  kein  Recht,  die  Achseln  zu  zucken  und  mitleidig  auf  die  zu 
sehen,  die  „keinen  Mut  haben",  während  Sie  den  Mut,  den  ver- 
brecherischen Mut  haben,  eine  Notwendigkeit  des  Staates  und  der 
Völker  bis  zum  letzten  Moment  zu  bekämpfen.  Hier  steht  kein 
Grundprinzip  in  Frage,  hier  steht  nur  ein  Vorurteil  und  ein  Vorrecht 

*)  Die  GroßKrundbesitzcrkurie. 


444  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

einer  Kaste  in  Frage,  einer  Kaste,  die  Österreich  von  einer  Kata- 
strophe zur  anderen  geführt  hat  (lebhafter  Beifall  und  Hände- 
klatschen); und  die  Notwendigkeit  des  gleichen  Rechtes  und  die 
Überzeugung  aller  Völker,  daß  ein  neues  Leben  für  Österreich 
beginnen  muß,  entspringen  eben  der  Einsicht,  daß  mit  dieser  Sorte 
von  Katastrophenpolitik  in  Österreich  ein  Ende  gemacht  werden 
muß.  Wir  wollen  das  gleiche  Recht  verwirklichen,  nicht  als  das  Ende 
unserer  Politik,  sondern  als  ihren  Anfang,  als  ihre  Vorbedingung. 
Wir  wollen  ein  Volkshaus  haben,  um  den  Völkern  die  Möglichkeit 
zu  einem  neuen  staatlichen  Gebäude  zu  geben;  wir  wollen  die  Mög- 
lichkeit schaffen,  an  die  Stelle  des  namenlosen  „Etwas",  dieses 
Rahmens  für  einige  unzufriedene  und  untereinander  feindselige 
Völker,  den  man  die  im  Reichsrat  vertretenen  Königreiche  und 
Länder  nennt,  an  die  Stelle  dieses  Konglomerats  von  Wahnsinn  und 
historischem  Verbrechen  ein  neues  Leben  zu  setzen,  eine  neue 
Welt,  die  die  Völker  führen  soll  zur  Kultur  und  Freiheit.  (Lebhafter 
Beifall  und  Händeklatschen  bei  den  Sozialdemokraten.) 

Die  Seßhaftigkeit. 

Parlament,  zum  Minoritätsbericht, 
14.  November  190  6*). 

Minoritätsberichterstatter  Dr.  Adler  führt  aus,  seine  Partei 
mußte  in  der  Frage  der  Seßhaftigkeit  ein  Minoritätsvotum  ein- 
bringen und  den  prinzipiellen  Standpunkt  wahren,  der  das  Er- 
fordernis der  Seßhaftigkeit  ausschließt.  Er  wendet  sich  gegen  die 
Behauptung,  man  könne  ohne  die  Bedingung  der  Seßhaftigkeit 
Wählerlisten  nicht  aufstellen.  Abgesehen  davon,  daß  sich  damit  die 
einjährige  Seßhaftigkeit  nicht  rechtfertigen  ließe,  da  sich  in  der 
allgemeinen  Wählerklasse  gezeigt  hat,  daß  man  auch  mit  der 
sechsmonatigen  reichlich  auskommt,  muß  aber  auch  bestritten 
werden,  daß  auch  nur  eine  sechsmonatige  Seßhaftigkeit  die  Auf- 
stellung der  Wählerlisten  erleichtern  würde,  geschweige  denn  not- 
wendig wäre. 

Im  Gegenteil.  Je  mehr  Bedingungen  gestellt  werden,  je  mehr 
Nachweise  notwendig  sind,  um  das  Wahlrecht  zu  erlangen,  um  so 
schwieriger  und  komplizierter  gestaltet  sich  das  Geschäft  der  Her- 
stellung der  Wählerlisten.  (Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten.) 
Und  nichts  macht  so  viel  Schwierigkeiten  als  gerade  die  Kon- 
statierung der  Seßhaftigkeit,  und  nichts  führt  zu  so  viel  Be- 
schwerden und  gerechten  Anfechtungen  der  Reinheit  der  Wahlen 
als  diese  Bedingung. 

Man  wünscht  weiter,  den  Einfluß  der  Leute  zu  vermindern,  die 

*)  Dr.  Adler  hatte  zum  §  7  seinen  Antrag  auf  Abschaffung  der  einjährigen 
Seßhaftigkeit,  der  im  Ausschuß  abgelehnt  worden  war,  als  Minoritätsvotum 
angemeldet  und  hatte  nun  dieses  als  Minoritätsberichterstatter  zu  be- 
gründen. (Siehe  seine  Rede  in  der  Ausschußsitzung  vom  13.  September 
unter  dem  Titel  „DasPrinzipdesallgemeinenWahlrechte  s".) 


Die  Seßhaftigkeit.  44r> 


keinen  Ständigen  Wohnsitz,  also  weniger  konservative  Interessen 
haben.  Es  ist  aber  zunächst  unrichtig,  daß  die  Seßhaftigkeit  etwas 
anderes  sei  als  eine  Beschränkung  des  Wahlrechtes  ausschließlich 

der  Arbeiterklasse.  Es  ist  weiter  ebenso  unrichtig,  daß  es  sich  hier 
etwa  um  irgendeinen  Bodensatz  der  Gesellschaft 
handeln  würde.  Der  Seßhaftigkeit  entbehre  eine  sehr  große  Anzahl 
von  Arbeitern  aller  Branchen,  die  höchst  qualifiziert,  ständig  in 
Arbeit  sind,  insofern  sie  nicht  durch  die  wirtschaftlichen  Bedürf- 
nisse des  Kapitalismus  selbst  von  einem  Ort  an  den  anderen  ver- 
setzt werden.  Diese  großen  Schichten  der  Arbeiterschaft  können 
in  keinem  anderen  Sinne  zu  den  fluktuierenden  Kiementen  gezählt 
werden  als  wie  der  Arzt,  der  im  Winter  in  Wien,  im  Sommer  in 
Karlsbad  seine  Praxis  ausübt.  Man  unterschätze  die  Wirkung  der 
einjährigen  Seßhaftigkeit  nicht.  Die  Christlichsozialen,  die  sich 
früher  so  ungeheuer  für  die  dreijährige  und  fünfjährige  Seßhaftig- 
keit eingesetzt  haben,  haben  sich  langsam  nach  rückwärts  kon- 
zentriert und  mit  einer  platonischen  Erklärung  begnügt,  weil  sie 
sich  überzeugt  haben,  daß  die  Bedingung  der  Seßhaftigkeit  nicht 
nur  die  sozialdemokratische,  sondern  die  ganze  Arbeiterklasse 
trifft,  auch  jene  indifferenten  Massen,  die  ihr  Gefolge  bilden.  In 
Wien  haben  im  Jahre  1900  von  416.700  Männern  über  24  Jahre 
nicht  weniger  als  21.000  das  Erfordernis  der  einjährigen  Seßhaftig- 
keit nicht  gehabt.  Das  sind  etwas  mehr  als  5  Prozent.  In  der 
Altersstufe  zwischen  24  und  30  Jahren  aber  macht  die  Zahl  der 
Wähler,  denen  die  einjährige  Seßhaftigkeit  fehlte,  9'6  Prozent  aus. 
Da  die  Arbeiterklasse  eine  kurze  Lebensdauer  hat,  alle  früheren 
Jahrgänge  stärker  mit  Proletariern  besetzt  sind,  trifft  diese  Ent- 
ziehung des  Wahlrechtes  sie  mit  doppelter  Stärke.  Der  nächste 
Fortschritt  der  Gesetzgebung  wird  ganz  gewiß  die  Beseitigung 
dieser  Einschränkung  sein.  Einstweilen  mußte  der  Versuch  dieser 
Beseitigung  gemacht  werden,  deshalb  beantragen  wir  die 
Streichung  der  Worte:  „Seit  mindestens  einem  Jahre." 

Für  den  voraussichtlichen  Fall  der  Ablehnung  dieses  Minoritäts- 
votums stelle  er  einen  Eventualantrag.  Die  Seßhaftigkeit  ist  jetzt 
an  die  Gemeinde  geknüpft,  in  der  das  Wahlrecht  auszuüben  ist. 
Das  ist  für  große  Gemeinden  wie  Wien  oder  Prag  ein  anderer 
Begriff  als  der  Wahlkreis.  In  sehr  vielen  Gegenden  aber,  besonders 
in  den  Industriebezirken,  wird  dadurch  das  Gebiet  für  das  Wohnen 
innerhalb  des  Jahres  sehr  eingeschränkt.  Der  Gesetzgeber  kann 
unmöglich  wollen,  daß  alle  die  Leute,  die  einfach  über  die  Straße 
ziehen  und  damit  die  Gemeinde  wechseln,  zu  fluktuierenden  Ele- 
menten gestempelt  werden  und  das  Wahlrecht  verlieren  sollen. 
Der  Redner  beantragt,  statt  der  Worte  „in  der  Gemeinde,  in 
welcher  das  Wahlrecht  auszuüben  ist",  zu  setzen  „in  dem  Wahl- 
bezirk, in  welchem  das  Wahlrecht  auszuüben  ist,  oder  im  Falle 
eine  Gemeinde  in  mehrere  Wahlbezirke  geteilt  ist,  in  einem  der- 
selben". Die  einjährige  Seßhaftigkeit  überhaupt  ist  ein  bewußtes, 
schweres  Unrecht  an  der  Arbeiterklasse.  Die  Verweigerung  aber 
selbst  dieser  kleinen   damit    vorgeschlagenen  Erleichterung    wäre 


446  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


eine  überflüssige  Schikane,  deren  man  sich  nicht  schuldig  zu 
machen  braucht*).  (Beifall  bei  den  Sozialdemokraten.) 

Billige  Demagogie, 

Spezialdebatte,   16.  November   19  06**). 

Minoritätsberichterstatter  Dr.  Adler  tritt  den  von  den  sla- 
wischradikalen Parteien  gegen  die  Sozialdemokraten  erhobenen 
Vorwürfen  entgegen.  Nach  der  Meinung  dieser  Herren  wäre  es- 
für  die  Sozialdemokratie  angemessener,  wenn  sie  auf  dem  Stand- 
punkt stünde:  die  Vorlage  entspricht  nicht  dem  Ideal  des  all- 
gemeinen und  gleichen  Wahlrechtes,  darum  verwerfen  wir  sie  und 
überlassen  es  den  anderen  Parteien,  dafür  zu  stimmen.  Diese 
Taktik  kann  den  radikalen  Tschechen***)  sehr  angemessen  dünken, 
für  die  Sozialdemokraten  wäre  sie  eine  selbstmörderische  gewesen. 
Heute  vereinigen  sich  wohl  viele  Stimmen  auf  die  Vorlage;  aber 
man  wird  doch  nicht  glauben,  daß  diese  Parteien  solche  Fanatiker 
für  das  allgemeine  Wahlrecht  sind,  daß  sie  auch  nur  dieses 
mangelhafte  Gesetz  mit  solcher  Begeisterung  zum  Siege  tragen 
würden,  wenn  sich  die  Arbeiterschaft  und  die  Sozialdemokratie 
dagegen  aussprechen  würden.  Darum  stimmen  wir  für  die  Vorlage 
trotz  ihren  Mängeln  und  verzichten  darauf,  unseren  Wählern 
gegenüber  eine 

billige  Demagogie 

zu  üben,  die  wir  nicht  nötig  haben.  Die  Arbeiterschaft  weiß,  daß 
dasjenige,  was  an  der  Vorlage  gut  ist,  im  wesentlichen  der  treiben- 
den Kraft  der  organisierten  Arbeiterschaft  zu  danken  ist,  und  was  an 
ihr  mangelhaft  ist,  nicht  unsere  Schuld  ist,  sondern  die  notwendigen 
Konzessionen  an  die  Rückständigkeit  dieses  Parlaments  und  unsere 
politischen  Parteien  darstellt.  Deshalb  werden  wir  für  unser  Mino- 
ritätsvotum auf  Aufhebung  der  Seßhaftigkeitsklausel  bis  zum 
Schluß  eintreten,  wenn  dieses  fällt,  für  den  Antrag  Choc  auf  drei- 
monatige Seßhaftigkeit  stimmen,  wenn  aber  beides  abgelehnt  wird, 
trotz  der  Seßhaftigkeitsklausel  für  den  §  7  in  der  vorliegenden 
Gestalt.  Redner  erörtert  sodann  insbesondere  die  Entziehung  des 
Wahlrechtes,  die  an  einer  großen  Zahl  von  Saisonarbeitern  da- 
durch geübt  wird,  daß  die  Seßhaftigkeit  von  der  bisherigen  Dauer 
von  sechs  Monaten  auf  ein  Jahr  ausgedehnt  werden  soll.  Schließ- 
lich empfiehlt  Redner  insbesondere  wenigstens  seinen  Eventual- 
antrag bezüglich    der  Seßhaftigkeit    anzunehmen,    wonach    dieser 

*)  Die  Abstimmung  fand  in  der  nächsten  Sitzung  am  16.  November  statt. 
Der  Minoritätsantrag  Adler  wurde  abgelehnt. 

**)  Am  16.  November  wurde  der  grundlegende  Paragraph  der  Wahl- 
reform, der  §  7,  der  das  allgemeine  Wahlrecht  für  alle  24jährigen  männ- 
lichen Staatsbürger  enthält,  mit  großer  Mehrheit  beschlossen.  Adler  ver- 
trat den  Minoritätsantrag  auf  Abschaffung  der  einjährigen  Seßhaftigkeit. 
(Siehe  die  vorhergehende  Rede  vom  14.  November  über  die  Seßhaftigkeit.) 

'*)  Die  radikalen  Tschechen  hatten  wirklich,  wie  schon  berichtet  wurde» 
durch  Obstruktionsanträge  die  Wahlreform  verhindern  wollen. 


Billige  Demagogie.        Die  Pluralltät.  447 


Begriff  dort,  wo  der  Wahlbezirk  größer  ist  als  die  Gemeinde,  sieh 
nicht  auf  diese,  sondern  auf  den  Wahlbezirk  zu  beziehen  hätte. 
(Beifall  bei  den  Sozialdemokraten.) 

Die  Pluralität. 

S  |)  e  z  i  a  I  d  chatte,  2  1.  N  o  v  e  m  her    1  (>  0  6*). 

Wenn  es  etwas  gibt,  was  nieht  konservativ,  sondern  subversiv 
ist,  so  sind  es  die  Anschauungen  der  Abgeordneten  Morsey  und 
Bobrzynski,    der   Vertreter   der    konservativen    Parteien.    Warum 

*)  Am  6.  Oktober  hatte  der  Wahlreformausschuß,  wie  oben  berichtet 
wurde,  den  Pluralitätsantrag  abgelehnt.  Die  Klerikalen  jedoch,  hinter  denen 
auch  noch  die  Fronde  der  Herrenhäusler  und  der  Großgrundbesitzer  stand, 
versuchten  den  Antrag,  den  Dr.  Tollinger  als  Minoritätsvotum  angemeldet 
hatte,  im  Hause  durchzubringen.  Aber  die  Erregung,  die  die  Arbeiterschaft 
über  dieses  Attentat  auf  das  gleiche  Recht  erfaßt  hatte,  hatte  die  Regie- 
rung und  die  volksfreundlicheren  Elemente  unter  den  Klerikalen  davon 
überzeugt,  welche  Gefahren  dieses  Attentat  für  den  Staat  mit  sich  bringen 
müsse.  Gegenüber  den  Angriffen  der  Erzkonservativen  verwiesen  die  an- 
ständigeren Klerikalen,  die  nicht  unter  dem  Einfluß  der  Aristokratie 
standen,  vornehmlich  die  aus  Oberösterreich,  auf  die  Macht  des  deutschen 
Zentrums,  die  unter  dem  gleichen  Wahlrecht  so  groß  geworden  sei,  und 
der  klerikale  Landeshauptmann  von  Oberösterreich,  Dr.  Ebenhoch, 
veranlaßte  sogar  den  deutschen  Reichstagsabgeordneten  Hitze,  im 
„Linzer  Volksblatt"  einen  Artikel  gegen  das  Pluralwahlrecht  zu  schreiben. 
(Zum  besseren  Verständnis  sei  noch  bemerkt,  daß  die  Vereinigung  der  Alt- 
klerikalen mit  den  Christlichsozialen  erst  nach  den  Wahlen  des  Jahres  1907 
erfolgte,  weil  sonst  die  Sozialdemokraten  im  Volkshaus  die  stärkste  Partei 
gewesen  wären.  Bis  zur  Einführung  des  allgemeinen  Wahlrechtes  waren 
die  Christlichsozialen  und  die  Klerikalen  zwei  verschiedene  Parteien,  und 
Ebenhoch,  der  nachmalige  christlichsoziale  Minister,  war  ebenso  wie 
Morsey  und  Tollinger  damals  Mitglied  des  klerikalen  „Zentrums".)  Waren 
also  die  demokratischeren  Klerikalen  aus  Oberösterreich  für  das  gleiche 
Wahlrecht,  so  blieben  die  Klerikalen  aus  Tirol  und  Steiermark  dabei,  daß 
der  Knecht  nicht  dasselbe  Recht  haben  dürfe  wie  der  Bauer.  Nach  lang- 
wierigen Beratungen  aller  reaktionären  Parteien  brachte  endlich  der  Ver- 
treter der  Tiroler  Klerikalen,  Abgeordneter  Dr.  Tollinger,  seinen 
Pluralitätsantrag  neuerlich  ein.  (Siehe  oben  Adlers  Rede  über  die  Pluralität 
in  der  Ausschußsitzung  vom  3.  Oktober  sowie  die  Fußnote  über  seine  Be- 
merkungen zur  Pluralität  in  seiner  Parlamentsrede  vom  8.  November  über 
den  weiteren  Kampf  gegen  die  Pluralitätspläne,  namentlich  der  Herren- 
häusler.) 

Welche  Wirkung  auch  nur  eine  bloße  Alterspluralität  hätte,  darüber 
gaben  die  Ziffern  der  Volkszählung  deutlich  Aufschluß. 

Es  waren  von  2,879.575  männlichen  Selbständigen,  die  über  24  Jahre  alt 
sind,  2,265.248  über  35  Jahre  alt,  von  2,461.280  Arbeitern  und  Taglöhnern 
im  wahlfähigen  Alter  nur   1,324.632  über  35  Jahre  alt. 

Es  mußten  also  die  Bürgerlichen,  deren  Zahl  die  der  Proletarier  nur 
um  rund  400.000  überstieg,  bei  der  einfachen  Alterspluralität  5,144.823,  die 
Proletarier  aber  nur  3,785.912  Stimmen  haben,  wodurch  die  Differenz  auf 
rund  1,400.000  atigewachsen  wäre.  Nun  verschlechterte  man  diese  Plura- 
lität noch  durch  die  der  Mittelschulbildung  und  den  Zensus  und  man  kann 


448  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

wird  von  Baron  Morsey  behauptet,  die  Sozialdemokratie  sei  die 
Partei  des  Klassenkampfes?  Als  ob  nicht  alle  Parteien  in  diesem 
Hause  Klassenparteien  wären!  Ich  mache  es  diesen  beiden  Ab- 
geordneten nicht  zum  Vorwurf,  daß  auch  sie  Vertreter  einer 
Klasse  sind,  sondern  ich  werfe  ihnen  vor,  daß  Sie  es  leugnen 
und  daß  sie  die  Interessen  ihrer  Klasse  so  schlecht  vertreten,  daß 
sie  damit  alle  Klassen,  den  Staat  und  alle  Völker  schädigen.  (Zu- 
stimmung bei  den  Sozialdemokraten.)  Diesen  Herren  handelt  es 
sich  nicht  um  die  ländlichen  Dienstboten,  für  die  angeblich  das 
gleiche  Recht  ein  Ansporn  zur  Auflehnung  und  die  Verkümmerung 
des  gleichen  Rechtes  ein  Beruhigungsmittel  wäre.  So  gegen  alle 
menschliche  Natur  sind  auch  die  landwirtschaftlichen  Dienstboten 
nicht,  daß  sie,  wenn  man  ihnen  das  gleiche  Recht  mit  dem  Bauern 
gibt,  empört  sein  sollen,  und  daß  sie,  wenn  man  sie  degradiert,  zu- 
frieden und  beruhigt  wären.  Aber  auch  die  Bauern  sind  Menschen, 
auch  die  Knechte  müssen  nicht  eine  knechtische  Gesinnung  haben, 
Gesetze  der  menschlichen  Psychologie  sind  auch  auf  sie  anwend- 
bar. Es  ist  kein  konservatives  Motiv,  wenn  man 
die  Entrechtung  gerade  in  dieses  Wahlrecht 
hineinträgt! 

Im  Namen  aller  Parteien,  die  auf  dem  Boden  der  Vorlage  in 
in  diesem  entscheidendsten  und  wichtigsten  Punkte  stehen,  im 
Namen  der  großen  Majorität  dieses  Hauses,  die  sich  vor  ein  paar 
Tagen  zum  allgemeinen  und  gleichen  Wahlrecht  bekannt  hat, 
müssen  wir  dieses  Attentat,  das  auf  das  W'ahlreformwerk  versucht 
wird,  zurückweisen.  Nicht  eine  Faser  an  dem  Antrag  Tollinger  ist 
mehr  ganz.  Der  Widersinn  dieses  Antrages  liegt  in  allen  Details 
ganz  klar  zutage.  Das  Gefährliche  dieses  Antrages  steckt  darin, 
daß  er  die  Absicht  hat,  das  gleiche  Recht  zu  vernichten  und  da- 
mit die  Vorlage,  das  Resultat  schwerer  politi- 
scher Arbeit,  zu  Grabe  zu  tragen.  (Zustimmung  bei  den 

die  Perfidie  dieses  Planes  annähernd  erkennen.  Aber  auch  dann  nur  an- 
nähernd. In  seiner  ganzen  Kniffigkeit  kann  man  ihn  nur  ermessen,  wenn 
man  bedenkt,  daß  die  Pluralität  des  Stimmrechtes  nicht  in  das  Grund- 
gesetz über  die  Reichsvertretung,  wo  die  allgemeinen  Bestimmungen  über 
das  Wahlrecht  festgesetzt  wurden,  aufgenommen  werden  sollte,  sondern 
in  die  Wahlordnung,  die  nur  die  technischen  Bestimmungen  über  das  Wahl- 
verfahren enthielt.  So  sollte  die  Notwendigkeit  der  Zweidrittelmehrheit  für 
die  Pluralität  umgangen  werden  und  die  einfache  Majorität,  die  bei  der 
Wahlordnung  genügt,  auch  für  sie  als  hinreichend  erklärt  werden.  Ein 
Kniff,  der   den  geriebenen   Klerikalen   alle  Ehre   machte. 

Nun  beriet  das  Haus  in  der  Spezialdebatte  schon  drei  Tage  über  die 
Pluralität,  die  von  Tollinger  als  Minderheitsberichterstatter  vertreten 
wurde.  Am  dritten  Tag  —  21.  November  1906  —  hielt  zunächst  Baron 
Morsey,  ein  steirischer  Klerikaler,  eine  giftige  Rede  gegen  das  allgemeine 
Wahlrecht,  nach  ihm  sprach  der  Abgeordnete  Dr.  Bobrzynski  vom 
Polenklub  aus  „nationalen"  Gründen  für  die  Pluralität.  Dann  kam  Adler 
zu  Wort. 

Bei  der  Abstimmung  —  der  ersten  namentlichen  Abstimmung  —  wurde 
der  Antrag   Tollinger   mit   201   gegen   143  Stimmen   abgelehnt. 


Die  Pluralität.  449 


Sozialdemokraten.)  Baron  Morsey  weiß  das  am  allerbesten«  er 
weiß  ganz  genau,  daß,  wenn  cs  ihm  gelänge,  die  Pluralität  ins 
Gesetz  hineinzubringen,  damit  nicht  etwa  die  Plur  alit  ä  I 

g  e  r  e  1 1  e  t,  sondern  die  W  a  li  1  r  e  f  o  r  m  vernichtet 
wird.   (Lebhafter   Beifall  bei  den   Sozialdemokraten.) 

Das  allein  wollen  diese  Herren  und  deshalb  ist  es  nicht  nötig, 
gegen  die  sachlichen  Argumente  anzukämpfen,  die  nur  der  Aus- 
druck der  Abneigung  des  Hasses  gegen  das  gleiche  Recht  und 
gegen  die  Wahlreform  sind.  Baron  Morsey  sagte,  in  ihrem  Herzen 
sei  die  große  Majorität  der  Parteien  des  Hauses  gegen  die  Wahl- 
reform, nur  wagen  diese  Parteien  es  nicht,  gegen  die  Wahlreform 
aufzutreten,  und  haben  Baron  Morsey  und  seine  Partei  beauftragt, 
die  Wahlreform  umzubringen.  Baron  Morsey  hat  sich  ausgegeben 
als  ein  Träger  der  Gedanken  und  Pläne  nicht  bloß  der  offenen 
Wahlrechtsfeinde,  sondern  auch  der  Parteien,  die  diese  Wahl- 
reform im  schweren  Kampfe  geboren  und  sich  nun  als  Träger  der 
Wahlreform  bekannt  haben.  Er  hat  diese  Parteien  dadurch  eines 
Aktes  der 

politischen  Heuchelei  und  Unaufrichtigkeit 

geziehen;  einer  Politik,  für  die  der  Ausdruck  macchiavellistisch 
ein  fast  ehrender  Begriff  und  eine  Bezeichnung  wäre,  die  vielleicht 
die  Moral,  nicht  aber  den  niedrigen  Grad  von  Intelligenz  charakteri- 
sieren würde,  die  mit  einer  solchen  Taktik  verbunden  wäre.  (Leb- 
hafte Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten.) 

Wir  haben  aber  gesehen,  daß  sich  auch  innerhalb  der  bürger- 
lichen Parteien  Schritt  für  Schritt,  langsam  und  nicht  ohne  Rück- 
fälle, aber  im  großen  unaufhaltsam  und  ehrlich  die  Über- 
zeugung Bahn  gebrochen  hat,  daß  es  notwendig  und  unabwendbar 
ist,  zum  gleichen  Recht  überzugehen.  Diejenigen,  die  hier  die  Ver- 
antwortung für  das  Chaos  nicht  tragen  möchten,  das  entstehen 
müßte,  wenn  die  Wahlreform  vereitelt  würde,  halte  ich,  trotzdem 
ich  ihr  schärfster  Gegner  bin,  nicht  für  verwerflich,  feig 
und  niedrig  genug,  daß  sie  die  Verantwortung  für  eine  Un- 
tat, die  sie  selbst  begangen  haben,  dem  Baron  Morsey  übertragen. 

Baron  Morsey  hat  sich  als  der 

geheime  Agent 

aller  jener  Parteien  aufgespielt,  die  die  Wahlreform  nicht  wollen 
und  die  ihn  gedungen  —  Pardon!  betraut  haben  mit  der  ehren- 
vollen Aufgabe,  sie  geheim  umzubringen.  Gegen  diesen  Vorwurf 
muß  ich  diese  Parteien  in  Schutz  nehmen.  Es  ist  nicht  wahr,  daß 
diese  Parteien  nur  darauf  warten,  daß  die  Kavaliere  da  drüben  sich 
sammeln  zum  Kampfe  gegen  die  heiligsten  Interessen  des  Volkes. 
Es  ist  nicht  wahr,  daß  die  großen  Parteien  des  Hauses,  des  Bürger- 
tums, des  breiten  Bauernstandes  diese  Herren  beauftragt  haben, 
ihnen  Henkersdienste  an  der  Wahlreform  zu  leisten.  Ich  bin  über- 
zeugt davon,  daß  alle  Schichten  der  Bevölkerung 
heute  von  der  Notwendigkeit  und  Unabwendbar- 
keit  des  allgemeinen  und  gleichen  Rechtes  durch- 
Adler, Briefe.  X.  Bd.  29 


450  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

drungen  sind.  Das  allgemeine  und  gleiche  Recht  wird  auch 
beschlossen  werden,  weil  man  sonst  einem 

politischen  Chaos 

gegenüberstehen  würde,  weil  sonst  Baron  Morsey  und  seine  Ge- 
sinnungsgenossen die  Ehre  hätten,  über  dieses  Land  eine  Kata- 
strophe verhängt  zu  haben,  über  die  nur  ein  fanatischer  Feind 
dieses  Landes  und  seiner  Völker  oder  ein  ganz  einsichtsloser 
Mensch  eine  Freude  haben  kann.  Für  so  politisch  pervers  halte  ich 
die  politischen  Parteien  nicht,  wie  sie  Baron  Morsey  schilderte.  Wenn 
man  sich  vor  den  Sozialdemokraten  fürchtet,  wenn  das  gleiche  Recht 
gewährt  wird,  wie  würde  man  sie  erst  kennenlernen, 
wenn  das  gleiche  Recht  vereitelt  würde!  Die  Sozial- 
demokraten wollen  eine  ruhige  Entwicklung  für  das  Proletariat, 
für  alle  Klassen  und  für  diesen  Staat,  weil  auch  das  Proletariat 
dieser  ruhigen  Entwicklung  bedarf;  sie  wollen  ein  Ende  auch  für 
die  Wahlrechtsbewegung.  Diese  Bewegung  würde  aber  nicht 
enden,  sondern  anfangen  und  in  ganz  anderen  Formen 
sich  bewegen,  wenn  jetzt  die  Wahlreform  ver- 
eitelt würde.  Darum  ist  es  nicht  vernünftig,  nicht  recht, 
aber  auch  nicht  konservativ,  wenn  jemand  für  den  Antrag 
Tollinger  stimmt.  (Lebhafter  Beifall  und  Händeklatschen  bei  den 
Sozialdemokraten.) 

Die  Wählerlisten. 

Spezialdebatte,  2  2.  November  190  6. 

Minoritätsberichterstatter  Dr.  Adler*)  begründet  seinen  zu  §  12 
gestellten  Minoritätsantrag,  nach  welchem  auch  eventuelle  Nach- 
träge zur  Wählerliste  auf  Verlangen  jedermann  aus- 
zufolgen seien.  In  dem  Gesetzentwurf  sei  nur  bestimmt,  daß  die 
ursprünglichen  Wählerlisten  gegen  Ersatz  der  Kosten  ausgefolgt 
werden  müssen;  es  sei  jedoch  auch  notwendig,  die  nach  Durch- 
führung des  Reklamationsverfahrens  vorgenommenen  Richtig- 
stellungen den  Parteien  zur  Verfügung  zu  stellen,  und  deshalb  sei 
die  von  ihm  beantragte  Bestimmung  notwendig. 

Abgeordneter  Dr.  Adler**)  tritt  neuerlich  für  die  Annahme  seines 
Minoritätsantrages     über     die    Verabfolgung    der    Nachträge     zur 


*)  Im  Wahlreiormausschuß  hatte  Adler  den  Antrag  gestellt,  daß  auch  die 
Nachträge  zu  den  Wählerlisten  den  Wählern  gegen  Ersatz  der  Kosten  ge- 
geben werden.  Der  Antrag  war  aber  abgelehnt  und  von  Adler  als  Mino- 
ritätsvotum  angemeldet  worden.  (Siehe  den  Bericht  über  die  Sitzung  des 
Ausschusses  vom  20.  September,  wo  auch  über  den  christlich- 
sozialen Wahlschwindel  das  Nötige  gesagt  ist.)  Der  Antrag,  gegen 
den  sich  Geßmann  jetzt  wieder  wendete,  wurde  nun  angenommen. 

**)  Beim  §  13,  der  von  den  Reklamationen  handelt,  war  am 
21.  September  im  Ausschuß  ein  Antrag  Vogler  und  Adler  angenommen 
worden,   daß   die  Seßhaftigkeit   erforderlichenfalls  von  Amts   wegen 


Die  Wählerlisten.  4f>i 


Wählerliste  ein.  Die  Gründe,  die  er  hiefür  vorbrachte,  als  er  den 
Antrag  stellte,  seien  durch  den  Verlauf  der  Dehatte  außer- 
ordentlich vermehrt  worden.  Er  wolle  als  Minoritäts- 
berichterstatter  gewiß  nicht  über  die  ihm  durch  die  Geschäfts- 
ordnung gezogenen  Grenzen  hinausgehen,  denn  er  sei  nicht  Vize- 
präsident des  Hauses*).  (Heiterkeit.)  Aher  er  müsse  darauf  auf- 
merksam machen,  daß  im  letzten  Moment  Anträge  gestellt  wurden, 
die  sich  mit  dem  ganzen  0  p  e  r  a  t  des  Ausschusses 
nicht  im  Einklang  befinden.  Insbesondere  wurde  die 
Bestimmung  des  §  13  angefochten,  daß  die  Angaben  über  die  Seß- 
haftigkeit erforderlichenfalls  von  Amts  wegen  zu  ergänzen  seien. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Mit  einer  Stimme  Majorität 
wurde  dieser  Antrag  im  Ausschuß  angenommen! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Um  so  leichter  wäre  es  gewesen,  den 
Gegenantrag  als  Minoritätsvotum  anzumelden  und  das  Haus  nicht 
heute  damit  zu  überraschen.  Wenn  die  Behörde  dem  Staats- 
bürger, der  sein  Wahlrecht,  das  ihm  rechtswidrig  vorenthalten 
werden  soll,  reklamiert,  nicht  zur  Seite  steht  und  ihm  dabei  be- 
hilflich ist,  so  wird  es  nur  um  so  notwendiger  sein,  sein  Minoritäts- 
votum anzunehmen,  damit  man  in  die  Vorgänge  klare  Einsicht 
gewinnt  und  sieht,  was  bei  der  Reklamation  herausgekommen  ist. 
Er  hoffe  aber,  daß  das  Haus  der  Ausschußvorlage  zustimmen  und 
den  Antrag  Geßmann  ablehnen  werde.  Es  sieht  gerade  so  aus, 
als  ob  derjenige,  der  sein  Wahlrecht  reklamiert,  etwas  haben  will, 
das  ihm  nur  durch  besondere  Gunst  zu  gewähren  sei.  Jeder,  der 
reklamiert,  ist  gewissermaßen  ein 

Beschwerdeführer  gegen  das  Amt, 

das  ihn  in  die  Wählerliste  nicht  aufgenommen  hat.  Diese  Behörde 
ist  deshalb  auch  verpflichtet,  ihm  zu  helfen,  daß  das  Unrecht 
das  sie  an  ihm  verübt,  wieder  gutgemacht  werde. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Sie  ist  das  gar  nicht  imstande! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Sie  ist  das  ganz  gut  imstande,  das 
wissen  Sie  am  besten,  Herr  Regierungsrat.  Die  Behörde  hat  es 
jedenfalls  leichter  als  der  Reklamant,  den  Nachweis  zu  erbringen, 
ob  der  Betreffende  die  einjährige  Seßhaftigkeit  in  der  Gemeinde 
erlangt  hat  oder  nicht.  Wie  kann  man  die  Behörden  von  diesen 
ganz  selbstverständlichen  Verpflichtungen  los- 
sprechen? Wenn  jemand  fünf  Gulden  gestohlen  werden,  ist  sofort 
alles  in  Bewegung.  Aber  daß  das  Wahlrecht  auch  ein  Eigentum 

zu  erheben  sei.  Das  war  den  Christlichsozialen  sehr  unangenehm  und  G  e  ß- 
m  a  n  n  suchte  das  Haus  zu  überrumpeln,  indem  er  plötzlich  in  der  Debatte 
den  Antrag  auf  Streichung  stellte.  Tatsächlich  gelang  es  ihm,  diese 
Verbesserung  wieder  zu  beseitigen,  so  daß  jeder  Reklamant  die  Dokumente 
seiner  Seßhaftigkeit  selbst  beibringen  mußte.  Die  Erfahrung  hat  dann  ge- 
zeigt, zu  welchen  Schwierigkeiten  das  führte,  also  für  die  Christlichsozialen 
zu    vielen    Gelegenheiten   des   Wahlrechtsraubes. 

')  Der  deutschnationale  Vizepräsident  Dr.  Kaiser  hatte  von  allem 
möglichen  gesprochen. 

2<)* 


452  Der  Sie^  des  gleiche«  Wahlrechts. 

ist,  noch  dazu  das  Eigentum  von  Leuten,  die  gar  kein  anderes 
Eigentum  haben  als  das  bißchen  politisches  Recht,  scheint  man 
nicht  zu  begreifen.  Dr.  Geßmann  hat  eine  ganze  Menge  derartiger 
Schutzmaßregeln  beanstandet  und  immer  mit  der  gleichen  Be- 
gründung, daß  die  Behörden  so  überlastet  werden.  Die  Behörden 
sind  sonst  gar  nicht  so  faul,  wenn  es  gilt,  einem  armen  Teufel  sein 
Recht  wegzunehmen.  Wenn  einer  ein  paar  Gulden  Armenunter- 
stützung bekommen  hat,  werden  die  Erhebungen  von 
Amts  wegen  gepflogen,  auch  ohne  daß  der  Betreffende  es 
will.  Da  wird  er  gleich  aus  der  Wählerliste  gestrichen. 
Hier  aber,  wo  es  sich  um  ein  ganz 

klares  Recht 

handelt,  will  man  es  verweigern.  Ich  stelle  keine  Anträge,  weil  ich 
weiß,  daß  man  hinter  allen  Anträgen,  die  von  den  Sozialdemo- 
kraten kommen,  etwas  Teuflisches  sieht.  Ich  verlange  nur,  daß  das 
Haus  den  wohldurchdachten  Antrag  des  Aus- 
schusses annimmt,  in  dem  doch  höchst  konservative  Leute 
gesessen  sind.  Wenn  man  aber  auch  den  Ausschußantrag  nicht  an- 
nehme, werde  man  die  heute  ohnehin  schwierige  Aufstellung  der 
Wählerlisten  noch  weiter  erschweren.  Die  technisch  schwierige 
Materie  ist  im  Ausschuß  sehr  gründlich  nach  allen  Seiten  durch- 
gesprochen worden,  es  liegt  eine  einheitliche  Arbeit  vor,  und  nun 
versucht  man  es,  durch  eine  Masse  von  Anträgen  diese  Arbeit  zu 
erschüttern! 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Ich  habe  nicht  eine  Masse,  son- 
dern nur  drei  Anträge  gestellt,  und  zwei  davon  haben  den 
Zweck,  einen  Unsinn,  den  der  Ausschuß  beschlossen  hat,  aus  der 
Welt  zu  schaffen!  Lassen  Sie  die  Bestimmung  nur  drin,  mir  ist  sie 
ganz  recht,  dann  zahlen  sie  200.000  fl.  für  die  Wählerlisten! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Na,  es  wird  schon  billiger  gehen! 

Abgeordneter  Pernerstorf  er:  Ich  habe  ihm  schon  eine  Druckerei 
empfohlen,  die  es  billiger  macht! 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Den  „Vorwärts"!  (Lebhafte 
Heiterkeit.) 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ich  kann  nur  wiederholt  bitten,  die 
Ausschußanträge  unverändert  sowie  auch  den  Minoritätsantrag, 
der  nur  eine  logische  Konsequenz  der  Ausschußanträge  darstellt, 
zum  Beschluß  zu  erheben. 

Wahlbestechung. 

Ausschuß,  2  9.  November  1906*). 

Abgeordneter  Dr.  Adler  hält  die  Anregung  des  Abgeordneten 
Hagenhofer  für  beachtenswert.  Der  §  12,  auf  den  sich  der  Justiz- 

*)  Das  „Gesetz  zum  Schutze  der  Wahlfreiheit"  hatte  der  Ausschuß 
einem  Subkomitee  überwiesen  und  dort  war  es  ziemlich  stark  umgearbeitet 


WahlbestechiMig.  45:{ 


minister  beruft,  spricht  mir  vom  Wahlkonmiissär  und  der  Wahl- 
kommission,  nicht  al)er  von  denjenigen,  die  die  Wählerlisten  an- 
fertigen. Daß  auch  diese  Personen  hcamlenchnraktcr  haben,  daß 
jeder  Mißbrauch,  den  sie  begeben,  den  Mißbrauch  der  Amtsgewalt 
darstellt,  ist  richtig;  aber  es  ist  ganz  nützlich,  das  in  diesem  Gesetz 
ausdrücklich  zu  sagen,  wo  auch  viele  andere  selbstverständliche 
Dinge  gesagt  werden.  Der  Antrag  Kaiser  ist  gleichfalls  beachtens- 
wert und  hat  zunächst  das  Verdienst,  die  Erklärung  des  Justiz- 
ministers provoziert  zu  haben,  daß  das  Verteilen  von  „Wahlbier" 
und  „Wahlwürsteln"  unter  den  Begriff  der  Wahlbestechung  gehöre. 
Bisher  hat  man  in  weiten  Kreisen  darüber  nicht  so  gedaöht.  Das 
zeigen  einem  drastische  Beispiele,  Vorgänge  bei  der  Landtagswahl 
in  Mähren  am  11.  November.  In  dem  Wahlprotest,  der  gegen  die 
Wahlmißbräuche  in  W  i  t  k  o  w  i  t  z  vorgebracht  wurde,  wird  unter 
anderem  konstatiert,  daß  in  großem  Umfang  auf  Grund  von  An- 
weisungen Bier  und  Gulyas  von  den  Funktionären  des  Deutschen 
Vereines  für  Witkowitz  und  Umgebung  an  die  Wähler  verabreicht 
wurden.  Nun  ist  kaum  anzunehmen,  daß  diese  Vereinsfunktionäre 
wirklich  auf  Grund  dieses  Gesetzes  mit  einem  bis  zu  sechs  Monaten 
strengen  Arrests  bestraft  werden  würden;  andererseits  aber  wäre 
es  eine  Härte,  die  armen  Menschen,  die,  ohne  zu  wissen,  was  sie 
tun,  solches  Bier  angenommen  haben,  mit  so  schweren  Strafen  zu 
treffen.  Die  Folge  wäre,  daß  in  der  Praxis  dieser  häufigste  Fall  von 
Wahlbestechung,  gerade  weil  er  unter  so  schwerer  Strafe  steht, 
in  weitaus  den  meisten  Fällen  straflos  bleiben  würde.  Will  man  also 
diesen  Mißbrauch  wirklich  treffen,  dann  müßte  die  Strafe  eine  ge- 
ringere sein. 


worden.  Als  „Gesetz  über  strafrechtliche  Bestimmungen  zum  Schutze  der 
Wahl-  und  Versammlungsfreiheit"  kam  es  am  29.  November  zur  Verhand- 
lung im  Ausschuß.  Zu  einer  lebhaften  Debatte  kam  es  namentlich  beim  §  3, 
der  von  der  Wahlbestechung  handelte,  wobei  viel  von  Gratisessen 
und  Gratisbier  bei  Wahlen  gesprochen  wurde.  Der  steirische  Klerikale 
Hagenhofer  beantragte  einen  Zusatz,  daß,  wer  bei  Verfassung  von 
Wählerlisten  absichtlich  oder  aus  grober  Fahrlässigkeit  die  Eintragung 
von  wahlberechtigten  Personen  unterläßt  oder  nichtwahlberechtigte  Per- 
sonen einträgt,  wegen  Vergehens  bestraft  werden  solle.  Der  volkspartei- 
liche Abgeordnete  Kaiser  beantragte,  daß  auch  derjenige,  der  Wahlberech- 
tigte durch  unentgeltliche  Verabreichung  von  Speisen  und  Getränken  in  der 
Ausübung  ihres  Wahlrechtes  zu  beeinflussen  sucht,  ein  Vergehen  begehe  — 
worauf  der  Justizminister  Dr.  Klein  erklärte,  das  sei  auch  ohnedies  im 
Begriff  der  Wahlbestechung  mitenthalten,  da  schon  nach  alten  Ent- 
scheidungen des  Obersten  Gerichtshofes  die  Verabreichung  von  Speisen 
und  Getränken  als  Stimmenkauf  strafbar  sei.  Die  Fälschung  der  Wähler- 
listen sei  schon  jetzt  als  Verbrechen  des  Mißbrauchs  der  Amtsgewalt  straf- 
bar. Darauf  zog  Hagenhofer  seinen  Antrag  zurück  und  in  der  Ab- 
stimmung wurde  der  Antrag  Kaiser  mit  16  gegen  9  Stimmen  abgelehnt. 
Die  Wahhnißbräuche,  die  Dr.  Adler  von  den  Landtagswahlen  in  Witkowitz 
berichtete,  wurden  auch  nach  der  Wahlreform  von  der  Rothschildschcn 
Werksdirektion  und  ihrem  Generaldirektor  in  Witkowitz  begangen  und  von 
der  Wahl  des  Abgeordneten  Dr.  Licht  wurden  im  Legitimationsausschuß 
die  unerhörtesten  derartigen  Wahhnißbräuche  bewiesen. 


454  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 


Der  Kanzelparagraph. 

Ausschuß,  3  0.  November  19  0  6. 

Abgeordneter  Dr.  Adler  führt  aus,  in  der  Tatsache,  daß  die 
Sozialdemokraten  gegen  die  Aufnahme  des  Kanzelparagraphen*) 
stimmen  werden,  liege  keineswegs,  wie  einige  Vorredner  meinten, 
ein  Widerspruch  zu  deren  Programm,  sondern  im  Gegenteil,  sie 
stimmen  gegen  diesen  Paragraphen  in  unverbrüchlicher 
Konsequenz  ihres  prinzipiellen  Standpunktes, 
der  darin  bestehe,  daß  sie  weder  Ausnahmegesetze  gegen  irgend- 
eine Klasse  und  irgendeinen  Stand,  noch  irgendwelche  Einschrän- 
kung der  Meinungsäußerung  billigen  können.  Die  schweren  Miß- 
brauche, die  von  Geistlichen  aller  Konfessionen  verübt  werden, 
kennen  wir  genau  und  unterschätzen  ihre  Gefahr  nicht.  Aber  wenn 
die  Herren  verhindern  wollen,  daß  durch  Mißbrauch  der  Kanzel  zu 
politischen  Zwecken  ihr  Gotteshaus  entweiht  und  ihr  Priesteramt 
geschändet  werde,  so  erklären  wir,  daß  das  unsere  Sorge  nicht  ist. 
Die  Würde  des  Priesters  zu  wahren,  ist  die  Angelegenheit  der 
Kirche,  nicht  die  der  Gesetzgebung.  Aus  prinzipiellen  Gründen,  wie 
auf  Grund  der  politischen  Erfahrung  sind  wir  gegen  dieses  Aus- 
nahmegesetz. Die  Idee  des  Kanzelparagraphen  stamme  keineswegs 
aus  Krain,  wie  in  der  Debatte  bemerkt  worden  sei,  sondern  sie 

*)  Am  30.  November,  an  demselben  Tage,  an  dem  im  Abgeordnetenhaus, 
allerdings  unter  andauernden  Krawallen  und  sogar  Raufereien  der 
Tschechischradikalen  und  der  Alldeutschen  die  Wahlkreiseinteilung  von 
Böhmen,  Mähren,  Schlesien,  Galizien  und  Bukowina  erledigt  und  die  von 
Niederösterreich,  Oberösterreich,  Salzburg,  Tirol  und  Vorarlberg  bis  zur 
Abstimmung  gebracht,  also  entscheidende  Arbeit  geleistet  wurde,  kam  im 
Wahlreformausschuß  bei  der  Beratung  des  Wahlrechtsschutzgesetzes,  nach- 
dem der  §  4,  der  von  der  Wahlnötigung  handelte,  angenommen  worden 
war,  ein  Antrag  zur  Verhandlung,  der  einen  sogenannten  „Kanzelpara- 
graphen", eine  Bestimmung  gegen  den  Mißbrauch  der  Kanzel  schaffen 
wollte.  Der  Antrag,  der  nach  dem  liberalen  Slowenen  Ferjancic  benannt 
und  auch  von  den  Deutschnationalen  Locker,  Erler,  Malik  und 
W  a  s  t  i  a  n  sowie  von  dem  Tschechischradikalen  C  h  o  c  unterschrieben 
war,  hatte  folgenden  Wortlaut: 

Ein  Geistlicher  oder  anderer  Religionsdiener,  der  aus 
Anlaß  von  Wahlen  zu  den  im  §  2  genannten  Vertretungskörpern  in  der 
Absicht,  einen  Wahlberechtigten  zur  Nichtausübung  seines  Wahlrechtes 
oder  zu  dessen  Ausübung  in  einem  bestimmten  Sinne  zu  bewegen,  a  n 
einem  zum  Gottesdienst  geweihten  Orte  Wahlagi- 
tation betreibt  oder  in  dieser  Absicht  gottesdienst- 
liche Handlungen  vornimmt  oder  auch  außerhalb  des- 
selben geistliche  Versprechungen  oder  Drohungen 
anwendet,  begeht,  sofern  die  Tathandlung  nicht  den  Tatbestand  des 
§  4  begründet,  eine  Übertretung  und  wird  mit  Arrest  von  einer  Woche 
bis  zu  drei  Monaten  oder  an  Geld  von  50  Kronen  bis  1000  Kronen  bestraft. 

Dazu  legte  Adler  die  Stellung  der  Sozialdemokraten  dar.  Über  den  Aus- 
gang dieses  Streites  um  den  Kanzelparagraphen  siehe  die  Bemerkungen  zu 
der  Rede  im  Plenum  vom  12.  Jänner  1907:  „Der  Wahlterror  der 
Autiterroriste  n". 


Der  Kanzelparagraph.        Der  Sieg  der  Wahlreform,  455 


rühre  vom  Fürsten  Bismarck  her,  entspringe  also  der- 
selben  politischen  Anschauung,  ans  welcher  das  Sozialistengesetz 
entstanden  sei.  Es  sei  charakteristisch,  daß  Fürst  Bismarck  in 
.seinem  Kriege  gegen  die  Katholiken  in  zwei  Fällen  Niederlasen  er- 
litten habe,  mit  dem  Jesuitengesetz  und  mit  dem  Kanzelpara- 
graphen.  Die  Bundesgenossenschaft  des  Polenklubs,  der  durch  den 
Abgeordneten  Bobrzynski  habe  erklären  lassen,  dal.»  er  des- 
wegen gegen  den  Kanzelparagraphen  sei,  weil  er  nie  für  ein  Aus- 
nahmegesetz stimme,  weist  er  feierlich  auf  das  entschiedenste  von 
sich.  Der  Abgeordnete  Bobrzynski  werde  wohl  wissen,  dal.)  n  i  e 
eine  Ausnahmeverfügung  gesell  die  Arbeiterschaft,  nie  auch  ein 
anderes  Ausnahmegesetz  zustande  gekommen  sei,  für  das  der 
P  o  1  e  n  k  1  u  b  nicht  gestimmt  hätte.  Gerade  weil  er  wisse, 
wie  gefährlich  und  verbreitet  die  von  der  Priesterschaft  aller 
Kirchen  ausgehende  politische  Agitation  sei,  soll  man  den  Einfluß* 
den  die  Geistlichen  überall  auf  die  Massen  besitzen,  nicht  noch 
dadurch  verzehnfachen,  daß  man  ein  Ausnahme- 
gesetz gegen  die  Geistlichkeit  schafft.  Man  würde 
der  Priesterschaft  ganz  gratis  ein  starkes  Agitationsmittel  schaffen, 
ein  fakultatives  Martyrium,  aus  dem  selbstverständlich  nie  ein 
reales  Martyrium  werden  würde.  Denn  nie  würde  es  zu  einer  Be- 
strafung kommen,  wenn  aber  ja,  dann  um  so  schlimmer.  Wenn  be- 
hauptet werde,  für  die  Sozialdemokraten  sei  der  Kanzelparagraph 
ebenso  wichtig  wie  für  alle  anderen  Parteien,  weil  ja  auch  sehr 
viele  Sozialdemokraten  die  Gotteshäuser  besuchen,  so  wolle  er 
demgegenüber  bemerken:  Die  Sozialdemokraten  gehen  gewiß  in 
die  Kirche,  allein  wer  als  Sozialdemokrat  hinein- 
gegangen ist,  ist  noch  nie  als  Klerikaler  heraus- 
gekommen, wohl  aber  ist  der  umgekehrte  Fall 
schon  öfter  eingetreten.  Die  Sozialdemokraten  können  auf 
den  Mißbrauch  der  Kanzel  gar  nicht  verzichten  und  es  ist  ihnen 
keineswegs  unangenehm,  wenn  sich  die  Klerikalen  durch  ihre 
Priester  kompromittieren. 

Der  Sieg  der  Wahlreform. 

Versammlung  in  der  Volks  halle, 
2.  Dezember  1906*). 

Parteigenossen  und  -genossinnen!  Sie  sind  heute  versammelt 
zur  Besprechung  einer  wirtschaftlichen  Frage,  die  in  alle  unsere 
Verhältnisse  tief  einschneidet.  Diese  wirtschaftliche  Frage  ist  zu- 

*)  Für  den  2.  Dezember  war  eine  Kroße  Kundgebung  gegen  den  Fleisch- 
wucher einberufen.  Gut  fünfundzwanzigtausend  Menschen  waren  ge- 
kommen, um  an  der  großen  Versammlung,  die  in  die  Volkshalle  des  Rat- 
hauses einberufen  war,  teilzunehmen.  Selbstverständlich  fand  nur  ein 
kleiner  Teil  in  der  Volkshalle  Platz,  die  anderen  mußten  draußen  vor  dem 
Rathaus  demonstrieren.  Als  Redner  in  der  Versammlung  sprachen  über  die 
Fleischteuerung  Reumann,  Schuhmeier  und  S  e  i  t  z.  Aber  vor  Ein- 
gehen   in    die  Tagesordnung    berichtete  Adler    über    den  Abschluß    der 


456  Der  Steg  des  gleichen  Wahlrechts. 

gleich  eine  politische  Frage  ersten  Ranges  und  sie  wird  zugunsten 
des  Volkes  nicht  entschieden  werden,  wenn  das  Volk  nicht  seine 
ganze  politische  Macht  in  die  Wagschale  legen  kann.  Aber,  Partei- 
genossen, bevor  Sie  zur  Erörterung  dieser  Frage  schreiten,  war 
es  mir  —  ich  gestehe  es  Ihnen  —  ein  Bedürfnis,  am  heutigen  Tage 
einige  Worte  an  Sie  zu  richten.  Gestern  wurde  im  Abgeordneten- 
haus das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht  in  zweiter  und 
dritter  Lesung  beschlossen.  (Brausende  Hochrufe  auf  das  all- 
gemeine und  gleiche  Wahlrecht  und  auf  Dr.  Adler.)  Drei  Tage 
über  ein  Jahr  ist  es  her,  daß  wir  vor  das  Parlament  gezogen  an 
jenem  glorreichen  4.  November,  in  einer  Demonstration,  die  uner- 
hört war  und  unvergleichlich.  Mit  ihr  haben  wir  vor  aller  Augen 
klargestellt,  daß  die  Arbeiterschaft  Österreichs  überzeugt  und  ent- 
schlossen ist,  die  Notwendigkeit  für  Österreich  durchzusetzen, 
koste  es,  was  es  wolle.  (Stürmische  Zustimmung.)  Ein  Jahr  der 
schwersten  politischen  Arbeit  ist  vergangen,  ein  Jahr  voll  Krisen, 
voll  Gefahren,  ein  Jahr,  wo  jede  Woche  so  viel  politischen  Inhalt 
hatte  wie  sonst  oft  nicht  Jahre.  Dieses  Jahr  ist  zu  Ende  und  das 
gleiche  politische  Recht  ist  eine  Tatsache  in  Österreich.  (Brausen- 
der Jubel.) 

Parteigenossen!  Wir  sind  weit  davon  entfernt,  zu  sagen,  das 
Proletariat  allein  habe  durch  seine  Übermacht  und  durch  seine  Ge- 
walt das  gleiche  Recht  durchgesetzt.  Wir  wären  ohnmächtig,  wenn 
wir  uns  nicht  in  den  Dienst  der  geschichtlichen  Notwendigkeit  ge- 


Wahlreform  im  Abgeordnetenhaus.  Am  Tage  vorher,  am  1.  Dezember,, 
hatte  das  Abgeordnetenhaus  mit  194  gegen  63  Stimmen  die  Wahlreform 
angenommen,  nachdem  sie  in  den  letzten  Tagen  noch  mannigfache 
Schwierigkeiten  hatte  überwinden  müssen.  Am  21.  November  hatten,  wie 
ja  berichtet  wurde,  die  Wahlreformfeinde  die  Einführung  des  Pluralwahl- 
rechtes beantragt.  Aber  der  Antrag  wurde  mit  201  gegen  143  Stimmen  ab- 
gelehnt. Am  27.  November  krawallierten  die  Tschechischradikalen  wegen 
der  Aufteilung  der  Mandate  in  Böhmen.  Am  29.  beantragte  Kramarsch 
unter  dem  Eindruck  dieser  Krawalle  die  Abänderung  der  Mandatsaufteilung 
in  Böhmen  —  statt  der  im  Ausschuß  beschlossenen  75  Mandate  für  die 
Tschechen  und  55  für  die  Deutschen  78  für  die  Tschechen  und  52  für  die 
Deutschen.  Als  aber  Beck  rund  heraus  erklärte,  daß  das  die  Wahlreform 
zum  Scheitern  bringe,  ließen  sich  die  vernünftigen  Tschechen  überstimmen,, 
die  Tschechischradikalen  aber  erzwangen  am  nächsten  Tage  durch  tätliche 
Angriffe  auf  die  Schriftführer  die  Unterbrechung  der  Sitzung.  Doch  konnte 
am  1.  Dezember  auf  die  zweite  Lesung  im  Wege  eines  Dringlichkeits- 
antrages gleich  die  dritte  Lesung  folgen. 

So  hatte  die  Wahlreform  im  Abgeordnetenhaus  gesiegt.  Aber  nun  kamen 
noch  die  Schwierigkeiten  im  Herrenhaus.  Aber  als  die  Regierung  dem 
Wunsche  der  Herrenhäusler,  auf  das  Recht  des  „Pairsschubs"  zu  ver- 
zichten, indem  die  Zahl  der  Mitglieder  des  Herrenhauses  mit  einer  Mindest- 
zahl und  einer  Höchstzahl  bestimmt  werde,  nachgegeben  und  die  Vorlage 
über  den  „numerus  clausus"  (geschlossene  Zahl)  eingebracht  hatte,  die  die 
Mindestzahl  der  auf  Lebenszeit  ernannten  Herrenhausmitglieder  mit  150,. 
die  Höchstzahl  mit  170  festsetzte,  gaben  auch  die  Herrenhäusler  nach  und 
am  11.  Jänner  nahm  auch  das  Herrenhaus  die  Wahlreform  an,  die  am 
26.  Jänner  die  kaiserliche  Sanktion  erhielt. 


Der  Sieg  der  WaWreform.  4-r>7 


stellt  hätten;  wir  wären  ohnmächtig,  wenn  wir  nicht  die  Träger 
wären  der  Ideen,  die  zum  Siege  kommen  müssen,  wenn  die  Ver- 
nunft der  Menschheit  sich  verwirklichen  soll.  So  aber  sehen  wir, 
daß  die  geschichtliche  Notwendigkeit  überwunden  hat  den  Wider- 
stand der  Kurien,  den  Widerstand  der  Bürokratie,  den  Widerstand 
alles  dessen,  was  Macht  und  Gewalt  hat  in  Österreich,  und  so 
wissen  wir,  daß  die  Kraft  unserer  Idee  uns  auch  weiter  führen  wird. 
Das  allgemeine  und  gleiche  Wahlrecht,  das  rinde  des  Kurienparla- 
ments und  der  Kurienschande,  der  Beginn  eines  wirklichen  Volks- 
parlaments ist  in  diesem  alten  Österreich  Tatsache.  Zwar,  Ge- 
nossen, ist  noch  nicht  der  letzte  Streich  zu  diesem  Werke  getan. 
Noch  harrt  das  gleiche  Wahlrecht  der  Unterschrift  des  Herren- 
hauses. Wir  wissen  sehr  genau,  leicht  wird  es  den  Herren  im 
Herrenhause  nicht  werden,  das  gleiche  Recht  des  Volkes  anzu- 
erkennen. Das  wissen  wir.  Aber  wir  haben  das  eiserne  Vertrauen, 
daß  die  unabwendbare  Notwendigkeit,  die  das  Abgeordnetenhaus, 
ja  die  die  widerstrebenden  Parteien  gezwungen  hat,  das  gleiche 
Recht  zu  fördern  —  wir  sind  überzeugt,  daß  diese  Notwendigkeit 
für  den  Staat,  für  das  Volk  und  für  die  Möglichkeit  der  Kultur  und 
Entwicklung  in  Österreich  auch  stark  genug  sein  wird,  daß  sich 
die  Herren  im  Herrenhause  ihr  werden  beugen  müssen.  Fern  von 
uns  liegt  es,  Terrorismus  üben  oder  auch  nur  andeuten  zu  wollen. 
Wir  wollen  die  Herren  nicht  vergewaltigen  —  wir  haben  ja  nicht 
die  Gewalt  hiezu  — ,  aber  vergewaltigt  werden  sie  werden  und 
beugen  werden  sie  sich  müssen,  wie  wir  uns  alle  beugen  müssen 
vor  der  Notwendigkeit  der  Völker  und  des  Staates. 

Parteigenossen!  Den  Arbeitern  Österreichs  aller  Zungen  ge- 
bührt heute  der  größte  und  wärmste  Dank  ganz  Österreichs.  Sie 
haben  in  einer  wahrhaft  musterhaften  und  bewundernswerten  Weise 
gezeigt,  daß  sie  alle  Eigenschaften  haben,  die  zur  politischen  Reife 
gehören,  die  sie  befähigen  zu  großen  politischen  Dingen.  Die 
Arbeiterschaft  Österreichs  hat  Energie,  Entschlossenheit  und 
Kampfbereitschaft  gezeigt,  wenn  es  notwendig  war;  sie  hat  aber 
auch  eine  weise  Mäßigung,  jene  kluge  Zurückhaltung  zu  bewahren 
gewußt,  wo  es  am  Platze  war.  Tapferkeit  und  Weisheit,  die  haben 
unsere  Sache  zum  Siege  geführt. 

Eines  will  ich  noch  sagen:  ich  hoffe  und  wünsche,  daß  das. 
klassenbewußte  Proletariat  Österreichs,  das  mit  dieser  bewunderns- 
werten Energie  und  mit  dieser  noch  größeren  Weisheit  sein  Recht 
zu  erkämpfen  verstanden  hat,  dieselbe  Weisheit  und  dieselbe  Kraft 
bewahren  wird,  wenn  es  gilt,  das  Recht  zu  gebrauchen,  das  es  sich 
jetzt  als  Waffe  erkämpft  hat,  seine  Interessen  durchzusetzen.  (All- 
gemeiner Beifall.)  Das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht 
ist  heute  ein  erreichtes  Ziel;  von  morgen  an  ist  es  der  Beginn  eines 
neuen  Kampfes  in  neuem,  größerem  Umfang,  mit  mehr  Kraft  und 
mehr  Mitteln  und  hoffentlich  auch  mit  mehr  Glück  für  die  Arbeiter- 
schaft. Der  Kampf  für  das  Wahlrecht  ist  zu  Ende.  Was  nun  beginnt, 
ist  der  Gebrauch  des  Rechtes,  ist  der  Kampf  für  die  speziellen 
Interessen  der  Arbeiterklasse,  bewehrt  mit  dem  gleichen  Rechte, 
das  sie  sich  erobert  und  von  niemand  wird  nehmen  lassen.  (Tosen- 


458  Der  Sic«  des  gleichen  Wahlrechts. 

der  Heifall.)  Und  so  schließe  ich:  Es  lebe  das  allgemeine,  gleiche 
und  direkte  Wahlrecht!  (Hoch!  Hoch!  Hoch!)  Es  lebe  die  inter- 
nationale Sozialdemokratie!  (Brausende  Hochrufe,  jubelnde  Be- 
geisterung in  der  ganzen  Versammlung.) 

Die  Grundlagen  der  neuen  Politik. 

Budgetprovisorium,  19.  Dezember  190  6. 

Aber  über  alle  diese  Fragen*)  werden  wir  noch  zu  sprechen 
haben,  wenn  das  neue  Haus  zusammentreten  wird.  Sie  begreifen, 
daß  ich,  wenn  ich  zum  Budget  spreche,  an  der  Tatsache  nicht 
vorübergehen  kann,  daß  der 

Abschluß  der  Wahlreform 

bevorsteht,  daß  er  aber  leider  noch  nicht  erfolgt  ist.  Die  Wahl- 
reform stößt  auf  Hindernisse  in  dem  anderen  Hause.  Das  Herren- 
haus hat  Schwierigkeiten  gemacht.  (Rufe:  Es  hat  schon  nach- 
gegeben!) Ich  bin  überzeugt,  daß  trotz  allen  Intrigen,  aller  Bös- 
willigkeit der  Feinde  des  Volkes,  trotz  allen  heimlichen  Schleich- 
wegen derjenigen,  die  ein  persönliches  Interesse  an  dem  Scheitern 
der  Wahlreform  haben  und  dieses  persönliche  Interesse  der  Zu- 
kunft des  Staates  und  seiner  Völker  entgegensetzen,  auch  das 
Herrenhaus  dem  Appell,  den  die  gesamte  Öffentlichkeit,  den  alle 
Schichten  der  Bevölkerung  ohne  Unterschied  an  seine  bekannte 
Weisheit  haben  ergehen  lassen,  nicht  widerstehen  werde.  Ich  hoffe 
und  wünsche  das,  aber  ich  muß  auch  sagen,  daß  der  Abgrund,  vor 
dem  wir  bewahrt  wurden,  sehr  gefährlich  war. 

Täuschen  Sie  sich  darüber  nicht!  Ich  sehe  hier  Herren,  die 
immer  noch  bis  zur  letzten  Stunde  gemeint  haben,  das  bißchen 
Pluralität  und  gar  Alterspluralität  könne  niemand  schaden,  das 
werden  alle,  sogar  die  Sozialdemokraten  schlucken.  Wir  erklären 
Ihnen  nochmals  feierlich,  lieber  heute  gar  keine  Wahl- 
reform, als  eine  auf  lange  Zeit  verpfuschte  Wahl- 
reform! (Lebhafte  Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten.)  Es 
wäre  die  schlechteste  Politik,  die  wir  machen  könnten,  uns  auf 
Jahre  hinaus  politisch  die  Zukunft  abzuschneiden;  heute,  wo  man 


*)  Am  19.  Dezember  mußte  das  Abgeordnetenhaus  noch  ein  Budget- 
provisorium beschließen,  wobei  Adler  selbstverständlich  auch  die  Wahl- 
reform zur  Sprache  brachte.  Vorher  hatte  er  einige  andere  Fragen  kurz 
erörtert.  Bei  der  Erörterung  der  Wahlreform  mußte  er  natürlich  auch  die 
Fronde  der  Herrenhäusler  erörtern,  die  eben  durch  ein  Kompromiß  bei- 
gelegt worden  war.  Die  Herrenhäusler  hatten  außer  der  Alterspluralität 
noch  die  Aufnahme  einer  Bestimmung  verlangt,  wonach  das  Recht  der 
Krone,  auf  Ernennung  von  Mitgliedern  des  Herrenhauses,  das  bisher  un- 
beschränkt war,  beschränkt  werden  sollte.  Die  Zahl  der  vom  Kaiser  auf 
Lebenszeit  ernannten  Mitglieder  sollte  nicht  mehr  als  170  und  nicht 
weniger  als  150  betragen.  Indem  die  Regierung  diesen  „numerus  clausus" 
(beschränkte  Zahl)  zugestand,  verzichteten  die  Herrenhäusler  schließlich 
auf  die  Pluralität.  (Siehe  die  Rede  vom  2.  Dezember.) 


Die  Grundlagen  der  neuen  Politik.  159 


mit  etwas  Verstand,  Energie  und  Pflichtgefühl  da  drüben  ein  ver- 
nünftiges Werk  vernünftig  zu  Ende  führen  kann.  Ich  habe  seihst 
die  Überzeugung,  daß  die  Vernunft  gesiegt  hat.  Einzelne  Parteien 
i\cs  Herrenhauses  wünschen  nun 

an  die  Wahlreform  Bedingungen 

für  die  Reform  des  eigenen  Hauses  zu  knüpfen.  Es  ist  etwas  ver- 
wunderlich, daß  dieser  Wunsch  so  spät  und  so  plötzlich  gekommen 
ist.  Es  liegt  da  der  Verdacht  nahe,  daß  wenigstens  einzelne  Herren 
weniger  wünschen,  das  Herrenhaus  zu  reformieren,  als  der  Wahl- 
reform Schwierigkeiten  zu  bereiten  oder  einen  allzu  großen  Zuzug 
aus  dem  Abgeordnetenhaus  fernzuhalten.  (Heiterkeit.)  Wenn  der 
Regierung  ein  Vorwurf  zu  machen  ist,  darf  er  nicht  vom  Herren- 
haus, sondern  könnte  höchstens  vom  Abgeordnetenhaus  über  die 
allzu  große  und  schnelle  Bereitwilligkeit  erhoben  werden,  mit  der 
die  Regierung  einem  Wunsche  des  Herrenhauses  so  pünktlich  und 
umfassend  nachgekommen  ist.  Die  Völker  Österreichs  haben 
etwas  länger  petitionieren  müssen,  bis  sie  die  Reform  ihres  Hauses 
zuwege  brachten.  Die  einzige  uns  wünschenswerte  Reform  des 
Herrenhauses  ist  dessen  Abschaffung.  Aktuell  ist  aber  heute  nur 
der 

Numerus  clausus, 

der  gewissermaßen  eine  Stärkung  der  Position  des  Herrenhauses 
bedeutet  und  uns  als  solcher  nicht  erwünscht  ist.  Dieser  Numerus 
clausus  bedeutet  aber  zugleich  auch  eine  Schwächung  der  Krone, 
und  dagegen  haben  wir  von  unserer  Seite  nichts  einzuwenden. 
Man  kann  da  ohne  weiteres  annehmen,  daß  der  eine  Vorteil  den 
anderen  Nachteil  kompensiert.  Wir  werden  diesen  Vorschlag  nicht 
mit  Entzücken  aufnehmen,  wir  werden  ihn  aber  als  eines  der 
vielen  Kompromisse  über  uns  ergehen  lassen  — 
ohne  Entzücken,  aber  auch  ohne  Feindseligkeit. 
Das  Herrenhaus  hätte  es  aber  gar  nicht  notwendig,  allzu  harte 
Bedingungen  zu  stellen,  das  Kompromiß  durch  harte  Förmlich- 
keiten allzusehr  zu  erschweren.  Ich  habe  die  feste  Überzeugung, 
daß  dieses  Haus,  das  heute  in  seiner  überwältigenden  Majorität 
von  der  Notwendigkeit  der  Wahlreform  durchdrungen  ist,  auch  die 
Bedingung  des  Numerus  clausus  im  Herrenhaus  anerkennen  wird. 
Vor  uns  liegt  eine  Zeit,  wo  durch  die  Wahl  auf  Grund  des 
gleichen  Rechtes 

die  Grundlage  für  eine  neue  Politik 

gelegt  werden  soll;  eine  Zeit,  die  über  die  nächste  Zukunft  des 
Staates  bestimmen  soll  und  die  zeigen  wird,  daß  das  allgemeine, 
gleiche  und  direkte  Wahlrecht  nicht '  der  Abschluß,  sondern  der 
Beginn  einer  neuen  Entwicklungsperiode  ist, 
einer  Periode  der  vollständigen  Umwälzung  aller  Bedingungen  des 
Lebens  des  Staates.  Das  wird  eine  schwere  und  umfassende  Arbeit 
sein.  Und  wenn  Sie  sich  ermüdet  zeigen,  wenn  alle  politisch  Arbei- 
tenden erschöpft  sind  durch  das  große  Werk,  das  eben  vollbracht 
wurde,  müssen  wir  uns  alle  sagen:  Nach  den  Wahlen  hoffen  wir 


460  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

neu  gestärkt  und  neu  gekräftigt  wieder  hieher  zu  kommen  und 
ein  neues  Österreich  zu  schaffen,  das  basiert  auf 
dem  Alleinwillen  der  Völker  und  in  dem  zum 
erstenmal  die  Völker  ihre  Politik  selbst  machen 
können.  (Beifall  bei  den  Sozialdemokraten.) 


Das  Wahlschutzgesetz. 

Parlament,  11.  Jänner  190  7*). 

Das  Gesetz  über  die  Wahlfreiheit  hat  ursprünglich  den  Zweck 
gehabt,  der  Wahlreform  Prügel  in  den  Weg  zu  werfen.  Man  hat 
die  Wahlreform  als  etwas  angesehen,  was  man  nur  mit  der  größten 
Vorsicht  und  mit  allerlei  Sicherheitsventilen  machen  kann.  Nur  so 
konnte  man  auch  die  schwankenden  Elemente  dafür  gewinnen. 
Eine  große  Anzahl  von  Parteien  war  ja  damals  noch  nicht  so  be- 
geistert vom  allgemeinen  Wahlrecht  wie  jetzt.  (Heiterkeit.)  Wir 
beglückwünschen  Sie  ehrlich  zu  dieser  Wandlung  Ihrer  Anschau- 
ungen. Das  ist  ja  der  Werdegang  aller  großen  Ideen,  daß  zuerst  die 
Klasse  voranschreitet,  die  in  erster  Linie  an  der  Freiheit  ein  Inter- 
esse hat,  daß  sie  zuerst  eine  Minorität  ist,  die  bekämpft  und  belächelt 
wird,  daß  aber  die  Minorität  die  Majorität  mit  sich  fortreißt  und 
endlich  zur  Majorität  wird.  Sehr  viele  von  unseren  Forderungen,  die 
heute  noch  bekämpft  werden,  werden  seinerzeit  Gesetz  werden  a  1  s 
Werk  dieser  Majorität,  und  wir  werden  Ihnen  immer  den 
Ruhm  neidlos  gönnen.  Wir  sind  in  allen  Fragen  immer  bereit  dazu, 
uns,  indem  wir  den  Vorstoß  führen,  einsperren  zu  lassen  für  eine 
Sache,  die,  wenn  sie  eingeführt  ist,  denjenigen,  die  sich  zuletzt 
für  sie  eingesetzt  haben,  Ehren  und  Würden  bringt.  Eingesperrt  zu 
werden  ist  unsere  Funktion,  Auszeichnungen  zu  erhalten,  ist  die 
Funktion  der  anderen.  Wir  sind  beide  in  unseren  Rollen  und  wollen 
bei  diesen  Rollen  auch  in  Zukunft  bleiben.  (Lebhafter 
Beifall  bei  den  Sozialdemokraten.) 

Abgeordneter  Pernerstorf  er:  Ich  werde  gerade  gefragt,  ob  du 
nicht  auch  Hofrat  werden  willst? 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Vorläufig  nicht! 

Abgeordneter  Loser**):  Der  Sternberg  hat  gesagt,  daß  Sie  der 
Vizekaiser  werden  sollen! 


*)  Unter  den  Vorlagen,  die  schon  Gautsch  mit  der  Wahlreform  zu- 
sammen dem  Parlament  vorgelegt  hatte,  war  auch  eine  „zum  Schutz  der 
Wahlfreiheit",  die  auch  im  wesentlichen  Gesetz  wurde.  Sie  war  aus- 
schließlich das  Werk  Geßmanns,  der  dann  auch  durchsetzte,  daß  die 
Bestimmungen,  die  sich  gegen  einen  Wahlterror  richteten,  gemildert 
wurden.  (Siehe  die  Reden  Adlers  vom  29.  und  30.  November  1906  im 
Ausschuß,  aber  auch  vom  12.  Jänner  1907  im  Haus.) 

'*)  Franz  Loser,  ein  Christlichsozialer  (von  Beruf  Eisenbahner),  Ab- 
geordneter der  fünften  Kurie  von  Vorarlberg. 


Das  Wahlschutzgesetz.  461 


Abgeordneter  Malik'):  Vorläufig!  Sehr  vorsichtig,  Herr  Doktor 

Adler! 

Abgeordneter  Eldersch:  Da  ist  der  Malik  ganz  anders,  der  weil.', 
es  gleich!  (Heiterkeit.) 

Abgeordneter  Malik:  Vorläufig  hängen  ihm  die  Trauben  noch 
zu  hoch! 

Abgeordneter  Eldersch:  So  ist  es!  Sie  haben  wieder  einmal  den 
Nagel  auf  den  Kopf  getroffen!  (Heiterkeit.) 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Vorläufig  ist  mir  die  Gesell- 
schaft der  Hochverräter  noch  lieber  als  die  der 
Hof  rate!  (Lebhafte  Heiterkeit.) 

Abgeordneter  Malik:  Wir  danken  dafür! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Aber  das  geht  Sie  ja  gar  nichts  an,  Sie 
sind  ja  kein  Hochverräter!  Das  ist  Größenwahn,  wenn  Sie  das 
glauben!  (Heiterkeit.) 

Alle  die  Momente,  welche  bei  der  jetzigen  Wahlordnung  für  ein 
Gesetz  betreffend  die  Wahlfreiheit  sprechen,  entfallen  beim  allge- 
meinen, gleichen  und  direkten  Wahlrecht.  Jeder  muß  den  Eindruck 
haben,  daß  die  Herren,  welche  das  Gesetz  wollen,  nämlich  die 
Christlichsozialen  und  die  Polen,  nur  fürchten,  daß  die  obli- 
gaten Mittel  galizischer  und  Wiener  Wahlen  beim 
allgemeinen,  gleichen  Wahlrecht  nicht  mehr  ver- 
fangen werden.  Es  war  also  nicht  begründet,  gerade  jetzt 
ein  solches  Gesetz  zu  schaffen.  Eine  Abhilfe  gegen  Wahlmißbräuche 
kann  nur  herbeigeführt  werden,  wenn  sich  das  sittliche  Niveau  des 
Parlaments  hebt  und  wenn  das  Parlament  die  Kraft  besitzt,  um 
Leute,  die  durch  Mißbrauch  in  das  Haus  gekommen  sind,  wieder 
auszuschließen.  Es  ist  nicht  wahr,  daß  man  dem  allgemeinen 
Stimmrecht  gegenüberstehen  muß  wie 

einer  Bestie, 

gegen  die  man  sich  mit  Netzen,  Gewehren  und  Stricken  ausrüstet, 
und  es  ist  nicht  nötig,  daß  man  der  Wahlreform  mit  einem  Gesetz 
an  den  Leib  rückt,  das  nach  seiner  Tendenz  zwar  ideal,  aber  nach 
seinem  Inhalt  ein  Monstrum  ist.  Wahrscheinlich  gefällt  das 
Gesetz  den  Christlichsozialen  auch  nicht  mehr. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Gewiß  nicht  in  seinem 
jetzigen  Umfang;  es  ist  ein  Kompromiß  wie  jedes  andere. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Aber  es  ist  nicht  ein  Kompromiß  wie 
sonst  zwischen  der  Vernunft  und  den  Machtverhältnissen,  sondern 
es  ist  ein  Kompromiß  zwischen  der  Angst  und  dem  Wunsche,  dieses 
Gesetz  einseitig  gegen  diejenigen  auszubeuten,  zu  deren  Schutz  es 
angeblich  ersonnen  ist.  Wesentlich  ist  dieses  Gesetz  ein 

Angstprodukt! 

*)  Vinzenz  Malik,  Abgeordneter  der  jetzt  jugoslawischen  Stadt 
Leibnitz,  Alldeutscher,  fanatischer  Bekütnpfer  der  Wahlreform,  gehörte 
übrigens  auch  dem  Parlament  des  allgemeinen  Wahlrechtes  an. 


462  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Es  ist  ein  Produkt  der  Angst  vor  dem  Wahlrecht,  vor  den 
Massen. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Es  ist  ein  Produkt  der  praktischen 
Erfahrung! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Es  ist  erstens  ein  Produkt  der  Angst 
und  zweitens  ein  Produkt  des  schlechten  Gewissens;  das 
ist  das,  was  Sie  als  „praktische  Erfahrungen"  bezeichnen!  Eigent- 
lich sollte  ein  Gesetz,  das  den  Schutz  der  wirtschaftlich  Schwachen 
bei  den  Wahlen  anstrebt,  das  Wahlmißbräuche,  Bestechungen,  Miß- 
brauch der  Amtsgewalt  verbietet,  von  den  Sozialdemokraten  aufs 
wärmste  begrüßt  werden,  weil  immer  die  Arbeiter  als  die  wirt- 
schaftlich Schwächeren  bei  den  Wahlen  vergewaltigt  werden.  Bei 
dem  allgemeinen  Wahlrecht  ist  aber  eine  Quelle  der  Mißbräuche 
schon  weggeschafft  durch  die  Beseitigung  der  indirekten  und  der 
mündlichen  Wahlen.  Die  herrschende  Partei  in  Wien  ist  gewohnt, 
ihre  Arbeiter  und  Beamten  zu  den  Wahlen  zu  kommandieren.  Diese 
politische  Beeinflussung  ist  die  einzige  Schattenseite  der  von  mir 
sonst  anerkannten  kommunalen  Großbetriebe. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Sie  vertreten  ja  selber  das  Recht 
der  wirtschaftlichen  Beeinflussung! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Das  ist  nicht  richtig! 

Abgeordneter  Schoiswohl*):   Boykottandrohungen! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Tatsache  ist,  daß  von  Leuten,  die  die 
wirtschaftliche  Macht  haben,  die  Angestellten  bisher  in  Gruppen 
und  unter  genauer  Kontrolle  zu  der  Urne  geführt  wurden,  ob  sie 
die  richtigen  Stimmzettel  abgeben. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Das  ist  in  Wien  nie  geschehen! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ich  bin  überzeugt,  daß  das  in  Zukunft 
nicht  mehr  möglich  sein  wird.  Es  wird  auch  nicht  nötig  sein,  weil 
die  Wahlkreise    entsprechend    zugemessen    sind. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Aber  Sie  haben  sich  wirklich  nicht 
zu  beklagen! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Oh,  Herr  Hofrat,  Sie  sind  unschuldig 
wie  ein  neugeborenes  Kind!  (Heiterkeit.)  Sie  wären  ein  schlechter 
Politiker,  wenn  Sie  Ihre  Macht  nicht  zu  Ihren  Gunsten  gebraucht 
hätten.  Ich  nehme  Sie  aber  jetzt  beim  Wort.  Ich  kann  nicht 
annehmen,  daß  der  Führer  einer  Partei,  der  so 
hervorragenden  Einfluß  auf  ein  solches  Gesetz 
genommen  hat,  dulden  wird,  daß  in  seiner  eigenen 
Partei  von  den  offiziellen  Beamten  dieser  Partei 
dieser  selbe  Mißbrauch  gegen  die  Arbeiterschaft 
wieder  geübt  werden  wird.  Auch  in  Böhmen,  Mähren 
und  Schlesien  sind  Wahlmißbräuche  vorgekommen,  die  gegen  die 
Arbeiter  gerichtet  wraren,  so  auch  bei  den  letzten  mährischen  Land- 
tagswahlen. 


*)  Michael  Schoiswohl,  christlichsozialer  Arbeitervertreter,  Werk- 
stättenvorarbeiter in  Gußwerk,  Abgeordneter  der  fünften  Kurie  von  Brück 
an  der  Mur  in  Steiermark,  wurde  auch  unter  dem  allgemeinen  Wahlrecht 
gewählt. 


Das  Wahrschutzgesetz.  463 


Abgeordneter  Eider  seh:  Ich  kann  Ihnen  noch  ein  paar  Bier- 
marken geben! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Die  Fabrikanten  haben  bei  den  Wahlen 
die  Arbeiter  terrorisiert.  Jedes  Land  hat  darin  seine  Sitten.  Von 
den  galizischen  Wahlsitten  zu  sprechen,  wäre  überflüssig,  denn  diese 
sind  geschichtliche  Beispiele  für  alle  Formen  des  Wahlschwindels 
und  des  Wahlterrorismus,  der  Vergewaltigung  der  Wahlen  bis  zum 
Erschlagen. 

Der  S  5  des  Gesetzes,  der  von  der  Wahlnötigung  spricht,  wird 
nicht  gegen  die  wirtschaftlich  Stärkeren  angewendet  werden,  son- 
dern gegen  die  wirtschaftlich  Schwachen,  die  sich 
koalieren,  sich  organisieren  und  sich  dadurch  den  freien  Ausdruck 
ihres  politischen  Willens  sichern  wollen. 

Abgeordneter  Dr.  Geßtnann:  Wer  ist  heute  der  wirtschaftlich 
Stärkere?  In  vielen  Fällen  viel  mehr  Sie  als  das  Großkapital! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Herr  Hof  rat!  Ich  bewundere  Ihren 
Optimismus;  wir  sind  leider  noch  lange  nicht  so  weit,  denn  wenn 
die  Arbeiterschaft  wirklich  wirtschaftlich  stärker  wäre  als  das 
Großkapital,  dann  würde  manches  in  diesem  Lande  anders  aus- 
schauen . . .  Ich  frage  niemals,  was  in  einem  Gesetz  steht,  sondern 
immer  nur,  wie  das  Gesetz  gehandhabt  wird.  Darum  muß  ich 
über  die  Bemühungen  lächeln,  die  den  Mißbrauch  der  Kanzel  zu 
Wahlzwecken  verhindern  wollen. 

Abgeordneter  De  Geßmann:  Sagen  Sie  gleich,  es  ist  eine  Macht- 
frage. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Es  ist  eine  Machtfrage  und  darum  ist 
unser  ganzes  Bestreben  nicht  darauf  gerichtet,  die  Herren  zu  über- 
zeugen, sondern  darauf,  die  Macht  zu  erlangen.  Die  Sozial- 
demokraten haben  es  nie  verheimlicht,  daß  der  ganze  Kampf  nur 
der  politischen  Macht  des  Proletariats  gilt. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Gleiches  Recht  für  alle. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Wir  wundern  uns  nicht,  daß  Sie  sich 
an  der  Macht  halten  wollen,  aber  tun  Sie  sich  nicht  in  Tugend 
drapieren!...  Ich  bin  nicht  für  die  Einführung  eines  Kanzelpara- 
graphen, obwohl  ich  die  Gefahr  der  Agitation  der  Geistlichkeit  nicht 
unterschätze.  Ich  weiß  genau,  daß  meiner  Partei  in  der  Organi- 
sation der  Geistlichkeit  eine  politische  Organisation  gegenübersteht, 
die  so  vollkommen  funktioniert,  wie  leider  die  sozialdemokratische 
Organisation  nie  funktionieren  wird.  Die  Organisation,  an  deren 
Spitze  oder  an  deren  Seite  Herr  Hofrat  Geßmann  steht,  hat  ihren 
Vertrauensmann  in  jedem  Pfarrhof,  es  ist  eine  Organisation,  die 
funktioniert  wie  ein  Uhrwerk. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Das  ist  eine  Übertreibung! 

Abgeordneter  Schuhmeier:  Wird  auch  fortwährend  aufgezogen! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Herr  Hofrat  Geßmann,  wenn  die  Or- 
ganisation auch  noch  nicht  vollständig  klappt,  geben  Sie  die  Hoff- 
nung nicht  auf,  Sie  werden's  schon  dermachen!  (Heiterkeit.) 

Abgeordneter  Seitz:  Wir  schmieren  ja  mit  der  Kongrua!  (Heiter- 
keit.) 


464  Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechts. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Die  Agitation  der  Geistlichen  wird  man 
nicht  verhindern  können.  Keinem  Geistlichen  wird  je  ein  Haar  ge- 
krümmt werden,  wenn  wir  auch  ein  noch  so  scharfes  Gesetz 
schaffen.  Die  Geistlichen  werden  dadurch  nur  in  die  Rolle  von 
Märtyrern  gedrängt.  Jedes  Ausnahmegesetz  hat  die  Folge,  daß 
nur  der  Schwache  davon  getroffen  wird  und  niemals  der  Starke. 
Der  Antrag  auf  Einführung  eines  Kanzelparagraphen  entspringt 
nur  der  Angst  des  Bürgertums  und  dem  Gefühl,  daß  seine  Macht 
zu  wanken  beginnt.  Die  Sozialdemokraten  fürchten  die  Agitation 
von  der  Kanzel  nicht.  Es  ist  noch  keiner  in  die  Kirche 
gegangen  als  Sozialdemokrat  und  als  Klerikaler 
herausgekommen.  Wohl  aber  sind  sehr  viele  schon  als 
Klerikale  hineingegangen  und  als  Sozialdemokraten  herausgekom- 
men. Die  Sozialdemokraten  wollen  der  Geistlichkeit  nicht  er- 
schweren, in  dieser  Weise  zu  ihren  Gunsten  zu  wirken.  Wir  sind 
allerdings  nicht  dazu  bereit,  diesen  Herren 

eine  Immunität 

zuzugestehen.  Durch  dieses  Gesetz  wird  ja  jeder  Amtsmißbrauch 
bestraft,  und  demgemäß  sollte  auch  ein  Geistlicher  bestraft  werden, 
wenn  er  in  Ausübung  seines  Amtes  eine  Wahlbeeinflussung  vor- 
nimmt. §  5  bedeutet  also  für  mich  eine  Beruhigung,  allerdings  nicht 
meines  politischen,  aber  meines  formalen  Gewissens;  denn  ich 
weiß,  politisch  wird  nichts  herauskommen,  aber  es  ist  wegen  der 
Ordnung,  daß  auch  das  im  Gesetz  drin  steht.  (Lebhafte  Heiterkeit.) 
Es  existieren  autoritative  Aussagen  über  die  Art  und 
Weise,  wie  die  Geistlichkeit  das  Wahlgeschäft  auffaßt.  Ich  werde 
Ihnen  aus  einer  mit  bischöflicher  Genehmigung  erschienenen  theo- 
logisch-praktischen Quartalschrift  aus  dem  Jahre  1898  ein  paar 
Nutzanwendungen  vorlesen,  in  welchen  Dr.  Hermann  Strohsacker 
eine  Abhandlung  über 

Wahlkasuistik 

geschrieben  hat,  die  einen  gewissen  Einblick  in  die  Psychologie 
der  priesterlichen  Wahllogik  gewährt.  Er  kommt  unter  anderem 
zu  dem  Schlüsse,  daß,  wenn  es  keine  Sünde  ist,  in  gewissen  Fällen, 
um  die  Wahl  eines  Sozialdemokraten  zu  verhindern,  mit  Liberalen 
oder  Nationalen  zu  paktieren,  es  dann  auch  keine  Sünde 
sein  kann,  Geld  oder  sonstige  Emolumente  für 
seine  Stimme  anzunehmen,  allerdings  unter  der  Voraus- 
setzung, daß  der  Katholik  dem  Skandalum  ausweicht.  Das  Geschäft 
eines  Wahlagitators  besteht  nach  seiner  Ansicht  in  folgenden  Hand- 
lungen: Plakate  des  vom  Agitator  vertretenen  Kandidaten  anzu- 
heften, gegnerische  Plakate  herabzureißen,  den  gegnerischen  Kan- 
didaten nach  Möglichkeit  als  unfähig  und  unwürdig  hinzustellen . . . 

Abgeordneter  Pastor*):  Sie  machen  das  ja  auch! 

Abgeordneter  Pernerstorfer  (zum  Abgeordneten  Pastor):  Aber 
Sie  vertreten  doch  die  Tugend! 

*)  Dechant  Leo  Pastor,  Vorsitzender  der  polnischklerikalen  Partei, 
Abgeordneter  der  Landgemeinden  von  Jaslo,  auch  später  dort  gewählt. 


Das  Wahlschutzgesetz.  J,>> 


Abgeordneter  Dr.  Adler:  ...  eventuell  den  Mangel  an  Freunden 
durch  Geldverteilung  ZU  paralysieren.  Sie,  Hochwürden  Pastor, 
Sie  würden  selbstverständlich  fragen:  Welches  dieser  Agitations- 
mittel verträgt  sich  erstens  mit  dem  Gesetz,  zweitens  mit  der 
Moral  und  drittens  mit  dem  Gebot,  nicht  zu  lügen?  Aber  Dr.  Stroh- 
sacker ist  ein  Weltkind  gegen  Sie.  (Lebhafte  Heiterkeit.)  Er  ist  nicht 
so  heikel,  er  sagt,  es  kommt  darauf  an,  welcher  Couleur  der  Kan- 
didat angehört  (lebhafte  Heiterkeit),  dem  der  Agitator  seine  Dienste 
anbietet.  Ist  es  ein  Sozialdemokrat  oder  ein  Kandidat,  dessen  Wahl 
hie  et  nunc  nicht  erlaubt  ist,  so  ist  natürlich  die  Ranze  Tätigkeit  des 
Agitators  unerlaubt,  auch  wenn  die  Schritte,  die  er  im  Interesse 
seines  Auftraggebers  unternimmt,  an  und  für  sich  erlaubt  wären. 
Mit  dem  Abreißen  der  gegnerischen  Plakate  aber  hat  es  seine 
eigene  Bewandtnis.  Es  könnten  Bedenken  entstehen,  ob  diese  Zettel 
nicht  als  Eigentum  des  gegnerischen  Kandidaten  zu  betrachten 
wären  und  daher  ohne  seine  Zustimmung  nicht  vernichtet  werden 
dürfen.  Allein  eine  doppelte  Rücksicht  läßt  Dr.  Strohsacker  das 
Herabreißen  der  gegnerischen  Plakate  in  unserem  Falle  als  erlaubt 
erscheinen.  (Lebhafte  Heiterkeit.)  Fürs  erste  verlassen  die  Plakate, 
sobald  sie  aufgeklebt  sind,  von  selbst  das  Dominium  des  Heraus- 
gebers. Fürs  zweite  enthalten  liberale  und  sozialdemokratische 
Plakate  regelmäßig  Anwürfe  gegen  die  Kirche,  zum  allerwenigsten 
Aufforderungen  zu  unmoralischen  Handlungen,  nämlich  zur  Wahl 
eines  schlechten  Kandidaten  und  können  somit  mit  dem- 
selben Rechte  unschädlich  gemacht  werden,  mit 
welchem  man  etwa  ein  schädliches  Tier  nieder- 
schießt. (Lebhafte  Heiterkeit.)  Das  ist  die  Moral,  von  der  diese 
Herren  ausgehen. 

Abgeordneter  Pastor:  Ich  stimme  dem  nicht  bei! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Die  Schrift  erscheint  doch  mit  erz- 
bischöflicher Genehmigung. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Das  imponiert  uns  gar  nicht! 

Abgeordneter  Eldersch  (zu  Dr.  Geßmann):  Geben  Sie  acht,  Sie 
kommen  auf  den  Index! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Vermutlich  ist  dem  Dr.  Strohsacker, 
seitdem  diese  Abhandlung  erschienen  ist,  öfter  der  Vorwurf  ge- 
macht worden,  daß  er  sich  in  diesem  Falle  zu  sehr  als  Strohsack 
bewährt  hat.  (Lebhafte  Heiterkeit.) 

Abgeordneter  Pastor:  Schlecht  hat  er  gesprochen! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ungeschickt!  Ich  weiß,  wenn  Sie  so 
etwas  schrieben,  würden  Sie  es  geschickter  machen.  (Heiterkeit.) 
Wir  unterschätzen  die  Macht  der  Geistlichkeit  und  insbesondere 
ihre  vollständige  Unbedenklichkeit  in  der  Wahl  der  Mittel,  die  ganz 
andere  sind  als  die,  welche  der  sozialdemokratischen  Partei  zur 
Verfügung  stehen,  durchaus  nicht.  Wir  wissen,  daß  ihre  Macht  der 

Suggestion  der  Massen 

heute  noch  eine  ganz  gewaltige  ist.  Allein  diese  Macht  würde  noch 
bedeutend  erhöht,  wenn  wir  den  Zwangsparagraphen  beschließen 

Adler,  Briefe.  X.  hd.  30 


466  Der  Sieg'  des  gleichen  Wahlrechts. 

würden.  Darum  und  nicht  aus  Schonung  oder  aus  Neigung,  son- 
dern aus  der  Überzeugung,  daß  es  theoretisch  und  prinzipiell  falsch 
und  politisch  ein  Fehler  wäre,  sind  wir  gegen  einen  solchen  Para- 
graphen. Allerdings  müßte  man  wünschen,  daß  die  Anträge  Vogler 
und  Choc*)  aus  einem  anderen  Grunde  im  Gesetz  stehen.  In  diesen 
Anträgen  werden  nämlich  nicht  direkt  Priester  angeführt,  sondern 
überhaupt  öffentliche  Funktionäre  und  gewiß  bildet  der  Mißbrauch 
durch  den  Beamten  eine  der  größten  Gefahren.  Wenn  der  Justiz- 
minister**) gesagt  hat,  jede  Einwirkung  eines  Beamten  bei  den 
Wahlen  ist  ein  faktischer  Mißbrauch  der  Amtsgewalt,  so  kann  ich 
demgegenüber  erklären ,  wenn  der  Justizminister  das  in  vollem 
Ernste  meint,  dann  beneide  ich  ihn  trotz  seiner  ziemlich  langen  Amts- 
führung um  seinen  Sanguinismus,  ich  gratuliere  ihm,  daß  er  sich  in 
einer  so  schweren  Stellung,  wie  es  die  eines  Justizministers  ist,  die 
Unschuld  seiner  Seele  so  lange  bewahrt  hat.  (Heiterkeit.)  Wrer  soll 
denn  den  Beamten  strafen?  Vielleicht  derjenige,  nach  dessen  In- 
formationen und  Instruktionen  der  Beamte  handelt?  Der  Justiz- 
minister sagte,  ein  solcher  Bezirkshauptmann  begehe  ja  einen  Miß-, 
brauch  der  Amtsgewalt  und  müsse  viele  Monate  eingesperrt  wer- 
den. Meine  Herren!  Haben  Sie  schon  einen  eingesperrten  Bezirks- 
hauptmann gesehen?  (Lebhafte  Heiterkeit.) 

Abgeordneter  Daszynski:  Da  lacht  sogar  Hochwürden  Pastor! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Künftighin  bekommen  die  Mitglieder 
der  Wahlkommission  Amtscharakter,  das  heißt,  wer  sie  nur  schief 
anschaut,  macht  sich  der  Amtsehrenbeleidigung  schuldig.  Ob  das 
aber  auch  dahin  führen  wird,  daß  sie  den  Mißbrauch  der  Amts- 
gewalt mehr  scheuen  werden,  darauf  möchte  ich  nicht  schwören. 

Die  Initiatoren  dieses  Gesetzes  waren  wesentlich  die  Christlich- 
sozialen und  die  Polen.  Nun  kommt  im  Gesetz  ein  Paragraph  vor, 
wonach  man 

wegen  Terrorismus, 

so  heißt  es,  wenn  es  die  Sozialdemokraten  begehen,  Ausüben  des 
legalen  Einflusses  nennt  man  es,  wenn  es  die  anderen  begehen,  zu 
sehr  vielen  Monaten  Strafe  verurteilt  werden  kann,  vorausgesetzt, 
daß  man  angeklagt  wird.  Nun  kann  es  aber  geschehen,  daß  jemand, 
der  sich  einer  Erpressung  oder  Bestechung  schuldig  macht,  vom 
Staatsanwalt  nicht  geklagt  wird.  Um  dem  vorzubeugen,  daß  der 
Schuldige  straflos  bleibe,  hat  Dr.  Locker***)  beantragt,  daß  dem 
betreffenden  Wahlberechtigten  die  Befugnis  eines  Privatbeteiligten 
im  Strafverfahren  zustehen  soll.  Gegen  diesen  Paragraphen  wendet 

*)  Wenzel  Choc,  der  tschechische  nationalsozialistische  Abgeordnete 
von  Prag;  Dr.  Ludwig  Vogler,  der  liberale  Abgeordnete  der  Leopoldstadt. 

**)  Justizminister  im  Kabinett  Gautsch  war  der  bekannte  Jurist  und 
Schöpfer  des  österreichischen  Zivilprozesses  Dr.  Franz  Klein,  der  auch 
dem  Kabinett  Koerber  angehört  hatte  und  dann  wieder  dem  Kabinett  Beck 
angehörte;  nach  dem  Umsturz  kurze  Zeit  auch  dem  Nationalrat. 

'*)  Dr.  Julius  Locker,  Abgeordneter  der  Stadt  Linz,  Mitglied  der 
Deutschen  Volkspartei,  Berichterstatter  des  Ausschusses  über  die  Wahl- 
reform. 


D;is  Wahlschatzgesetz.  467 


sich  gerade  ein  Teil  der  polnischen  Abgeordneten  (lebhafte  Hört! 
Hört!-Rufe),  während  er  jede  andere  Verschärfung  des  Gesetzes 
begrüßt  hat  und  jede  Strafe  erhöht  wissen  wollte. 

Abgeordneter  Daszynski:  Der  Polenklub  hat  doch  die  Staats- 
anwälte in  der  Hand! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ich  darf  eine  solche  Annahme  hier 
nicht  machen  (Heiterkeit),  wo  es  sich  gar  nicht  darum  handelt,  die 
eine  Partei  in  der  Ausübung  des  politischen  Terrorismus  bis  auf 
das  äußerste  zu  sichern  und  die  andere  Partei  zu  beschweren  und 
ihr  auch  nur  die  Ausübung  der  ihr  zukommenden  legalen,  primi- 
tivsten Rechte  zu  nehmen,  hier,  wo  es  sich  um  das  blanke  Recht 
handelt,  während  die  Polen  doch  nicht  der  Gerechtigkeit  in  den 
Arm  fallen  wollen,  wenn  der  Privatbeteiligte  auftritt,  um  so  ein 
Delikt  zu  verfolgen!  (Heiterkeit.)  Die  Polen  werden  sich  doch  nicht 
so  bloßstellen,  gegen  diesen  Paragraphen  zu  stimmen. 

Ich  und  meine  Partei  sind  von  dem  Gesetz  nicht  entzückt. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Wir  auch  nicht! 

Abgeordneter  Pastor:  Wir  auch  nicht! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Also,  Herr  Hof  rat  Geßmann  auch  nicht, 
die  Polen  auch  nicht,  so  lassen  wir  das  Ganze  liegen.  Glauben  Sie, 
nur  wegen  der  Regierung  müssen  wir  es  machen? 

Abgeordneter  Pernerstorf  er:  Lehnen  wir  es  ab,  wir  haben  ja 
hier  die  Majorität! 

Abgeordneter  Schuhmeier:  Also,  stimmen  wir  gleich  ab!  (Leb- 
hafte Heiterkeit.) 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Das  Gesetz  wird  die  Hoffnungen,  die 
Sie  daran  knüpfen,  nicht  erfüllen,  es  ist  ein  Feigenblatt  für  manchen 
Mißbrauch  der  Amtsgewalt  und  eine  Quelle  der  Schikane  in  hun- 
dert Fällen.  Es  wird  in  den  seltensten  Fällen  den  Wahlmißbrauch 
verhüten,  in  den  häufigsten  Fällen  der  herrschenden  Partei,  die  den 
Einfluß  besitzt,  ein  Mittel  der  Verfolgung  bieten.  Deshalb  sind  wir 
zwar  für  dengrößtenSchutz  derWahlfreiheit,  aber 
nicht  für  dieses  Gesetz.  (Lebhafter  Beifall  und  Hände- 
klatschen bei  den  Sozialdemokraten.) 

Abgeordneter  Dr.  Adler*)  konstatiert,  daß  das  in  Verhandlung 
stehende  Gesetz  zum  Schutze  der  bürgerlichen  Parteien  gegen  Ein- 
schränkungen ihres  Versammlungsrechtes  durch  die  Sozialdemo- 
kraten gemacht  wurde.  Das  wäre  vollständig  überflüssig  gewesen, 
denn  die  Sozialdemokraten  als  Partei  sind  prinzipiell  da- 
gegen, daß  Versammlungen  der  Gegner  unmöglich 

*)  Nachdem  Geßmann  gesprochen  hatte,  erhielt  Adler  zur  nächsten 
Gruppe  von  Paragraphen  das  Wort. 

Geßmann  hatte  in  seiner  Rede  ausdrücklich  erklärt,  er  sei  für  das 
Gesetz  lediglich  aus  der  Besorgnis  vor  der  Macht  und  dem  unerlaubten 
Oebrauch  des  Wahlrechtes  durch  die  Sozialdemokratie.  Es  wäre  an  der 
Zeit,  daß  die  Angehörigen  der  bürgerlichen  Gesellschaft  daran  denken,  durch 
eine  vernünftige  Verständigung  sich  einander  zu  nähern,  um  gegen- 
über der  von  der  Sozialdemokratie  drohenden  Gefahr  zur  rechten  Zeit  die 
Mittel  der  Abwehr  zu  finden.  (Beifall.) 

30* 


468  Der  Sic«  des  gleichen  Wahlrechts. 

gemacht  werden.  Ich  gebe  zu,  daß  in  einzelnen  Fällen  auch 
von  Angehörigen  der  Sozialdemokratie  gegen  diesen  Grundsatz  ge- 
sündigt wurde,  allein  niemals  mit  Zustimmung  der  Parteiorgani- 
sation und  niemals  mit  gewaltsamen  Mitteln.  Sicherlich  werden  die 
in  dem  Gesetz  festgelegten  Strafen  gegen  die  Gegner  der  Sozial- 
demokratie nie  erfließen,  es  werden  voraussichtlich  nicht  einmal 
Prozesse  geführt  werden,  wohl  aber  werden  die  sehr  unangenehmen 
Bestimmungen  gegen  die  Arbeiter  in  Anwendung  gebracht  werden. 
Die  Bestimmungen  sind  in  ihrem  Wesen  nichts  anderes  als  ein 
Ausfluß  des  Gefühls  der  Angst  der  bürgerlichen 
Parteien.  Sie  glauben,  ihre  Versammlungen  durch  solche  Para- 
graphen schützen  zu  müssen,  weil  sie  dem  Bürgertum  wieder  Mut 
machen  und  ihm  wieder  Gelegenheit  zur  politischen  Betätigung 
geben  wollen.  Aber  durch  Strafparagraphen  erweckt  man  nicht  die 
Lebensgeister  einer  Klasse,  die  zu  einer  solchen  Betätigung  immer 
mehr  und  mehr  unfähig  wird.  Mut  gewinnt  man  im  Kampfe,  nicht 
indem  man  sich  hinter  der  Polizei  versteckt.  Der  Abgeordnete  Dok- 
tor Geßmann  hat  gesagt,  er  wünsche,  daß  sich  die 

Vereinigung  aller  bürgerlichen  Parteien 

gegen  die  Sozialdemokratie  recht  bald  vollziehe.  Niemand  sieht 
dieser  Vereinigung  mit  so  herzlicher  Freude  entgegen  wie  die 
Sozialdemokraten  selbst.  Sie  wünschen  nichts  sehnlicher,  als  daß  die 
KlarstellungdeseigentlichenKlassencharakters 
der  bürgerlichen  Parteien  endlich  erfolge  und  daß  die  g  e  e  i  n  i  g- 
ten  Parteien  der  besitzenden  Klassen  dem  organi- 
sierten Proletariat  entgegentreten.  Die  Stellung  der 
Sozialdemokraten  ist  um  so  besser,  je  mehr  die  Wahrheit  ge- 
sprochen wird,  sie  profitieren  immer,  wenn  die  Wahrheit  siegt.  Über 
die  Motive,  die  die  Christlichsozialen  veranlaßt  haben,  für  das  all- 
gemeine Wahlrecht  einzutreten,  waren  sich  die  Sozialdemokraten 
niemals  im  unklaren.  Wir  haben  gewußt,  daß  das  allgemeine  Wahl- 
recht von  ihnen  nicht  zu  dem  Zwecke  unterstützt  wurde,  um  das 
sozialdemokratische  Proletariat  in  seinen  Bestrebungen  zu  fördern, 
sondern  umgekehrt,  um  die  Sozialdemokratie  zu  bekämpfen.  Der 
Streit  dreht  sich  immer  nur  darum:  kann  man  die  Sozialdemokratie 
besser  umbringen,  wenn  man  sie  mit  dem  Kurienparlament  siedet 
oder  wenn  man  sie  mit  dem  allgemeinen,  gleichen  Wahlrecht  brät? 
Wir  haben  den  letzteren  Weg  vorgezogen;  uns  ist  der  Tod  im  Wege 
des  allgemeinen  und  gleichen  Wahlrechtes  lieber  (Heiterkeit)  und 
insofern  sind  wir  Ihnen  dankbar  dafür,  daß  Sie  diese  Tötungs- 
methode gewählt  haben. 

Wir  wissen  auch  genau,  daß  die  bald  öffentlich  werdende  Koali- 
tion aller  bürgerlichen  Parteien  innerhalb  und  außerhalb  dieses 
Hauses  mitsamt  ihrer  Regierung  gegen  uns  auftreten  wird. 

Wenn  Sie  sich  darüber  aufregen,  daß  sich  die  Stellung  der  Sozial- 
demokraten gegenüber  der  Vergangenheit  geändert  hat,  so  ist  das 
nur  insofern  geschehen,  als  es  uns  gelungen  ist,  einen  Teil  des  furcht- 
baren Unrechts,  das  in  diesem  Staate  auf  allen  Gebieten  der  öffent- 
lichen Verwaltung  gegen  uns  verübt  wurde,  endlich  zu  verhindern, 


Der  Wahlterror  der  Arrtiterrotisten.  4WI 

und  zwar  nicht  durch  eine  Machtciitfaltung,  sondern  dadurch,  daß 
wir  es  verstanden  haben,  trotz  dieses  Unrechts  immer  wieder  a  u  f 
unsere  in  R  echt  e  z  u  b  e  s  t  e  h  e  n  u  n  d  0  p  f  e  r  z  u  I)  r  i  n  g  e  n. 
Das,  Herr  Höfrat  Geßmann,  werden  Sie  aber  nie  erleben,  dal.»  wir 
es  als  eine  (iniist  der  Regier  u  n  k  ansehen,  wenn  man  mit  den 
Arbeitern  nach  dem  (iesetz  verfährt.  Eine  Schwäche  der  RetfierunK 
hat  nur  Ihnen  tfegenüber  bestanden,  uns  Kenenüber  gab  es  nie  etwas 
anderes  als  die  starke  Faust  und,  wenn  man  sich  nicht  anders 
helfen  konnte,  ein  Ciewährenlassen. 

Abgeordneter  Dr.  (ieUmann:   Und  was  war  am  28.  November? 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Herr  Hofrat  Geßmann,  Sie  sind  nicht 
knieschwach,  Sie  sind  ein  starker  Mann  in  Ihrer  Verwaltung,  Sie 
haben  eine  starke  Faust  und  wissen  zu  herrschen;  ich  frage  Sie, 
wenn  Sie 

am  28.  November 

Minister  des  Innern  gewesen  wären,  hätten  Sie  die  Vorgänge  damals 
verhindern  können?  Überlassen  wir  doch  diese  Frage  den  Herren, 
die  schon  fertig  sind.  Die  Mithilfe  Ihrer  Partei,  Herr  Hofrat,  in  allen 
Ehren,  aber  die  Zeit  zwischen  dem  15.  Oktober  und  28.  November 
war  eine  politisch  entscheidende  Zeit  und  Sie,  Herr  Hofrat,  und  Ihre 
Partei  hätten  vielleicht  keine  Gelegenheit  gehabt,  eine  so  außer- 
ordentliche Geschicklichkeit  in  der  Frage  des  allgemeinen  Wahl- 
rechtes zu  bekunden,  wenn  die  Sozialdemokraten  im  Oktober  und 
November  nicht  so  tapfer  und  so  treu  gegenüber  ihren  Prinzipien 
gewesen  wären.  Was  Sie  uns  vorwerfen,  ist,  daß  wir  am  28.  No- 
vember nicht  dafür  zusammengepfeffert  worden 
sind,  wofür  Sie,  Herr  Hofrat,  Hofrat  wurden! 

Wenn  Dr.  Geßmann  noch  meinte,  der  Moment,  wo  das  allgemeine 
Wahlrecht  zur  Anwendung  gelangen  werde,  werde  auch  der  Moment 
des  politischen  Bankrotts  für  die  Sozialdemokraten  sein,  so  rufe  ich 
dem  Abgeordneten  Dr.  Geßmann  zu:  Arbeiten  wir  gemeinsam, 
räumen  Sie  uns  die  Schwierigkeiten  aus  dem  Wege,  damit  wir  recht 
bald  an  jenes  Ziel  gelangen,  das  wir  das  Erringen  der  politischen 
Macht,  Sie  den  politischen  Bankrott  nennen.  (Lebhafter  Beifall  bei 
den  Sozialdemokraten.) 

Der  Wahlterror  der  Antiterroristen. 

Debatte      über      das      Wahlschutzgesetz, 

12.  Jänner  190  7*). 

Ich  finde  es  begreiflich,  daß  die  Herren  auf  der  polnischen  Seite 
keine  rechte  Lust  und  Courage  haben,  sich  als  Redner  für  die 
Streichung  des  §  18  zu  exponieren. 

*)  Der  Wahlreformausschuß  hatte  das  sogenannte  WahlschutzKcsetz 
dahin  verbessert,  daß  auch  der  Terror,  der  von  amtlicher  Seite  oder  von 
wirtschaftlich  Stärkeren  ausgeübt  würde,  wirklich  getroffen  werden  könne. 
Eg  sollte  die  Verpflichtung  der  Staatsanwaltschaft  zur  rürhehiins  der  An- 
klage dadurch  Kestci^ert  werden,  daß  er  den  durch  die   Wahlnötigung  ge- 


470  Der  Sic«  des  gleichen  Wahlrechts. 


Abgeordneter  Ritter  v.  Abrahamowicz:  Ich  bitte  ums  Wort! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Die  Herren,  die  im  Ausschuß  Kautelen 
gegen  jede  Art  von  Gesetzesübertretung  verlangt  haben,  müßten 
doch  konsequenterweise  auch  dafür  sein,  daß  alle  diese  Kautelen 
verschärft  werden.  Sie  haben  allerdings  ganz  recht,  Vertrauen  zu 
Ihren  Beamten  zu  haben. 

Abgeordneter  Dr.  Binder:  Zu  den  österreichischen  Beamten 
im  allgemeinen! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Und  speziell  zu  den  galizischen 
Beamten!  Bedenklich  ist  nur,  daß  die  Herren  Beamten 

zuviel  Vertrauen  zu  Ihnen 

haben.  (Heiterkeit.) 

Abgeordneter  Dr.  Binder:  Manche  haben  zum  Herrn  Daszynski 
Vertrauen. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Diese  Spezialität  ist  leider  bis  jetzt 
nicht  sehr  ausgebildet.  Die  Staatsanwälte  haben  für 
Daszynski  allerdings  sehr  viel  Neigung  (lebhafte  Heiterkeit)  und 
wünschen  mit  ihm  in  ausgiebigeren  Verkehr  zu  treten.  (Heiterkeit.) 
Die  Regierung  ist  im  Ausschuß  für  diesen  Paragraphen  nicht  sehr 
eingetreten.  Sie  hat  ihn  sogar  nicht  gewünscht;  aber  das  kann  für 
uns  nicht  bestimmend  sein.  Die  Regierung  mußte  sich  bei  vielen 


troffenen  und  geschädigten  Personen  die  Befugnis  einräumte,  in  dem  Straf- 
verfahren als  Privatbeteiligte  aufzutreten,  welche  Befugnis  den 
Verletzten  auch  im  Strafrecht  eingeräumt  ist.  Diese  Bestimmung  wäre  auch 
deshalb  sehr  nützlich  gewesen,  weil  dem  Privatbeteiligten  auch  das  Recht 
der  subsidiären  Verfolgung  zusteht,  er  also  eingreifen  könnte,  wo 
der  öffentliche  Ankläger  versagt.  Aber  das  war  den  Christlich- 
sozialen und  Polen,  die  das  Wahlschutzgesetz  betrieben,  nicht  sehr  an- 
genehm und  sie  lehnten  deshalb  im  Plenum  am  12.  Jänner  den  vom  Aus- 
schuß beschlossenen  §  18,  der  jenes  Recht  statuierte,  ab.  Die  „Arbeiter- 
Zeitung"  sagte  sehr  richtig,  warum:  Sie  wollten  zwar  ein  Gesetz,  womit 
sie  unter  Umständen  die  berechtigteste  Einwirkung  auf  die 
Wähler  verfolgen  können,  wünschten  aber  nicht,  daß  sich  die  Bedrohten 
selbst  zur  Wehr  setzen:  weil  sie  ahnten,  welche  Erpresser  dann 
zumeist  auf  die  Anklagebank  kommen  könnten.  Ist  jemals  die  Einschüchte- 
rung von  Unternehmern  angeklagt  worden  —  obwohl  das  Koalitionsgesetz 
sie  ebenso  bedroht  wie  die  der  Arbeiter?  Wohl  noch  niemals,  und  so  wird 
es  auch  mit  der  Wahlnötigung  sein.  Der  Ausbeuter,  der  seine  Arbeiter 
durch  Androhung  von  „Schädigungen  in  i'hrer  beruflichen 
Tätigkeit"  in  der  Freiheit  der  Wahl  stört;  der  Beamte,  der  von 
seiner  Gunst  abhängige  Bürger  durch  „Schädigungen  in  ihrer  ge- 
schäftlichen Tätigkeit",  der  Hetzpfaffe,  der  die  frommen 
Schäflein  durch  Androhung  „anderer  für  sie  empfindlicher  Übel"  beirrt  — 
was  als  schäbiger  Rest  des  Kanzelparagraphen  ins  Gesetz  aufgenommen 
wurde  — :  sie  alle  blieben,  selbstverständlich,  vor  den  Staatsanwälten  sicher. 
Was  zu  der  Hacke  der  Strafandrohung  der  Stiel  sein  sollte,  ist  fürsorg- 
lich abgelehnt  worden,  und  der  Rest  war  ein  Gesetz,  das  tendenziös  im  Auf- 
bau und  zum  tendenziösen  Gebrauch  bestimmt  war.  Die  Schützer  der  Wahl- 
freiheit hatten  sich  als  Handlanger  der  Erpresser  demaskiert. 

In  der  Debatte  kam  auch  an  diesem  Tag  Dr.  Adler  zu  Wort,  der  den 
Wahlschützlern  die  Larve  vom  Gesicht  riß. 


Der  Wahlterror  der  Antiterroristeft.  471 

anderen  Bestimmungen  dem  Ausschuß  fügeil,  die  durchaus  niclit 
im  Interesse  der  Reinheit  der  Wahlen  sind,  und  sie  müßte  sich  uns 
fügen,  wenn  das  Parlament  konsequent  vorgebt. 

Es  ist  nicht  bloß  in  (ializien  so.  Die  Staatsanwälte  haben  über- 
haupt nicht  den  Antrieb,  auf  Leute  zu  greifen,  die  an  der  Macht 
sind.  Der  §  18  ist.  ja  kein  so  ausschlaggebendes  Mittel,  der  Staats- 
anwalt ist  ja  nicht  alles.  Zu  Ihrem  Tröste  haben  Sie  die  Rats- 
kammer; es  wäre  ein  Irrtum,  ihr  nicht  dasselbe  Vertrauen  ent- 
gegenzubringen. Um  so  weniger  ist  es  zu  begreifen,  warum  Sie 
sich  so  gegen  den  §  18  sperren.  Die  Parteien,  welche  breite  Volks- 
schichten vertreten,  würden  einen  schweren  Fehler  begehen,  wenn 
sie  diesen  Paragraphen,  der  dank  den  Vertretern  der  Deutschen 
Volkspartei  im  Ausschuß  eingefügt  wurde,  fallen  ließen. 

Der  Berichterstatter  hat  darauf  hingewiesen,  daß  Fälle  von 
Sprengungen  gegnerischer  Versammlungen  vorkommen.  Das  habe 
ich  ja  gestern  selbst  eingeräumt.  Ich  habe  aber  hinzugefügt,  daß 
die  sozialdemokratische  Partei  damit  nicht  einverstanden  ist  und 
daß  solche  Fälle  bei  allen  Parteien  vorkommen.  Dr.  Qeßmann  wird 
nicht  sagen  können,  daß  seine  Partei  von  diesem  Fehler  frei  ist. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Das  gebe  ich  zu! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ich  freue  mich,  daß  wir  in  diesem 
Punkte  einig  sind,  und  ich  will  hier  öffentlich  konstatieren,  daß  wir 
im  Interesse  unserer  eigenen  Partei  künftighin  solche  Dinge  ver- 
mieden wissen  wollen.  Der  Berichterstatter  hat  auch  einen  ver- 
schärften Appell  an  die  bürgerlichen  Parteien  gerichtet,  sich  im 
neuen  Hause  gegen  die  Sozialdemokratie  zu  ver- 
einigen. Ich  kann  mich  diesem  Appell  nur  auf  das  wärmste  an- 
schließen. Ich  werde  mich  freuen,  wenn 

unter  der  grünen  Fahne  des  Propheten  Geßmann 

das  vereinigte  Bürgertum  gegen  die  Sozialdemokratie  anstürmen 
wird.  Hofrat  Geßmann  hat  der  Sozialdemokratie  ferner  den  Vor- 
wurf anzuhängen  für  gut  befunden,  sie  hätte  sich  am  28.  November 
1905  einer  besonderen  Begünstigung  der  Regierung  zu  erfreuen 
gehabt.  Dr.  Geßmann  täte  gut,  solche  Argumente  dem  Fürsten 
Schwarzenberg  zu  überlassen. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Die  Wahrheit  kann  jeder  sagen! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Das  ist  nicht  die  Wahrheit.  Sie  wissen 
ganz  gut,  daß  den  Tausenden  von  Menschen  am  28.  November  die 
Regierung  nicht  aus  Liebe  die  Möglichkeit  gegeben  hat,  vor  dem 
Parlament  zu  erscheinen ;  sie  konnte  es  nicht  hindern. 
Jeder  muß  anerkennen,  daß  die  Demonstration  tadellos  verlief,  mit 
einer  geradezu  achtunggebietenden  Disziplin. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  In  der  Eigenartigkeit  des  Be- 
triebes liegt  ja  gerade  die  Stärke  Ihrer  Partei,  nicht  in  den  Grund- 
sätzen! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Wenn  Sie  damit  sagen  wollen,  daß  die 
Entwicklung  der  Partei  mit  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  zu- 
sammenhängt und  daß  die  Regimenter  der  Sozialdemokratie  ge- 
schult und  erzogen  werden  in  den  Fabriken  selbst,  so  ist  das  sehr 


472  Der  Sic«  des  gleichen  Wahlrechts. 

richtig.  Und  darum  ist  Ihre  Hoffnung  auch  vergeblich,  daß  Sie 
jemals  diese  Entwicklung  werden  aufhalten  können.  Dr.  (ießmann 
hat  gestern  auch  davon  gesprochen,  was  der  28.  November  der 
Sozialdemokratie  an  Geld  kostete.  Ich  sage  es  allen,  die  es  nicht 
wissen:  Darin  liegt  die  große  Kluft  zwischen  der  Sozialdemokratie 
und  Ihnen  allen,  das  werden  Sie  nie  verstehen,  daß  alle  diese 
Hunderttausende  nicht  nur  hier  in  Wien,  sondern  in  ganz  Öster- 
reich nicht  für  Geld  bei  der  Demonstration  erschienen  sind, 
sondern  daß  das  älteste  Weiberl  aus  der  Fabrik 
einzig  und  allein  gekommen  war,  um  der  heiligen 
Sache  zu  dienen.  Es  war 

ein  Tag  der  Erfüllung  ihres  höchsten  Ideals, 

als  es  ihnen  möglich  war,  das  Opfer  dieses  Arbeits- 
tages zu  bringen.  Daß  Sie  das  nicht  verstehen,  finde  ich 
begreiflich,  weil  Sie  sich  in  die  proletarische  Gedankenwelt  gar 
nicht  hineindenken  können,  weil  Sie  von  dem  ungeheuren  Idea- 
lismus, von  dieser  Triebkraft,  die  das  Proletariat  beseelt,  keine 
Vorstellung  haben  können. 

Abgeordneter  Dr.  Geßmann:  Die  Herren  sind  ja  alle  keine  Pro- 
letarier gewesen,  so  wenig  wie  ich! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Wenn  darauf  hingewiesen  wird,  daß 
noch  nicht  die  ganze  Arbeiterschaft  sozialdemokratisch  organisiert 
sei  —  die  fünf  Prozent,  von  denen  da  gesprochen  worden  ist,  sind 
einer  älteren  Statistik  entnommen,  die  neuen  Ziffern  sind  für  die 
Sozialdemokratie  bei  weitem  erfreulicher  — ,  so  hat  ja  Dr.  Geß- 
mann sehr  recht,  es  geht  auch  für  uns  viel  zu  langsam,  und  wir 
werden  uns  bemühen,  viel  schneller  zu  dem  Ergebnis  zu  kommen, 
daß  die  heute  noch  indifferente  Arbeiterschaft  mit  vollem  Bewußt- 
sein und  mit  voller  Klarheit  über  das  Programm  in  die  Reihen  der 
Sozialdemokratie  tritt.  Ich  habe  absichtlich  jedes  verletzende  Wort 
vermieden  und  hoffe,  daß  damit  die  Polemik  erledigt  ist.  Gegen 
das  Schlußwort  bin  ich  natürlich  ohnmächtig.  (Heiterkeit  und 
Beifall.) 


I 


Vorbereitungen  zum  Wahikampf.  473 


Die  ersten  Wahlen  zum  Volkshaus- 
Vorbereitungen  zum  Wahlkampf. 

Reichs  konteren  z,  2  7.  Jänner  190  7*). 

Wenn  wir  uns  heute  versammelt  haben,  um  über  den  Wahl- 
kampf zu  beraten,  so  ist  doch  unser  erster  Gedanke  der  Tatsache 
gewidmet,  daß  morgen  die  letzte  Sitzung  des  Kurienparlaments  ist 
und  daß  übermorgen  schon  das  allgemeine,  gleiche  Wahlrecht  in 
Österreich  Gesetz  sein  wird,  daß  ein  neues  Blatt  der  Geschichte 
Österreichs  beginnt.  Hier  in  diesem  Saale  ist  vor  fünf  Vierteljahren 
wie  blitzartig  der  Entschluß  in  uns  allen  entstanden:  Jetzt  oder 
nie!  Als  damals  von  diesem  Saale  aus  ein  Sturm  durch  ganz  Öster- 
reich ging,  da  konnte  niemand  wissen,  wie  lange  der  Kampf  dauern 
und  wie  er  zunächst  enden  werde.  Aber  das  wußten  wir  alle,  daß 
das  die  Schicksalsstunde  für  Österreich,  die 
Schicksalsstunde  für  das  österreichische  Pro- 
letariat war.  Seit  damals  hat  sich  in  Österreich  eine  Wandlung 
vollzogen,  die  wir  nur  in  unseren  besten,  hoffnungsvollsten  Stunden 
zu  ahnen  wagten,  eine  Wandlung,  die  unsere  Gegner,  die  die  bürger- 
liche Klasse,  die  Bürokratie,  die  alles,  was  mächtig  ist  in  Österreich, 
für  unmöglich  hielten.  Wir  sind  Leute,  die  Energie  und  aufopfernde 
Begeisterung  aufzubringen  gewohnt  sind,  aber  wir  sind  auch  Leute 
—  und  das  möchte  ich  als  Ruhmestitel  der  österreichischen  Sozial- 
demokratie in  Anspruch  nehmen  — ,  die  nüchtern  und  kaltblütig 
alle  Umstände  erwägen.  Es  fällt  uns  nicht  ein,  uns  an  dem  Erfolg 
zu  berauschen.  Wir  wissen  sehr  gut,  daß  die  vollständige  Um- 
wandlung dieses  Staates,  die  die  notwendige  Bedingung  des  Lebens 
der  Völker  in  diesem  Staate  ist,  mit  der  Erringung  des  allgemeinen 
und  gleichen  Wahlrechtes  erst  begonnen  hat  und  lange  nicht  voll- 

*)  Einen  Tag,  nachdem  die  Wahlreform  des  allgemeinen  gleichen  Wahl- 
rechtes die  kaiserliche  Sanktion  erhalten  hatte,  also  Gesetz  geworden  war, 
trat  im  Favoritner  Arbeiterheini  die  Reichskonferenz  der  deutschen  Sozial- 
demokratie zur  Vorbereitung  der  Wahlen  zusammen.  Unmittelbar  vorher 
hatten  die  Wahlen  zum  Deutschen  Reichstag  stattgefunden,  die,  wie  der 
Vorsitzende  Abgeordneter  S  k  a  r  e  t  feststellte,  den  Jubel  der  Gegner  her- 
vorgerufen hatten,  aber  den  Arbeitern  den  Mut  nicht  zu  nehmen  ver- 
mochten. Die  deutsche  Sozialdemokratie  hatte  zwar  einen  Rückgang  der 
Mandate  von  81  auf  44,  aber  einen  Stimmenzuwachs  von  3,001.000  auf 
3,259.000.  (1912  erhöhte  sie  ihre  Stimmen  auf  4,250.000  und  die  Mandate 
auf  110.)  Das  Referat  auf  der  Reichskonferenz  erstattete  Dr.  Adler. 


474  Die  ersten  Wahlen  zum  Volkshaus. 

endet  ist.  Aber  wenn  uns  etwas  für  die  weiteren  Kämpfe  stärken 
und  in  uns  die  unerschütterliche  Überzeugung  von  den  notwendigen 
Siegen  unserer  Ideen  befestigen  kann,  so  ist  es  der  Gedanke,  daß 
das  allgemeine  Wahlrecht  vor  nicht  sehr  langer  Zeit  —  wie  heißt 
es  im  Evangelium?  —  ein  Ärgernis  war  den  Juden  und  den  Heiden 
eine  Torheit,  daß  es  aber  heute  die  Grundlage  aller  Staatskunst  in 
Österreich  ist  und  das  Gemeingut  aller  Parteien,  die  Anspruch  dar- 
auf machen,  politisch  überhaupt  zu  existieren.  (Lebhafter  Beifall.) 

Die  Sozialdemokratie  hat  den  Erfolg  des  allgemeinen  Wahl- 
rechtes gewiß  nicht  dadurch  erringen  können,  daß  sie  die  Gegner 
unterdrückt  hätte,  daß  sie  dem  Staate,  den  herrschenden  Klassen, 
der  Krone  das  allgemeine  Wahlrecht  gewaltsam  auferlegt  hätte,  als 
eine  Maßregel,  die  nur  wir  wollen  und  gegen  die  sich  jene  sträuben. 
Das  ist  vielleicht  niemals  der  Weg  gewesen,  auf  dem  Ideen  zum 
Siege  kommen.  Nein,  wir  waren  die  Träger  der  Idee,  wir  waren  ihre 
Vorkämpfer  und  so  mancher  von  uns  ist  vor  den  Gerichten  ge- 
standen und  in  den  Kerkern  gesessen  dafür,  daß  er  Sätze  und  Lehren 
ausgesprochen  hat,  die  heute  von  den  Bänken  der  Minister  ver- 
kündet werden.  (Beifall.)  Wir  haben  Bresche  gelegt,  wir  haben  den 
Sieg  gebahnt,  wir  haben  Stück  für  Stück  die  Herrschenden  dem 
Gedanken  näher  gebracht,  mit  allen  Mitteln  der  Überredung,  und 
Sie  gestatten,  daß  ich  bei  dieser  Gelegenheit  einer  unserer  stärksten 
Waffen,  der  sozialdemokratischen  Parteipresse,  gedenke.  Ich  kann, 
obwohl  selbst  ein  Mann  der  Presse,  unbefangen  davon  sprechen, 
denn  an  diesem  Verdienst  war  ich  sehr  wenig  persönlich  beteiligt, 
ich  hatte  anderswo  meinen  Posten.  Aber  das  muß  jeder  zugeben, 
daß  das,  was  die  Parteipresse,  was  insbesondere  die  „Arbeiter- 
Zeitung"  in  diesem  Kampfe  geleistet  hat,  eine  geschichtliche  Bedeu- 
tung besitzt.  (Lebhafter  Beifall.)  Wir  wußten  von  jeher,  daß  das 
gleiche  Wahlrecht  die  Lebensbedingung  für  das  Proletariat  ist.  Aber 
so  weit  sind  unsere  herrschenden  Klassen  nicht,  daß  ihnen  etwas, 
was  nur  dem  Proletariat  nützt,  als  notwendig  erschiene.  Ander- 
seits gibt  es  nicht  eine  Forderung  des  Proletariats,  die  allein  dem 
Proletariat  nützlich  wäre,  sondern  jede  Forderung  des 
Proletariats  und  jede  seiner  Notwendigkeiten 
ist  in  letzter  Instanz  eine  Notwendigkeit  für  die 
Gesamtheit.  Darin  liegt  ja  unsere  Kraft,  darin  unsere  Sieges- 
sicherheit, daß  alles,  was  die  Sozialdemokratie  verkündet,  aller- 
dings eine  Forderung  der  Klasse  des  Proletariats  ist,  daß  aber  die 
Notwendigkeiten  des  Proletariats  auf  dem  Wege  der  Kulturmensch- 
heit überhaupt  liegen.  Und  für  Österreich  speziell  gilt  es,  daß  diese 
unsere  Forderung  auf  dem  Wrege  liegt  der  Entwicklung  unseres 
Staates,  oder  genauer  gesagt,  auf  dem  Wege  der  Entwicklung 
Österreichs  zu  einem  Staate. 

Die  Geheimgeschichte  zwischen  dem  September  1905  und  dem 
November,  zwischen  dem  Gautschischen  „Niemals"  und  dann  dem 
Gau4schischen  „Unter  allen  Umständen"  ist  noch  nicht  geschrieben; 
aber  mit  der  Wandlung  des  Ministeriums  aus  einem  bürokratischen 
Ministerium,   das   die   Wahlreform   verweigerte,   zu   einem   Wahl- 


Vorbereitungen  »lim  Wahlkampf-  47:> 


refornmünisteriiim  war  noch  lallte  nicht  alles  getan  und  die  Gegner, 
die  im  Herbste  noch  schwankten  /wischen  der  Behauptung,  daß  die 

Sozialdemokraten  ihren  terroristischen  Willen  dem  ganzen  Reich 
aufdrücken  wollen,  und  der  Behauptung,  daß  die  Sozialdemokraten 
nur  offene  Türen  einrennen,  waren  zu  der  Zeit  noch  weit  entfernt 
von  der  Erkenntnis  der  Notwendigkeit  der  Wahlreform  und  noch 
weiter  vom  Willen,  das  allgemeine  Wahlrecht  (iesetz  werden  zu 
lassen.  Wir  sind  versöhnliche  Leute  und  wir  haben  jeden,  der  sich 
aus  einem  verbissenen  Gegner  zu  einem  Förderer  der  Wahlreform 
gewandelt  hat,  als  Mitstreiter  freundlichst  begrüßt.  Heute  ist  natürlich 
jeder  für  das  gleiche  Wahlrecht;  aber  wir  wissen,  daß  dieselben 
Parteien,  die  sich  der  Wahlreform  entgegengesetzt  haben  und  die 
heute  für  die  Wahlreform  sind,  mit  derselben  Verbissenheit  sich  uns 
bei  jedem  weiteren  Schritte,  den  das  Proletariat  machen  wird,  ent- 
gegenstellen werden.  Wie  das  allgemeine  Wahlrecht  geworden 
ist,  darüber  brauche  ich  nur  wenige  Worte  zu  sagen.  Wir  wissen, 
wie  unser  Proletariat  jederzeit  kampfbereit  dagestanden  ist,  ge- 
rüstet zum  äußersten  Kampfe,  aber  wie  es  doch  jene  eiserne  Ruhe 
und  Disziplin  bewahrt  hat,  auf  die  wir  mit  Freude  und  Stolz  hin- 
weisen können  und  die  uns  die  Gewähr  dafür  ist,  daß  wir  noch 
ganz  andere  Siege  erringen  werden  als  das  gleiche  Wahlrecht.  In 
-dieser  Zeit  des  Kampfes  hat  die  Partei  erfreuliche  Fortschritte 
gemacht.  Betrachten  Sie  unsere  politischen,  unsere  gewerkschaft- 
lichen Organisationen,  wie  sie  gewachsen  sind,  wie  sie  sich  nun 
fühlen,  wie  sie  eine  Schlagfertigkeit  und  Kraft  gewonnen  haben, 
die  wir  vor  wenigen  Jahren  noch  nicht  zu  erhoffen  wagten.  Das 
alles  ist  im  Kampfe  geschehen.  Mit  dem  Schwert  in  einer  Hand 
und  mit  der  Kelle  in  der  anderen,  gekämpft  und  gebaut  zugleich 
hat  das  österreichische  Proletariat  in  diesem  Jahre.  (Lebhafter 
Beifall.) 

Aus  dem  Wahlrechtskampf  kommen  wir,  in  den  Wahlkampf 
gehen  wir.  Allerdings  dank  der  bürokratischen  Schwerfälligkeit 
Österreichs  —  die  nicht  verstehen  kann,  daß  man  eine  Wählerliste 
rascher  fertigstellen  kann  als  vier  —  werden  wir  noch  ein  Viertel- 
jahr auf  die  Wahlen  zu  warten  haben.  Trotzdem  werden  wir  nicht 
zögern,  alle  organisatorischen  Arbeiten  für  den  Wahlkampf  sofort 
in  Angriff  zu  nehmen,  wenn  ich  auch  davor  warnen  möchte,  zu  früh 
eine  sehr  lebhafte  agitatorische  Tätigkeit  zu  führen  und  so  vor- 
zeitig die  Kraft  zu  verschwenden.  Die  stärksten  Trümpfe  hebt  man 
für  den  Schluß  auf.  Aber  längst  sind  wir  auch  von  der  jugendlichen 
Vorstellung  abgekommen,  daß  die  Wahlschlachten  in  großen 
Massenversammlungen  gewonnen  werden,  und  haben  uns  längst 
überzeugt,  daß  die  Wahlen  nur  durch  eifrige  organisatorische  Klein- 
arbeit gewonnen  werden.  Man  kann  bei  der  Wahl  nicht  ernten,  was 
man  nicht  jahrelang  gesät  hat.  Die  Festigung  unserer  politischen 
Organisation,  die  Vollendung  des  Netzes  unserer  politischen  Organi- 
sation, diese  Arbeit  kann  nicht  früh  genug  begonnen  werden. 

Es  wird  nun  eine  merkwürdige  Umkehr  der  Verhältnisse  ein- 
treten. In  den  letzten  Monaten  namentlich  hat  die  Sozialdemokratie 


476  Die  ersten  Wahlen  zum  Volkshaus. 

mit  einer  Anzahl  von  bürgerlichen  Parteien  zusammengehen  müssen, 
die  zu  unseren  erbittertsten  Gegnern  gehört  haben,  und  wer  von 
außen  das  Bild  betrachtet  hat,  mußte  glauben,  es  sei  ein  Gottes- 
frieden  über  Österreich  gekommen.  Aber  das  Bild  wird  sich  bald 
und  gründlich  ändern.  Alle  Parteien,  die  ihren  Ruhm  darin  gesehen 
haben,  mit  der  Sozialdemokratie  für  die  Wahlreform  zu  kämpfen, 
werden  nun  unter  sich  geeinigt  in  einer  Front  gegen  die  Sozial- 
demokratie das  Wahlrecht  auszunützen  suchen.  Darum  machen  Sie 
sich  gefaßt  auf  einen  schweren,  ernsten  Kampf.  Das  ist  der  Punkt, 
auf  dem  wir  unsere  Gegner  erwarten,  das  ist  die  Fahne,  unter  der 
wir  endlich  kämpfen  wollen,  wenn  alle  die  kleinlichen  Gruppen- 
interessen zurücktreten  hinter  das  große  Problem  des  Klassen- 
kampfes. Wenn  der  Kampf,  der  nun  beginnt,  die  Anspannung  der 
Kraft  jedes  einzelnen  Parteigenossen  erlangt,  so  ist  der  Kampf  des 
Opfers  wert.  Es  gilt  nicht  nur,  der  Arbeiterschaft  im  Parlament  eine 
gebührende  Vertretung  zu  schaffen,  nicht  nur,  ihr  eine  Stätte  des 
Sprechens  und  Verkündens,  eine  Stätte  des  Wirkens  zu  schaffen, 
sondern  es  gilt  für  Österreich  —  und  für  uns  —  eine  weitere  grund- 
legende Arbeit  zu  leisten.  Große  Aufgaben  treten  nun  an  uns  heran. 
Vor  allem  werden  wir  im  Parlament  den  jahrzehntelang  vernach- 
lässigten Arbeiterschutz  mit  aller  Kraft  auf  die  Tagesordnung  zu 
setzen  haben,  wir  werden  das  Koalitionsrecht  mit  unserer  ganzen 
Energie  verteidigen  müssen,  wir  werden  die  Interessen  des  Prole- 
tariates an  dem  freiheitlichen  Ausbau  unserer  Gesetzgebung  zu 
wahren  haben  und  dabei  besonders  den  Ansturm  des  Klerikalismus 
abwehren  müssen.  Das  allgemeine  Wahlrecht  hat  das  alte  feudale 
Österreich  demoliert,  aber  es  wird  auch  ein  neues  Österreich  auf- 
bauen müssen.  Wir  werden  das  Wort  wahr  zu  machen  suchen,  das 
wir  immer  gesprochen  haben,  daß  das  Parlament  des  gleichen  Wahl- 
rechtes nur  den  Weg  für  uns  geebnet  hat,  daß  aber  der  Kampf  für 
das  Österreich  der  Völker  jetzt  erst  beginnen  muß.  Wenn  es  bis  jetzt 
geheißen  hat:  Keine  Ruhe  in  Österreich,  so  lange  wir  das  allgemeine 
Wahlrecht  nicht  errungen  haben!  Wir  haben  jetzt  das  allgemeine 
Wahlrecht,  und  jetzt  erst  recht  keine  Ruhe.  (Stürmischer  Beifall.) 
Wir  haben  viel  zu  tun,  um  die  Sünden  zu  beseitigen,  die  das  alte 
Österreich  an  den  Völkern  und  vor  allem  an  dem  Proletariat  be- 
gangen hat.  Wir  haben  Arbeit  genug,  um  aus  diesem  Österreich 
erst  einen  Staat  zu  machen,  einen  lebendigen  Staat,  der  ein  brauch- 
bares Werkzeug  sei  für  die  Kulturentwicklung  der  Völker,  an  Stelle 
eines  hinfälligen  Gesamtstaates,  dem  die  Interessen  der  in  Öster- 
reich lebenden  Völkern  geopfert  werden,  ein  selbständiges  Öster- 
reich zu  setzen,  das  in  einem  wirtschaftlichen  Bunde  mit  einem 
selbständigen  Ungarn  steht. 

Eine  große  Reihe  von  Arbeiten  steht  uns  bevor.  Wir  sind  eine 
Partei  der  Revolution,  eine  Partei,  die  den  Sieg  des  Proletariats 
vollenden  will,  die  den  Staat  in  die  Hände  der  arbeitenden  Klassen 
bringen  will.  Wir  verneinen  das  ganze  heutige  Herrschaftssystem; 
aber  das  hindert  uns  keinen  Augenblick,  im  einzelnen  —  im  Größten 
wie  im  Kleinsten  —  positiv  zu  arbeiten  und  jeden  Schritt,  den  wir 


)as   Walilreditslest.  477 


vorwärts  machen  können,  zu  gehen,  alles,  was  wir  den  Mächtigen 
im  Staate  abringen  können,  ihnen  aneli  in  Zukunft  wieder  abzu- 
ringen. Denn  wir  sind  nicht  wie  unsere  Qegner  uns  tütflieh  ver- 
leumden, die  uns  als  eine  Partei  der  ohnmächtigen  Deklamation  hin- 
stellen; wir  sind  und  waren  nie  der  Anschauung  •**  und  nirgends 
waren  es  die  Sozialdemokraten,  die  zu  politischer  Wirkungsmög- 
liehkeit  erwachsen  sind  — ,  daß  sieh  die  Sozialdemokraten  abseits 
von  dem  Boden  des  wirkliehen  politischen  Kampfes  zu  stellen  haben: 
sondern  wir  wollen  im  neuen  Parlament  wie  im  Parlament  der 
Kuriensehande,  das  morgen  eingescharrt  werden  wird,  als  eine 
Partei  des  unablässigen  Kampfes  auf  allen  (iebieten  für  die 
Arbeiter  durch  die  Arbeiter  und  damit  für  alle  Völker  wirken.  Das 
ist  unser  Programm.  In  diesem  Zeichen  werden  wir  in  den  Wahl- 
kampf gehen,  und  möge  uns  die  ganze  Rotte  der  vereinigten 
Reaktion  gegenüberstehen,  wir  fürchten  sie  nicht,  denn  wir  wissen, 
daß  wir  den  Kampf,  der  vor  uns  liegt,  mit  der  guten  und  scharfen 
Waffe  führen  werden,  die  wir  uns  selbst  geschmiedet  haben. 
(Stürmischer  Beifall.) 

Dr.  Adler  beantragt  hierauf,  folgendes  Telegramm  an  den  Partei- 
vorstand  der   deutschen   Sozialdemokratie   zu   senden : 

Die  Reichskonferenz  der  deutschen  Sozialdemokraten  in  Österreich, 
versammelt,  um  die  ersten  Wahlen  des  gleichen  Rechtes  vorzubereiten, 
begrüßt  die  stärkste  und  älteste  Vorkämpferin  des  internationalen 
Proletariats,  die  deutsche  Sozialdemokratie,  am  Tage  nach  dem 
schweren  Kampfe  und  beglückwünscht  das  Proletariat  Deutschlands, 
das  gegenüber  einer  unerhörten  Koalition  der  reaktionären  Parteien, 
die  aufgepeitscht  wurden  von  demagogischen  Schlagworten,  seine  volle 
Kraft  bewährt  hat. 

Jederzeit  brüderlich  mit  euch  verbunden,  marschieren  wir  mit  euch 
trotz  alledem  und  alledem  mit  fester  Siegeszuversicht  den  Zielen  der 
Sozialdemokratie  entgegen. 

Dieses    Telegramm    wird   unter    anhaltendem   und   stürmischem    Beifäll 
einstimmig   beschlossen. 


Das  Wahlrechtsfest. 

Arbeiterheim  Favoriten,  2  8.  Jänner   1907*). 

Werte  Genossen  und  Genossinnen!  In  einer  Festversammlung 
begrüßt  Sie  heute  die  Parteivertretung  der  deutschen  Sozialdemo- 
kratie in  Österreich.  In  einer  Festversammlung  nach  einem  Jahre 

*)  Am  28.  Jänner  1907  fand  die  letzte  Sitzung  des  Kurienparlamentes 
statt  und  am  nächsten  Tage  konnte  der  Aufruf  der  Parteivertretung  der 
deutschen  Sozialdemokratie  erscheinen,  der  nach  einem  Rückblick  über 
den  Wahlrechtskampf  zum  Wahlkampf  aufforderte.  Am  Abend  des 
28.  Jänner  fand  im  Favoritner  Arbeiterheim  in  der  Form  eines  Kommerses 
ein  Wahlrechtsfest  der  Vertrauensmänner  statt,  bei  dem  Adler,  Schuh- 
meier, Seliger  (Teplitz),  Schäfer  (Reichenberg),  Preußler 
(Salzburg)   und   Adelheid   Popp  sprachen. 


478  Die  ersten  Wahlen  zum  Volkshaus. 

von  Kampf,  an  dem  Tage,  an  dem  das  Privilegienparlament,  dem 
Millionen  Flüche  zugedacht  waren,  das  wir  Stück  für  Stück  fast 
mit  blutenden  Händen  demoliert  haben,  seinen  letzten  Seufzer  aus- 
gehaucht hat.  (Bravorufe.)  Nun  hat  es  die  Sache  überstanden.  Es 
ruht  sanft.  In  unserem  Gedächtnis  nur  darum  so  sanft,  weil  es  sich 
doch  zuletzt  —  der  Not  gehorchend,  nicht  dem  eigenen  Triebe  — 
dazu  aufgerafft  hat,  zu  tun,  was  es  nicht  vermeiden  konnte:  die 
Möglichkeit  zu  schaffen,  daß  auf  politischem  Wege  die  Umwälzung 
erfolge,  die  aus  Österreich  einen  Staat  mit  demokratischer  Grund- 
lage der  Verfassung  macht.  Wir  dürfen  sagen,  das  Proletariat  in 
Österreich,  das  Proletariat  aller  Zungen  und  aller  Länder  hat  in  dem 
Lebenskampf  für  die  Völker  seine  Schuldigkeit  getan.  (So  ist  es!) 
Wir  haben  die  Bresche  gelegt,  so  daß  das  Parlament,  die  Regierung 
und  die  Krone  den  Weg  wandeln  konnten,  den  wir  ihnen  gezeigt 
haben.  Wir  haben  den  Herrschenden  die  Überzeugung  beigebracht, 
daß  das,  was  an  der  Spitze  unseres  Programms  gestanden  hat,  eine 
Notwendigkeit  nicht  nur  für  die  Entwicklung  des  arbeitenden  Volkes, 
sondern  auch  für  die  des  Staates  ist.  (Sehr  richtig!)  Genossen  und 
Genossinnen!  Indem  wir  Sie  an  einem  Tage  des  Sieges  begrüßen, 
danken  wir  Ihnen  als  den  Vertretern  der  Hunderttausende,  die  mit 
uns  gekämpft  haben:  für  alle  Opfer,  die  Sie  gebracht;  für  den  Mut, 
den  Sie  bewiesen;  für  die  Selbstbeherrschung  und .  Disziplin,  die 
Sie  in  den  schwersten  Tagen  bekundet  haben.  Und  wir  sagen  Ihnen 
gleich:  Die  Freude  des  Sieges,  das  Fest,  wird  nicht  lange  dauern, 
nach  dem  Feste  kommt  wieder  der  Kampf!  Und  heute 
laden  wir  Sie  schon  zu  dem  großen  gewaltigen  Kampfe  ein,  der  der 
österreichischen  Arbeiterschaft  zum  erstenmal  Gelegenheit  geben 
wird,  die  Waffe  des  gleichen  Rechtes,  die  sie  sich  selbst  geschmiedet 
hat,  zu  gebrauchen.  Wir  begrüßen  Sie,  indem  wir  die  Erwartung 
aussprechen,  daß  dieselben  Tugenden  wie  bisher,  unzerbrechlicher 
Mut,  Siegessicherheit  in  dem  Gedanken  unserer  heiligen  großen 
Sache,  Sie  auch  weiter  beseelen  werden,  daß  Sie  einig  sind  mit  den 
Sozialdemokraten  aller  Zungen  in  Österreich  in  dem  Gedanken: 
So  wie  wir  diesen  ersten  Kampf  bestanden  haben,  wollen  wir  weiter 
kämpfen,  bis  unser  letztes,  s  großes  Ziel  erreicht  ist,  die  Befreiung 
der  arbeitenden  Menschen.  (Brausender  BeifälfO 

Der  Wahlkampf  beginnt. 

Erste  Kandidatenrede  in  Favoriten. 
•      19.  März  1907*). 

Wir  stehen  nun  im  ersten  Wahlkampf  unter  dem  Wahlrecht, 
für  das  wir  durch  dreißig  Jahre  gekämpft  haben  und  das  wir  in 

*)  Die  erste  Wählerversammlung  in  Favoriten,  die  am  19.  März  im 
Favoritner  Arbeiterheim  stattfand,  war  natürlich  massenhaft  besucht.  Da 
das  volkreiche  Favoriten  zwei  Wahlbezirke  bildete,  referierten  zwei 
Kandidaten:  Jakob  Reumann,  der  nachmalige  erste  rote  Bürgermeister 
von  Wien,  und  Victor  Adler. 


Kr  Wiililkampt  beginnt.  47<) 


einem  rühmlichen  Schlußkampf  endlich  erobert  haben;  Die  Lmp- 
findungen,  die  wir  bei  diesem  Kampf  haben,  sind  vor  allem  die  des 
Stolzes  und  der  Genugtuung  darüber,  daß  die  Arbeiterklasse  in 
Osterreich  das  politische  Werk  Releistet  hat,  das  die  Völker  schon 
lange  so  notwendig  gebraucht  haben,  das  ein  Lebensbedürfnis  der 
Völker  war  und  das  alle  anderen  Klassen  miteinander  nicht  nur 
nicht  zuwege  bringen  konnten,  sondern  dem  sie  sich  mit  Klauen 
und  Zähnen  widersetzt  haben.  Heute  freilich  gibt  es 

nur  Freunde  des  allgemeinen  Wahlrechtes. 

Heute  möchten  alle  das  allgemeine  Wahlrecht  erobert  haben 
und  von  der  Bevölkerung  den  Dank  einkassieren,  daß  sie  Öster- 
reich von  der  Kurienschande  und  dem  Scheinparlamentarismus 
befreit  und  ihm  den  Weg  in  ein  neues,  ehrliches  politisches  Leben 
geebnet  haben.  (Heiterkeit.)  Alle  Parteien  bis  auf  die  Großgrund- 
besitzer; aber  die  können  sich  natürlich  nicht  dessen  rühmen,  weil 
sie  einfach  vom  Schauplatz  verschwunden  sind.  Aber  alle  diese 
Leute,  die  sich  heute  rühmen,  daß  sie  das  Wahlrecht  erobert 
haben,  haben  uns  durch  Jahrzehnte  als  Utopisten  verhöhnt, 
uns  im  letzten  Jahre  als  Terroristen  gebrandmarkt,  weil  wir 
dem  Staate  das  Wahlrecht  erobert  haben.  (Lebhafte  Zustimmung.) 
Gewiß,  das  allgemeine  Wahlrecht  —  so  sehr  es  die  Lebens- 
bedingung nicht  nur  der  Völker,  sondern  auch  des  Staates  ist  — 
war  nur  zu  erobern  durch  den  eisernen  Druck,  durch  einen 
eisernen  Willen,  durch  die  Entschlossenheit,  vor  nichts  zurück- 
zuweichen und  jedes  Opfer  zu  bringen.  Der  Staat  und  die  Völker, 
die  Regierenden,  alles,  was  Macht  hat  in  Österreich,  mußte 
—  wenn  sie  es  so  nennen  wollen  —  durch  Terrorismus 
dazu  gezwungen  werden,  das  zu  tun,  was  sie 
selbst  gebraucht  haben.  (Lebhafter  Beifall.)  Und  der  ge- 
schichtliche Ruhm  der  österreichischen  Arbeiterklasse  ist  es,  daß 
sie  den  eisernen  Willen,  den  Mut  und  die  Unerschrockenheit  gehabt 
hat,  als  der  richtige  Moment  gekommen  war,  alles  in  die  Schanzen 
zu  schlagen,  den  Mut,  die  Schlacht  zu  schlagen,  die  für  sie  ver- 
hängnisvoll werden  konnte,  aber  auch  den  Verstand,  die 
Schlacht  zu  gewinnen.  (Beifall.)  Hinterher  ist  es  leicht,  klug  zu 
sein,  hinterher  kann  man  sich  leicht  rühmen,  und  ich  will  dankbar 
anerkennen,  daß  sich  die  einzelnen  Parteien  und  Abgeordneten  so 
nach  und  nach  zum  allgemeinen  Wahlrecht  herübergeschlängelt 
haben.  Ich  trage  es  niemand  nach,  daß  er  es  zu  spät  getan  hat, 
wenn  er  nur  gekommen  ist.  Denn  schließlich  waren  die  Anhänger 
des  allgemeinen  Wahlrechtes  vor  zwei  Jahren  im  Parlament  nicht 
sehr  zahlreich,  und  mit  unseren  elf  Stimmen*)  allein  hätten  wir  die 
Sache  nicht  machen  können,  und  außerdem  waren  nur  zwei  oder 
drei  Dutzend  mit  uns.  Wir  sind  den  Herren  wirklich  sehr  dankbar, 
die  rechtzeitig  erkannt  haben,  wie  der  Wagen  läuft,  und  sich  recht- 


')   In  der  letzten  Session  des  Kurienparlaments  hatten  die  Sozialdemo- 
kraten  ;iller   Nationen   nur   11    von  425  Mandaten  des  Abgeordnetenhauses. 


80  Die  ersten  Wahlen  zum  Volkshaus. 

zeitig  hineingesetzt  haben.  (Heiterkeit  und  Beifall.)  Und  ich  gebe 
dem  Herrn  Hofrat  Geßmann  öffentlich  das  Zeugnis  —  weil  er  es 
ja  wiederholt  verlangt  hat  — ,  daß  er  allerdings  klug  genug  war, 
sich  beizeiten  dorthin  zu  setzen,  wo  er  am  besten  fährt.  (Lebhafte 
Heiterkeit  und  Beifall.)  Aber  das  Wichtigste  war,  den  Wagen  in 
Gang  zu  bringen,  und  das  zu  einer  Zeit,  wo  man  nicht  bequem 
darin  sitzen  konnte,  sondern  wo  man  sehr  stark  der  Gefahr  aus- 
gesetzt war,  unter  die  Räder  zu  kommen.  Und  damals  waren  wir 
allein. 

Wenn  jemand  glaubt,  daß  das  ein  überflüssiges  Reden  ist,  weil 
die  Dinge  ja  vorbei  sind,  so  irrt  er  sich;  denn  wir  sind  nicht  am 
Ende,  sondern  am  Anfang*)  der  Neugestaltung  unseres  Staates,  und 
wir  haben  mit  dem  allgemeinen  Wahlrecht  erst  die  Vor- 
bedingungen dafür  geschaffen,  durch  die  sie  möglich  wird  —  wenn 
auch  nur  möglich  mit  den  größten  und  schwersten  Opfern.  Wir 
stehen  am  Ende  des  einen  Kampfes  und  am  Anfang  neuer, 
schwererer  Kämpfe  als  wir  sie  bisher  hatten.  Aber  die  Lehre 
können  wir  daraus  ziehen,  daß  die  Arbeiterklasse,  die  sozialdemo- 
kratisch organisierte  Arbeiterschaft  das 

Rückgrat  dieses  Staates 

ist.  Sie  ist  das  politische  Rückgrat  dieses  Staates,  die  einzige  poli- 
tische Macht,  die  weiß,  was  sie  will,  und  die  ihren  Willen  mit  allen 
Opfern  durchsetzt.  (Lebhafter  Beifall.)  Oh,  wir  haben  große  Par- 
teien, Parteien  mit  Macht  und  Einfluß.  Aber  alles  das  schwankt 
von  Programm  zu  Programm,  das  ist  weich,  das  schmiegt  sich  an 
oder  jagt  demagogischen  Schlagworten  nach,  das  schillert  in  allen 
Farben,  das  ist  quappig  und  schwammig,  da  ist  nichts  fest  und 
alles  unecht.  Die  einzige  Partei  in  Österreich,  die  mit  ehernem 
Willen  in  allen  Formen,  ruhig,  bescheiden,  aber  unablässig  arbeitet, 
aber,  wenn  es  notwendig  ist,  auch  mit  eisernem  Schritte  und  alles 
vor  sich  niederwerfend;  die  einzige  Partei,  die  ein  klares  Pro- 
gramm hat,  die  einzige,  die  das  Gesamtinteresse  aller  Klassen  der 
Bevölkerung,  vor  allem  aber  das  Interesse  der  arbeitenden  Massen 
vertritt,  ist  die  Sozialdemokratie,  und  jede  politische  Hoffnung  in 
Österreich  knüpft  sich  zuletzt  an  das  Erstarken  der  Sozialdemo- 
kratie, an  das  Gedeihen  unserer  Partei.  (Lebhafter  Beifall.) 

Wenn  Sie  den  Wahlkampf,  wie  er  sich  bisher  entwickelt  hat, 
überblicken,  so  zeigt  sich  bei  allen  Parteien  ohne  Unterschied  ein 
gemeinsamer  Zug :  die  Angst  vor  der  Sozialdemo- 
kratie. (Zustimmung.)  Ihre  ganze  Politik  wird  bis  ins  einzelne 
davon  beeinflußt,  und  sogar  ein  so  schlauer  Politiker  wie  Seine 
Durchlaucht  —  oder  vielleicht  schon  gar  Exzellenz**)  (Heiterkeit)  — 

*)  Diesen  Gedanken  hatte  Adler  auch  schon  im  Wahlrechtskampf  immer 
wieder  ausgesprochen,  so  zum  Beispiel  in  seinem  Referat  über  Ver- 
fassungsrevision auf  dem  Parteitag  in  Salzburg  1904.  (Siehe  Band  VIII  der 
Adler-Schriften,  Seite   244.) 

**)  Exzellenz,  nämlich  Minister  und  geheimer  Rat,  ist  dann  allerdings 
nicht  Prinz  Alois  Liechtenstein  geworden,  sondern  Dr.  Albert 
Geßmann. 


Der  Wahlkampi  beginnt.  481 

Prinz  Liechtenstein  warnte  auf  seinem  Parteitag  vor  einer 
Unterschätzung  der  Sozialdemokratie,  für  die  das  allgemeine 
Wahlrecht,  wie  er  sich  ausdrückte,  das  Plewna  ist,  wo  sie  sich 
verschanzt.  Für  die  Vergangenheit  hat  er  wirklich  recht.  Da  war 
allerdings  das  allgemeine  Wahlrecht  das  nächste  Ziel,  dem  alles 
andere  untergeordnet  werden  mußte.  Denn  man  kann  auch  in  der 
Politik  nicht  vielen  Hasen  nachjagen.  Da  muß  man  wissen,  was 
man  jetzt  durchsetzen  will  und  kann,  und  auf  den  einen  Punkt 
muß  man  alle  Kraft  vereinigen. 

Wenn  die  Herren  aber  glauben,  daß  wir  so  töricht  sind,  zu 
meinen,  daß,  weil  wir  jetzt  das  Wahlrecht  haben,  wir  die  Herren 
in  Österreich  sind,  daß  wir  unsere  Macht  so  überschätzen  wie  sie 
die  Gefahr,  die  ihnen  von  uns  droht,  so  täuschen  sie  sich.  Wir 
wissen  sehr  genau,  daß  die  Sozialdemokratie  dank  ihrer  Organi- 
sation, dank  ihrer  moralischen  Kraft  und  dank  dem  starken  sitt- 
lichen Bewußtsein,  das  in  der  Arbeiterklasse  lebt,  allerdings  ein 
politischer  Faktor  allerersten  Ranges  ist.  Aber  wir  wissen  ebenso 
genau,  daß  die  politische  Erziehung  der  breiten  Massen  noch  lange 
nicht  so  groß  ist,  als  daß  wir  im  nächsten  Parlament  wirklich  be- 
stimmend auf  die  Geschicke  des  Staates  einwirken  könnten.  Wir 
sind  auch  nicht  so  geneigt,  groß  von  uns  zu  sprechen,  wie  unsere 
Freunde,  die  Christlichsozialen,  von  sich.  Hofrat  Geßmann  ver- 
kündet ein  über  das  andere  Mal,  daß  die  Christlichsozialen  bisher 
eine  Wiener  Partei  waren  und  nun  eine 

Reichspartei*) 

werden  (Heiterkeit),  und  er  beginnt  die  Eroberung  Österreichs 
gleich  in  der  Bukowina.  Das  haben  wir  Sozialdemokraten  gar 
nicht  notwendig.  Wir  waren  immer  eine  Reichspartei;  wir  waren 
immer  eine  Partei,  die  die  arbeitenden  Massen  im  ganzen  Reiche 
erfaßt  hat.  Wir  haben  nie  eine  Kirchturmpolitik  getrieben,  nie  mit 
lokalen,  persönlichen  Mitteln  gearbeitet,  nie  mit  dem  Einfluß  ein- 
zelner Persönlichkeiten  agitiert,  denen  wir  eine  abgöttische  Ver- 
ehrung hätten  zuteil  werden  lassen,  nie  eine  lokale  Demagogie 
getrieben  wie  die  Christlichsozialen.  Es  ist  ja  sehr  hübsch  von 
ihnen,  wenn  sie  jetzt  wünschen,  einen  größeren  Gesichtskreis  zu 
bekommen,  und  es  wird  ihnen  nicht  schaden,  wenn  sie  ihren 
Gesichtskreis  erweitern,  denn  ihr  Gesichtskreis  war  bisher  wirk- 
lich sehr  eng.  (Heiterkeit.)  Aber  sie  sollen  nur  aufpassen,  daß  sie 
sich  dabei  nicht  irren.  Es  könnte  kommen,  daß  es  ihnen  bei  dem 
Bestreben,  aus  einer  Wiener  Partei  eine  Reichspartei  zu  werden, 
so  ergeht  wie  dem  Frosch,  der  sich  aufgebläht  hat,  bis  er  zer- 
platzte. Das  ist  auch  eine  Erweiterung  (Heiterkeit),  allerdings 
keine  des  Gesichtskreises.  (Neuerlicher  Beifall.) 


*)  Wirklich  haben  sich  die  Christlichsozialen  dann  Christlichsoziale 
Reichspartei  genannt.  In  der  Bukowina  hatten  sie  zunächst  nicht  viel  Glück 
mit  ihren  Kandidaturen  und  knüpften  dann  Beziehungen  zu  den  Rumänen 
an,  die  die  Thronfolgerpolitik  als  Freunde  Österreichs  gegen  Ungarn  ansah! 

Adler,  Briefe.   X.  Bd.  31 


482  Die  ersten  Wahlen  zum  Volkshaus. 

Man  hat  uns  die  Bedingungen  für  unseren  Wahlkampf  nach 
Möglichkeit  erschwert,  schon  im  Gesetz  durch  die  kunstvolle  Ein- 
teilung der  Wahlkreise.  Man  hat  dann  —  worauf  die  Christlich- 
sozialen besonders  stolz  sind  —  die  Wahlpflicht  erfunden,  die 
nichts  ist  als  ein  Angstprodukt.  Man  will  die  politisch  bewußten, 
selbständig  denkenden,  politisch  erzogenen  Massen  der  Arbeiter 
durch  die  indifferenten  Massen  erdrücken  lassen,  durch  jenen 
Bodensatz  von  Leuten,  die  politisch  überhaupt  niemals  gedacht 
haben,  die  ganz  indifferent,  gleichgültig  sind,  die  sich  für  die 
Wahlen  nicht  interessieren.  Auf  die  Gedankenlosigkeit  baut  man 
seine  Hoffnungen.  Die 

Wahlpflicht  der  Gedankenlosen 

soll  die  politisch  Denkenden  erdrücken.  Praktisch  bedeutet  das, 
daß  wir  nicht  nur  über  unsere  Feinde  siegen  müssen,  sondern  auch 
über  die  stumpfe,  gleichgültige  Masse,  und  daß  wir  also  unsere 
Arbeit  verdoppeln  müssen.  Aber  wie  alles,  was  man  gegen  uns  tut, 
schließlich  für  uns  ausschlägt,  so  wird  die  Wahlpflicht,  wenn  sie 
uns  auch  anfangs  hie  und  da  ein  Mandat  kosten  mag,  uns  politisch 
schließlich  nützen,  denn  der  Mann,  den  sie  uns  jetzt  mit  der 
Polizei  an  die  Urne  schleppen,  der  heute  gleichgültig  und  ver- 
drossen hingeht,  der  wird  sich  das  nächste  Mal  vielleicht  doch 
darüber  Gedanken  machen,  wenn  er  schon  wählt,  wren  er  wählen 
soll  und  warum  er  wählen  soll.  Und  übrigens  —  es  ist  das  keine 
Schmeichelei  für  Sie,  Genossen  — ,  es  gibt  auch  in  unseren  Reihen 
eine  große  Anzahl  sehr  braver  und  guter  Genossen,  die  sich  aber 
am  Wahltag  weniger  auf  sich  selber  als  auf  die  anderen  verlassen 
(Zustimmung),  und  wenn  die  Idee  des  Herrn  Hofrates  Geßmann 
uns  diese  faulen  Genossen  zur  Wahl  bringt,  so  ist  das  ja  ganz 
hübsch.  (Heiterkeit  und  Zustimmung.)  Bisher  hat  die  Behörde  sich 
sehr  angestrengt,  unsere  Wähler  am  Wählen  zu  hindern,  jetzt  wird 
sie  sie  zum  Wählen  zwingen.  Wir  kommen  eben  immer  aus  einem 
Extrem  ins  andere.  (Heiterkeit.) 

Ich  möchte  Sie  aber  warnen,  sich  den  Sieg  gar  zu  leicht  vor- 
zustellen, selbst  in  einem  so  proletarischen  Bezirk,  wie  es  Favo- 
riten ist.  Wir  haben  gegen  uns  alle  bürgerlichen  Parteien.  Die 
Sozialdemokratie  hat  ein  altes  Schlagwort  gehabt,  das  allerdings 
im  einzelnen  nicht  immer  gestimmt  hat  und  das  man  erklären  muß, 
wenn  man  es  anwendet,  das  Wort  von  der 

einen  reaktionären  Masse*). 

Wir  wissen,  daß  diese  eine  reaktionäre  Masse  nicht  ein  ein- 
heitlicher Körper  ist,  daß  sie  in  sich  gespalten  ist  in  Parteien  und 
Gruppen,  die  entgegengesetzte  Interessen  haben  und  miteinander 
vielfach  im  Kampf  liegen;  aber  wenn  dieses  Wort  von  der  einen 
reaktionären  Masse  bewiesen  werden  sollte,  so  sind  unsere  Gegner 


*)   Siehe    zu    Adlers    Anschauungen    über    dieses    Schlagwort    unter 
anderem  Band  VIII  dieser  Schriften,  Seite  392  f.  und  443. 


Der  Wahlkampf  beginnt  48;* 


jetzt   daran,  es   zu   beweisen.   Überall   in   Österreich   seilen    Sie   die 

Bemühungen,  gegenüber  der  Sozialdemokratie  die  Parteien  JM 
Vereinigen  und  den  verhaßten  Sozialdemokraten,  denen  man  das 
so  vielgepriesene  Wahlrecht  verdankt,  die  Mandate  streitig  zu 
machen,  und  wir  werden  da  Bundesgenossenschaften  merk- 
würdigster Art  sehen.  Nun,  wir  fürchten  uns  vor  ihnen 
allen  nicht  (lebhafter  Beifall);  wir  sind  keine  Partei,  deren 
Schicksal  in  einem  Wahlkreis  und  an  einem  Tage  entschieden 
wird.  Jedes  Mandat,  ja  jede  Stimme  ist  für  uns  wichtig.  Wichtiger 
aber  ist,  daß  sich  in  diesem  großen  Kampfe  das  Klassenbewußtsein 
der  Arbeiterschaft  auspräge  und  schärfe.  Und  unsere  Herren 
Gegner  können  gar  nichts  Besseres  für  uns  tun,  als  wenn  sie  uns 
von  allen  Seiten  umzingelten  und  den  Arbeitern  damit  sagten: 
„Rechts  und  links,  Bürger  und  Bauern,  Aristokraten  und  Fabri- 
kanten und  Zünftler,  alle  sind  wir  einig  gegen  euch,  die 
arbeitenden  Klassen!"  Ja,  das  wollen  wir,  und  da 
erwarten  wir  sie!  Mir  ist  gar  nicht  bange,  daß  dieselben 
Herren,  die  sich  bei  den  Wahlen  gegen  uns  vereinigen,  wenn  sie 
ihre  speziellen  Ziele  werden  durchsetzen  wollen  und  unsere  Hilfe 
brauchen,  doch  wieder  zu  uns  kommen  werden  —  mit  Augen- 
zwinkern und  freundlichen  Redensarten,  wir  möchten  sie  denn 
doch,  weil  es  sich  um  eine  gute  Sache  handle,  unterstützen.  Und 
wenn  es  eine  wirklich  gute  Sache  ist,  die  wir  wollen,  werden 
wir  es  auch  tun.  Wir  helfen  den  anderen  ja  nie  um  ihretwillen, 
sondern  nur  um  der  Arbeiter  willen  . . . 

Im  neuen  Parlament  wird  hoffentlich  die  Sozialdemokratie  eine 
stattliche,  arbeitsfähige  Partei  sein,  und  sie  wird  imstande  sein,  für 
die  Aufgaben,  die  dem  Parlament  dann  vorliegen  werden,  das 
ganze  Aufgebot  der  sittlichen  und  geistigen  Kraft  der  Partei  und 
die  ganze  Energie  der  Arbeiterschaft  zu  widmen.  Unser 

Verhältnis  zu  Ungarn 

muß  neu  geregelt  werden;  aber  die  Krise,  in  der  wir  uns  heute 
befinden,  kann  nur  dann  zum  Vorteil  Österreichs  gelöst  werden, 
wenn  die  Politiker  den  Mut  haben,  ein  Österreich  zu  schaffen,  das 
unabhängig  ist  von  Ungarn  und  unabhängig  auch  vom  Traum 
eines  habsburgischen  Weltreiches,  eines  Reiches,  das  bisher  nur 
die  besten  Kräfte  der  Völker  für  eine  Utopie  in  Anspruch  ge- 
nommen hat.  Diesen  Mut  muß  man  nicht  nur  in  Pest  haben,  son- 
dern hier  in  Wien  muß  man  ihn  haben;  hier  gilt  es,  gegenüber 
den  alten  dynastischen  und  militärischen  Interessen  die  Interessen 
der  Völker,  die  in  Österreich  leben,  geltend  zu  machen.  Hier  wird 
die  eigentliche  Schlacht  geschlagen  werden.  (Lebhafter  Beifall.)  Und 
es  wird  auch  der  eine  Moment  kommen,  wo  von  der  Energie,  von 
der  Schneidigkeit  und  Zielklarheit  der  Sozialdemokratie  sehr  viel 
abhängt.  Die  ganze  Verfassung  Österreichs  muß  neu  gestaltet 
werden.  Wir  haben  eine  Gesetzgebung,  die  mit  dem  allgemeinen 
Wahlrecht  im  schärfsten  Widerspruch  steht.  Wie  sieht  denn  unser 
Koalitionsgesetz  aus,  das  primitivste  Recht  des  Arbeiters,  für  eine 

31* 


484  Die  ersten  Wahlen   zum  Volkshaus. 

bessere  Lebenshaltung  zu  kämpfen?  Es  ist  dem  guten  Willen  und 
der  Willkür  der  Bürokraten  preisgegeben  und  wird  gegen  uns 
gehandhabt  je  nach  der  Laune,  je  nach  der  Eingebung,  ja  sehr  oft 
je  nach  der  Stärke  des  Einflusses,  den  einzelne  Unternehmer  auf 
einzelne  Beamte  haben.  Das  ist  ein  Zustand,  der  auf  die  Dauer 
nicht  ertragen  werden  kann.  Wir  wollen  die  politischen  Lebens- 
bedingungen der  Bevölkerung  gesetzlich  festgelegt  haben,  wir 
wollen  die  politische  Verwaltung  modernisieren,  wir  wollen  das 
bestehende  Abgabensystem  ändern  . . . 

Die  wichtigste  Frage,  die  die  Lebensfrage  Österreichs  ist,  ist  die 

nationale  Frage. 

Die  Völker,  die  in  Österreich  leben,  müssen  zu  einer  Form  des 
Zusammenlebens  kommen,  die  jedem  eine  selbständige  Ent- 
wicklung erlaubt.  Und  wenn  unser  Wahlrecht  nur  so  mangelhaft 
den  nationalen  Bedürfnissen  gerecht  wird,  so  ist  das  nur  dem 
Umstand  zuzuschreiben,  daß  man  froh  sein  mußte,  bei  dieser 
Wahlordnung  in  Sicherheit  zu  bringen,  was  der  Kern  ist,  das 
gleiche  Recht.  Wir  finden  es  für  ganz  selbstverständlich,  daß  auch 
die  Minoritäten,  die  in  einer  großen  Majorität  eingesprengt  sind, 
das  natürliche  Recht  auf  eine  gesonderte  Vertretung  in  Anspruch 
nehmen  können,  und  wir  haben  es  auch  durchaus  verstanden,  daß 
die  tschechischen  Genossen  in  Wien  gewünscht  haben,  einen 
tschechischen  Genossen  in  den  Reichsrat  zu  schicken,  und  wenn 
es  möglich  gewesen  wäre,  ihren  Wunsch  zu  erfüllen,  ohne  daß  das 
politische  Opfer  für  die  deutsche  Sozialdemokratie  zu  groß  ge- 
wesen wäre,  hätten  wir  ihnen  gewiß  dazu  geholfen.  Aber  wir 
mußten  uns  davon  überzeugen,  daß  die  Vertretung  der  nationalen 
Minoritäten  nur  durch  ein  Gesetz  ermöglicht  werden  kann,  das 
festsetzt,  daß  die  Vertreter  einer  nationalen  Minorität  nur  von 
dieser  Minorität  selbst  gewählt  werden  und  nicht  angewiesen  sein 
dürfen  darauf,  von  der  anderen  Nationalität  gewählt  zu  werden. 
Nicht  die  Majorität  kann  der  Minorität  zum  Wahlrecht  verhelfen, 
sondern  ein  Gesetz  muß  der  Minorität  das  Recht  auf  die  Ver- 
tretung geben.  (Beifall.)  Wir  haben  es  nie  geleugnet,  daß  es  auch 
bei  uns  nationale  Schwierigkeiten  zu  überwinden  gibt;  aber  unser 
Ruhm  ist,  daß  wir  sie  immer  zu  überwinden  strebten  und  sie  auch 
immer  überwinden  konnten  (Zustimmung),  und  ich  halte  es  für 
meine  Pflicht,  daß  wir  heute  den  tschechischen  Genossen  in  diesem 
Bezirk  unsere  Anerkennung  und  unseren  Dank  dafür  aussprechen, 
daß  sie,  obwohl  sie  eine  sehr  berechtigte  Empfindung  gehabt 
haben,  daß  sie  einen  Vertreter  ihrer  eigenen  Nation  in  das  Parla- 
ment entsenden  wollten,  sich  trotzdem  der  politischen  Notwendig- 
keit der  Gesamtpartei  untergeordnet  haben  und  heute  in  brüder- 
licher Solidarität  mit  uns  den  Wahlkampf  führen.  (Lebhafter  Bei- 
fall und  Händeklatschen.)  Wir  haben  nie  daran  gezweifelt,  daß 
unsere  tschechischen  Genossen,  wenn  es  zur  Entscheidung  kommt, 
wahrhaft  internationale,  wahrhaft  proletarische  Gesinnung  zeigen 


Der   Wüli I k.i inpf  beginnt.  48f> 


werden,  und  je  schwerer  es  ihnen  geworden  Ist,  um  so  größer  ist 
das  Verdienst,  daß  sie  es  trotzdem  getan  haben. 

Wir  werden,  wenn  alle  ihre  Pflicht  tun,  in  diesem  Wahlkuiupi 
es  zu  einer  sozialdemokratischen  Fraktion  bringen,  die  sieh  mit 
Ehren  sehen  lassen  kann.  Aber  für  uns  sind  Wahlen  nieht  nur  eine 
Fabrikation  von  Abgeordneten,  sondern  sie  sind  uns  ein  Mittel, 
unsere  Überzeugungen  zu  verbreiten  und  unsere  Organisation  zu 
verstärken.  Man  wirft  uns  vor,  daß  wir 

Utopisten 

sind:  wir  wollen  ganz  ferne  Dinge,  die  Abschaffung  des  Privat- 
eigentums, den  Umsturz  des  Staates.  Gewiß,  wenn  wir  den  Staat 
heute  umstürzen  könnten  —  er  verdient  wirklich  nicht  mehr  — , 
wenn  wir  das  Privateigentum,  an  dem  Blut  klebt,  wenn  wir  den 
heutigen  Kapitalismus,  der  eine  Geißel  der  Menschheit  ist,  be- 
seitigen könnten,  und  wäre  es  auch  durch  den  größten  terrori- 
stischen Akt,  an  uns  soll  es  nicht  fehlen.  (Lebhafter  Beifall.)  Wenn 
ich  könnte  —  und  wäre  es  mit  dem  Opfer  meines  Lebens  und  des 
Lebens  anderer  — ,  ich  würde  mich  für  einen  Verbrecher  halten, 
wenn  ich  es  nicht  täte.  Aber  wir  wissen,  daß  der  Weg,  der  dahin 
führt,  ein  langer  Weg  ist  und  wir  nicht  mit  einem  Sprunge  ans 
Ziel  kommen  können.  Sie  mögen  sich  nicht  fürchten,  sie  können 
noch  leben,  und  sie  werden  nicht  auf  einmal  ins  sozialistische  Jen- 
seits befördert  werden  (Heiterkeit),  sondern  ganz  langsam,  so 
schnell,  als  es  eben  geht  —  aber  es  geht  leider  nicht  so  rasch.  Man 
wirft  uns  dann  vor,  daß  wir  gegen  die  Religion  seien.  Daß  wir 
gegen  den  Klerikalismus  und  seine  Volksverdummungsgelüste 
kämpfen,  haben  wir  nie  geleugnet.  Aber  die  Religion  hat  von  uns 
nie  etwas  zu  fürchten  gehabt,  die  religiöse  Überzeugung  niemands 
haben  wir  je  angetastet.  Die  Christlichsozialen  fürchten  auch  nicht 
für  die  Religion,  die  ist  ihnen  nur  ein  Mittel  der  Agitation  und  vor 
allem  der  Organisation.  Aber  wir,  die  man  die  Feinde  der  Religion 
nennt,  wir  haben  Hochachtung  auch  vor  der  religiösen  Über- 
zeugung; aber  wir  haben  Verachtung  für  die  klerikale  Streberei, 
für  die  Ausnützung  der  echten  religiösen  Überzeugung  der  breiten 
Schichten,  für  die  Herrschaftsgelüste  einer  kleinen  Clique  von 
Leuten.  Wir  werden  im  Parlament  gegen  diese  neue  Reichspartei 
zu  kämpfen  haben,  die  sich  in  eine  große  klerikale  Partei  um- 
wandeln will.  Es  wird  Arbeit  genug  im  Parlament  geben,  aber 
darum  dürfen  wir  nicht  die  Arbeit  außerhalb  des  Parlaments  ver- 
gessen. Sie  gehen  in  die  Wahlen  mit  dem  Bewußtsein,  daß  Sie  die 
Träger  einer  großen  Idee  sind;  mit  dem  Bewußtsein,  daß  von  der 
sozialdemokratischen  Arbeiterschaft  die  Zukunft  aller  Völker  in 
Österreich  abhängt.  Wir  dürfen  nicht  zufrieden  sein  mit  dem,  was 
wir  schon  erkämpft  haben,  sondern  müssen  uns  zu  neuen  Kämpfen 
rüsten.  In  diesem  Sinne,  die  Augen  gerichtet  auf  das  große  Ziel 
der  Sozialdemokratie,  gehen  wir  in  die  Wahlen  mit  dem  Rufe:  Es 
lebe  die  internationale  Sozialdemokratie!  (Stürmische  Hochrufe 
und  andauernder  Beifall.) 


486  Die  ersten  Wahlen  zum  Volkshaus. 

Die  Wahlen  in  Osterreich. 

Von   Dr.  Victor  Adler. 
Halbmonatsschrift  „Mär  z",  München,  Juni   190  7*). 

Ein  neues  Österreich  ist  aus  den  ersten  Wahlen  des  gleichen 
Wahlrechtes  erstanden;  oder  vielmehr:  ein  bisher  unbekanntes 
Österreich  wurde  durch  sie  enthüllt.  Welche  Fälschung  das  alte 
Kurienparlament  war,  erkennt  man  ganz  deutlich  erst  jetzt,  da 
die  Grundlinien  der  neuen,  der  ersten  Volksvertretung  Österreichs 
auftauchen-  Noch  ist  das  neue  Abgeordnetenhaus  keineswegs  ein 
getreues  Abbild  der  nationalen,  wirtschaftlichen  und  kulturellen 
Struktur  des  Landes,  dafür  hat  die  gekünstelte  Wahlkreiseinteilung, 
dafür  hat  in  den  östlichen  Provinzen  die  Wahlpraxis  gesorgt. 
Auch  fehlt  noch  viel,  bis  die  Interessengegensätze  der  einzelnen 
Schichten  zu  jenem  Grade  der  Klarheit  des  Bewußtseins  und  des 
eindeutigen  Ausdruckes  gelangen,  den  das  allgemeine  Wahlrecht 
möglich  macht.  Aber  eine  ganze  Welt  von  unsäglich  albernen  und 
verlogenen  politischen  Fiktionen  ist  gründlich  dahin  mit  jener 
Karikatur  eines  Parlaments,  die  durch  die  Wahlreform  zerstört 
wurde.  Die  Zeiten,  wo  sich  die  österreichische  Politik  darstellte 
als  eine  Auseinandersetzung  zwischen  dem  verfassungstreuen  und 
dem  feudalen  Großgrundbesitz,  sind  endgültig  vorbei;  und  nicht 
minder  jene,  wo  einige  deutsche  oder  tschechische  Radaupolitiker 
Volk  mimen  und  die  politische  Bühne  beherrschen  konnten.  Zum 
ersten  Male  sind  die  Völker  selbst  auf  die  Bühne  getreten. 

Man  hatte  sich  das  Ding  freilich  ein  wenig  anders  vorgestellt. 

Die  gewaltige  Volksbewegung,  die,  geführt  von  der  sozial- 
demokratischen Arbeiterschaft,  die  Wahlreform  auf  die  Tages- 
ordnung gesetzt  hatte,  konnte  die  Gunst  äußerer  Umstände  nützen. 
Die  ungarischen  Wirren,  die  russische  Revolution  kamen  ihr  zu- 
gute, und  der  völlige  Bankrott  des  alten  Österreich  machte  mit 
zwingender  Logik  den  Kaiser  selbst  zum  Anwalt  des  Wahlrechtes. 
Nur  widerstrebend  und  knurrend  fügten  sich  die  bürgerlichen 
Parteien  der  eisernen  Notwendigkeit,  nicht  ohne  verzweifelte 
Rückzugsgefechte  geliefert  zu  haben,  die  das  Reformwerk  mehr 
als  einmal  in  ernste  Gefahr  brachten.  Als  es  aber  ans  Ziel  geführt 

*)  Adler  hat  wohl  nur  wenige  Artikel  für  nichtsozialdemokratische  Zeit- 
schriften geschrieben.  Als  sich  nach  den  ersten  Wahlen  auf  Grund  des 
allgemeinen  Wahlrechtes  die  Redaktion  der  im  Verlag  Albert  Langen  in 
München  erscheinenden,  angesehenen  demokratischen  Halbmonatsschrift 
„März",  als  deren  Herausgeber  Ludwig  T  h  o  m  a,  Hermann  Hesse, 
Albert  Langen  und  Kurt  A  r  a  m  zeichneten,  an  ihn  wendete,  machte 
er  bereitwillig  eine  Ausnahme.  In  demselben  zweiten  Juniheft  ist  übrigens 
auch  ein  Artikel  von  Jaures  über  „Das  Ministerium  Clemenceau  und  die 
Sozialisten". 

Die  Wahlen  in  Österreich  haben  bekanntlich  am  14.  Mai  1907  (die 
Stichwahlen  am  24.  Mai)  stattgefunden  und  haben  der  Sozialdemokratie 
1,040.662  Stimmen  und  87  Mandate  gebracht.  Die  deutschen  Sozialdemo- 
kraten erhielten  511.590  Stimmen  und  50  Mandate. 


Die  Wahlen  in  Österreich.  487 

war,   ging   man   eigentlich    recht    leichten    Herzens    in    die    Wahlen. 

Die  Regierung  des  Baron  Heck  vor  allem,  der  hei  der  Durch- 
setzung der  Wahlreform  dein  Willen  des  Kaisers  ein  energischer, 
geschickter  und  unermüdlicher  Vollstrecker  gewesen,  fürchtete  von 
allen  Gefahren,  die  man  dem  allgemeinen  Wahlrecht  angedichtet, 

am  wenigsten  die  Aussicht  auf  eine  starke  klerikale  und  agrarische 
Majorität.  Vielmehr  hat  die  Hoffnung  auf  ein  solches  Ergebnis 
nicht  nur  bei  dem  Reformeifer  der  Christlichsozialen,  sondern  auch 
bei  der  rühmlichen  Beharrlichkeit  der  Krone  und  der  Regierung 
als  wichtiges  Motiv  mitgewirkt.  Die  Christlichsozialen  spielten  sich 
als  die  künftige  „Reichspartei",  als  Retter  des  Staates  auf,  und  man 
gab  ihnen  gerne  Kredit,  begünstigte  sie  auch  bei  den  Wahlen  in  jeder 
Beziehung,  wie  ja  schon  die  Wahlbezirkseinteilung  in  Wien  und 
Niederösterreich  ausschließlich  in  ihrem  Interesse  gemacht  war. 
Daß  die  Schönerianer  und  die  radikalen  Tschechen  durch  die 
Wahlen  geschwächt  würden,  war  sicher,  und  damit  war  eine  wich- 
tige Sorge  beschwichtigt.  Dafür  glaubte  man  eine  mäßige  Ver- 
stärkung der  sozialdemokratischen  Fraktion  leicht  in  Kauf  nehmen 
zu  können.  Die  Sozialdemokraten  hatten  im  alten  Parlament  elf 
Abgeordnete,  und  wenn  sie  jetzt  auf  fünfunddreißig  oder  vierzig 
wüchsen,  müßte  und  könnte  man  das  schließlich  ertragen.  Daß  die 
sozialdemokratischen  Bäume  nicht  in  den  Himmel  wüchsen,  dafür 
redlich  gesorgt  zu  haben  war  man  sich  bewußt.  Die  Seßhaftigkeits- 
klausel hatte  das  Wahlrecht  an  den  einjährigen  Wohnsitz  in  der 
Gemeinde  geknüpft,  das  heißt:  eine  raffinierte  Einteilung  der  Wahl- 
bezirke hatte  die  Arbeiterwähler  hier  in  große  Wahlkreise  zu- 
sammengeschoben, sie  dort  in  einer  agrarischen  Majorität  ersäuft; 
die  von  den  Christlichsozialen  aus  Belgien  importierte  Wahlpflicht, 
deren  Schönheiten  durch  den  Ausgang  der  letzten  Wahlen  im 
Reiche  empfohlen  wurden,  hatte  man  in  einer  Reihe  von  Kron- 
ländern, vor  allem  in  den  gefährdeten  Niederösterreich,  Mähren 
und  Schlesien  eingeführt  und  hoffte  so  die  politisch  denkende 
Arbeiterschaft  durch  den  politisch  noch  unerwxckten,  gedanken- 
losen Bodensatz  der  Bevölkerung  zu  ersticken.  In  der  Tat,  man 
konnte  mit  gutem  Gewissen  in  die  Wahlen  gehen. 

Es  ist  ein  wenig  anders  gekommen.  Das  wichtigste  Ergebnis 
der  Wahlen  ist,  daß  die  christlichsoziale  Partei,  daß  die  Klerikalen 
aller  Sorten  lange  nicht  so  große  Erfolge  hatten,  wie  sie  hofften, 
daß  hingegen  die  Sozialdemokratie  als  die  stärkste  Partei  in  das 
neue  Parlament  einzieht.  Im  ersten  Anlauf  eroberten  die  Sozial- 
demokraten bei  der  Hauptwahl  achtundfünfzig  Wahlbezirke,  vier- 
unddreißig deutsche,  zweiundzwanzig  tschechische,  je  einen  pol- 
nischen und  italienischen,  standen  in  hundertachtzehn  Bezirken  in 
Stichwahl  und  hatten  in  einer  großen  Anzahl  von  Bezirken  die 
Entscheidung  zwischen  den  anderen  Parteien  in  der  Hand.  Die 
Christlichsozialen  hatten  die  Landgemeinden  in  Niederösterreich 
gehalten,  Tirol  den  Altklerikalen  abgenommen,  aber  sie  hatten 
drei  Wiener  Bezirke,  auf  die  sie  gerechnet,  an  die  Sozialdemokraten 
verloren,  und  ihre  Eroberungszüge  in  die  Sudetenländer  waren 
erfolglos  und  brachten  sie  nur  in  einige  Stichwahlen,  über  deren 


488  Die  ersten  Wahlen  zum  Volkshaus. 

Ausgang  die  Sozialdemokratie  zu  entscheiden  hatte.  Die  deutsch- 
bürgerlichen Parteien  kamen  aus  der  Hauptwahl  arg  reduziert 
heraus.  Die  Alldeutschen  waren  fast  verschwunden,  Schönerer 
selbst  mit  einer  kläglichen  Minorität  einem  Sozialdemokraten  er- 
legen, Franko  Stein  endgültig  abgefallen,  und  nur  einige  der 
harmlosesten  Exemplare  durften  hoffen,  in  der  Stichwahl  durchzu- 
kommen. Das  Schicksal  der  deutschen  Fortschrittspartei,  der 
Deutschen  Volkspartei,  der  Freialldeutschen  hing  von  den  Stich- 
wahlen ab,  bei  denen  sie  in  Wien  und  in  den  Alpenländern  meist 
den  Christlichsozialen,  in  den  Sudetenländern  meist  den  Sozial- 
demokraten gegenüberstanden.  Nicht  besser  ging  es  den  tschechi- 
schen bürgerlichen  Parteien.  Die  Jungtschechen  konnten  in  der 
Hauptwahl  nur  ganz  wenige  Bezirke  behaupten,  und  den  er- 
warteten Siegeslauf  der  Agrarier  hemmten  die  großen  Erfolge  der 
Sozialdemokratie,  die  auch  in  den  Dörfern  in  ganz  ungeahntem 
Maße  festen  Fuß  gefaßt  hatte. 

Bei  den  Stichwahlen  hatten  somit  die  Sozialdemokraten  ein 
entscheidendes  Wort  zu  reden.  Ihre  Parole  war  einfach  und  klar: 
ein  Kompromiß  anzustreben,  das  ihnen  manches  Mandat  bringen 
konnte,  das  wurde  von  ihnen  nicht  einen  einzigen  Augenblick  auch 
nur  erwogen. 

Der  Beschluß  des  Parteivorstandes  lautete,  es  sei  überall  gegen 
die  Klerikalen  und  die  Christlichsozialen,  überall  gegen  die 
Agrarier,  auch  wo  sie  als  Freialldeutsche  verkleidet  sind,  zu 
stimmen,  und  zwar  ohne  jede  Rücksicht  auf  Gegenleistung;  den 
Parteien,  die  sich  als  bürgerlich-freisinnig  bezeichnen,  sei  es  über- 
lassen, welche  Haltung  sie  mit  ihrem  politischen  Gewissen  ver- 
antworten könnten.  So  wurde  für  die  bürgerlichen  Parteien  die 
sozialdemokratische  Hilfe  in  wenigstens  sechzehn  deutschen  und 
in  einigen  tschechischen  Bezirken  ausschlaggebend,  die  den  Kleri- 
kalen und  Agrariern  definitiv  entrissen  wurden. 

Eine  besondere  Betrachtung  würden  die  Wahlen  in  Galizien 
verdienen,  wo  zu  Nutz  und  Frommen  der  Schlachta  ein  kompli- 
ziertes Minoritätswahlsystem  konstruiert  wurde,  das  aber  so  über- 
schlau ausfiel,  daß  seine  Erfinder  nun  selbst  wenig  Freude  daran 
erleben.  Aber  sie  haben  das  Wahlglück  nach  altbewährter  gali- 
zischer  Tradition  korrigiert.  Offener  Stimmenkauf  und  Nötigung 
unter  den  Augen,  ja  unter  Protektion  der  Behörden,  unverhüllte 
Einschüchterung  der  Wähler  durch  die  Bezirkshauptleute,  Fäl- 
schung der  Wählerlisten,  Fälschung  der  Wahlresultate,  kurz,  alle 
nach  europäischen  Begriffen  unmöglichen  Verbrechen  gehören  in 
Galizien  zu  den  allgemein  üblichen  Behelfen  bei  der  Wahl.  Die 
Wiener  Zentralregierung  ist  in  Galizien  fast  völlig  machtlos; 
zwischen  ihr  und  den  Bezirksbehörden  steht  der  Statthalter,  jetzt 
Graf  Potocki,  der  nichts  anderes  ist  als  Führer  und  Exekutivorgan 
der  herrschenden  Stanczykenpartei,  und  der  dafür  sorgt,  daß  alle 
Anordnungen  der  Wiener  Regierung  ins  Galizische  übersetzt 
werden,  das  ist:  wirkungslos  bleiben.  Wenn  die  Ergebnisse  der 
galizischen     Wahlen      von      der     Wahlprüfungskommission      des 


I 


Die  Wahlen  in  Österreich.  ™(> 


Deutschen  Reichstages  untersucht  würden,  konnte  kaum  der  vierte 
Teil  von  ihnen  aufrechterhalten  werden.  Wie  sich  das  neue  öster- 
reichische Parlament  zu  diesen  Wahlen  stellen  wird,  wird  eine 
der  ersten  und  wichtigsten  Proben  für  seinen  Ernst  und  seine 
Lebensfähigkeit  sein.  Unter  den  Greueln  dieser  Wahlpraxis  haben 
alle  oppositionellen  Parteien  schwer  gelitten,  am  schwersten  die 
Sozialdemokraten,  deren  Führer  Daszynski*),  der  glänzendste 
Redner  des  alten  Hauses,  dadurch  zu  Falle  gebracht  wurde.  Aber 
trotz  alledem,  trotz  Bestechung  und  Gewalttat,  ist  es  den  Stanczyken 
nicht  gelungen,  ihre  alte  Macht  zu  behaupten;  und  der  Turm  des 
Polenklubs,  der  Hort  jedweder  Reaktion,  ist  schwer  erschüttert 
und  rissig  geworden.  Die  Wahlen  sind  in  (ializien  noch  nicht  zu 
Ende  geführt,  aber  schon  ist  sichtbar,  daß  nicht  nur  die  Stärke  des 
Polenklubs  vermindert,  sondern  auch  sein  inneres  Qefüge  wesent- 
lich verändert,  seine  Machtstellung  vermindert  sein  wird. 

Die  Stichwahlen  erhöhten  die  Zahl  der  Sozialdemokraten  auf 
siebenundachtzig  —  fünfzig  Deutsche,  vierundzwanzig  Tschechen, 
fünf  Italiener,  sechs  Polen  und  zwei  Ruthenen  —  und  machten  sie 
zur  stärksten  Partei  des  Hauses.  Das  ist  die  Tatsache,  die  für  die 
Zukunft  des  Parlaments,  für  die  Zukunft  Österreichs  entscheidend 
ist.  Die  Größe  des  sozialdemokratischen  Erfolges  wirkte  ver- 
blüffend und  hat  insbesondere  auch  im  Ausland  zu  den  sonder- 
barsten Urteilen  geführt.  Es  kann  ohne  weiteres  zugegeben  werden, 
daß  die  Partei  selbst  von  der  Zahl  der  eroberten  Mandate  über- 
rascht war.  Sie  kannte  ihre  Kraft,  rechnete  auf  eine  Million 
Stimmen,  eine  Ziffer,  die  noch  um  einiges  überholt  wurde,  aber 
der  Maßstab  für  die  Schätzung  der  Kräfteverhältnisse,  den  allein 
das  gleiche  Wahlrecht  geben  kann,  fehlte  bisher.  Übrigens  wird 
bei  den  Vergleichen  mit  den  Wahlresultaten  in  anderen  Ländern, 
insbesondere  im  Deutschen  Reiche,  übersehen,  daß  die  Ziffern  in 
Österreich  eine  völlig  andere  Bedeutung  haben.  Der  Deutsche 
Reichstag  hat  dreihundertsiebenundneunzig  Mitglieder,  die  von 
rund  dreizehn  Millionen  Wahlberechtigten  erwählt  sind;  das  öster- 
reichische Parlament  zählt  nicht  weniger  als  fünfhundertsechzehn 
Abgeordnete,  die  Wählerzahl  beträgt  aber  nur  rund  fünf  Millionen. 
Dazu  kommt,  daß  trotz  aller  gegen  das  Proletariat  gerichteten 
Wahlgeometrie  das  Mißverhältnis  zunächst  lange  nicht  so  arg  sein 
kann,  wie  in  den  Industriezentren  Deutschlands  und  insbesondere 
in  den  Monsterbezirken  Berlins  und  des  Rheinlandes.  In  Österreich 
kommen  auf  einen  sozialdemokratischen  Abgeordneten  rund  drei- 
zehntausend, im  Reiche  gegenwärtig  mehr  als  siebzigtausend 
sozialdemokratische  Stimmen.  Diese  Ziffern  sollen  nur  schiefe 
Vergleiche  berichtigen,  können  aber  keineswegs  die  Bedeutung 
des  Erfolges  der  Sozialdemokratie  in  Österreich  herabsetzen.  Viel- 
mehr gilt  für  Österreich  wie  für  das  Reich,  daß  jeder  sozialdemo- 
kratische  Abgeordnete   ein  beträchtlich   höheres   Stimmengewicht 

)  Ignaz  Daszynski  wurde  dann  später  in  dem  polnisch-schlesischen 
Wahlkreis  Freistadt,  wo  Thaddäus  Reger  zu  seinen  Gunsten  zurücktrat, 
gewählt.  Fr  ist  der  nachmalige  Sejmmarschall  in  der  Republik  Polen. 


490  Die  ersten  Wahlen  zum  Volkshaus. 

darstellt  als  der  Abgeordnete  irgendeiner  bürgerlichen  Partei.  Die 
Sozialdemokraten  haben  bei  diesen  Wahlen  mehr  als  ein  Fünftel 
aller  abgegebenen  Stimmen  auf  sich  vereinigt  und  mehr  als  ein 
Sechstel  der  Mandate  erobert.  Das  war  eine  starke  Überraschung 
für  die  Leute,  die  noch  an  das  längst  falsch  gewordene  Schlagwort 
vom  agrarischen  Österreich  glaubten  und  die  auf  das  Märchen 
hineinfielen,  die  Sozialdemokratie  sei  in  Österreich  eine  aus  dem 
Ausland  importierte  Bewegung,  die  in  der  ökonomischen  Struktur 
des  Landes  keine  Wurzel  habe.  Die  Wahlen  haben  deutlich  gezeigt, 
daß  Österreich  trotz  aller  Hemmungen  in  weit  höherem  Maße 
Industrieland  geworden  ist,  als  es  seine  Regierer  glauben  machen 
wollen.  Die  unwiderlegliche  Feststellung  dieser  Tatsache  ist  von 
der  allergrößten  Bedeutung  für  unsere  politische  Zukunft.  Der 
Herrschaft  der  Agrarier,  die  bisher  schrankenlos  war,  sind  damit 
feste  Grenzen  gezogen. 

Wie  der  Erfolg  der  Sozialdemokratie  agrarische  Experimente 
für  die  nächste  Zukunft  ausschließt,  so  ist  er  auch  die  Bürgschaft 
dafür,  daß  der  geplante  Vorstoß  der  Klerikalen  unmöglich  ist.  Die 
Klerikalen  neuer  Fasson,  die  sich  Christlichsoziale  nennen,  haben 
es  auf  siebenundsechzig  Mandate  gebracht,  viel  zu  viel  für  die 
kulturelle  und  politische  Entwicklung  Österreichs,  aber  viel  zu 
wenig  für  ihre  hochgespannten  Erwartungen  und  herrschgierigen 
Pläne.  Ursprünglich  eine  Wiener  Partei,  die  Partei  des  rabiat  ge- 
wordenen Kleinbürgertums,  haben  die  Christlichsozialen  in  Nieder- 
österreich und  Tirol  agrarische  Elemente  aufgenommen,  haben  ver- 
meint, die  städtischen  Interessen,  da  sie  die  Wiener  Wählerschaft 
hypnotisiert  glaubten,  ungestraft  verraten  zu  dürfen,  und  haben  bei 
den  Wahlen  erleben  müssen,  daß  sie  in  Wien  an  Boden  eingebüßt 
haben,  da  die  Sozialdemokraten  ihnen  gewachsen  sind,  ja,  daß 
sogar  das  sogenannte  freisinnige  Bürgertum  wieder  politisch  zu 
existieren  beginnt.  Am  Tage  nach  der  Wahl,  die  ihnen  zeigte,  daß 
sie  in  Wien  künftig  nichts  mehr  zu  gewinnen  und  nur  noch  zu  ver- 
lieren haben,  schlössen  die  Christlichsozialen  den  Pakt  mit  den 
Altklerikalen,  die  ihnen  freilich  dreißig  Mann  zuführen,  aus  ihnen 
damit  die  stärkste  Parteiorganisation  des  Hauses  machen,  sie  aber 
zugleich  in  eine  klerikale  Bauernpartei  wandeln,  in  der  die  Wiener 
Wählerschaft  künftig  nur  die  Rolle  der  Betrogenen  und  Miß- 
brauchten zu  spielen  haben  wird.  Die  städtischen  Elemente  gehen 
ihnen  durch,  Arbeitermassen  haben  sie  nie  gehabt;  und  somit  ist 
der  ebenso  ehrgeizige  wie  absurde  Traum,  in  Österreich  ein  katho- 
lisches Zentrum  zu  etablieren,  für  immer  ausgeträumt.  Der  Erfolg 
der  Sozialdemokratie  hat  einen  dicken  Strich  durch  die  klerikale 
Rechnung  gemacht.  Jede  Regierung  wird  damit  zu  rechnen  haben, 
daß  jede  Schwenkung  zum  Klerikalismus  insbesondere  auf  dem 
Gebiet  der  Schulverwaltung  für  die  sozialdemokratische  Arbeiter- 
schaft ein  Kriegsfall  ist;  und  sie  weiß,  daß  die  österreichische 
Arbeiterschaft  zu  kämpfen  versteht. 

Der  Erfolg  der  Sozialdemokratie  hat  auch  die  vor  kurzem 
ernstlich  drohende  Gefahr  sozialpolitischer  Reaktion,  einer  Be- 
drohung des  Koalitionsrechtes,  eines  Angriffes   der  Scharfmacher 


Die  Wahlen  in  Osterreich.  491 

ausgeschlossen.  Das  Unternehmertum,  das  industrielle  wie  das 
agrarische1,  das  kleine  fast  noch  mehr  als  das  große,  hatte  große 
Lust  zu  einem  Experiment  in  dieser  Richtung.  Damit  ist  es  nun 
zunächst  vorbei;  die  Arbeiterschaft  und  mit  ihr  die  Industrie  ist 
vor  der  ernsten  Gefährdung  bewahrt,  die  sehwere  und  untrueht- 
bare  Kämpfe  zur  Folge  gehabt  hätte.  Vielleicht  wird  nunmehr  den 
Industrieherren  Zeit  gegönnt,  zu  der  primitiven  Erkenntnis  zu 
kommen,  daß  Österreich  und  vor  allem  seiner  Industrie  nichts 
mehr  not  tut,  als  eine  ausgiebige  Hebung  der  Lebenshaltung  der 
Arbeiterschaft. 

Die  Bedeutung  der  Tatsache,  daß  die  Sozialdemokratie  zu  einer 
gewissen  Machtstellung  in  Österreich  gelangt  ist,  erschöpft  sich 
aber  keineswegs  darin,  daß  die  Partei  des  Proletariats  eine  wirk- 
same Schutzwehr  der  politischen  und  kulturellen  Freiheit,  ein  Hebel 
des  sozialpolitischen  Fortschrittes,  ein  Wall  gegen  jede  reaktionäre 
Bestrebung  geworden  ist.  Die  Stärke  der  Sozialdemokratie  ist  eine 
der  wichtigsten  Bürgschaften  für  die  Zukunft  des  Parlaments,  für 
die  Entwicklung  des  Staates.  Die  Sozialdemokratie  ist  in  Österreich 
nicht  minder  die  Partei  des  proletarischen  Klassenkampfes  —  und 
in  diesem  Sinne  revolutionär  —  als  in  Deutschland  oder  in  jedem 
anderen  Staate.  Aber  sie  hat  in  Österreich  eine  ganz  besondere 
Funktion,  eine  besondere  Aufgabe,  die  ihr  aus  den  Besonderheiten 
dieses  Staates  erwächst.  Überall  hat  die  Sozialdemokratie  zu  be- 
sorgen, was  das  Bürgertum  zu  tun  unterlassen  hat;  der  Kampf  für 
politische  Freiheit  liegt  überall  fast  ausschließlich  auf  ihren 
Schultern.  In  Österreich  aber  fehlt  dem  Proletariat  die  wichtigste 
Bedingung,  der  Boden  für  seine  Entwicklung,  fehlt  ihm  der  Staat. 
Die  Bürokratie  und  die  herrschenden  Klassen  waren  bisher  unfähig, 
diesen  Staat  zu  konstituieren.  Der  einzige  Versuch,  Österreich  die 
Gestalt  zu  geben,  die  ihm  einzig  Existenz  und  Entwicklung  ver- 
bürgen kann,  aus  ihm  einen  demokratischen  Völkerstaat  zu  machen, 
wurde  1848  gemacht  und  von  der  Militärdiktatur  brutal  nieder- 
geschlagen. Zwischen  dem  Kremsierer  Reichstag  und  dem  heutigen 
Parlament  des  gleichen  Wahlrechtes  liegt  eine  Welt  politischen 
Elends,  verbrecherischer  Dummheit  und  feiger  Verzweiflung  an  der 
Zukunft  des  Landes.  Wenn  aber  die  bürgerlichen  Klassen  sich 
dabei  bescheiden,  zu  verzweifeln,  wenn  sie  schwanken  zwischen 
fatalistischer  Lethargie  und  hysterischer  Tobsucht  —  die  Prole- 
tarier aller  Nationen,  die  in  Österreich  leben,  haben  nicht  die  ge- 
ringste Lust,  zu  verzweifeln,  sind  vielmehr  erfüllt  von  einem 
starken  Willen  zum  Leben  und  sind  entschlossen,  diesen  Staat,  in 
dem  die  acht  Völker  oder  Völkersplitter  miteinander  zu  leben  be- 
rufen oder  verurteilt  sind,  zum  Instrument  ihrer  Entwicklung  zu 
gestalten.  Für  die  Sozialdemokratie  ist  das  Parlament  des  gleichen 
Wahlrechtes  der  erste  Schritt  einer  Umwälzung,  die  zur  völligen 
Neugestaltung  dieses  Staates  führen  muß.  Österreich  muß  die  staat- 
liche Selbständigkeit  erringen  und  kann  das  nur,  indem  es  Ungarn 
gewährt,  was  es  selbst  verlangt.  Nicht  mehr  darf  unsere  Staatlich- 
keit, dürfen  unsere  wirtschaftlichen  Interessen  den  Interessen  der 
Dynastie  und  dem  Phantom  des  (iesamtstaates  geopfert  werden, 


492  Die  ersten  Wahlen  zum  Volkshaus. 

wie  es  die  selbstmörderische  Tradition  der  österreichischen  Politik, 
bis  heute  geübt.  Das  ist  der  Gesichtspunkt,  unter  dem  die  Fragen 
zu  behandeln  sein  werden,  die  dem  Parlament  unter  dem  Titel  des 
Ausgleiches  mit  Ungarn  zur  Lösung  vorliegen  werden. 

Durch  die  definitive  Auseinandersetzung  mit  Ungarn  muß  der 
Staat  Selbständigkeit  und  Freiheit  gewinnen,  durch  die  Lösung  des 
nationalen  Problems  muß  er  die  Lebensmöglichkeit  erringen.  Haben 
sich  die  Völker  Österreichs  mit  der  Tatsache  abgefunden,  daß  es 
für  sie  auf  absehbare  Zeit  keine  Aussicht  auf  ein  Leben  außerhalb 
dieses  Staates  gibt,  dann  müssen  sie  sich  entschließen,  ihr  Leben 
nebeneinander  in  diesem  Staate  so  zu  ordnen,  daß  ihre  ungehemmte 
nationale,  kulturelle  und  wirtschaftliche  Entwicklung  verbürgt  ist. 
Mag  es  schmerzlich  sein,  irredentistische  Utopien  aufzugeben,  das 
Leben  darf  noch  so  verlockenden  Träumen  nicht  geopfert  werden. 
Das  Zusammenleben  der  Nationen  in  Österreich  ist  aber  nur 
möglich,  wenn  jedem  Volke  volle  Autonomie,  volle  Selbständigkeit 
gewährleistet,  wenn  jede  nationale  Herrschaftsbestrebung  endgültig 
aufgegeben  wird.  Die  Deutschen  werden  nichts  dabei  verlieren, 
wenn  sie  aufhören,  die  Büttel  Altösterreichs  zu  sein,  wenn  sie  ihre 
nationale  Zukunft  als  erstes  unter  den  gleichberechtigten  Völkern 
aus  eigener  Kraft  gestalten.  Das  alte  Österreich  hat  die  Deutschen 
zu  Zwecken  mißbraucht,  denen  es  nicht  gewachsen  war,  hat  ihnen 
mehr  genommen  als  gegeben.  An  Stelle  des  altösterreichischen, 
leer  und  dekrepid  gewordenen  Staatsgedankens  muß  die  Solidarität 
national  freier  und  selbständiger  Völker  treten,  deren  Kraft  ent- 
fesselt, deren  Entwicklung  verbürgt  ist  durch  Autonomie  und 
Demokratie.  Österreich  wird  ein  demokratischer 
Nationalitätenstaat  sein,  oder  es  wird  nicht  sein. 
Der  Gedanke  der  nationalen  Autonomie  ist  von  der  Sozialdemo- 
kratie vor  zehn  Jahren  programmatisch  festgelegt  worden.  Seit- 
dem hat  er  einen  großen  Weg  gemacht,  ist  zum  Schlagwort 
deutscher  wie  tschechischer  nationaler  Bestrebungen  geworden; 
den  entscheidenden  Schritt  aber  hat  er  noch  zu  tun,  den  Schritt, 
der  die  Kronlandsgrenzen  endgültig  durchbricht  und  an  Stelle  der 
historischen  Gebilde  des  feudalen  Staatsrechtes  moderne  nationale 
Organisationen  setzt.  Heute  werden  die  bürgerlichen  nationalen 
Parteien,  Deutsche  wie  Slawen,  noch  stutzig  bei  dem  Gedanken 
der  Landeszerreißung,  während  sie  die  Zerreißung  der  Nation  in 
Kronlandsfetzen  geduldig  ertragen.  Aber  die  Zusammenfassung  der 
Nationen  liegt  in  der  Vernunft  der  Dinge;  die  Notwendigkeit  der 
Völker  wird  sich  durchsetzen.  Mit  dem  Parlament  des  gleichen 
Rechtes  ist  die  Möglichkeit  gegeben,  diese  Umwälzung  und  Neu- 
gestaltung Österreichs  zu  vollziehen.  Die  Sozialdemokraten  aller 
Nationen  in  Österreich  haben  diese  Neugestaltung  als  die  Lebens- 
bedingung des  Proletariats  erkannt,  sie  steht  an  der  Spitze  ihres 
Programms,  wie  die  Einheit  und  Freiheit  Deutschlands  an  der 
Spitze  des  Programms  der  jungen  deutschen  Sozialdemokratie 
stehen  mußte.  Genau  in  demselben  Sinne  wie  ihre  Brüder  im  Reiche 
sind  die  Sozialdemokraten  Österreichs  eine  Staatspartei.  In  der 
internationalen  Solidarität  der  Proletarier  aller  Zungen  in  Öster- 


Nach  der  Eroberung  des  Wahlrechtes.  4'** 

reich  verkörpert  sich,  und  vorläufig  in  Ihr  allein,  jene  Solidarität 
der  Interessen,  die  Österreichs  freie  Völker  in  ein  lebensfähiges, 
lebensmutiges  Staatsgebilde  zusammenfassen  wird. 

Noch  sind  wir  von  diesem  Ziele  weit  entfernt,  und  wenn  man 
•den  kläglichen  Zustand  der  bürgerlichen  Politik  aller  Nationen  vor, 
in  und  nach  den  Wahlen  betrachtet,  könnte  man  zaghaft  werden. 
Aber  jeder  Schritt  nach  vorwärts,  den  Österreich  in  den  letzten 
Jahren  politisch,  wirtschaftlich  oder  kulturell  gemacht  hat,  ist  mit 
dem  Namen  der  Sozialdemokratie  verknüpft,  und  sie  fühlt  sich  stark 
zu  jeder  Aufgabe,  die  ihr  die  Lebensnotwendigkeiten  des  Prole- 
tariats stellen. 

Freilich,  zunächst  sieht  das  neue  Abgeordnetenhaus  nicht  da- 
nach aus,  als  könnte  man  ihm  außerordentliche  Leistungen  zu- 
muten, und  ängstliche  Leute  zweifeln  daran,  ob  es  in  Gang  zu 
bringen  sein  wird.  Eine  Versammlung  von  nicht  weniger  als  fünf- 
hundertsechzehn Abgeordneten,  die,  wenn  sie  wollen  oder  nicht 
anders  können,  in  acht  verschiedenen  Sprachen  reden  dürfen,  eine 
Volksvertretung,  deren  Klassenscheidung  durchkreuzt  ist  durch  die 
nationale  Gliederung,  wodurch  ihre  Zersprengung  in  einige  Dutzend 
Parteien  erzeugt  wird  —  das  ist  von  vornherein  kein  leicht 
arbeitender  Organismus.  Erwägt  man,  daß  das  einzige  Erbe,  das 
das  neue  Parlament  vom  alten  übernommen  hat,  die  Tradition  der 
schlimmsten  Sitten,  der  unerhörtesten  Zuchtlosigkeit  und  eine 
schwerfällige,  veraltete  Geschäftsordnung  ist,  an  die  zu  rühren 
trotzdem  vorläufig  fast  unmöglich  ist,  so  begreift  man  die  schwere 
Sorge.  Es  wird  viel  Ausdauer,  Klugheit  und  Mut  notwendig  sein, 
um  die  eben  aufmontierte  Maschine  in  Gang  zu  bringen-  Der  Ver- 
band der  sozialdemokratischen  Abgeordneten,  der  mit  seinen  fünf 
nationalen  Gruppen  eine  kleine  Internationale  und  zugleich  ein 
Miniaturbild  des  künftigen  Österreichs,  gegründet  auf  Demokratie 
und  nationale  Autonomie,  darstellt,  wird  alles  tun  und  nichts 
unterlassen,  um  das  Haus  funktionsfähig  zu  machen.  Denn  die 
Sozialdemokratie  betrachtet  dieses  erste  Parlament  des  gleichen 
Rechtes  als  die  Werkstätte,  in  der  die  Zukunft  der  Völker  Öster- 
reichs, die  Zukunft  vor  allem  der  Arbeiterklasse  geschaffen  werden 
muß. 

Nach  der  Eroberung  des  Wahlrechtes. 

Parteibericht  —  Parteitag  190  7*). 

Die  Diskussion,  die  wir  jetzt  durchzuführen  haben,  erstreckt 
sich  über  einen  Zeitraum  von  nicht  weniger  als  drei  Jahren.  Die 
deutsche  Sozialdemokratie  in  Österreich  war  zum  letztenmal  vor 


*)  Der  Parteita«  fand  vom  30.  September  bis  4.  Oktober  1907  im 
Ottakringer  Arbeiterheim  in  Wien  statt.  Die  Beratungen  drehten  sich  selbst- 
verständlich vornehmlich  um  das  eben  errungene  allgemeine  Wahlrecht 
und  um  den  großen  Wahlsieg,  der  der  Partei  nicht  weniger  als  87,  darunter 
50  Mandate  der  deutschen  Sozialdemokraten  gebracht  hatte,  wozu  übrigens 
spater  von  Innsbruck  und  Freiwaldau  noch  zwei  weitere  kamen.  Zu  den 


494  Die  ersten  Wahlen  zum  Volkshaus. 

drei  Jahren  in  Salzburg  zusammengekommen  und  es  ist  eigentlich 
verwunderlich,  daß  niemand  hier  heraufgekommen  ist  und  der 
Parteivertretung  darüber  Vorwürfe  gemacht  hat,  daß  der  deutsche 
Parteitag  nicht  jetzt  vor  einem  Jahre  schon  stattgefunden  hat; 
denn  nach  unserem  Organisationsstatut  mußten  wir  jetzt  vor  einem 
Jahre  zum  Parteitag  zusammenkommen.  Die  Parteivertretung,  die 
in  Salzburg  gewählt  wurde,  hat  ihr  Mandat  um  ein  volles  Jahr 
überschritten  und  nach  unserer  Konstitution  waren  wir  absolut 
nicht  mehr  berechtigt,  die  Geschäfte  zu  führen.  Wir  haben  unsere 
Befugnisse  direkt  überschritten.  Wir  hätten  uns  bereits  heute  vor 
einem  Jahre  der  Neuwahl  unterziehen  müssen.  Es  ist  aus  der  Mitte 
der  Partei,  weder  in  der  Presse,  noch  hier  auf  dem  Parteitag,  noch 
sonst  irgendwo  auch  nur  ein  Wort  darüber  gesprochen  worden. 
Die  gesamte  Partei  hat  begriffen,  daß  im  vorigen  Jahr  keine  Zeit 
dazu  war  und  keine  Möglichkeit,  sich  zusammenzusetzen  und  Er- 
örterungen über  Parteitaktik  zu  pflegen,  daß  wir  nicht  in  der  Lage 
waren,  Parteigesetze  zu  machen,  sondern  daß  wir  Parteipolitik, 
und  zwar  Parteipolitik  in  konzentriertester  Weise  machen  müssen. 
Ich  erwähne  das  auch  nur  deshalb,  um  den  Genossen  in  Erinnerung 
zurückzurufen,  daß  diese  drei  Jahre  zu  den  Erlebnissen  gehören, 
die  Leuten,  die  in  der  Bewegung  stehen,  wohl  nur  einmal  im  Leben 
passieren;  daß  diese  drei  Jahre  eine  Zeit  waren,  die  uns  nicht  nur 
unvergessen  bleiben  wird,  sondern  die  den  vollen  Ausdruck  der  ge- 
samten Fähigkeit  und  Leistung,  die  die  österreichische  Arbeiter- 
schaft aufzubringen  vermag,  gebracht  hat.  Wir  hätten  einen  parla- 
mentarischen Bericht  zu  bringen  über  die  Arbeit,  die  unsere 
Fraktion  im  alten  Parlament  geleistet  hat,  und  einen  zweiter  Be- 
richt über  die  Leistung  der  Fraktion  im  neuen  Parlament.  Unser 
Referent  hat  in  kurzen  Zügen  insbesondere  von  diesem  neuen 
Parlament  gesprochen.  Ich  halte  es  jedoch  für  unsere  Pflicht,  daß 
wir  der  Fraktion,  die  unter  den  allerschwierigsten  Umständen,  eine 
ganz  kleine  Gruppe  von  Leuten,  im  alten  Parlament  ihren  Mann  ge- 
stellt hat,  und  wie  der  Erfolg  beweist,  mit  Glück  und  mit  Umsicht 
operiert  hatten,  unsere  Anerkennung  ausdrücken.  Ich  kann  das  tun, 
da  ich  zwar  selbst,  wie  ich  mich  gerade  erinnere,  auch  Mitglied 
dieser  alten  Reichsratsfraktion  war,  aber  es  so  spät  geworden  bin, 
daß  niemand  vermuten  wird,  daß  ich  nicht  in  dieser  Beziehung 
objektiv  wäre. 

Die  gesamte  Arbeit,  die  vor  uns  liegt  und  die  wir  zu  beurteilen 
haben,  teilt  sich  in  zwei  Gruppen:  Wahlrechtskampf  und  Wahl- 
kampf. Wir  dürfen  nicht  einen  Moment  darüber  im  unklaren  sein: 
alles,  was  die  alte  Fraktion  und  die  gesamte  Partei  bis  zum  vorigen 
Jahre  gemacht,  war  ausschließlich  zu  beurteilen  von  dem  Stand- 
punkt, inwiefern  sie  die  Wahlreform  gefördert  hat.  Wir  haben  nie- 


Berichten,  die  für  die  Parteivertretung  S  k  a  r  e  t  und  Ellenbogen,  für 
die  Parlamentsfraktion  R  i  e  g  e  r  erstattete,  sprach  auch  Adler,  der  einen 
Rückblick  über  die  letzten  Phasen  des  Wahlrechtskampfes  gab.  Adler 
referierte  dann,  noch  über  die  „nächsten  Aufgaben  im  Parlament",  worüber 
im  achten  Band  „Österreichische  Politik"  (Seite  283)  berichtet  ist. 


Nach   der    Eroberung   des   Wahlrechtes.  495 


mals  alle  unsere  andern  Aufgaben  Übersehen,  aber  unsere  Partei- 
taktik im  Parlament  und  außerhalb  des  Parlaments  ist  ausschließ- 
lich diesem  Gesichtspunkt  untergeordnet  gewesen,  und  wenn  Ge- 
nosse Rieger  sagtj  wir  haben  zwei  Gesichtspunkte  zu  beobachten: 

erstens  parlamentarische  Politik  zu  machen,  jeden  Vorteil  zu  er- 
greifen, der  für  das  Proletariat  zu  haben  ist,  und  zweitens  ängstlich 
darauf  zu  seilen,  daß  die  prinzipielle  Haltung  der  Partei  durch 
diesen  Opportunismus  nicht  etwa  Schaden  leide,  so  sage  ich  und 
Sie  sagen  es  gewiß  mit  mir  alle,  wir  haben  niemals  Grund  zur 
Angst  gehabt,  wir  haben  niemals  zu  fürchten  gehabt,  daß,  indem 
wir  dem  Proletariat  kleine  oder  große  Vorteile  erobern,  indem  wir 
ihm  Schritt  für  Schritt  den  Weg  bereiten,  daß  wir  dadurch  uns  von 
unserem  Endziel  irgendwie  entfernten.  Die  österreichische  Sozial- 
demokratie hat  schon  schwierigere  Zeiten  gehabt  als  heute.  Wir 
haben  das  in  Stuttgart,  ich  möchte  sagen,  mit  Händen  greifen  oder, 
sagen  wir,  mit  eigenen  Ohren  hören  können,  die  österreichische 
Sozialdemokratie  genießt  heute  im  Ausland  durch  den  Erfolg,  den 
wir  davongetragen,  ein  vermehrtes  Ansehen,  und  ich  bin  der  letzte, 
der  daran  mäkeln  wollte,  daß  dieses  Ansehen  ein  verdientes  ist. 
Aber  ich  möchte  Sie  davor  warnen  —  und  jeder  von  uns  hat  der- 
artige Anwandlungen  — ,  daß  wir  diesen  Erfolg,  den  uns  eine  Reihe 
von  günstigen  Umständen,  die  wir  allerdings  gut  zu  benützen  ge- 
wußt haben,  gebracht  hat,  und  unseren  eigenen  Anteil  daran  allzu 
hoch  in  dem  Sinne  anschlagen,  daß  wir  eben  meinten,  mit  unserer 
Klugheit  sei  es  so  weit  her  und  unsere  kluge  Taktik  und  unser  Elan 
sei  ein  so  großer,  daß  auch  die  vor  uns  liegenden  Aufgaben  immer 
mit  demselben  Glück  und  demselben  Erfolg  und  ebenso  schnell  be- 
wältigt sein  könnten.  Ich  gestehe,  es  ist  mir  etwas  ängstlich  ge- 
worden mitunter,  wenn  ich  draußen,  insbesondere  bei  den 
deutschen  Genossen,  gehört  habe,  daß  sie  finden,  daß  wir  so  be- 
sonders gescheit  sind,  und  als  der  Genosse  Fischer  uns  heute  früh 
gesagt  hat:  „Bis  jetzt  haben  die  Österreicher  immer  gesagt,  daß 
sie  von  deutschen  Sozialdemokraten  lernen,  nun  wollen  die  Deut- 
schen anfangen,  von  den  österreichischen  Genossen  zu  lernen"  — 
da  ist  es  mir  ein  bißchen  ängstlich  geworden.  Ich  finde,  daß  wir 
uns  viel  besser  ausnehmen  als  die  Schüler  denn  als  Lehrmeister, 
und  ich  finde,  daß  wir  gar  nichts  lehren  können  und  daß  eine 
Leistung  für  uns  im  gegebenen  Moment  unter  bestimmten  Verhält- 
nissen in  Österreich  möglich  ist,  daß  es  aber  eine  Torheit  ist,  der- 
artige Dinge  auf  andere  Länder  und  andere  Lagen  zu  übertragen. 
Im  Gegenteil!  Wenn  ich  auf  unsere  Organisation  sehe,  wenn  ich  — 
bei  allem  Respekt  vor  ihren  Leistungen  —  auf  unsere  Presse  sehe, 
wenn  ich  auf  den  Stand  unserer  geistigen  Parteientwicklung  sehe, 
da  sage  ich  mir:  Wir  haben  in  dem  Wahlrechtskampf  nicht  nur 
Opfer  gebracht  an  Mut,  an  Ausdauer  und  Hingebung,  sondern  wir 
haben  auch  einen  guten  Teil  Kraft  in  diesem  Kampfe  verbraucht, 
der  uns  für  unsere  innere  Entwicklung,  unser  inneres  Wachstum 
schmerzlich  abgeht.  „Von  uns  kann  man  viel  lernen!"  —  mag  sein; 
«I  her  wir  h  a  b  e  n  sehr  viel  zu  lernen.  (Sehr  richtig!)  Hier 


496  Die  ersten  Wahlen  zum  Volkshaus. 

ist  ein  Parteibericht  gebracht  worden.  Ich  bin  vollständig  einver- 
standen; aber  Sie  werden  sich  selber  sagen,  wie  ungeheuer  viel 
uns  fehlt. 

Im  Wahlkampf  haben  wir  gesehen,  daß  es  Schichten  im  Prole- 
tariat gibt  in  weitem  Umfang,  die  empfänglich  sind  für  unsere 
Agitationstätigkeit  und  denen  wir  bisher  gar  nicht  nahekommen 
konnten  mit  intensiver  sozialdemokratischer  Erziehung.  Wir 
müssen  sagen,  es  ist  nicht  nur  in  den  letzten  drei  Jahren  allein, 
sondern  schon  viel  länger  ist  die  Kraft  der  Partei  nach  außen  auf- 
gebraucht worden  mit  Hintansetzung  der  intensiven  Arbeit  nach 
innen.  Ich  glaube,  es  ist  gut,  wenn  wir  uns  das  selbst  sagen,  daß 
nicht  den  einzelnen  die  Schuld  trifft  und  daß  wir  erkennen,  daß 
heute  die  erste  Ruhe,  die  kommt,  die  erste  Möglichkeit,  die  wir 
haben,  Hand  anzulegen  an  die  Reform  der  Partei  im  Innern,  auch 
dazu  benützt  werden  muß.  (Beifall.) 

Wir  haben  Fortschritte  gemacht,  gewiß.  Es  sitzt  hier  eine  An- 
zahl Frauen  als  Delegierte,  wir  haben  jugendliche  Organisationen 
und  wir  wünschen  diese  Fortschritte,  die  Einbeziehung  dieser 
neuen  Elemente.  Aber,  Parteigenossen,  alles,  was  wir  uns  an- 
gegliedert haben  als  Genossen,  was  wir  den  Gewerkschaften  in 
dieser  riesigen  Entwicklung  an  proletarischer  Organisation  an- 
gegliedert haben,  sind  heute  im  alten  Sinne  der  Partei  durchaus 
nicht  durchgebildete  Parteigenossen,  wie  wir  sie  haben  müssen. 
(Der  Vorsitzende  gibt  das  Glockenzeichen,  daß  die  Redezeit  ab- 
gelaufen ist.) 

Ich  höre  schon;  ich  möchte  in  etwas  unvermitteltem  Anschluß 
noch  etwas  anregen,  was  ich  für  sehr  notwendig  halte.  Es  wurde 
beim  Bericht  über  die  parlamentarische  Tätigkeit  die  Herausgabe 
eines  Handbuches  für  die  Agitation  angeregt.  Mir  liegt  etwas  am 
Herzen,  was  die  Partei  braucht  und  immer  mehr  brauchen  wird 
und  was  wir,  wenn  wir  es  nicht  bald  in  Angriff  nehmen,  überhaupt 
nicht  mehr  machen  können.  Wir  werden  älter  und  sind  keine  junge 
Partei  mehr.  Wir  kommen  alle  schon  mehr  und  mehr  ins  Mittel- 
alter und  die  Partei  hat  eine  Parteigeschichte  hinter  sich,  für  die 
es  keine  Geschichtsschreibung  gibt,  und  wenn  wir  paar  alten  Leute 
hin  sein  werden,  wird  euch  niemand  mehr  sagen  können,  wie  es 
einmal  war  — ■  ich  meine  nicht  eine  Geschichtsschreibung  zur  Er- 
höhung und  Erbauung,  sondern  die  wirkliche  Feststellung  der  Tat- 
sachen. Ich  habe  daher  den  Antrag  eingebracht:  Die  Partei- 
vertretung wird  beauftragt,  die  Dokumente  zu  sammeln  und  die 
Vorkehrungen  und  Vorbereitungen  zu  treffen,  urn  eine  Geschichte 
der  österreichischen  Sozialdemokratie  in  einer  dieser  Geschichte 
würdigen  Weise  herzustellen*).  (Beifall.) 

*)  Der  Antrag  lautete  wörtlich  folgendermaßen: 

Die    Parteivertretung     wird    beauftragt,     alle     Vorbedingungen    zu 
schaffen,   um    die   Verfassung    einer    Geschichte    der    österreichischen 
Sozialdemokratie  zu  ermöglichen,  indem  sie  das  Material  sammelt  und 
eine   geeignete  Kraft   mit  dieser  Arbeit  beauftragt. 
Der  Antrag  wurde  der  Parteivertretung  zugewiesen. 


I 


Bericht  an  die   Internationale.  497 

Bericht  an  die  Internationale. 

Internationaler    Kongreß,    Stuttgart,     18.   August 

1  9  0  7*). 

Wenn  wir  Österreicher  zu  euch  kommen,  fühlen  wir  uns  immer  so 
zu  Hause  —  wie  zu  Hause.  r:s  geht  uns  Sozialdemokraten  zwar  überall 
so.  Aber  drüben  im  Kongreßsaal  ist  mir  doch  ganz  merkwürdig  zu- 
mute geworden.  Napoleon  I.  hat  sich  einmal  in  Erfurt  ein  Theater 
eingerichtet  mit  einem  ganzen  Parterre  von  Königen.  Gebändigte, 
unterdrückte  Königlein,  die  vor  dem  mächtigen  Eroberer  auf  dem 
Bauche  lagen.  Wir  zeigen  der  Welt  ein  viel  größeres  Schauspiel, 
ein  Schauspiel,  wie  es  die  Welt  noch  nicht  gesehen:  ein  Parterre 
von  Kämpfern,  von  denen  jeder  ein  Leben  voll  Aufopferung,  voll 
Begeisterung,  voll  Hingebung  darstellt.  Österreich  ist  ein  armes 
Land  und  wenn  Ihr  von  Österreich  redet,  pfleget  Ihr  die  Achseln  zu 
zucken:  ach,  das  wilde  Land!  (Heiterkeit.)  Aber  ich  kann  euch  be- 
richten, so  schlimm,  wie  es  einmal  war,  ist  es  heute  nicht  mehr. 
Was  durch  Jahrhunderte  von  einem  verrotteten  Regime  an  den 
Völkern  Österreichs  verbrochen  wurde,  von  einem  beutegierigen 
Adel  und  dann  vom  modernen  Geldsack,  das  ist  zum  Teil  durch 
das  moderne  Proletariat  gutgemacht  worden;  ein  Proletariat,  das 
einen  schweren  Kampf  führt,  aber  ihn  als  einen  Kampf  um  sein 
Leben  führen  muß!  Wir  haben  zugleich  mit  euch  Württembergern 
das  Wahlrecht  errungen;  allerdings  war  es  ein  bißchen  schwerer 
bei  uns.  Wie  groß  der  Widerstand  bei  euch  gewesen  sein  mag,  von 
der  Gewalt  der  alten  reaktionären  Mächte  in  Österreich  habt  Ihr 
doch  keinen  Begriff.  Endlich  nach  langem  Kampf  kam  für  uns  der 
Augenblick,  wo  die  Vernunft  siegen  mußte.  Man  hat  uns  das  Wahl- 
recht nicht  bloß  deshalb  gegeben,  weil  wir  so  stark  waren,  sondern 
weil  der  Staat  am  Verrecken  war  (Heiterkeit).  Überall,  wo  Wahn- 
sinn herrscht,  da  stellt  die  Sozialdemokratie  allein  die  Logik,  die 
Vernunft,  die  Notwendigkeit  dar.  Die  Worte,  wegen  deren  wir  jahre- 
lang verfolgt,  auf  Monate  und  Jahre  in  Kerker  geworfen  worden 
waren,  haben  wir  uns  nun  auf  einmal  von  den  Herren  Ministern  als 
neueste  Weisheit  sagen  lassen  dürfen  (Beifall),  und  schließlich  hat 
auch  der  alte  Kaiser  eingesehen,  daß  die  Demokraten,  auf  die  er 


*)  Auf  dem  Internationalen  Sozialistenkongreß,  der  vom  18.  bis 
24.  August  1907  in  Stuttgart  stattfand,  also  bald  nach  den  österreichischen 
Wahlen,  wurden  die  österreichischen  Sozialdemokraten  als  Sieger  begrüßt. 
August  B  e  b  e  1  leierte  unter  stürmischem  Beifall  den  Sieg.  „Unsere  öster- 
reichischen Genossen,  die  jahrelang  mit  Heroismus  und  Begeisterung  den 
Kampf  um  das  Stimmrecht  geführt  hatten,  sie  zogen  mit  87  Genossen  als 
stärkste  sozialistische  Fraktion  der  Welt  in  das  österreichische  Parlament 
ein."  Die  Eröffnung  des  Kongresses  war  am  Sonntag  den  18.  August  vor- 
mittags. Am  Nachmittag  um  halb  5  Uhr  fand  auf  dem  Cannstätter  Wasen 
ein  Riesenmeeting  statt,  auf  dem  die  Redner  der  Internationale  von  sechs 
Tribünen  aus  in  allen  Sprachen  sprachen.  Auf  der  vierten  Tribüne  sprach 
auch  Adler,  der  einen  Rückblick  auf  die  Wahlrechtsbewegung  gab.  Seine 
Rede   wurde   mit  stürmischem   Beifall   aufgenommen. 

Adler,  Briefe.  X.  Bd.  32 


496  Die  ersten  Wahlen  zum  Volkshaus. 

sonst  nicht  zu  hören  gewohnt  war,  recht  haben  (Heiterkeit)  — ,  und 
zusammen  haben  wir  die  Sache  fertiggebracht.  (Lebhafte  Heiter- 
keit.) Dann  mußten  wir  allerdings  noch  ein  volles  Jahr  Gewehr  bei 
Fuß  stehen,  in  jedem  Moment  bereit,  loszuschlagen.  Das  Wahlrecht 
in  Österreich  wurde  nicht  im  Parlamente  erkämpft,  sondern  auf  den 
Straßen  der  Städte  Österreichs.  (Lebhafter  Beifall.)  Wir  danken  der 
deutschen  Sozialdemokratie  die  Erziehung,  den  Rat  bei  den  erster; 
Schritten,  wir  haben  von  ihr  auch  gelernt  besonnen  zu  sein  und  klar 
über  das  Ziel  weiter  zu  marschieren.  Der  Sieg  bei  den  letzten 
Wahlen  ist  die  Frucht  von  jahrelanger  prinzipieller  Erziehung  der 
Massen.  Vormals  hieß  es  bei  uns  ikeineRuheinÖsterreich, 
bis  das  allgemeine  Wahlrecht  errungen  ist!  Jetzt 
haben  wir  das  Wahlrecht  —  und  nun  erst  recht  keine 
Ruhe!  (Stürmischer  Beifall.) 


Die  erste  Wahlrechtsresolution.  499 


Anhang. 

Die  erste  Wahlrechtsresolution*). 

In  Erwägung,  daß  das  heutige  Wahlsystem  für  alle  Vertretungs- 
körper die  politischen  Rechte  zu  einem  ausschließlichen  Monopol 
der  besitzenden  Klassen  macht, 

daß  so  die  Arbeiterklasse  Österreichs  nicht  nur  der  wirtschaft- 
lichen Ausbeutung,  sondern  ebenso  der  politischen  Unterdrückung 
wehrlos  preisgegeben  ist, 

daß  weiter  die  Interessen  der  großen  Majorität  des  Volkes  in 
Parlament,  Landtag  und  Gemeinderat  keinerlei  Vertretung  noch 
Berücksichtigung  finden, 

daß  aber  auch  durch  diese  Beschränkung  der  politischen  Be- 
tätigung auf  die  privilegierten  Volksklassen  das  ganze  politische 
Leben  Österreichs  versumpft  und  verkleinlicht  wird  und  die  großen 
weltbewegenden  wirtschaftlichen  Fragen  nicht  zum  Ausdruck 
kommen  können, 

erklärt  die  heutige  Versammlung: 

das  bestehende  Wahlsystem  mit  den  Privilegien  des  Groß- 
grundbesitzes, der  Handelskammern,  mit  seiner  ungleichen  Ver- 
teilung des  Wahlrechtes  und  seiner  Entziehung  desselben  für  die 
gesamte  Arbeiterklasse  legt  alle  politische  Macht  in  die  Hand 
kleiner  egoistischer  Interessengruppen  und  ist  deshalb  volksfeind- 
lich und  verwerflich; 

das  einzige,  der  heutigen  politischen  Entwicklung  angemessene 
Wahlsystem  ist  das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht  in 
alle  Vertretungskörper  in  Staat,  Land,  Bezirk  und  Gemeinde  für  alle 
Staatsbürger  ohne  Unterschied  des  Geschlechtes  vom  21.  Jahre  an. 


*)  Die  erste  Resolution  für  das  allgemeine  Wahlrecht,  die  Victor  Adler 
verfaßt  haben  dürfte,  war  für  die  Versammlung,  die  am  Sonntag  den 
16.  November  1890  in  Schwenders  Kolosseum  stattfand,  bestimmt.  Über 
diese  Versammlung  ist  ausführlich  im  8.  Heft  dieser  Ausgabe,  Seite  361 
bis  366,  berichtet.  Sie  war  vom  „Demokratischen  Zentralverein",  dessen 
Obmann  Dr.  Kronawetter  war,  einberufen,  und  die  Redaktion  der 
„Arbeiter-Zeitung"  fügte  der  Ankündigung  in  der  Nummer  46  vom 
14.  November  1890  folgende  Bemerkung  hinzu:  „Zu  dieser  Versammlung 
sind  uns  eine  Anzahl  Einladungskarten  zur  Verfügung  gestellt  worden. 
Wir  sind  der  Ansicht,  dali  wenn  eine  Versammlung  mit  der  Tagesordnung 
Allgemeines  Wahlrecht«  stattfindet  —  von  wem  immer  sie  ein- 
berufen sein  mag       ,  die  Arbeiter  Wiens  dabei  nicht  fehlen  dürfen,  sondern 

M2* 


500  Anhang. 

Der  erste  Wahlaufruf  in  der  fünften 

Kurie*). 

Parteigenossen! 

Zum  erstenmal  tritt  die  Sozialdemokratie  Österreichs  in  den 
Wahlkampf.  Dem  Opfermut  und  der  Zähigkeit  des  klassenbewußten 
Proletariats  haben  es  die  bisher  rechtlosen  Massen  zu  danken,  daß 
ihnen  ein  Stück  Recht  geworden,  daß  sie  zum  erstenmal  mit  dem 
Stimmzettel  in  der  Hand  das  wichtigste  politische  Recht  ausüben 
können.  Nun  gilt  es  die  erkämpfte  Waffe  zu  gebrauchen,  gilt  es 
dafür  zu  sorgen,  daß  im  neuen  Parlament  das  Recht  des 
Volkes,  das  Interesse  der  Arbeiterklasse  eine  Ver- 
tretung finde.  Die  einzige  Tribüne  in  Österreich,  die  frei  ist  von 
Polizeiaufsicht,  muß  von  der  Sozialdemokratie  erobert  werden,  um 
rücksichtslos  die  reine  und  die  ganze  Wahrheit  zu  sagen,  um  dort, 
wo  man  bisher  ohne  die  Arbeiter  gegen  die  Arbeiter  Gesetze 
machte,  auszusprechen,  was  das  arbeitende  Volk  leidet,  was  es 
braucht  und  was  es  will. 


ihre  Stimme  vernehmen  lassen  müssen.  Deshalb  ist  zahlreiches  und  pünkt- 
liches Erscheinen  erwünscht  und  notwendig."  Aus  dieser  „Plenarversamm- 
lung",  die  unter  anderen  Umständen  eine  Tischgesellschaft  gewesen  wäre, 
wurde  eine  Massenversammlung.  Selbstverständlich  war  das  Arrangement 
in  allen  Einzelheiten  mit  Dr.  Kronawetter  vereinbart,  um  so  nach  der  Auf- 
lösung des  Vereines  „Wahrheit"  den  Arbeitern  eine  Möglichkeit  zu  geben, 
sich  zu  versammeln.  Auch  die  Resolution,  die  Dr.  Kronawetter  vor- 
legte, ging  aus  einem  Entwurf  hervor,  den  Victor  Adler  ausarbeitete. 
Dieser  Entwurf  hat  sich  in  seinem  Nachlaß  gefunden  und  wir  sehen,  welche 
Änderungen  Dr.  Kronawetter  vorgenommen,  wenn  wir  den  schließlich  von 
diesem  vorgelegten  Text,  der  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  21.  November 
1890  abgedruckt  ist,  mit  Adlers  Entwurf  vergleichen.  Die  Umarbeitung 
Kronawetters  ging  darauf  aus,  an  Stelle  der  Betonung  der  Klasseninter- 
essen der  Arbeiter  allgemein-demokratische  Gesichtspunkte  zu  setzen. 
Da  der  Entwurf  Adlers  wohl  der  erste  ist,  in  dem  positiv  von  ihm  die 
Forderung  des  allgemeinen  Wahlrechtes  in  einer  Resolution  vertreten 
wurde,  geben  wir  diesen  Resolutionsentwurf  aus  dem  Manuskript  wieder. 

*)  Dieser  Wahlaufruf,  der  von  der  Gesamtvertretung  der  öster- 
reichischen Sozialdemokratie  zu  den  ersten  Wahlen  der  fünften  Kurie 
erlassen  wurde  und  der  auch  die  Namen  aller  Kandidaten  in  ganz  Öster- 
reich enthält,  ist  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  26.  Jänner  1897  veröffent- 
licht. Er  konnte  bisher  als  ein  gemeinsames  Werk  des  Parteivorstandes 
angesehen  werden,  an  dem  Victor  Adler  nur  die  wichtigste  Arbeit  ge- 
leistet hätte.  Nun  hat  sich  während  des  Druckes  in  der  reichhaltigen 
Manuskriptsammlung  des  Genossen  Karl  Keller,  des  ehemaligen 
Metteurs  der  „Arbeiter-Zeitung",  das  Manuskript  dieses  Aufrufes  gefunden, 
das  ganz  von  der  Hand  Adlers  herrührt,  so  daß  also  die  Autorschaft 
Adlers  feststeht.  Der  Aufruf  wird  also  wenigstens  im  Anhang  zu  diesem 
Band  abgedruckt. 

Über  den  Ausgang  der  Wahlen  siehe  den  Artikel  Adlers  „Die  Nieder- 
lage vom  9.  März  1897"  und  seine  Rede  auf  dem  Parteitag  1897  (Band  VIII, 
Seite  367  f.  und  3701). 


Der  erste  Wahlaufruf  in  der  fünften  Kurie.  '>oi 


Der  Kampf  wird  heiß  werden.  Wir  haben  gegen  uns  eine  Regie- 
rung, die  nur  gezwungen  und  widerwillig  kaum  noch  die  gesetz- 
lichen Formen  respektiert  und  die  alles  daransetzen  wird,  von  der 
Gesetzgebung  die  Sozialdemokraten  fernzuhalten,  von  denen  sie 
weiß,  daß  sie  weder  einzuschüchtern  noch  zu  ködern  sind,  Gegen 
uns  steht  das  bunte  Gewimmel  der  reaktionären  Parteien,  die,  so 
vielfältig  auch  ihre  Namen  und  ihre  Phrasen  seien,  gemeinsam 
gegen  die  Sozialdemokratie  vorgehen  werden.  Hinter  der  volks- 
freundlichen  Maske  wird  allmählich  das  wahre  Gesicht,  die  Fratze 
der  allmächtigen  Dreiheit:  Grundadel,  Geld  sack  und 
P  f  a  f  f  e  r  e  i  sichtbar.  Der  Wahlkampf  wird  ein  Kampf  der  ver- 
einigten Ausbeuter  gegen  das  unter  der  roten  Fahne  geeinigte  aus- 
gebeutete Volk  sein.  Unsere  Feinde  haben  der  Arbeiterklasse  das 
Wahlrecht  erst  verweigert,  dann  verfälscht  und  jetzt  suchen  sie  es 
unwirksam  zu  machen. 

Aber  die  Arbeiterklasse  Österreichs  ist  erwacht,  sie  durchschaut 
die  „liberale"  Lüge,  die  „nationale"  Phrase  wie  die  „christlich- 
soziale" Heuchelei  und  sie  wird  am  Tage  der  Wahl  zeigen,  daß  sie 
mündig  ist. 

Die  Sozialdemokratie  ist  sich  bewußt,  daß  sie  nicht  nur  die 
Klasseninteressen  des  Proletariats  zu  vertreten  hat*),  sondern  daß 
sie  die  berufene  Wortführerin  alier  Unterdrückten  und  Bedrängten, 
der  einzige  unbeugsame  Vorkämpfer  der  Kultur  und  Gesittung  ist. 
Im  Augenblick,  wo  der  Erbfeind  des  Fortschrittes  und  der  Freiheit 
sich  zu  einem  frechen  Attentat  auf  die  Schule  rüstet**)  findet  er  beim 
Bürgertum  nur  matten  und  feigen  Widerstand.  Durch  kleinlichen 
nationalen  Zwist  geschwächt  und  zerrissen  geben  die  bürgerlichen 
Parteien  die  gemeinsamen  Interessen  aller  Nationen  preis.  Die 
internationale  Sozialdemokratie  aber  weiß,  daß  der  Kampf  gegen 
das  international  verbundene  Kapital,  gegen  den  gemeinsamen 
Feind  aller  Völker  nur  geführt  werden  kann  in  brüderlicher  Soli- 
darität der  Unterdrückten  aller  Nationen  und  daß  die  Selbständig- 
keit und  Entwicklung  des  eigenen  Volkes  durch  nichts  mehr  be- 
droht ist  als  durch  die  Unterdrückung  des  Brudervolkes. 

In  geschlossenen  Reihen  wird  das  Proletariat  aller  Zungen 
darum  in  den  Kampf  treten  um  sein  heiliges  Recht,  um  die  Be- 
freiung vom  Sklavenjoch  des  Kapitalismus,  um  die  Zukunft  seiner 
Kinder. 

Parteigenossen!  Von  den  wenigen  Wochen,  die  uns  vom  Wahl- 
tag trennen,  gilt  es  jede  Stunde  auszunützen,  mit  verdreifachtem 
Eifer,  mit  unerschütterlichem  Mut  und  mit  eiserner  Pflichttreue  zu 
arbeiten.  Wir  haben  die  schmähliche  Ungerechtigkeit  des  Gesetzes 
wettzumachen  und  die  Dürftigkeit  ihrer  Mittel  durch  opferwillige 
Anspannung  zu  ersetzen.     Jeder  Genosse  und  jede  Genossin  muß 

*)  In  dem  veröffentlichten  Aufruf,  wie  er  auch  bei  Brügel  abgedruckt 
ist,  heißt  es  hier:  „Die  Sozialdemokratie  ist  sich  bewußt,  daß  ihre  Auf- 
Kabe  nicht  nur  ist,  die  Klasseninteressen  des  Proletariats  zu  vertreten, . . ." 

**)  Im  niederösterreichischen  Landtag  war  eben  ein  christlichsozialer 
Antrag  auf  Verschlechterung  des  Schulgesetzes  eingebracht  worden. 


502  Anhang. 

unermüdlich  werben  für  unsere  große  Sache,  muß  pünktlich  und 
gewissenhaft  die  notwendige  Arbeit  verrichten,  deren  Gelingen 
allein  uns  Erfolg  bringen  kann.  Von  eurem  verständnisvollen, 
mutigen  und  tatkräftigen  Eingreifen  allein  hängt  es  ab,  ob  die  Ge- 
lüste der  Ausbeuterschaft,  die  Pläne  der  Finsterlinge  Widerstand 
finden  werden.  An  euch  ist  es,  Genossen,  dafür  zu  sorgen,  daß 
zum  erstenmal  in  Österreich  wirkliche  Volksvertreter 
ins  Parlament  einziehen. 

Die  österreichische  Arbeiterschaft  wird  zeigen,  daß  sie  den 
ehrenvollen  Platz,  den  sie  sich  in  der  Schlachtreihe  des  kämpfenden 
Proletariats  aller  Länder,  dessen  Augen  heute  auf  uns  gerichtet 
sind,  erworben,  auch  zu  behaupten  weiß,  daß  sie  würdig  ist  des 
internationalen  Bundes  zur  Befreiung  der  Menschheit. 

Parteigenossen!  Die  Männer,  die  von  den  Organisationen  als 
Kandidaten  aufgestellt  sind  und  für  deren  Wahl  zu  wirken  wir  euch 
auffordern,  sind  euch  als  erprobte  und  unerschrockene  Kampf- 
genossen bekannt.  An  euch  liegt  es,  sie  in  den  Stand  zu  setzen,  mit 
doppeltem  Erfolg  der  großen  heiligen  Sache  zu  dienen,  der  wir  alle 
unsere  ganze  Kraft,  unser  Leben  geweiht  haben. 

Und  nun  ans  Werk!  Jede  einzelne  sozialdemokratische  Stimme 
bedeutet  einen  Protest  gegen  die  elenden  Zustände  unseres  Landes, 
in  die  die  Habgier  und  die  Feigheit  der  Besitzenden  es  gestürzt 
haben,  sie  bedeutet  aber  auch  einen  Schritt  weiter  auf  dem  Wege 
zur  Befreiung. 

Wir  wollen  dem  roten  Banner  Ehre  machen  und  dem  Feldruf: 
Freiheit,  Gleichheit,  Brüderlichkeit! 

Es  lebe  die  internationale  Sozialdemokratie! 


Victor    Adlers    erste    \\  alilieclitsiesoliilion.    (Siehe    Seite    499.) 


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Der  erste  Wahlaufruf. 

Erste   und   letzte    Seite    des    Manuskriptes   des    Wahlaufrufes    ZU    den    ersten 
Wahlen  in   die   fünfte    Kurie   (siehe   Seite   500  f.)  stark   verkleinert. 

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Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Vorwort       5 

Von  Taufte  bis  B  a  d  e  n  i. 

Das    allgemeine,    gleiche    und    direkte    Wahlrecht    und    das    Wahl- 
unrecht in  Österreich  (Wiener  Politische  Volksbibliothek,  Heft  4)      9 
Die   Frage   der  Arbeiterkammern   in   Hainfeld     (Parteitag   Hainfeld 

1888/89) 65 

Die  Liberalen  und  das  allgemeine  Wahlrecht  („A.-Z.",  31.  Oktober 

1890) 76 

Berichte  an  die   Internationale   (Brüssel    1891) 80 

—   (Zürich   1893)      90 

Taaffes  Sturz  und  die  Koalition  (Parteibericht,  Parteitag  1894)    .   .    97 
Das  allgemeine  Wahlrecht  und  die  Liberalen  („A.-Z.",  2.  Juni  1893)  106 

Eine  Frage  an  die  Rechtlosen  („A.-Z.",  9.  Juni  1893) 112 

Das  erste  Wahlrechtsmeeting  (Versammlung,  9.  Juli  1893)    .    .   .    .114 
Taaffes  Wahlreform  (Versammlung,  Sophiensaal,  16.  Oktober  1893)  .  117 

Vor  dem  Sturz  Taaffes  (Versammlung,  30.  Oktober  1893) 128 

Regierung,  Parlament  und  Wahlreform  (Versammlung,  5.  November 

1893)      133 

Der  Berliner   „Vorwärts"  über   Österreich   („A.-Z.",   14.   November 

1893)     .       134 

Massenstreik  und  Organisation  (Metallarbeiterversammlung,  9.  De- 
zember  1893) 141 

Gewerkschaft  und   Wahlrecht   (Gewerkschaftskongreß    1893)     .   .    .  144 
Die    Erklärung    der    Koalitionsregierung    (Versammlung,    Sophien- 
saal, 3.  Dezember  1894) 146 

Der  gegenwärtige  Stand  der  Wahlreform  (Versammlung,  Schwen- 
der,   14.   Dezember    1894) 147 

Vier  Vorschläge   (Versammlung,   10.  Februar  1895) 149 

Die  Koalitionssoiree  (Versammlung,   19.  Februar   1895) 151 

Die  Bilanz  der  Koalition  (Versammlung,  24.  Juni  1895) 152 

Die  starke  Faust  Badenis  (Versammlung,  15.  September  1895  ver- 
schoben)       154 

Begrüßung    Badenis     (Versammlung,    Feuerwerkswiese,    22.   Sep- 
tember 1895)      155 

Die  Antwort  des  Grafen  Badeni  (Versammlung,  14.  Dezember  1895)  157 
Badenis  Schlagwort  von  der  Gerechtigkeit  (Versammlung,  21.  Fe- 
bruar   1896)       160 

Die  Badenische  Wahlreform  (Parteitag,  Prag  1896) 162 

Die  Wahlreformdebatte  im  Parlament  (Versammlung,  22.  April  1896)  183 

Die  eine  Waffe  (Versammlung,   11.  Mai   1896) 185 

Bericht  an  die  Internationale  (London  1896) 186 

Die  Eröffnung  des  Parlaments  und  die  Reichsratswahl  (Versamm- 
lung, 13.  September   1896) 192 


Seite 

Der  Kampf  um  das  Gemeinde-  und  Landtagswahlrecht. 

Die  Sozialdemokratie  und  die   Gemcinderatswahlen   (Versammlung, 

8.   September   1895) 195 

Weder  Lueger  noch  Badeni  (Versammlung,  26.  Dezember  1895)  .  199 
Die  Rechtlosigkeit  in  der  Gemeinde  (Versammlung,  20.  Jänner  1896)  202 
Die  Gemeinderatswahlen  (Versammlung,  4.  Februar  1896)  ....  203 
Kandidat  im  privilegierten  Wahlkörper  (Versammlung,  24.  Februar 

1896)     .......... 204 

Die     Landtagswahlreform     der    Christlichsozialen    (Versammlung, 

2.  März  1899) 206 

Das   arbeitende  Volk  gegen  die   Luegerei   (Versammlung,  5.   März 

1899)      209 

Luegers  Wahlrechtsraub.... .214 

Der  Sieg  des  gleichen  Wahlrechtes. 

Ein  Jubiläum  (Massenmeeting  auf  der  Praterrennbahn,  26.  Juli  1903)  217 
Massenpsychologische  Bedingungen  (Parteitag  1903)    ........  220 

Die     Arbeiter     und     das    Privilegiertenparlament     (Versammlung, 

Ronacher,  20.  Dezember   1903) 222 

Der      Wahlrechtskampf      beginnt      (Böhmische      Landeskonferenz, 

23.   Juli   1905)     .    . 226 

Gautsch   und  die  ungarische   Wahlreform   (Versammlung,    11.  Sep- 
tember   1905) 230 

Im  Zeichen  des  ersten  Sieges  (Sophiensaal,  24.  Oktober  1905)  .   .    .  235 

Der  Parteitag  des  Wahlrechtskampfes  (Parteitag  1905) 240 

Taktik   im   Wahlrechtskampf   (Parteitag    1905)     .   .   .    .    . 245 

Wahlrechtssonntag   (Aufmarsch  vor   dem  Parlament,   5.   November 

1905) 246 

Kampf  bis  ans  Ende  (Versammlung,  6.  November  1905)    ......  247 

Das   sterbende    Privilegienparlament    (Versammlung    der    Gehilfen- 
vertreter, 12.  November  1905)    . 249 

Lueger  als  Erfinder  (Versammlung,  26.  November  1901) 254 

Die  Erklärung  des  Ministerpräsidenten  Gautsch  (Parlament,  30.  No- 
vember  1901) .256 

Die   Verschwörung    der   Geheimräte    (Versammlung,    5.   Dezember 

1905) .    . .  273 

Die  Antwort  an  die  Wahlrechtsfeinde  (Versammlung,  10.  Dezember 

1905) .  278 

Gedenktag   der   russischen   Revolution   (Versammlung,    21.    Jänner 

1906) 282 

Der  Schacher  um  die  Mandate  (Versammlung,  28.  Jänner  1906)  .    .  289 

'  Die  Wahlreform  vorgelegt  (Versammlung,  25.  Februar  1906)  .  .  .291 
Die  Schicksalsstunde  Österreichs  (Erste  Lesung,  9.  März  1906)  .  .  295 
Die     Wahlreformfeinde     und     die     Arbeiterschaft     (Versammlung, 

2.  April   1906) .322 

Antwort  an  Grabmayr  (Wahlreformausschuß,  26.  April  1906)    .   .    .  329 

Kein  Subkomitee  (Ausschuß,  25.  Mai  1906) 335 

Die  ungarische  Intrige  (Parlament,  30.  Mai  1906)    , 336 

Die  neue  Regierung  Beck  (Versammlung,  6.  Juni  1906) 344 

Bienerths  und  Becks  Erklärungen  (Ausschuß,  7.  und  8.  Juni  1906)  .  347 

Die  letzte  Warnung  (Versammlung,  11.  Juni  1906) .349 

Wahlkreiseinteilung  in  Wien  (Ausschuß,  13.  Juni  1906)    .....   ..355 

Das  Signal  zum  Kampf  (Versammlung,  Rathaus,  17.  Juni  1906)  .    .    .  357 


Seite 

Sozialdemokratischer  „Terrorismus"   (Ausschuß,   19.   Juni    1906)      .    .  361 
Deutschböhmische  Ränke  (Versammlung,  Reichenberg,  l.  Juli  1906)  364 

„Sozialistische  Durchseuchung"  (Ausschuß,  4.  Juli  1906) $68 

Das  Mandat  von  (iottschee  (Ausschuß,  6.  und   12.  Juli   1906)    ....  370 

Triest  (Ausschuß,    13.   Juli    1906) 373 

Die  Mandate  von  Böhmen  (Ausschuß,  19.  Juli    1900) 374 

Das  neueste  Attentat  auf  die  Wahlreform   (Versammlung,  20.   Juli 

1906) J78 

Das  Prinzip  des  allgemeinen  Wahlrechts  (Ausschuß,  13.  September)  386 
Der  polnische  Verschleppungsantrag   (Ausschuß,   14.  September)  .    .  390 

Nach  den  Sommerferien  (Versammlung,  17.  September) 392 

Jeder  Ort  Wahlort  (Ausschuß,  17.  September) 394 

Alle  Wahlen  an  einem  Tag  (Ausschuß,  19.  September) 396 

Das  Pluralitätsattentat  noch  verschoben  (Ausschuß,  19.  September)  397 

Zwei  Wohnsitze   (Ausschuß,   19.  September) .  398 

Armenunterstützung  und   Wahlrecht  (Ausschuß,   19.   September)  .    .  399 
Der  Schwindel  mit  den  Wählerlisten  (Ausschuß,  20.  September)  .    .  400 
Nochmals    Wählerlisten    und    Legitimationen    (Ausschuß,     21.    Sep- 
tember)      405 

Öffentlichkeit  des  Wahlakts  (Ausschuß,  25.  und  26.  September)  .    .  408 

Wahlprüfung  (Ausschuß,  27.  September) 410 

Die  Wahlpflicht   (Ausschuß,  1.  Oktober) 412 

Die  Pluralität  (Ausschuß,  3.  Oktober) 415 

Wahlkreiseinteilung  in  Mähren  (Ausschuß,  9.  Oktober) 425 

Nordbahnverstaatlichung     und     Wahlreform     (Obmännerkonferenz, 

19.  Oktober) 427 

Prestigefragen  (Ausschuß,  23.  Oktober) 428 

Schutz  der  Wahlfreiheit  (Ausschuß,  5.  November) 434 

Immer  neue   Ränke   (Zweite   Lesung,   8.   November) 436 

Die   Seßhaftigkeit   (Minoritätsbericht,   14.  November) 444 

Billige  Demagogie   (Spezialdebatte,  16.  November) 446 

Die  Pluralität  (Spezialdebatte,  21.  November) 447 

Die  Wählerlisten  (Spezialdebatte,  22.  November) 450 

Wahlbestechung    (Ausschuß,   29.  November) 452 

Der  Kanzelparagraph  (Ausschuß,  30.  November) 454 

Der  Sieg  der  Wahlreform  (Versammlung,  2.  Dezember) 455 

Die  Grundlagen  der  neuen  Politik  (Budgetdebatte,  19.  Dezember)  .  458 

Das  Wahlschutzgesetz  (Parlament,   11.  Jänner  1907) 460 

Der  Wahlterror  der  Antiterroristen  (Parlament,  12.  Jänner  1907)  .    .  469 

Die  ersten  Wahlen  zum  Volkshaus. 

Vorbereitungen  zum  Wahlkampf  (Reichskonferenz,  27.  Jänner  1907)  473 

Das  Wahlrechtsfest  (Arbeiterheim,  28.  Jänner) 477 

Der  Wahlkampf  beginnt  (Erste  Kandidatenrede,  19.  März)    ....  478 

Die  Wahlen  in  Österreich  („März",  München,  Juni  1907) 486 

Die  Eroberung  des  Wahlrechts  (Parteitag  1907) 

Bericht   an  die    Internationale    (Internationaler    Kongreß,    Stuttgart 

1907)      497 

Anhang. 

Die  erste  Wahlrechtsresolution 499 

Der    erste    Wahlaufruf   in   der   fünften    Kurie 500 


Druckfehler. 

Es  sei  gestattet,  am  Ende  des  X.  Bandes  eine  Anzahl  von  Druckfehlern 
der  Reihe  „Victor  Adler,  der  Parteimann",  die  mir  namentlich  in  den 
Noten  der  früheren  Bände   nachträglich  aufgefallen  sind,  richtigzustellen: 

Bd.  VI,  Seite  249,  Note,  letzte  Zeile,  im  Zitat,  statt  Seite  384  richtig 

VII,  32. 

Seite  43,  Note,  Hödel  am  16.  August  (nicht  April)  1878  hingerichtet 
(bereits  richtiggestellt  in  Bd.  IX). 

Bd.  VII,  Seite  67,  Note,  letzte  Zeile,  statt  Seite  432  richtig  Seite  7***). 

Bd.  VII,  Seite  71,  Note,  letzte  Zeile,  richtig  Seite  7***). 

Bd.  VII,  Seite  191,  Inhaltsverzeichnis,  statt  Seite  61  richtig  Seite  69. 

Bd.  VIII,  Seite  389,  Fußnote,  letzte  Zeile,  soll  es  richtig  heißen,  daß 
die  Versammlung  im  Musikvereinssaal  am  6.  Juli  1896  stattfand. 

Bd.  IX,  Seite  274  (Index),  beim  Schlagwort  „christliche  Sozialisten" 
ist  noch  hinzuzufügen  VIII,  408*). 

Seite  280,  beim  Schlagwort  „nationales  Freiheitsinteresse"  soll  es  statt 

VIII,  337,  richtig  heißen  137,  bei  „Omladinaprozeß"  ist  anzufügen  VII,  95*). 

Seite  282,  bei  „Reaktionäre  Masse"  statt  VIII,  391,  richtig  392  f. 


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Wiener  Volksbuchhandlung 

F.  Skaret-Dr.  R.  iiaimeberu.  Wien  VI. 
fiumpendorferstrasse  Nummer  18 


Zum  zehnten  Todestage  Victor 
Adlers  erschienen  vier  neue  Hefte  der  Auf- 
sätze, Reden  und  Briefe  Victor  Adlers 

Victor  Adler 

der  Parteimann 

Reden    und  Aufsätze,    gesammelt    und    zusammen- 
gestellt   von    Dr.  Gustav    Pollatsche  k,    mit 
einer  Einleitung    von  Dr.  Otto    Bauer.    Mitte       | 
Juni     1929     erschien     das     vorliegende       i 
X.  H  e  i  t 

Inhaltsübersicht  und  Preis   der  ein- 
zelnen Hefte 

Heft  VI  :        Der  Aufbau  der  Sozial- 
demokratie, 360  Seiten     .    .   •    S  11  "50 

Heft  VII;      Intei  nationale  Taktik 

185  Seiten S     6—       1 

Heft  VIII  :      österreichische  Politik 

470  Seiten S    15—       | 

Heft  IX  :        Um  Krieg  und  Frieden 

245  Seiten S     750       f 

Heft  X  :          Der  Kampf  um  das  Wahl- 
recht. Geheftet S  15' —       § 

Auf    einmal    bezogen,   werden  Helt  VI — X  geheftet       | 

statt  für  S  55 —    für  nur  S  44  —    abgegeben!    Ge-       f 
bunden  kostet  jedes  Heft  um  S  1"50  mehr 

In  Erinnerung  bringen  wir  die  vorher    erschienenen       1 
Hefte  : 

Victor  Adler 

Aufsätze,  Reden  und  Briefe 

Heft  1  :           Victor    Adler     und     Friedrich    Engels.       f 
Halbleinen  geb   S  2  20,  Leinen 
geb .    .    .    S     340       | 

Heft  II  :  Victor  Adler  vor  Gericht 

Halbleinen  geb.  S  3'80,  Leinen 

geb S     5" —       § 

Heft  III  :  Victor  Adler  als  Sozialhygieniker.  Halb-  f 
leinen  $feb.  S  3' — ,  Leinen  geb.  S    4*20       | 

Heft  IV  :  Victor  Adler  über  Arbeiterschutz  und  | 
Sozialreform.  Halbleinen  geb.  S  4*80,  | 
Leinen  geb S     6' — 

Heft  V  :         Victor     Adler     über    Fabrikinspektion,       | 
Sozialversicherung  u.  Arbeiterkammern 
Halbleinen  geb.  S  4*80,  Leinen 
geb S     6' —       I 

Heft  1  — V  auf  einmal  bezogen  :  Halbl.  geb.  S    18" — 
Leinen  geb.  S  24* — . 

Zu    beziehen     durch    alle    Buchhandlungen      sowie       | 
durch  den  Verlag 

Wiener  Volksbuchhandlung  I 

F.  Skaret-Dr.  R.  Dannebero,  Wien  VI. 
fiumpendorferstrasse  Nummer  18 

i ' :  1 1 1  IM  1 1 1 iiUUIIIIItlUKI.llul.il .11, IIIIIIIMIIIIIIIIIIIIIIIIHIilllllllllllllllllllllil  lllllllllllllllillllllllllllllü 


HIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIM!IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIMIIIMIIIIIIIIIM!llllllllll!IIIIIIIIIIIIIIIMIIIIIIIIIIIIIIIIII|i: 


In  Vorbereitung 

Band  XI 

der  Aufsätze,  Reden  und  Briefe 
von 


Victor  Adler 


PARTEIGESCHICHTE 

UND  PARTEIPOLITIK 


Nachträge  und  Ergänzungen 

Aus  dem  Inhalt: 

Zur  Parteigeschichte 

Kampf  gegen  den  Klerikalismus 

Christlichsozialer  Terror 

Christlichsoziale  Wahlargumente 

Opfer  des  Gewissenszwangs 

Von  Badeni  bis  Thun 

Adler  im  Landtag 

Das  System  Bienerth 

Der  Kampf  um  die  Preßfreiheit    - 

Beiträge  zur  Biographie  Adlers 


rlllUlllllllilllllll XI 1 1 II lllllllllllllliriMlllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll.'lllllllr 


Victor  Adlers 
Aufsätze,  Reden  und  Briefe 


Herausgegeben    vom    Parteivorstand    der    Sozial- 
demokratischen Arbeiterpartei  Deutschösterreichs 


Parteigeschichte  und  Parteipolitik 

Nachträge  und  Ergänzungen 

XL  Heft 

der  Reden   und  Aufsätze    von 

Victor  Adler 

gesammelt    und    zusammengestellt    von    Dr.    Gustav  Pollatschek 


Wien  1929 


Verlag  der  Wiener  Volksbuchhandlung,  Wien  VI 


VICTOR  ADLER 
DER  PARTEIMANN 


Reden  und  Aufsätze  von 

Victor  Adler 

gesammelt  und  zusammengestellt  von 
Dr.  Gustav  Pollatschek 


6.  Parteigeschichte  und  Parteipolitik 

Nachträge  und  Ergänzungen 


Wien  1929 


Verlaß  der  Wiener  Volksbuchhandlung,  Wien  VI 


Alle  Rechte  vorbehalten 

Copyright    1929   by   Wiener   Volksbuchhandlung 

F.   Skaret-Dr.  R.   Danneberg 

Wien  VI,  Gumpendorferstraße   18 


Druck-  und  Verlagsanstalt  „Vorwärts",  Wien  V,  Rechte  Wienzeile  97 


Vorwoi  i  des  Herausgebers. 


Vorwort. 

Dieser  Band  soll  die  Nachträge  und  Ergänzungen  zu  den  früheren 
Bänden  bringen.  Er  ist  insofern  mehr  als  nur  der  sechste  Band  der 
Reihe,  in  der  vor  uns  Victor  Adler  der  Parteimann  auf- 
getreten ist.  Aber  immerhin  hat  die  Hast,  mit  der  die  letzten  Bände 
zum  zehnten  Jahrestag  des  Todes  fertiggestellt  werden  mußten,  die 
Wirkung  gehabt,  daß  sich  diese  Nachträge  vornehmlich  auf  Victor 
Adler  den  Parteimann  beziehen.  Das  hängt  aber  auch  damit  zu- 
sammen, daß  der  Stoff  hier  am  umfangreichsten  ist  und  bei  jedem 
neuerlichen  Suchen  gerade  alles,  was  die  Parteigeschichte 
und  die  Parteipolitik  betrifft,  sich  von  neuem  aufdrängt. 
Wenn  die  Anlage  des  Buches  als  einer  Sammlung  von  Nachträgen 
leicht  dazu  verleiten  konnte,  die  Gliederung  der  alten  Bände  zu 
übernehmen,  so  hat  es  sich  doch  im  Verlaufe  der  Arbeit  als  zweck- 
mäßiger erwiesen,  die  frühere  Gruppierung  fallen  zu  lassen,  da  ja 
die  Ergänzungen  nicht  für  alle  Kapitel  in  gleichem  Maße  erforder- 
lich waren.  Jedenfalls  hat  eine  Reihe  neuer  Gruppen  hier  ihren  Platz 
finden  müssen,  die  früher  gar  nicht  oder  nur  wenig  in  Betracht 
kamen,  aber  zur  Erkenntnis  von  Victor  Adlers  Wirken  von  Wichtig- 
keit sind.  Hieher  gehört  vor  allem  Adlers  Tätigkeit  im  nieder- 
österreichischen Landtag,  wenn  er  diesem  auch  nicht 
länger  als  ein  Jahr  angehört  hat,  und  im  Zusammenhang  damit 
mußten  auch  seine  Reden  gegen  den  Klerikalismus  und  gegen 
den  christlichsozialen  Terror  sowie  gegen  das  ver- 
brecherische System  Bienerth  einen  breiteren  Raum  ein- 
nehmen. Es  war  aber  gewiß  auch  notwendig,  die  Broschüre  über 
den  §  23  des  Preßgesetzes  aus  dem  Jahre  1891  abzudrucken,  die 
seinerzeit  ein  sehr  wichtiges  Thema  der  Preßknebelung  —  nämlich 
das  Verbot  der  Kolportage  —  behandelte,  und  im  Zu- 
sammenhang damit  auch  mehrere  Reden  zur  Preßreform. 

Mit  diesem  Bande  ist  das  Adler-Werk,  soweit  es  uns  Adler  als 
Parteimann  und  als  Politiker  näherbringen  wollte,  am  Ende  an- 
gelangt und  damit  auch  wohl  der  größte  Teil  des  Programms,  das 
schon  im  ersten  Hefte  dieser  Sammlung  aufgestellt  wurde,  durch- 


Vorwort  des  Herausgebers. 


geführt.  Ein  Rückblick  auf  das,  was  bisher  erschienen  ist,  zeigt 
uns  die  Fülle  dessen,  was  wir  bisher  der  jungen  Generation,  die 
Adler  nicht  selbst  gekannt  hat,  von  seinem  Bilde  vorführen 
konnten.  Die  ersten  Bände  zeigten  uns  zunächst  in  fünf  Heften 
Adler  in  seinem  Verhältnis  zu  Marxens  großem  Freunde  Friedrich 
Engels,  dann  fortschreitend  Adler  vor  Gericht,  Adler  als  Sozial- 
hygieniker,  Adler  als  Sozialpolitiker  —  seine  Aufsätze  und  Reden 
über  Arbeiterschutz  und  Sozialreform,  über  Fabrikinspektion, 
Sozialversicherung  und  Arbeiterkammern;  dann  folgte  die  zweite 
Serie  von  sechs  rieften,  die  den  Gesamttitel  führten  „Victor 
Adler  der  Parteimann"  und  die  seine  entscheidende  Mit- 
arbeit enthielten  am  Aufbau  der  Sozialdemokratie,  ferner  seine 
Äußerungen  über  internationale  Taktik  und  über  österreichische 
Politik,  dann  in  dem  Bande  „Um  Krieg  und  Frieden"  seine  Reden 
und  Aufsätze  über  Militarismus  und  Krieg  und  vor  allem  seine 
Reden  und  Artikel  im  Weltkrieg;  schließlich  hat  uns  der  Band  über 
den  Kampf  um  das  Wahlrecht  Adlers  Mitwirkung  in  diesem  histo- 
rischen Kampfe  gezeigt  —  und  nun  dieser  Band,  der  als  letzter 
Band  der  Serie  „Adler  der  Parteimann"  Nachträge  und  Ergänzungen 
enthält  und  durch  Veröffentlichung  mancher  Rede,  die  verschollen 
schien,  zur  Erkenntnis  von  Adlers  Wirken  wertvolles  Material 
beibringt. 

Dr.  Gustav  Pollatsche k. 


Gedenktag  des  Ausnahmszustandes. 


Zur  Parteigeschichte. 

Gedenktag  des  Ausnahmszustandes. 

Festversammlung  2  9.  Jänner  190 4*). 

Es  ist  jetzt  eine  junge  Generation  aufgewachsen,  die  nichts  von 
jenen  Zeiten  weiß.  Aber  wenn  wir  das  Verhältnis  der  österreichi- 
schen Arbeiterschaft  zum  österreichischen  Staat  und  zur  öster- 
reichischen Bürokratie  richtig  beurteilen  wollen,  so  dürfen  wir 
diese  Gesellschaft  nicht  danach  beurteilen,  wie  sie  sich  uns  heute 
darstellt,  und  wir  dürfen  nie  vergessen,  wessen  sie  fähig  ist.  Wenn 
sich  die  österreichische  Arbeiterschaft  Anfang  der  achtziger  Jahre 
den  Vorstellungen  hingab,  daß  sie  mit  Gewalt  durch  plötzliches 
terroristisches  Eingreifen  ihre  Lage  ändern  könne,  so  hat  das  viele 
Gründe;  einer  dieser  Gründe  ist  aber  der,  daß  diese  terroristischen 
Lehren  bei  der  Polizei  solche  Unterstützung  fanden,  nicht  nur,  in- 
dem man  ihnen  Reklame  machte,  sondern  auch,  indem  man  der 
besonnenen  Organisation  auf  Schritt  und  Tritt  Schwierigkeiten  be- 
reitete. Das  war  aber  die  Vorstellung  des  Polizeischädels:  die  Ar- 
beiterbewegung ist  eine  Krankheit  und  je  schneller  sie  heraus- 
kommt, um  so  besser.  Wenn  da  Exzesse,  Morde,  Attentate  kommen, 
dann  packt  man  die  Häupter,  sperrt  sie  ein,  schlägt  sie  tot  und 
damit  ist  die  ganze  Bewegung  hin.  Hat  man  etwa  nur  die  Leute 
ausgewiesen  und  verfolgt,  die  konspiriert  haben?  Nein,  sondern 
man  hat  einfach  aus  der  Liste  der  Ausschußmitglieder  unserer 
Organisation  die  Zuständigen  herausgenommen  und  hat  die  anderen 
dann  abgeschoben.  Mit  einem  Schlage  war  die  Frucht  jahrelanger 
Tätigkeit  vernichtet  und  es  war  ganz  logisch,  daß  die  Genossen 
auch  die  Organisationen,  die  nicht  aufgelöst  wurden,  aufgaben.  Den 
Arbeitern  war  eben  jeder  verdächtig,  der  von  der  Polizei  nicht 
verfolgt  wurde,  und  die  Folge  war,  daß  die  Gemäßigten  zurück- 
gingen. So  hat  alles,  was  von  der  Regierung  nicht  gemordet  wurde, 
schließlich  durch  Selbstmord  geendet. 

Das  waren  die  politischen  Wirkungen  dieser  Verfolgungen.  Die 
persönliche  Wirkung  aber,  das  war  ein  Meer  von  Elend,  das  in 
gewissenlosester  Weise  erzeugt  wurde.  Wie  viele  Familien 


*)  Am  29.  Jänner  1904  fand  im  Arbeiterheim  in  Favoriten  eine  Fest- 
versammlung  statt,  die  dem  -  Andenken  an  die  Verhängung  des  Ausnahms- 
zustandes vor  zwanzig  Jahren  gewidmet  war.  In  der  Versammlung  sprach 
zunächst  Reumann  und  dann  Adler. 


8  Zur  Parteigeschichte. 


waren  damals  zerstört,  wie  viele  Leute  wortwört- 
lich ermordet! 

Und  noch  ein  Moment  hat  da  mitgespielt:  das  ist,  daß  der  Mann, 
der  damals  großen  Einfluß  hatte,  Josef  P  e  u  k  e  r  t,  eine  zwei- 
deutige Rolle  gespielt  hat.  Er  hat  zu  Demonstrationen  und  zu 
Aktionen  aufgefordert,  an  denen  er  persönlich  keinen  Anteil  nahm, 
und  er  ist  am  Tage,  bevor  der  Ausnahmszustand  verhängt  wurde, 
mit  dem  Qelde  der  Polizei  in  das  Ausland  gefahren,  und  ein  Beweis 
gegen  ihn  ist  auch,  daß  er  zwar  ein  unwissender  Mensch  war,  aber 
doch  zu  klug,  als  daß  er  alles  Zeug,  das  er  erzählt  hat,  auch  selbst 
geglaubt  hätte.  Aber  der  Polizei  war  das  halt  recht.  Ich  habe  es, 
seitdem  ich  1885  aktiv  in  die  Partei  eintrat,  den  Polizisten,  auch 
den  obersten,  dutzendmal  ins  Gesicht  gesagt,  daß  alle  diese 
Attentate,  die  später  gemacht  wurden,  von  dem 
größten  Schurken,  der  in  Österreich  lebt,  vom 
Polizeirat  Frank  1,  eingefädelt  worden  sind.  Es 
wurde  diesem  Mann  in  einem  Prozeß  nachgewiesen,  daß  unter 
seiner  Oberleitung  Münzverfälschung  betrieben  wurde,  daß  er  die 
gefälschten  Münzen  monatelang  in  seiner  Schublade  hatte  und  die 
Leute  weiter  arbeiten  ließ.  Und  ein  junger,  tuberkulöser  Mann 
namens  E  m  m  e  r  1  i  n  g  ist  ihm  damals  zum  Opfer  gefallen:  Obwohl 
nachgewiesen  wurde,  daß  der  Polizeirat  Frankl  seine  Finger  dabei 
hatte,  wurde  dieser  21jährige  junge  Mann,  der  glaubte,  Revolution 
zu  machen,  aber  dabei  nur  die  Geschäfte  des  Frankl  besorgte,  zu 
zweieinhalb  Jahren  verurteilt.  Er  ist  nach  einem  Jahre  in  Stein  an 
Tuberkulose  gestorben. 

Ich  kenne  keine  gutmütigeren  Menschen  als  alle  diese  Terroristen. 
Denn  der  Terrorist  unterscheidet  sich  vom  wirklichen  Politiker 
besonders  dadurch,  daß  er  ein  zu  gutes  Herz  und  ein  zu  schwaches 
Hirn  hat,  daß  er  in  seinem  Grimm  über  das  Elend,  das  er  um  sich 
sieht,  es  nicht  aushält;  seine  erste  Empfindung  ist:  Und  wenn  ich 
zugrunde  gehe,  so  muß  es  sofort  anders  werden!  Aber  dies  ent- 
schuldigt nicht  die  Bürokraten,  die  die  Leute  systematisch  hinein- 
gebracht haben,  die  Leute  vom  kleinsten  Spitzel,  der  sich  unter  die 
Arbeiter  mischte,  bis  zum  Frankl  und  zum  H  o  1  z  i  n  g  e  r,  die  mit 
kaltem  Blute  Dutzende  von  Menschen  gemordet,  die  sich  mit 
Schmach  und  Verachtung  beladen  haben.  Man  hat  jedes  Leben  er- 
drosselt und  man  hat  den  Ausnahmszustand  nicht  nur  gegen  die 
terroristische  Bewegung  benützt,  sondern  auch  gegen  die  Sozial- 
demokraten. Ich  erinnere  Sie  nur  daran,  daß  im  Jahre  1889  sogar 
die  „Gleichheit",  die  ich  herausgegeben  habe,  als  ein  anarchistisches 
Blatt  unterdrückt  wurde,  und  daß  ich,  der  ich  vielleicht  am  meisten 
dazu  beigetragen  habe,  um  dem  Anarchismus  den  Boden  abzugraben, 
als  Anarchist  vor  dem  Ausnahmsgericht  gestanden  habe.  Eine  kleine 
Episode  ist  da  bezeichnend.  Wir  hatten  in  den  Jahren  1887  und 
1888  ein  Fünfzehnerkomitee,  in  dem  Radikale  und  Gemäßigte  bei- 
sammen saßen.  Eines  Tages  bekamen  wir  alle  eine  Vorladung  zum 
Untersuchungsrichter:  wir  waren  der  Geheimbündelei  beschuldigt. 
Der  Adjunkt  Bürger,  der  die  Untersuchung  führte,  hatte  einige  Briefe 


Vor  zwanzig  Jähren. 


in  der  Hand  es  gab  schon  damals  Parteigenossen,  die  sich  poli- 
tische Briefe  als  Reliquien  aufhoben,  wenn  nicht  anderswo,  so  im 
Stiefel,  denn  dort  waren  sie  am  sichersten.  (Heiterkeit.)  Ich  erinnere 
mich  genau,  wie  mir  der  Untersuchungsrichter  mit  feierlicher  Miene 
sagte:  Sie  sind  beschuldigt,  an  die  Stelle  der  anarchistischen  Ketten- 
orgauisation  die  sozialdemokratische  Massenorganisation  nach  deut- 
schem Muster  setzen  zu  wollen.  Natürlich  sagte  ich  dem  Herrn: 
„Das  ist  schon  wahr!"  Das  war  bezeichnend  für  die  Hirnkasten  der 
Herren,  daß  sie  in  einem  Qeheimbundsprozeß  anklagten,  man  wolle 
die  Öffentliche  Massenorganisation  einführen  und  die  geheime 
Kettenorganisation  vernichten. 

Vor  zwanzig  Jahren. 

Landesparteitag  in  Hainfeld  am  3  1.  Jänner  190 4*). 

Eine  eigentümliche  Stimmung  erfaßt  mich,  wenn  ich  hier  den 
Parteitag  begrüße.  Wir  waren  ja  schon  einmal  hier.  Es  war  ein 
Parteitag,  wie  er  in  der  Geschichte  einer  Partei  nur  einmal  vor- 
kommen kann.  Es  war  das  Resultat  einer  jahrelangen  Arbeit  eines 
schwierigen  Aufbaues.  Wir  sind  damals  zusammengekommen,  jeder 
einzelne  mußte  sich  erst  losreißen  von  alter  Liebe  und  altem  Haß 
und  mußte  das  Mißtrauen,  das  alle  erfüllte,  erst  aufgeben;  der  alte 
Haß  mußte  begraben  und  ein  neues  Leben  begonnen  werden.  Aber 
niemand  wußte,  ob  das  auch  gelingen  werde.  Nur  eines  war  uns 
gewiß:  daß  wir  unser  Äußerstes  tun  wollen,  damit  es  gelinge.  Wir 
wußten,  daß  es  nicht  möglich  sei,  obwohl  die  ganze  österreichische 
Brutalität  gegen  die  Arbeiterschaft  aufgeboten  war,  daß  das  Prole- 
tariat der  ebenso  bornierten  wie  brutalen  Gewalt  unter  den  Füßen 
bleibe.  Man  erzählt  uns  von  den  terroristischen  Exzessen,  die  den 
Ausnahmszustand  nötig  machten.  Ich  bin  der  letzte,  der  diese 
Einzelakte  in  Schutz  nähme.  Aber  was  auch  damals  geschehen  ist 
und  welche  Akte  der  Gewalt  damals  auch  begangen  wurden:  es 
steht  in  gar  keinem  Verhältnis  zu  dem  Meer  von  Niedertracht,  das 
an  der  Arbeiterschaft  begangen  wurde.  Nicht  allein  darin,  daß  man 
Lockspitzel  unter  die  Arbeiter  schickte  und  diese  verleitete,  sich 
der  Polizei  ans  Messer  zu  liefern,  liegt  das  Verbrechen  der  Regieren- 
den, sondern  die  ganze  Politik  der  Regierung  war  es,  die  die  Arbeiter 
direkt  zur  Verzweiflung  trieb.  Man  denke:  eine  Arbeiterschaft,  die 
intelligent  und  tatkräftig  ist,  in  deren  Blut  es  pulsiert  und  die  sich  der 
Unmöglichkeit  jeder  Bewegung  gegenübersieht,  jedem  ersten  besten 


*)  Am  31.  Jänner  1904  trat  in  Hainfeld  der  zwölfte  Landesparteitag  der 
niederösterreichischen  Sozialdemokratie  zusammen  und  es  ist  begreiflich, 
daß  dabei  nicht  nur  des  Parteitages  von  Hainfeld  gedacht  wurde,  sondern 
auch  des  Ausnahmszustandes,  der  am  31.  Jänner  1884,  also  vor  genau 
zwanzig  Jahren,  über  Wien  und  Umgebung  verhängt  wurde.  (Siehe  dar- 
über auch  Adlers  Artikel  „Der  Weg  nach  Hainfeld",  Bd.  VI,  Seite  2,  und 
„Der  Ausnahmszustand",  Bd.  VI,  Seite  34,  sowie  auch  den  Artikel  „Zehn 
Jahre  nach  Hainfeld"  vom  25.  Dezember  1898  in  diesem  Band.)  Adler 
begrüßte  den  Landesparteitag  im  Namen   des  Parteivorstandes. 


10  Zur  Parteigeschichte. 


Polizeibüttel  preisgegeben!  In  ganz  Österreich  mußten  wir  herum- 
suchen, bis  wir  einen  Bezirkshauptmann  fanden,  der  so  viel  Intelli- 
genz besaß,  um  uns  eine  solche  Versammlung  zu  ermöglichen.  Und 
unsere  Berichte  lauteten  dahin,  daß  es  in  ganz  Österreich  nur  einen 
einzigen  Bezirkshauptmann  gebe,  der  so  vernünftig  sei:  den  Be- 
zirkshauptmann Auersperg  in  Lilienfeld.  Das  ist  dem  bezeich- 
nenderweise sehr  übel  genommen  worden,  sogar  das,  daß  er  beim 
Lied  der  Arbeit  aufgestanden  ist.  Dabei  waren  wir  hier  alle  unter 
einer  Aufsicht,  die  geradezu  komisch  wirkte.  Die  ersten  Einladungen 
zum  Kongreß  sind  mir  bei  einer  Hausdurchsuchung  konfisziert 
worden  und  das  Vorspiel  war  eine  Reihe  von  Geheimbunds- 
prozessen, die  allerdings  nicht  den  gewünschten  Erfolg  hatten. 

Wir  brauchen  uns  nicht  zu  schämen.  Auf  so  schlechtem  Boden 
wie  wir  hat  kein  Proletariat  der  Welt  zu  arbeiten.  Es  gibt  Länder, 
wo  es  noch  kein  Proletariat  gibt;  aber  so  viel  gesündigt  wurde  am 
Proletariat  in  keinem  Lande  wie  bei  uns.  Wir  haben  das  alles  über- 
wunden und  wir  werden  unseren  Weg  auch  in  Zukunft  machen, 
wenn  wir  uns  selber  treu  bleiben,  treu  dem  Geiste  von  Hainfeld! 

Das  „Anarchistengesetz"  verlängert. 

„Gleichheit",  14.  April  1888*). 

v.  a.  Soeben  hat  die  Regierung  einen  Gesetzentwurf  eingebracht, 
der  bestimmt  ist,  „die  Strafsachen,  welchen  anarchistische 
Bestrebungen  zugrunde  liegen",  auf  weitere  drei  Jahre  den 
Geschwornengerichten  zu  entziehen  und  den  Ausnahmsgerichten 
zu  überweisen. 

Die  Ära  Frankl-Holzinger  soll  also  um  drei  Jahre  verlängert 
werden  —  ! 

Genau  genommen  ist  der  Grund  dieser  Maßregel  schwer  einzu- 
sehen. Das  „Volksgericht",  die  Geschwornen,  haben,  um  ein  einziges 
Beispiel  zu  nehmen,  Franz  Richter  zu  12  Jahren  schweren  Kerkers 
verurteilt,  wegen  Hochverrats  usw.,  begangen  durch  Verbreitung 
von  Druckschriften;  anders  hätte  auch  Herr  von  Holzinger  kaum 
entscheiden  können.  Daß  man  den  Geschwornen  mißtraut,  ist  also 
eine  entschiedene  Ungerechtigkeit. 

*)  Am  25.  Juni  1886  war  das  Gesetz  sanktioniert  worden,  womit  „Be- 
stimmungen über  die  Gerichtsbarkeit  in  Strafsachen,  welchen  anarchistische 
Bestrebungen  zugrunde  liegen",  festgelegt  wurden  und  statt  der  Ge- 
schwornen richteten  nun  die  Ausnahmssenate  der  L  a  m  e  z  a  n  und  Hol- 
zinger über  die  Arbeiter.  Das  Gesetz  war  auf  zwei  Jahre  befristet.  Des- 
halb brachte  die  Regierung  am  10.  April  1888  wieder  eine  Vorlage  ein,  die  das 
Gesetz  auf  weitere  drei  Jahre  verlängern  sollte.  Aber  im  Parlament  stieß 
das  Gesetz  auf  Widerstand  und  wurde  nicht  mehr  verhandelt.  Statt  dessen 
erließ  die  Regierung  während  einer  Parlamentspause  am  1.  August  1888 
eine  Verordnung,  die  die  Geschwornengerichte  in  fünfzehn  Kreisgerichts- 
sprengeln  für  alle  strafbaren  Handlungen  einstellte,  denen  „anarchistische, 
auf  gewaltsamen  Umsturz  der  bestehenden  Gesellschaftsordnung  gerichtete 
Bestrebungen"   zugrunde   liegen. 


Das  „Anarchistengesetz"  verlängert.  11 

Die  Regierung  hat  ihrem  Antrag  „Erläuternde  Hemer- 
k  u  u  g  e  n"    beigefügt,    welche    einen    „Motivenberic  h  V*    zu 

nennen  Sie  seihst  nicht  den  Mut  findet,  da  man  doch  einmal  ge- 
wohnt ist,  in  dem  üblichen  Motivenbericht  nach  den  Gründen  für 
eine  Gesetzesvorlage  zu  suchen.  Gründe  aber,  obwohl  sie  ja  be- 
kanntlich so  billig  wie  Brombeeren  sind,  waren  absolut  nicht  aufzu- 
treiben. Darum  die  bescheidenen  „Bemerkungen",  welche  unsere 
Leser  weiter  unten  in  wörtlichem  Abdruck  finden. 

Eür  die  Verlängerung  von  Ausnahmsgesetzen  gibt  es  eine  er- 
probte Schablone,  die  auf  alle  Fälle  paßt  und  die  nie  ihre  Wirkung 
auf  die  Parlamente  verfehlt.  Entweder:  die  bezüglichen  „Ver- 
brechen", die  „Agitationen",  bestehen  noch  immer,  das  (iesetz  hat 
noch  nicht  gewirkt,  muß  also  erneuert  werden;  oder:  die  „Ver- 
brechen", die  „Agitationen",  haben  aufgehört,  das  Gesetz  hat  seine 
günstige  Wirkung  bewiesen,  muß  also  erneuert  werden.  Man  sieht 
diese  Logik  ist  so  zwingend,  daß  man  derlei  Gesetze  füglich  nie 
aufheben  kann. 

„Die  ruhige,  durch  äußere  Einflüsse  nicht  beirrte  Recht- 
sprechung", wie  das  Ausnahmegericht  genannt  wird,  hat  i  n 
18  Monaten  36  Angeklagte  zu  zusammen  218  Jahren, 
6  Monaten  und  3  Tagen  schweren  Kerkers  ver- 
urteilt. Eine  Statistik  der  früheren  Jahre  ist  uns  nicht  zur  Hand. 
Dem  Kundigen  ist  es  aber  unzweifelhaft,  daß,  so  schrecklich  diese 
angeführten  Ziffern  sind,  die  Geschwornengerichte  weit  mehr  Ver- 
urteilungen zu  leisten  hatten,  daß  also  von  einem  abschreckenden 
Einfluß  der  Verurteilungen  durch  die  Geschwornengerichte  weit 
eher  gesprochen  werden  könnte,  als  von  einem  solchen  der  Aus- 
nahmsgerichte. Aber  das  eine  ist  natürlich  so  wenig  der  Fall  wie 
das  andere.  Die  terroristische  Richtung  des  Anarchismus  braucht 
harte  und  schwere  Verurteilungen;  ja  sie  rechnet  geradezu  auf  die 
Rachegefühle,  welche  derlei  Urteile  erwecken.  Die  „Autonomie" 
widersetzte  sich  zum  Beispiel  ganz  konsequent  jeder  Bewegung, 
welche  bezweckte,  den  Opfern  von  Chicago  das  Leben  zu  retten. 
Wenn  diese  Richtung  an  Boden  verloren  hat,  so  ist  das  trotz 
jener  Verurteilungen  geschehen.  Der  Terrorismus  ist  verschwunden, 
weil  die  Erkenntnis  durchgedrungen  ist,  daß  er  unter  unseren 
heutigen  Verhältnissen  wertlos  und  schädlich  ist.  Soweit  man  derlei 
überhaupt  beurteilen  kann,  darf  ruhig  gesagt  werden,  daß  terro- 
ristische Taten,  wir  meinen  damit  nicht  Akte  der  Verzweiflung  ein- 
zelner Personen,  sondern  Taten,  welche  im  vermeintlichen  Partei- 
interesse der  Anarchisten  ausgeführt  werden,  in  absehbarer  Zeit 
nicht  vorkommen  werden,    außer    es    legt    sich  wieder    irgendein 

S  c  h  r  e  g  e  r*)  ins  Mittel.  Das  Verdienst  dafür  gebührt  aber  nicht 


')  Anton  Schreger  war  der  im  großen  „anarchistischen"  Münzver- 
talschungsprozeß  als  Lockspitzel  des  Polizeirates  Frankl  entlarvte  Mit- 
angeklagte. (Siehe  den  Bericht  der  „Gleichheit"  vom  17.  Dezember  1887, 
abgedruckt  im  zweiten  Band  dieser  Sammlung  „Victor  Adler  vor  Gericht", 
Seite    13.) 


12  Zur  Parteikreschichtc. 


der  Einschüchterung  durch  die  Ausnahmsgerichte,  sondern  der  Auf- 
klärung durch  die  sozialistische  Agitation. 

Die  Regierung  hat  die  Schwäche  ihrer  „Bemerkungen"  ganz 
wohl  erkannt  und  in  der  Not  nach  einem  ganz  sonderbaren  Aus- 
kunftsmittel gegriffen.  Sie  hat  sich  nämlich  vom  Obersten 
Gerichtshof  ein  „Gutachten*)"  anfertigen  lassen,  welches 
die  Verlängerung  des  Gesetzes  als  „zulässig  und  angezeigt"  erklärt. 
Was  das  Parlament  beschließt  ist  nach  bürgerlichen  Begriffen 
immer  zulässig";  was  aber  „angezeigt"  ist,  davon  —  mit  allem  Re- 
spekt, den  wir  einem  k.  k.  Obersten  Gerichtshof  selbstverständlich 
schulden,  sei  es  gesagt  —  davon  versteht  der  Oberste  Gerichtshof 
nichts  und  es  geht  ihn  auch  gar  nichts  an.  Was  das  Gutachten  da 
anführt,  ist  ganz  einfach  —  wahrscheinlich  wörtlich  —  einem 
Polizeibericht  entnommen.  Weiß  der  Oberste  Gerichtshof  etwa  aus 
eigener  Erfahrung  etwas  von  der  „lebhaften  Agitation  zur 
Verbreitung  anarchistischer  Bestrebungen"?  Man  hätte  also  lieber 
gleich  ein  Gutachten  des  Herrn  kaiserlichen  Rates  F  r  a  n  k  1  vorlegen 
sollen,  das  wäre  —  deutlicher  gewesen**). 

Die  ersten  vier  Absätze  der  „Bemerkungen"  sollen  das  Verhalten 
der  sozialistischen  Arbeiterpartei  in  den  Jahren  „erläutern".  Wenn 
einer  der  Abgeordneten  aus  dieser  unverständlichen  Aneinander- 
reihung von  verrenkten  Sätzen  klug  wird,  soll  es  uns  wundern.  Daß 
die  Tatsachen  sämtlich  schief  aufgefaßt  und  auf  den  Kopf  gestellt 
sind,  wissen  unsere  Leser  am  besten  und  wir  haben  gar  kein  Inter- 
esse daran,  diesen  Weichselzopf  von  Unrichtigkeiten  zu  entwirren. 
Eines  aber  möchten  wir  fragen:  Was  hat  denn  diese  ganze  Dar- 
legung in  den  „Bemerkungen"  zu  einem  „Anarchistengesetz"  zu 
tun? 

Was  hat  die  „radikale  Fraktion",  was  hat  die  „gemäßigte  Partei" 
mit  den  „Strafsachen,  welchen  anarchistische  Bestrebungen 
zugrunde  liegen",  zu  schaffen?  Soll  wieder  einmal  das  alte  Spiel 
aufgeführt  werden,  daß  Handlungen  einzelner,  die  sie  auf  eigene 
Verantwortung  unternommen,  einer  großen  Partei,  die  nach  vielen 
Tausenden  zählt,  an  die  Rockschöße  gehängt  werden?  Die  Ver- 
legenheit, in  welcher  sich  die  Regierung  befindet,  mit  ihren  „Be- 
merkungen" eine  Druckseite  des  freilich  ziemlich  großen  Formats 
der  Protokolle  des  Parlaments  zu  füllen,  gibt  ihr  noch  kein  Recht 
den  Schein  zu  erwecken,  als  glaube  sie  selber  an  eine  Solidarität 
irgendeiner  Fraktion  der  sozialistischen  Arbeiterpartei  mit  Dingen, 
wie  Brandlegung  oder  Münzverfälschung,  eine  Solidarität,  von  der 
sie  sehr  wohl  weiß,  daß  sie  nicht  vorhanden  ist.  Daß  endlich  die 
„Bemerkungen"  in  einem  stilistisch  ganz  unentwirrbaren  Satze  be- 

*)  Das  berühmte  ungesetzliche  Gutachten,  das  der  Oberste  Gerichtshof 
über  die  „Dispensehe  n"  abgegeben  hat,  hat  hier  also  einen  würdigen 
Vorgänger. 

**)  Wohltuend  an  dem  „Gutachten"  ist  nur  das  eine  Moment,  daß  es  die 
einzige  Stelle  der  „Bemerkungen"  ist,  welche  in  einem  halbwegs  erträg- 
lichen Deutsch  geschrieben  ist;  fast  alle  anderen  Sätze  sind  in  dem  schlech- 
testen Hofratsjargon  abgefaßt.  (Anmerkung  von  Adler.) 


Zehn  Jahre  nach  Hainfeld.  13 


lumpten,  das  Ausnahmsgesetz  diene  dazu,  um  zu  hindern,  daß  die 

„radikale  Fraktion  sich  das  Übergewicht  über  die  sich  ihrer  Herr- 
schaft erwehrende  Partei  der  Gemäßigten  verschaffe",  ist  der 
Gipfel.  Nun  treibt  die  Regierung  Kar  noch  Fraktionspolitik  J  I)ie 
Polizeiorgane,  die  ihr  solchen  Unsinn  berichten,  sind  reif  für  die 
Entlassung,  das  mag  sie  uns  glauben.  Der  Umstand,  ob  die  .36  An- 
geklagten ihre  218  Jahre  von  üeschwornen  oder  von  Herrn  v.  Hol- 
zinger  und  seinen  Kollegen  zugesprochen  erhalten,  ist  für  die  Partei- 
entwicklung ganz  gleichgültig.  Wir  können  uns  sogar  gestatten,  der 
hohen  Regierung  —  kostenfrei  —  ein  Parteigeheimnis  zu  verraten: 
Die  „Gemäßigten"  sind  im  Aussterben  begriffen  und  ebenso  die 
„Radikalen";  was  aber  besteht,  blüht  und  wächst,  ist  eine  einzige, 
große,  sozialdemokratische  Arbeiterpartei,  die  sich  durch  alle  Aus- 
nahmsgesetze der  Welt  nicht  einschüchtern  läßt  und  ihre  Pflicht  tut 
und  tun  wird! 

Will  aber  eine  hohe  Regierung  wirklich  und  ernstlich  etwas  dazu 
tun,  daß  jene  terroristische  Richtung,  welche  sie  in  diesem  Gesetz 
zu  bekämpfen  angibt,  an  Boden  verliert,  so  verraten  wir  ihr  ein  un- 
fehlbares Mittel:  sie  hebe  alle  bisherigen  Ausnahmsgesetze  auf,  sie 
erlasse  im  Verordnungswege  „Ausnahmsverfügungen"  an  die 
Polizeibehörden,  daß  diese  sich  probeweise  auf  drei  Jahre 
aller  Eingriffe  politischer  Natur  enthalten;  sie  schicke  den  ver- 
schiedenen Frankls  und  Breitenfelds  den  blauen  Bogen  und  gebe 
dem  Staatsanwalt  andere  Aufträge  als  bisher. 

Aber  wozu  uns  mühen!  Es  ist  umsonst;  die  herrschende  Klasse 
will  durchaus  mit  verbundenen  Augen  ihrem  Ende  entgegenstürzen. 
Tatsächlich  unfähig  dazu,  ernstliche  ökonomische  Reformen  durch- 
zuführen, verbittert  sie  den  unausweichlichen  Kampf  durch  grau- 
same und  doch  ganz  fruchtlose  Versuche,  ihn  hinauszuschieben.  Nun 
wohl,  alle  Schuld  auf  ihr  Haupt*)! 

Zehn  Jahre  nach  Hainfeld. 

„Arbeiter-Zeitung",    2  5.  Dezember   18  98**). 

Am  Silvestertag  wird  es  zehn  Jahre  sein,  daß  die  österreichische 
Sozialdemokratie  zu  neuem  Leben  erstand.  Der  Hainfelder 
Parteitag  bedeutet  nicht  etwa  den  Geburtstag  unserer  Partei, 
vielmehr  hatte  sie  bereits  eine  zwanzigjährige  und  bewegte  Ge- 
schichte hinter  sich;  aber  von  Hainfeld  datiert  ihre  Wieder- 
geburt. 


*)  Diesem  Artikel  waren  gleich  die  „erläuternden  Bemerkungen"  der 
Regierung  angefügt,  in  denen  darauf  verwiesen  wurde,  daß  die  Wirksam- 
keit des  Anarchistengesetzes  vom  25.  Juni  1886  am  10.  August  1888  zu 
Ende  gehe  und  daß  die  Regierung  die  Verlängerung  bis  31.  August  1891 
für  geboten  halte  . . . 

'*)  Siehe  dazu  im  sechsten  Band  dieser  Schriften  den  Abschnitt  von  dei 
Einigung  der  Partei,  namentlich  den  Artikel  aus  dem  „Kampf"  „Der  Weg 
nach  Hainfeld".  (Bd.  VI,  Seite   1  ff.) 


14  Zur  Parteixeschichte. 

Wir  leben  schnell  und  der  kurze  Zeitraum  eines  Jahrzehnts 
genügt,  um  uns  fast  vergessen  zu  machen,  was  war.  Sozialdemo- 
kraten haben  gewöhnlich  auch  nicht  Zeit,  sich  zu  erinnern,  ihr  Blick 
haftet  nicht  an  dem  Werke,  das  getan  ist,  sondern  wird  der  Auf- 
gabe zugewendet,  die  sie  noch  zu  bewältigen  haben.  Trotzdem 
sollen  wir  zuzeiten  der  Erinnerung  ihr  Recht  lassen.  Die  Erkennt- 
nis der  Vergangenheit  lehrt  uns  die  Gegenwart  verstehen,  das  gilt 
auch  für  die  Parteigeschichte,  und  aus  dem  Verständnis  läßt  sich 
manche  Hoffnung,  vielleicht  manche  Warnung  gewinnen. 

Die  Geschichte  der  österreichischen  Arbeiterbewegung  läßt  sich 
im  großen  in  drei  Perioden  teilen,  deren  jede  ungefähr  ein  Jahr- 
zehnt umfaßt.  Von  ihrem  ersten  Erwachen  Ende  der  sechziger  Jahre 
an  stand  sie  zunächst  wesentlich  unter  dem  Zeichen  Lassallescher 
Ideen  und  Taktik.  Langsam  entwand  sie  sich  unter  fortwährenden 
Kämpfen  nach  außen  und  heftigem  Streite  im  Innern  den  Einflüssen 
der  damals  herrschenden  liberalen  und  kleinbürgerlich-demokra- 
tischen Vorstellungen.  Immer  klarer  tritt  das  herbe  Klassenbewußt- 
sein, das  Erfassen  der  sozialdemokratischen  Bewegung  als  Klassen- 
kampf hervor,  die  Partei  wächst  rapid,  sie  vertieft  sich  durch  die 
bewußte  Aneignung  der  Gedanken  von  Marx  und  Engels,  des  Kom- 
munistischen Manifests.  Ihre  Taktik  lehnt  sich  eng  an  die  deutsche 
Bruderpartei,  und  ihre  Hauptarbeit  gilt  der  Erringung  der  poli- 
tischen Kampfmittel,  die  der  deutschen  Sozialdemokratie  längst  zur 
Verfügung  stehen,  vor  allem  des  allgemeinen  Wahlrechtes.  Die 
Organisation  vollzog  sich  wesentlich  in  Arbeiterbildungsvereinen, 
doch  zeigten  sich  sehr  bedeutsame  Ansätze  zur  gewerkschaftlichen 
Organisation.  Die  Presse  wuchs  trotz  den  fortwährenden  Drang- 
salierungen von  Woche  zu  Woche.  Den  Untergrund  dieser  auf- 
steigenden Bewegung  bildete  die  rapide  Entwicklung  der  Industrie, 
die  nach  1866  ihren  Anfang  nahm,  eine  Welle,  die  im  Krachjahr  1873 
ihren  Höhepunkt,  aber  keineswegs  ihr  Ende  fand.  Die  Krise  in 
ihren  ökonomischen  Folgen  wird  der  Arbeiterschaft  erst  in  den 
darauffolgenden  Jahren  fühlbar  und  bereitet  langsam  den  Boden 
für  den  politischen  Umschwung  vor. 

Dieses  Moment  der  ökonomischen  Entwicklung  genügt  aber 
keineswegs,  um  die  nun  folgende,  etwa  mit  den  achtziger  Jahren 
beginnende  zweite  Periode  der  österreichischen  Arbeiterbewegung, 
die  Zeit  der  Spaltung  und  des  Eindringens  anarchistischer  Gedanken- 
gänge, zu  verstehen.  Gewiß  hatte  die  überhandnehmende  Arbeits- 
losigkeit und  bittere  Not  ihren  Teil  daran,  daß  eine  Taktik  aufkam, 
in  der  zwei  anscheinend  widersprechende  Elemente,  Verzweiflung 
und  Optimismus,  merkwürdig  gemischt  waren.  Wenn  es  ein  Land 
gibt,  wo  es  verständlich  ist,  daß  das  Proletariat  auf  seinem  Dornen- 
weg von  Verzweiflung  erfaßt  wird,  ist  es  Österreich.  Die  Schwierig- 
keit, in  dem  rückständigen  Lande  mit  seiner  Vieisprachigkeit  und 
seinen  bunt  durcheinandergewürfelten  Kulturzuständen  vorwärts- 
zukommen, ist  an  sich  eine  enorme,  aber  die  Empfindung  davon 
wurde  zur  Verzweiflung  gesteigert   durch  die  Arbeiterpolitik   der 


Zehn  Jahre  nach  Hainfeld.  ir> 

einstigen  Regierungen  und  ihrer  Bürokratie:  dafür  ist  die  Bezeich- 

nung  Wahnwitz  ein  unverdientes  Kompliment  und  boshafte  Dumm- 
heit ein  zu  schwacher  Ausdruck.  Daß  die  Regierungen  und  die  bür- 
gerlichen Parteien  der  Arbeiterschaft  abwechselnd  heuchlerische 
Schmeichelei  und  feigen  Mohn  boten,  sie  einmal  in  den  Staub  traten 
und  gleich  darauf  wieder  für  die  eigenen  Zwecke  ausspielen  wollten, 
war  nur  eines  der  Kiemente  dieser  famosen  Politik.  Aber  man  über- 
lege, daß  in  der  ganzen  Zeit  der  Scheinliberalen  Herrschaft,  seitdem 
sich  die  Arbeiter  das  Stück  Koalitionsrecht  im  Dezember  1869  im 
Sturm  erobert  hatten,  bis  in  die  achtziger  Jahre  hinein  die  Gesetz- 
gebung absolut  keinen,  aber  auch  nicht  den  kleinsten  Schritt  machte, 
um  ihren  Forderungen  entgegenzukommen,  und  zwar  weder  auf 
politischem  noch  auf  ökonomischem  Gebiet!  Die  Verwaltung  war 
damals  allerdings  rastlos  tätig;  sie  tötete  systematisch  jedes  Ver- 
trauen zu  der  Wirksamkeit  von  (iesetzen,  sie  rottete  mit  Stumpf 
und  Stiel  die  Rechtssicherheit  der  Arbeiter  aus,  sie  brachte  ihnen 
täglich  zum  Bewußtsein,  daß  alle  schon  bestehenden  staatsgrund- 
gesetzlichen  Garantien  für  sie  wertlos  und  nichtig  gemacht  worden, 
und  sie  impfte  ihnen  die  Überzeugung  ein,  daß  in  Österreich  Parla- 
ment und  Gesetzgebung  im  besten  Falle  ja  auch  nur  Gesetze 
schaffen  können,  deren  Geltung  in  der  Praxis  für  das  Proletariat 
ebenso  vernichtet  werden  würde  wie  die  Geltung  des  längst  be- 
stehenden Vereins-  und  Versammlungsrechtes,  der  Preßfreiheit,  des 
Koalitionsrechtes.  Niemals  hat  es  eine  Arbeiterbewegung  gegeben, 
die  kindlicheres  und  naiveres  Vertrauen  in  den  Segen,  ja  die  All- 
macht der  Gesetze  hatte,  als  die  österreichische  im  Beginn  der 
siebziger  Jahre.  Die  Bürokratie  und  die  Polizei  haben  verstanden, 
ihr  diesen  frommen  Kinderglauben  gründlich  auszuprügeln  und  die 
politisch  Rechtlosen  zu  überzeugen,  daß  in  diesem  Lande  auch  das 
politische  Recht  ihnen  nichts  helfen  würde.  So  wurde  der  Boden 
geschaffen,  auf  dem  die  „radikale"  Lehre  von  der  Wertlosigkeit 
aller  politischen  Rechte,  vor  allem  des  Wahlrechtes,  wuchern 
konnte.  Nicht  nur  im  einzelnen  und  im  Lockspitzel-Detailverkehr 
hatte  die  anarchistische  und  terroristische  Strömung  in  Österreich 
eine  offizielle  Quelle,  ihre  Erzeuger  waren  nicht  nur  die  Polizisten 
Frankl  und  Steyskal  und  die  Ausnahmsgesetze  von  Wien  und  Prag, 
sondern  nicht  minder  und  erst  recht  alle  Staatsmänner  von  Giskra 
bis  Taaffe. 

Dazu  kam  im  Jahre  1878  das  Sozialistengesetz  in  Deutschland. 
Die  österreichischen  Arbeiter  sahen,  daß  das  allgemeine  Wahlrecht 
vor  brutalster  Vergewaltigung  nicht  schützt,  aber  sie  konnten  noch 
nicht  sehen,  was  sie  die  Folge  lehrte,  daß  es  die  Vergewaltigung 
überwinden  hilft.  Die  vorgeschrittene  Entwicklung  der  deutschen 
Sozialdemokratie,  vor  allem  aber  auch  der  Besitz  des  Wahlrechtes 
ließ  die  deutsche  Arbeiterschaft  die  Gefahr  des  Abschwenkens  vom 
richtigen  Wege  vermeiden.  Die  anarchistische  Strömung,  die  natur- 
notwendig auch  drüben  entstand,  verrann  sehr  bakJ  im  Sande,  die 
Absplitterung  der  Mostschen  Sekte  blieb  in  Deutschland  völlig  be- 
deutungslos,  aber   sie   fand   in   Osterreich   einen   günstigen   Boden. 


16  Zur  Parteigeschichte. 


In  einem  Lande,  wo  die  gesetzlich  garantierte  öffentliche  Organi- 
sation als  Geheimbündelei  verfolgt,  wo  die  Verbreitung  der  vom 
Staatsanwalt  zensurierten  Schriften  bestraft  wurde,  mußte  der  Ge- 
danke aufkommen:  wenn  schon  —  denn  schon,  also  geheime  Organi- 
sation, „ein  Blick,  ein  Händedruck  genügt",  schrieb  ein  radikales 
Blatt,  also  Verbreitung  von  Flugblättern,  die  wenigstens  deutlich 
sind,  wenn  wir  uns  schon  auf  alle  Fälle  in  Gefahr  bringen  müssen. 
Und  nun  steigert  sich  die  Zahl  der  Opfer  ins  Maßlose,  die  Ver- 
urteilungen werden  immer  grausamer,  und  jede  einzelne  zeugt  neue 
Märtyrer. 

Dazu  kam,  was  wir  oben  das  optimistische  Element  nannten: 
maßlose  Überschätzung  der  eigenen  Kraft  sowie  der  revolutionären 
Bereitschaft  und  Explosivkraft  der  Massen.  Die  Lage  war  un- 
erträglich geworden,  darum  mußte  das  Ende  nahe  sein.  Von  diesem 
Standpunkt  wurde  nicht  nur  der  politische  Kampf,  sondern  auch 
jedes  Arbeiterschutzgesetz  verworfen,  dafür  sei  es  „zu  spät".  Mit 
dem  alten  Parteiprogramm  fand  man  sich  leicht  ab;  es  sei  „zur 
hindernden  Fessel  geworden",  schreibt  Peukert  im  Juli  1882;  „zur 
Wahrung  und  Vertretung  unseres  gemeinsamen  Prinzips  haben  wir 
das  Programm  verletzt",  und  wenige  Wochen  später  rühmt  er  als 
seine  Tat  den  Beschluß  einer  Versammlung  (am  31.  Juli  beim  Zobel), 
der  ausspricht,  „daß  jede  Reformbestrebung  in  der  bestehenden 
Gesellschaftsorganisation  nur  eine  Verlängerung  der  materiellen  und 
geistigen  Knechtschaft  des  arbeitenden  Volkes  bedingt".  Die  Er- 
lösung wird  nur  von  der  Katastrophe  erwartet,  an  deren  unmittel- 
bares Bevorstehen  man  glaubte  oder  glauben  machen  wollte.  Wie 
der  anarchistische  Demagoge  Peukert  sich  zum  Polizeianarchisten 
entwickelte,  gehört  nicht  hieher.  Jedenfalls  aber  hatten  einflußreiche 
Kreise  an  diesem  Verlauf  der  Arbeiterbewegung,  deren  Behandlung 
man  den  Kerkermeistern  überlassen  konnte,  so  lebhafte  Genug- 
tuung, daß  der  Staatsanwalt  Lamezan  die  Sozialdemokraten,  die 
man  die  Gemäßigten  nannte,  öffentlich  im  Gerichtssaal  als  „Sozia- 
listen im  Schlafrock"  und  „Wassersuppensozialisten*)"  frotzelte.  Aber 
auch  solche  Dinge  öffneten  niemand  die  Augen.  Der  Zwang  zur 
geheimen  Organisation,  zur  Verschwörertaktik  und  das  Fehlen  des 
Wahlrechtes  waren  jedes  allein  schon  genügend,  um  jede  Möglich- 
keit einer  Abschätzung  der  eigenen  Kraft  und  des  wirklichen  Zu- 
standes  der  Massen  zu  vernichten.  Jeden  Tag,  meinte  man,  müsse 
der  Funke  ins  Pulverfaß  fliegen;  der  Funken  kamen  genug,  sie 
fanden  nur  nasses  Stroh. 

Das  war  die  Zeit  der  Spaltung.  Denn  die  Sozialdemokraten 
ergaben  sich  der  neuen,  sich  radikal  nennenden,  mäßig  anschwel- 
lenden Strömung  nicht  ohne  hartnäckigen  Widerstand.  Aber  bald 
waren  die  „Gemäßigten"  die  Minorität,  die  sich  verzweifelt  gegen 
die  neue  Lehre    von    der  Nutzlosigkeit    des    politischen  Kampfes 


*)  Das  war  im  sogenannten  Merstallinger-Prozeß  vom  8.  bis  21.  März 
1883,  worüber  Näheres  in  der  Fußnote  zu  Adlers  Artikel  „Der  Weg  nach 
Hainfeld"  (Bd.  VI,  Seite  3)  zu  finden  ist. 


Zehn  Jähre  nach  ll.iinfekl.  17 


wehrte,  aber  sich  dabei  In  ein  doktrinäres  Extrem  verrannte.  In 
der  Wut  des  Kampfes  wurden  die  Radikalen  in  ihrer  Gesamtheit 
verantwortlich  gemacht  für  die  unnützen  und  grausamen  Gewalt- 
taten,  die  von  Merstallinger  bis  Fisert  ihnen  als  Partei  gewiß  nicht 
zuzurechnen  sind.  Gehässigkeit  und  Verdächtigung  machte  die  Kluft 
zwischen  den  Fraktionen  unüberbrückbar,  Spitzelei  und  Spitzel- 
riecherei  vergifteten  jeden  Verkehr.  Das  Wahlrecht  wurde  zum 
Schibboleth  der  Spaltung;  um  seinen  Wert  wogte  der  Kampf,  wäh- 
rend kein  Mensch  daran  dachte,  es  den  Arbeitern  zu  gewähren. 
Die  Radikalen  verstiegen  sich,  von  der  Wertlosigkeit  des  Wahl- 
rechtes ausgehend,  dazu,  es  als  schädlich  zu  erklären.  Die  Ge- 
mäßigten waren  nahe  daran,  nicht  programmatisch  als  Partei,  aber 
in  der  Hitze  des  Gefechtes,  das  Wahlrecht  und  den  parlamentari- 
schen Kampf  als  Panazee  zu  erklären,  jedenfalls  es  maßlos  zu 
überschätzen.  Immer  mehr  wurde  der  Blick  der  Arbeiterschaft  vom 
Kampfe  mit  den  Gegnern  abgelenkt  und  ihre  Kraft  im  Bruderzwist 
konsumiert.  Die  Verschwendung  an  Kraft,  an  Hingebung  und  Opfer- 
mut überstieg  alle  Begriffe.  Oft  wanderten  Dutzende  von  Genossen 
damals  auf  Jahre  in  den  Kerker  wegen  irgendeiner  wertlosen  Flug- 
schrift, die  in  kaum  viel  mehr  Exemplaren  verbreitet  wurde,  als 
sie  Menschen  kostete.  Die  löbliche  Justiz  aber  schlug  blind  drein 
unter  Radikale  und  Gemäßigte,  sie  peitschte  noch  die  Wellen . . . 

Da  kam  am  30.  Jänner  1884  der  Ausnahmszustand  in  Wien,  und 
•das  Schreckensregiment  in  Böhmen  wurde  auch  verschärft.  Mit 
einem  Schlage  sollte  alles  zertreten  werden,  meinte  die  erleuchtete 
Regierung.  Jetzt  wäre  die  Stunde  der  Explosion  gekommen  ge- 
wesen; Peukert  glaubte  so  fest  an  sie,  daß  er  —  nächtlicherweile 
über  die  Grenze  ging.  Die  Organisationen  wurden  zerrissen,  die 
Presse  erdrosselt,  die  Vereine  aufgelöst,  die  Vertrauensmänner 
ausgewiesen,  die  Kerker  füllten  sich  massenhaft.  Was  aber  von 
Vereinen  übrigblieb,  löste  sich  freiwillig  auf,  auf  Kommando  der 
Londoner  Freunde  Peukerts.  Das  Blatt  der  Radikalen,  die  „Zu- 
kunft", wurde  verboten,  die  „Wahrheit",  das  Organ  der  Gemäßigten, 
wurde  freiwillig  eingestellt,  es  war  für  ein  Wiener  Arbeiterblatt 
damals  zur  Schande  geworden,  leben  zu  dürfen. 

Grabesstille  folgte  statt  der  Explosion.  Die  Stille  wurde  hie  und 
da  unterbrochen  durch  das,  was  man  ein  „Lebenszeichen"  nannte, 
eine  Flugblattverbreitung  oder  irgendeinen  mit  kindischen  Mitteln 
unternommenen  Attentatsversuch,  in  jedem  Fall  als  einzige  Folge 
ein  mit  weittönender  Polizeireklame  aufgebauschter  Prozeß  und 
drakonische  Verurteilungen.  Der  Staat  wurde  wiederholt  gerettet; 
der  Weizen  der  Frankl  und  Konsorten,  der  Herren  der  Ausnahms- 
gerichte, blühte.  Während  der  Schreckensherrschaft  glomm  aber 
die  grimmige  Fehde  der  feindlichen  Fraktionen  in  den  Personen 
weiter,  und  bis  in  die  Gefängnisse  hinein  wurde  der  Bruderhaß 
mitgeschleppt. 

Aber  die  österreichische  Arbeiterbewegung  war  nicht  umzu- 
bringen, weder  durch  Mord  noch  durch  Selbstmord.  Jahre  brauchte 

Adler,  Briefe.    XI.  Bd.  2 


18  Zur  Parteigeschichte. 


es,  bis  sie  zur  Besinnung  kam,  aber  als  beide  Fraktionen  am  Boden 
lagen,  als  viele  der  prominentesten  Personen  vom  Schauplatz  ver- 
schwunden waren,  gewann  ein  gewisser  Grad  von  Nüchternheit 
Raum,  und  kühlere  Überlegung  wurde  möglich.  Im  Frühjahr  1886 
kam  Graf  Taaffe  auf  die  geniale  Idee,  ein  Anarchistengesetz  ein- 
zubringen. Einer  Anzahl  von  Abgeordneten  unter  der  Führung  von 
Pernerstorfer  und  Kronawetter  gelang  es,  die  Genehmigung  zu 
einer  Volksversammlung  zu  erlangen,  ein  damals  ganz  unerhörtes 
Ereignis,  und  in  dem  Büro  dieser  Versammlung,  die  am  9.  Mai  im 
Amorsaal  tagte,  saßen  zum  erstenmal  nach  Jahren  Gemäßigte  und 
Radikale  an  einem  Tische.  Es  war  ein  Riesenmeeting,  und  der 
Protest  gegen  den  Plan  der  Regierung  trat  zurück  gegen  das  Ge- 
fühl, das  alle  Anwesenden  beherrschte:  noch  lebt  die  Wiener  Ar- 
beiterschaft. Diesem  ersten  Schritt  folgte  der  zweite,  die  Gründung 
der  „Gleichheit"  zu  Weihnachten  desselben  Jahres.  Ihr  Aufruf  wen- 
dete sich  an  die  Arbeiterschaft  ohne  Rücksicht  auf  Fraktionsunter- 
schiede, bekannte  als  ihr  Programm:  Erkenntnis  der  Solidarität  der 
Arbeiterklassen  aller  Nationen;  Verbreitung  und  Vertiefung  des 
Klassenbewußtseins,  offene  Organisation  als  politische  Partei, 
Kampf  für  politische  Freiheit,  für  Arbeiterschutzgesetze.  Als  Taktik 
wurde  proklamiert  „offene",  das  wollte  sagen  öffentliche  Propa- 
ganda, und  das  war  der  entscheidende  Schritt.  Links  und  rechts, 
bei  Gemäßigten  wie  bei  Radikalen,  stieß  der  neue  Versuch  auf  das 
begreifliche  Hindernis  des  stärksten  Mißtrauens,  ja,  die  Massen, 
soweit  sie  zugänglich  wurden,  waren  bereitwilliger,  als  was  von 
Vertrauensmännern  der  alten  Organisationen  noch  übrig  war.  Aber 
der  Boden  gemeinsamer  Diskussion  war  gefunden,  und  in  harten 
Kämpfen,  aber  endlich  doch,  setzte  sich  die  Einsicht  in  die  Not- 
wendigkeit der  Einigung  durch.  Was  sich  in  Wien  vollzog,  fand  in 
den  Provinzen  sein  Echo,  langsam  knüpften  sich  die  Fäden  wieder 
an,  und  neues  Leben  erwachte.  Von  der  ganzen  Arbeiterpresse 
hatte  ein  einziges  Blatt  den  Sturm  überdauert:  der  „Volksfreund" 
in  Brunn,  nun  ergänzte  ihn  die  „Arbeiterstimme"  zu  einem  Wochen- 
blatt; „Rovnost"  in  Brunn  und  „Hlas  Lidu"  in  Proßnitz  wurden  ge- 
gründet und  bildeten  neue  Mittelpunkte  der  tschechischen  Organi- 
sation; in  Böhmen  konnte  man  erst  ein  Jahr  später  an  die  Möglich- 
keit einer  Arbeiterpresse  denken.  Die  Presse  war  damals  mehr  als 
ein  Mittel  der  Propaganda,  die  Redaktionen  waren  zugleich  Mittel- 
punkte der  Organisation,  sie  waren  die  einzigen  Vereinigungen,  die 
nicht  aufgelöst  werden  konnten,  deren  Bestand  trotz  allen  Ver- 
folgungen eine  Kontinuität  der  Tätigkeit  möglich  machte,  nach  außen 
waren  sie  somit  die  naturgemäßen  Träger  jeder  Initiative  und  jeder 
Organisation. 

Es  war  trotz  allen  Verfolgungen  und  Schwierigkeiten  doch  eine 
schöne  Zeit,  und  wer  sie  mitlebte,  wird  sich  mit  Freude  ihrer  er- 
innern, als  wir  in  Wien  wie  in  der  Provinz  in  langen  Nächten,  in 
bitterernsten  Diskussionen  den  Grund  legten  zur  neuen  gemeinsamen 
Tätigkeit.  „Programm"  durfte  es  nicht  heißen,  das  Wort  hatte  noch 
von  den  Zeiten  des  Haders  her  den  Beigeschmack  einer  Fessel  der 


Zehn   .lalirc  nach  Hainfeld,  19 

„Bewegungsfreiheit  des  einzelnen",  aber  daß  gemeinsame  „Prin- 
zipien" für  gemeinsame  Arbeit  nötig  seien,  leuchtete  selbst  den 
Genossen  ein,  die  sich  schwer  von  liebgewordenen  Scnlagworten 

losmachen  konnten.  Man  einigte  sich  in  dem  Grundgedanken,  daß 
politischer  Kampf  wie  soziale  Reform  notwendige  Mittel  seien,  um 
das  Proletariat  auf  die  Höhe  seiner  geschichtlichen  Aufgabe  zu 
bringen  oder,  wie  es  später  in  Hainfeld  gefaßt  wurde,  „das  Prole- 
tariat politisch  zu  organisieren,  es  mit  dem  Bewußtsein  seiner  Lage 
und  seiner  Aufgabe  zu  erfüllen,  es  geistig  und  physisch  kampffähig 
zu  machen  und  zu  erhalten,  ist  das  eigentliche  Programm  der  sozial- 
demokratischen Arbeiterpartei  in  Österreich." 

Damit  war  der  bedingte  Wert  der  politischen  Rechte  und 
des  Arbeiterschutzes  für  die  Bewegung  festgelegt,  das  war  die 
Zusammenfassung  des  „radikalen"  und  des  „gemäßigten"  Gedanken- 
ganges, die  sozialdemokratische  Synthese  der  demokratischen  und 
der  anarchistischen  Utopie.  Das,  was  in  anderen  Ländern  Minimal- 
programm heißt,  die  Forderungen  an  den  heutigen  Staat,  das  Wahl- 
recht eingeschlossen,  ließ  sich  zwanglos  in  diesen  Rahmen  bringen, 
und  als  Spur  der  alten  Kämpfe  blieb  nur  noch  die  Eigentümlichkeit 
unseres  Programms,  daß  es  bei  jeder  seiner  Forderungen  vor  deren 
Überschätzung  ausdrücklich  warnt  und  daran  erinnert,  daß  sie  nur 
Mittel  zum  Zwecke  sind. 

Länger  als  zwei  Jahre  dauerte  diese  Diskussion  und  die  Vor- 
bereitung der  formellen  Einigung.  Die  Vertrauensmänner  in  Wien 
wie  in  den  wichtigsten  Provinzorten  deutscher  wie  tschechischer 
Zunge  kannten  und  billigten  alle  Vorbereitungen.  Es  ging  auch 
äußerlich  nicht  leicht;  zwei  Geheimbundprozesse,  einer  von  Wien, 
einer  von  Reichenberg  ausgehend,  wurden  versucht,  blieben  aber 
Fehlgeburten.  Endlich  war  die  Einigung  eine  Tatsache,  die  reif  war, 
ausgesprochen  zu  werden. 

Dem  §  2  des  Versammlungsgesetzes  werden  wir  einmal  ein 
schönes  Monument  errichten.  Er  war  unsere  Zuflucht,  er  gab  uns 
den  Rahmen  für  unsere  Organisationsarbeit.  Öffentlich  durften  wir 
nicht,  geheim  wollten  wir  nicht  arbeiten,  so  war  es  die  Ironie  der 
Geschichte,  daß  von  der  ganzen  liberalen  Gesetzgebung  uns  das 
zum  Schutze  wurde,  was  nicht  darin  stand,  jene  dreimal  gebene- 
deite Lücke  im  Versammlungsgesetz,  die  seine  Anwendung  ver- 
bietet auf  „geladene  Gäste".  Die  Redaktionen  luden  ein,  Privat- 
leute, selbstverständlich  ohne  gewählt  zu  sein,  ohne  Mandat,  wurden 
geladen.  Wir  suchten  eine  Bezirkshauptmannschaft,  an  deren  Spitze 
kein  absoluter  Analphabet  stand,  und  fanden  in  dem  Grafen 
Auersperg,  jetzt  Sektionsrat  im  Handelsministerium,  einen  Mann, 
der  möglicherweise  Verstand  und  Gesetzeskenntnis  genug  haben 
konnte,  um  zu  begreifen,  daß,  was  wir  wollten,  völlig  gesetzmäßig 
und  unmöglich  zu  verbieten  sei.  Darum  wurde  das  kleine  Hain- 
feld in  der  Bezirkshauptmannschaft  Lilienfeld  als  Ort  des  Partei- 
tages gewählt.  Am  30.  Dezember   1888  kamen  dort   110  Cienossen 


20  Zur  Parteigeschichte. 


zusammen,  davon  7ü  stimmberechtigte.  Wir  wiederholen,  sie  hatten 
kein  Mandat,  und  doch  lag  in  ihrer  Hand  die  nächste  Zukunft  der 
Arbeiterschaft  Österreichs,  auf  sie  blickten  damals  vertrauensvoll 
Hunderte  und  sollten  bald  Zehntausende  von  Proletariern  blicken. 
Die  Einigung  wurde  nicht  in  Hainfeld  errungen,  der  Parteitag  hat 
sie  nur  besiegelt.  Das  kurze  Gefecht  mit  dem  einzigen*),  der  nicht 
wollte,  war  kein  Mißton,  sondern  weckte  alle  guten  Geister  der 
gesunden  Vernunft,  der  nüchternen  Einsicht  in  die  Tatsachen,  der 
Entschlossenheit,  das  Notwendige  zu  tun,  mag  es  die  hergebrachte 
Schablone  bezeichnen   wie  sie  will. 

Der  Neujahrstag  1889  fand  uns  als  geeinigte  Partei.  Es  ist  un- 
möglich, die  Empfindungen  zu  schildern,  die  uns  bewegten;  die 
Schlacken  der  traurigen  Geschichte  der  letzten  Jahre  waren  abge- 
fallen, ein  reines  Banner  trugen  wir  in  Händen,  die  Brust  voll  Mut, 
voll  Hoffnung,  voll  Siegeszuversicht. 

Wir  österreichischen  Sozialdemokraten  dürfen  uns  heute,  nach 
zehn  Jahren,  in  aller  Bescheidenheit  sagen,  wir  haben  gehalten, 
was  wir  uns  in  Hainfeld  zugeschworen  haben.  „Seines  Fleißes  darf 
sich  jeder  rühmen",  und  wir  haben  fleißig  gearbeitet.  Als  zer- 
sprengte Glieder  zweier  hadernder  Fraktionen  haben  wir  begonnen, 
und  in  zehn  Jahren  hat  sich  das  österreichische  Proletariat  eine 
große  Partei  aufgebaut,  hat  es  ein  Stück  politische  Macht  errungen, 
hat  es  den  umfassenden  Rahmen  einer  wirksamen  Gewerkschafts- 
organisation geschaffen.  Wir  sind  mit  der  Regierung  und  ihrer 
Polizei  fertig  geworden  und  haben  die  Gegner  gezwungen,  knur- 
rend und  widerwillig  die  Tatsache  des  kräftigen  Lebens  und 
Wachsens  der  Sozialdemokratie  anzuerkennen.  Wir  haben,  was  in 
Hainfeld  erst  keimte,  zur  vielgestaltigen  Entfaltung  gebracht,  haben 
durch  eine  reichgegliederte  Organisation  die  nationale  Schwierig- 
keit überwunden,  ja,  wir  haben  das  Schwerste  geleistet  und,  zum 
Teil  wenigstens,  die  österreichische  Schlamperei  besiegt,  in  uns 
und  bei  den  anderen.  Dabei  darf  man  nicht  vergessen,  daß  wir  arm 
waren  und  sind  an  Menschen,  an  Kräften;  eine  ganze  Generation 
von  fähigen  Proletariern,  von  begabten,  aufopferungsfähigen  Men- 
schen hat  uns  der  Zwist  gelähmt,  hat  uns  die  feige  Gewalt  er- 
schlagen. Sie  sind  verdorben,  gestorben,  die  Verzweiflung  im 
Herzen.  Ihrer  wollen  wir  heute  gedenken,  die  die  neue  Hoffnung, 
den  neuen  Kampf  nicht  erlebten,  die  die  neue  Hoffnung  nicht  fassen 
konnten  und  deren  Erben  und  Rächer  wir  sein  wrollen. 

Und  nun  genug  der  Erinnerungen.  Zehn  Jahre  sind  lang  für  die. 
die  Tag  um  Tag,  Stunde  für  Stunde  im  Kampfe  stehen;  ein  Jahr- 
zehnt ist  ein  Augenblick  im  Verlauf  der  Geschichte.  Wir  wissen, 
daß  wir  am  Anfang  stehen,  aber  wir  wollen  uns  einen  Augenblick 
daran  freuen,  daß  dieser  Anfang  gut  ist.  v.  a. 


*)  Der  Schneider  Rißmann  aus  Graz,  der,  nachdem  die  Prinzipien- 
erklärung mit  69  gegen  3  Stimmen  abgelehnt  worden  war,  an  den  weiteren 
Verhandlungen  nicht  mehr  teilnahm.  (Bd.  VI,  Seite  54  und  151.) 


Das  Jubiläum  des  Arbeiterbildungsvereines.  ^l 


Das  Jubiläum  des  Arbeiterbildungs- 
vereines. 

Pestversammlung  am  6.  De /cm  her   1902*). 

Wenn  wir  diesen  Verein  ehren,  ehren  wir  unsere  Ge- 
schichte, mit  der  er  verknüpft  ist  wie  keine  andere  Organisation. 

Mit  der  Bildung,  der  dieser  Verein  dient,  hat  es  eine  ganz  eigene 
Bewandtnis.  Bildung  ist  ein  Wort  und  hat  genau  so  viel  Inhalt,  wie 
der  zu  denken  imstande  ist,  der  dieses  Wort  ausspricht.  Das,  was 
man  gewöhnlich  darunter  verstellt,  das,  was  die  bürgerliche  Gesell- 
schaft als  Bildung  anerkennt,  das  ist  vor  allem  die  Fähigkeit,  ortho- 
graphisch zu  schreiben,  orthographisch  zu  reden,  orthographisch  zu 
essen  und  orthographisch  sich  anzuziehen.  (Heiterkeit.)  Dazu  muß 
man  noch  ein  gewisses  Quantum  von  Dichtern,  Komponisten  und 
Philosophen  dem  Namen  nach  kennen  und  muß  beiläufig  wissen, 
wann  man  im  Theater  Bravo  zu  rufen  hat.  Das  ist  die  Bildung  der 
bürgerlichen  Gesellschaft.  Man  ist  auch  gebildet,  wenn  man  für 
Aufklärung  und  Fortschritt  ist,  dagegen  ist  man  schon  sehr  un- 
gebildet, wenn  man  sich  vornimmt,  darunter  etwas  Klares  zu  ver- 
stehen. Mit  einem  Worte:  zwischen  landläufiger  Bildung  und  prole- 
tarischer Bildung  ist  ein  himmelweiter  Unterschied.  Wir  verlangen 
von  euch  keinerlei  Art  von  Orthographie  (Heiterkeit),  wir  verlangen 
von    euch    nichts    als    Selbsterkenntnis.    Darüber    nachzu- 


*)  Der  Arbeiterbiidungsverein  in  der  Gumpendorferstraße  im  Bezirk 
Mariahilf  —  deshalb  gewöhnlich  Gumpendorfer  Arbeiterbildungsverein  ge- 
nannt —  war  im  Dezember  1867  gegründet  worden.  Die  Statuten  waren, 
allerdings  vergeblich,  zum  erstenmal  am  18.  Dezember  1866  eingereicht 
worden.  Im  Juli  1867  wendete  sich  deshalb  eine  Arbeiterabordnung  mit 
einer  Denkschrift  an  den  Minister  des  Innern,  den  Grafen  Taaffe,  worin 
sie  in  sehr  patriotischen  Worten  um  die  Bewilligung  eines  Arbeitervereines 
ersuchte.  Der  Abordnung  gehörten  sowohl  Anhänger  von  Schultze-Delitzsch 
wie  von  Lassalle  an.  Taaffe  verlangte  die  Empfehlung  durch  einige  Indu- 
strielle, und  erst  als  eine  Anzahl  von  Gewerbetreibenden  als  unterstützende 
Mitglieder  beitraten,  die  von  der  Polizei  als  vertrauenswürdig  erklärt 
wurden,  wurden  die  Statuten  am  18.  November  1867  genehmigt.  Die  Regie- 
rung, das  sogenannte  „Bürgerministerium"  Auersperg,  von  dessen  Innen- 
minister Dr.  Giskra  das  Wort  stammt,  daß  die  soziale  Frage  bei  Boden- 
bach aufhöre,  ließ  den  Verein  streng  überwachen,  weil  mittlerweile  die 
Lassalleaner  die  Herrschaft  im  Verein  erobert  hatten.  Schon  am  13.  März 
1868  forderte  Taaffe  die  Ministerkoiiferenz  auf,  „dem  in  seineu  Konse- 
quenzen unabsehbaren  Treiben  des  Vereines  ein  Ende  zu  bereiten". 

Am  1.  Dezember  1887  wurde  beim  Schwender  das  zwanzigste 
Gründungsfest  des  Vereines  abgehalten,  das  in  der  Geschichte  der  Einigung 
seine  wichtige  Rolle  spielte.  (Siehe  Adlers  Artikel  „Der  Weg  nach  Hain- 
feld",  Bd.  VI,  Seite  16.)  -  Siehe  auch  das  Vierzigjahrjubiläum  und  Adlers 
Rede  am  8.  Dezember  1907. 

Arn  6.  Dezember  1902  fand  beim  Wirhberger  das  Fest  des  35jähngen 
Bestandes  statt.  Die  Festrede  hielt  Adler,  der  sich  vornehmlich  mit  den 
Bildüngsbestrebungen   der  Arbeiterschaft   beschäftigte. 


22  Zur  Parteigeschichte. 


denken,  wie  Sie  geworden  sind  und  was  aus  Ihnen  werden  soll,  Ihr 
Verhältnis  zur  Gesellschaft  geistig  zu  erfassen,  das  nenne  ich  Bil- 
dung. Und  auf  eine  noch  höhere  Stufe  der  Bildung  gelangen  Sie, 
wenn  einmal  die  Erkenntnis  den  Willen  geweckt  hat,  wenn  aus 
dem  Bewußtsein,  Produkte  der  Gesellschaft  zu  sein,  das  bewußte 
Streben  erwächst,  ihre  Herren,  ihre  Former  und  Lenker  zu  werden. 
Die  Bildung  der  Arbeiterklasse  besteht  darin,  daß  sie  sich  mit  Be- 
wußtsein eine  große  Aufgabe  gestellt  hat  und  von  ihr  erfüllt  ist, 
daß  sie  in  klarer  Einsicht  den  Aufbau  einer  Gesellschaftsordnung 
betreibt,  die  den  Proletariern  eine  ganz  andere  Bildungsmöglichkeit 
bringen  wird,  als  es  unser  armer  Bildungsverein  mit  seinen 
schwachen  Mitteln  vermocht  hat. 

In  diesem  Streben  kann  uns  nichts  hindern,  selbst  aus  Nieder- 
lagen schöpfen  wir  neue  Kräfte  und  neue  Waffen.  Die  Gegner  der 
Bildung,  wie  wir  sie  meinen  —  von  Lueger  bis  Wilhelm  — ,  was 
können  sie  mehr  tun,  als  in  blinder  Verkennung  ihres  Wesens  in 
ohnmächtiger  Wut  wilde  Schreie  auszustoßen,  die  uns  nur  nützen, 
weil  sie  ihre  absolute  Unwissenheit  enthüllen.  Es  ist  vielleicht 
polizeiwidrig,  zu  sagen,  daß  dies  bei  Kaiser  Wilhelm  zutrifft;  aber 
das  können  wir  ohne  weiteres  feststellen,  daß  unser  Lueger  mit 
einer  wahrhaft  kaiserlichen  Unwissenheit  ausgerüstet 
ist.  (Schallende  Heiterkeit  und  Beifall.) 

Daran  ist  nicht  zu  rütteln:  Der  Arbeiter,  der  zum  Bewußtsein 
seiner  Würde  und  seiner  Stellung  in  der  Gesellschaft  gelangt  ist 
—  der  gebildete  Arbeiter  — ,  steht  in  unserem  Lager.  Wer 
Knecht  sein  will  und  Werkzeug  anderer  Klassen,  der  mag  hingehen 
und  anderen  Parteien  dienen.  Wer  sich  aber  selber  achtet,  der  steht 
in  unseren  Reihen  und  hält  zu  uns,  was  da  auch  kommen  mag.  Er 
mag  da  manchmal  mit  uns  irren,  er  mag  auch  manchmal  mit  uns 
geschlagen  werden,  er  wird  aber  auch  mit  uns  siegen  und 
triumphieren.  (Stürmischer  Beifall.) 

Vierzig  Jahre  Arbeiterbildungsverein. 

Festversammlung  am  8.  Dezember  190 7*). 

Werte  Genossen  und  Genossinnen!  Geehrte  Festgäste!  Erlauben 
Sie,  daß  ich  vor  allem  mich  einer  Pflicht  entledige.  Ich  bin  beauf- 
tragt, den  Arbeiterbildungsverein  zu  seinem  Feste  im  Namen  der 
sozialdemokratischen  Abgeordneten  zu  begrüßen.  Es  würden  unsere 
Abgeordneten  hier  viel  zahlreicher  erschienen  sein,  wenn  sie  nicht 
schon  gestern  zum  allergrößten  Teil  von  Wien  abgereist  wären, 
um  in  großen  Volksversammlungen  die  letzten  politischen  Ereig- 
nisse zu  besprechen.  Sie  dürfen  aber  überzeugt  sein,  daß  in  unseren 
Abgeordneten  das  Gefühl  dafür  ein  lebendiges  ist,  daß  es  sich  hier 

*)  Wie  beim  35.  Gründungsfest  des  Wiener  Arbeiterbildungsvereines 
am  6.  Dezember  1902,  so  hielt  Adler  auch  bei  der  Festversammlung  zum 
Jubiläum  des  vierzigjährigen  Bestandes  die  Festrede.  Über  die  Geschichte 
des  Vereines  siehe  die  näheren  Angaben  bei  der  Rede  am  6.  Dezember  1902. 


Vierzig  Jahre  Arbeiterblldungsverein,  23 


um  ein  Fest  handelt,  das  anknüpft  an  die  ältesten  und  besten  Tradi- 
tionen unserer  Partei. 

Vierzig  Jahre! 

Man  merkt,  daß  man  alt  wird!  Wir  Alten  stehen  vor  Ihnen,  vor 
der  großen  Zahl  von  Ihnen,  die  das  Glück  haben,  noch  jung  zu  sein; 
wir  kommen  zu  Ihnen  mit  unseren  Erinnerungen  und  um  Ihnen  zu 
erzählen  die  Geschichte  dieses  Vereines,  die  zugleich  eine  Ge- 
schichte der  Proletarierbewegung  in  Österreich  ist,  und  wir  kom- 
men zu  Ihnen,  um  Ihnen  zu  sagen,  daß  Sie  aus  dieser  Geschichte 
lernen  sollen  und  den  Mut  fassen  sollen  zum  Kampfe.  Ich  könnte 
eigentlich  als  Vertreter  der  paar  alten,  grauen  Leute  hier  sprechen, 
wenn  Sie  mich  wohl  auch  nicht  gelten  lassen  würden,  weil  ich  nicht 
unter  den  Gründern  Ihres  Vereines  war.  Aber  dabei  war  ich  schon 
und  meine  Legitimation  dafür  ist  meine  Mitgliedskarte  vom  Jahre 
1869  und  meine  erste  politische  Erinnerung  ist  die,  daß  man  mir  im 
Jahre  1870  einen  Vortrag  über  die  Französische  Revolution  dadurch 
störte,  daß  man  die  Versammlung  auflöste.  Auch  unser  Genosse 
Pernerstorfer  war  damals  schon  Vortragender,  und  wir  beide 
erinnern  uns  mit  großer  Freude  daran,  daß  wir  als  junge  Studenten 
dabei  waren  beim  ersten  Kampfe.  Diese  persönliche  Erinnerung  ist 
etwas  Unauslöschliches.  Es  ist  etwas  ganz  eigenes  um  dieses  erste 
Erwachen  der  Arbeiterbewegung  in  Österreich  mit  ihrer  naiven 
Begeisterung,  der  jugendlichen  Frische,  dem  überschäumenden 
Idealismus  des  Proletariats,  dem  auf  der  anderen  Seite  gegenüber- 
standen die  Borniertheit,  die  Brutalität  und  Ignoranz  der  Herrschen- 
den. Sie,  die  Jungen,  können  sich  nicht  gut  hineindenken  in  den 
Zustand  von  damals.  Heute  wird  die  Arbeiterschaft,  man  möchte 
sagen,  umschmeichelt;  damals  wollte  man  sie  nur  brutalisieren  und 
zertreten.  Dabei,  müssen  Sie  denken,  waren  die  Herren  sich  ihrer 
Brutalitäten  gar  nicht  bewußt  und  haben  bei  ihren  Verfolgungen 
geglaubt,  daß  sie  im  Interesse  der  Freiheit  des  Bürgertums,  des 
menschlichen  Fortschrittes  handelten.  Sie  wollten  ihre  Götzenbilder 
freihalten  von  Berührungen  durch  das  kommune,  ordinäre  Volk 
mit  seinen,  wie  sie  meinten,  wahnsinnigen  Übertreibungen. 

Meine  lieben,  jungen  Genossen!  Wenn  Sie  heute  sich  erfreuen 
einer  Bewegungsfreiheit,  die  zwar  durch  die  Existenz  von  Poli- 
zisten auch  bei  solchen  Gelegenheiten  verschönert,  wenn  auch  nicht 
gestört  wird,  wenn  Sie  sich  heute  erfreuen  der  Möglichkeit,  sich 
nach  Wunsch  zu  organisieren,  der  Möglichkeit,  aus  Bildungsquellen 
zu  schöpfen,  die  Privilegien  waren  der  Besitzenden,  so  möchte 
ich  Sie  doch  davor  warnen,  zu  glauben,  daß  Sie 
dieser  Bürgschaften  für  die  weitere  Entwick- 
lung auch  für  immer  sicher  sein  werden. 

Der  Verein  ist  wiederholt  aufgelöst  und  neu  gegründet  worden. 
Die  Polizei  hat  ihn  begraben;  aber  er  ist  lebendig  geblieben,  er 
ist  ein  nichtpolitischer  Verein  noch  heute,  trotzdem  auf  dem  Boden 
dieses  nichtpolitischen  Vereines  das  wichtigste  politische  Faktum 
erstanden  ist,  das  die  neue  Geschichte  Österreichs  kennt:  die 
sozialdemokratische   Bewegung!    Aber  diese   Hemm- 


24  Zur  ParteiKeschichtu. 


nisse,  die  kleinlichen,  heute  lächerlich  abgeschmackten  Quälereien, 
waren  trotzdem  keine  schlechte  Schule  für  uns,  und  ich  möchte 
wünschen,  daß  auch  die  jüngeren,  die  unter  einem  besseren  Himmel 
aufwachsen,  sich  ebenso  kräftig  entwickeln  wie  unsere  alten  Ge- 
nossen sich  entwickelt  haben  unter  so  schlechten  Bedingungen. 
Es  geht  ja  ganz  gut  vorwärts,  aber  ich  halte  die  Gefahr  eines 
Rückschlages  für  durchaus  nicht  endgültig  überwunden.  Partei- 
genossen, wir  stehen  Mächten  gegenüber,  deren  Kraft  ich  nicht 
überschätzen  will,  deren  rücksichtsloser  Brutalität  ich  aber  alles 
zutraue;  diese  Mächte  werden  zu  allem  entschlossen  sein,  wenn  es 
ihnen  an  den  Hals  geht  —  und  es  wird  ihnen  hoffentlich  an  den  Hals 
gehen  — ,  sie  werden  zu  allen  Mitteln  greifen,  zu  den  perfidesten 
und  zu  den  dümmsten! 

Wir  erinnern  uns  heute  der  Schicksale,  in  die  den  Verein  der 
Ausnahmszustand  sowie  die  Spaltung  der  Partei  versetzten.  Das 
Gründungsfest  vor  zwanzig  Jahren  brachte  die  Versöhnung  s- 
und  Einigungsfeier.  Ich  sehe,  sagte  der  Redner,  noch  die 
rote  Fahne  der  Bäcker  vor  mir.  Unter  dem  Schwenken  der  roten 
Fahne  und  dem  Gesang  der  Marseillaise  haben  wir  wieder  be- 
gründet die  neue  sozialdemokratische  Arbeiterbewegimg.  Ich  habe 
damals  alte  Männer  weinen  gesehen,  die  mitgemacht  haben  die 
Qual,  den  Schmerz  und  den  Kummer,  den  die  Spaltung  über  die 
Partei  gebracht  hatte. 

Genosse  Nemec,  der  die  Fahne  geschwungen  hatte,  und  ich 
wurden  damals  zu  Geldstrafen  verurteilt,  und  derjenige,  der  die 
Strafen  verhängte,  ist  der  jüngst  verstorbene  Bernhard  F  r  a  n  k  1. 
Der  Mann  ist  tot;  aber  wir  können  von  der  Geschichte  der  öster- 
reichischen Arbeiterbewegung  nicht  sprechen,  ohne  zu  sagen,  wie 
dieser  Mann  über  so  viele  von  Proletarierfamilien  bitteres  Leid 
gebracht  hat. 

Parteigenossen!  Heute  ist  der  Arbeiterbildungsverein  lange 
nicht  mehr  das,  was  er  einst  für  die  Partei  war,  er  kann  es  nicht 
sein.  Heute  haben  wir  für  die  vielfachen  Bedürfnisse  des  Proleta- 
riats ebensoviel  wirksame  Organe,  wir  haben  die  politischen  und 
auch  gewerkschaftlichen  Organisationen.  Mit  allen  diesen  Organi- 
sationen ist  verbunden  eine  weitverzweigte  Bildungsorganisation. 
Vom  ersten  Schritt  an,  den  das  Proletariat  gemacht  hat,  war  ja 
der  Heißhunger  nach  Wissen  immer  sein  Begleiter.  Aber 
wie  spärlich  waren  die  Quellen,  aus  denen  der  Arbeiter  schöpfen 
konnte!  Das  Bildungsstreben  der  Arbeiterschaft  war  ausschließlich 
auf  die  Arbeiterschaft  selbst  gestellt.  Genossen,  wenn  wir  heute 
sehen,  daß  Gelehrte,  Forscher,  Lehrer  der  Hochschule  sich  eine 
Pflicht  und  Ehre  daraus  machen,  der  Arbeiterklasse  Bildung  nahe- 
zulegen, und  wrenn  wir  ihnen  dafür  danken  und  sie  dafür  ehren, 
so  dürfen  wir  doch  nicht  vergessen,  daß  der  Umstand,  daß  solche 
Bestrebungen  möglich  sind,  herbeigeführt  wurde  durch  die  Arbeiter- 
schaft selbst.  (Stürmischer  Beifall.)  Das  ist  so  geworden  trotz  aller 
Knebelung,  trotz  aller  Unterdrückung  der  Arbeiterschaft,  und  es 
ist  geworden  durch  die  Kraft  der  Arbeiterschaft.  Der  Bildungsverein, 


h.i^   Lied  dei    Arbeit  ^r> 


dessen  Fest  wir  heute  feiern,  ist  ein  waekerer  Pionier  in  diesem 
Kampfe  gewesen.  Wenn  die  Alten  beute  zurückblicken  auf  den  vier- 
zigjährigen Kampf,  so  möge  es  ihnen  eine  Genugtuung  sein,  daß  das, 
was  sie  geschaffen  haben,  dato  dieser  Bildungsvercin,  fast  möchte 
ich  sagen,  kleiner  geworden  ist,  je  älter  er  geworden  ist.  Klein, 
denn  er  war  einmal  alles,  heute  ist  er  wenig  im  Vergleich  zu  der 
mächtigen  Entwicklung  der  Proletarierbewegung.  Der  Verein  ist 
der  Keim  gewesen;  aber  was  aus  diesem  gewachsen  ist,  das  ist 
unsere  mächtigste  Freude. 

Zum  Schluß  noch  ein  Wort  an  die  Jungen!  Im  Namen  der  Alten 
sage  ich  Ihnen,  vergessen  Sie  nicht,  daß  Sie  ernste  Pflichten  haben, 
ernste  Pflichten  gegen  sich  und  gegen  die  Klasse,  der  Sie  an- 
gehören! Sie  arbeiten  heute  unter  viel  leichteren  Bedingungen  und 
Sie  haben  darum  die  doppelte  Verpflichtung  zur  Arbeit!  Gestatten 
Sie,  daß  ich  Ihnen,  wenn  es  auch  in  eine  Festrede  nicht  gut  paßt, 
sage,  daß  wir  Alten  den  Eindruck  haben,  als  hätten  wir 
mehr  gelernt,  als  wären  wir  fleißiger  gewesen, 
als  hätten  wir  es  ernster  mit  der  Bildung  unserer 
Überzeugung  genommen.  Man  ist  nur  im  Ernst  Sozial- 
demokrat und  man  verdient  diesen  Namen  nur,  wenn  man  weiß, 
warum  man  einer  ist.  Unsere  Kraft  stammt  nicht  allein  aus  dem 
Herzen,  nicht  allein  aus  den  Bedürfnissen  des  Proletariats,  sie 
stammt  vor  allem  aus  den  arbeitenden  Gehirnen.  Daß  sich  die  Ar- 
beiterschaft überall  Bildungsvereine  gegründet  hat,  ist  der  deut- 
liche Beweis,  daß  instinktiv  jeder  einzelne  es  empfindet,  wodurch 
wir  allein  vorwärtskommen  können.  Wo  wären  wir,  wenn  nicht 
die  Leute,  die  die  Träger  unserer  Bewegung  waren,  neben  der  Be- 
geisterung auch  noch  das  Wissen  gehabt  hätten,  wenn  sie  nicht 
die  dem  Arbeiter  eigentümliche  Erkenntnis  besessen  hätten? 

Die  jungen  Leute  sind  unsere  Hoffnung!  Dem  Bildungsverein, 
in  dessen  Zeichen  wir  heute  den  festlichen  Tag  begehen,  wünschen 
wir,  daß  er  noch  viele  Tage  des  Erfolges  feiern  möge,  daß  er  er- 
leben möge  den  Sieg  der  Ideen  der  Sozialdemokratie.  In  diesem 
Sinne  begrüßen  wir  den  Verein  zu  seinem  Geburtstag!  Und  Ihnen 
rufen  wir  zu:  Bleibt  treu  den  Grundsätzen  der  Sozial- 
demokratie, bleibt  treu  der  Pflicht,  zu  lernen, 
bleibt  treu  der  Pflicht,  zu  kämpfen! 

Das  Lied  der  Arbeit. 

Festversammlung  am  3  0.  Oktober  189 8*). 

Wir  feiern  heute  ein  Fest  persönlicher  Art,  ein  Fest,  das  einem 
Manne  gilt,  der  an  der  Wiege  der  österreichischen  Arbeiterbewe- 
gung stand  und  ihr  das  Wiegenlied  gesungen  hat.  Die  Arbeiter- 

)  Arn  30.  Oktober  fand  in  den  Sofiensälen  der  Gedenktag  der  ersten 
Aufführung  des  „Liedes  der  Arbeit"  vor  dreißig  Jahren  statt;  an  der  Feier 
nahmen  utieh  der  Verfasser  des  Liedes  .1.  .1.  Zapf  und  sein  Komponist  Josef 
Seheu   teil.  Die  Festrede  hielt  Ad'er.  Auf  die  Ovation,  die  die  Versamm- 


26  Zur  Parteigeschichte. 


klasse  hatte  sich  eben  selbständig  zu  betätigen  begonnen,  da  ent- 
stand gleich  das  Bedürfnis  nach  einem  Lied.  Es  wurden  Lieder  von 
auswärts  importiert  und  mit  Begeisterung  gesungen,  aber  keines 
war  so  recht  den  Eigentümlichkeiten  der  österreichischen  Bewegung 
angepaßt.  Da  singt  der  junge  Scheu  das  Lied,  das  der  junge  Ar- 
beiter Zapf  gedichtet  hat,  und  obwohl  es  anfangs  fast  gar  nicht 
beachtet  wird,  ist  es  wenige  Wochen  nach  seinem  Entstehen  auch 
außerhalb  Wiens  schon  populär.  Die  Geschichte  des  Liedes  der 
Arbeit  ist  die  Geschichte  der  österreichischen  Arbeiterbewegung. 
Welche  Veränderung  hat  sie  durchgemacht!  Auf  dem  Programm 
eines  Gründungsfestes  des  Badener  Arbeitervereines  steht  neben 
dem  Lied  der  Arbeit  die  „Wacht  am  Rhein".  Heute  finden  sich  diese 
Lieder  nicht  mehr  beisammen.  (Heiterkeit.)  Das  war  aber  auch 
damals  kein  nationaler  Verein,  sondern  ein  Verein,  dessen  erste 
Handlung  der  Beschluß  war,  der  sozialdemokratischen  Partei  bei- 
zutreten. Aber  alles,  was  damals  das  Bürgertum  bewegte,  fand  noch 
im  Proletariat  einen  Widerhall,  und  es  hat  der  Arbeit  vieler  Jahre 
bedurft,  bis  eine  klare  Scheidung  der  Prinzipien  erfolgte.  Das  Lied 
der  Arbeit  hat  seine  Verbreitung,  abgesehen  von  der  hinreißenden 
Vertonung,  dadurch  erlangt,  daß  es  ein  instinktiver  Ausdruck  des 
proletarischen  Klassenbewußtseins  ist.  Das  Kulturbedürf- 
nis, das  daraus  spricht,  war  damals  den  herrschenden  Klassen  noch 
ganz  unbekannt,  ein  Arbeiterlied,  das  die  Würde  der  Arbeit  preist, 

lung  dem  Komponisten  bereitete,  ergriff  dieser  das  Wort  und  sagte  unter 
anderem: 

Börne  schrieb  einmal:  „Wenn  wir  nicht  »sechs«  sagen  dürfen,  sagen 
wir  »zweimal  drei«."  So  ging  es  auch  uns.  Weil  wir  nicht  von  der  inter- 
nationalen revolutionären  Sozialdemokratie  sprechen  durften,  sangen  wir 
„Hoch  die  Arbeit".  Daß  es  kein  musikalisches  Meisterwerk  ist,  dessen 
bin  ich  mir  wohl  bewußt.  (Heftiger  Widerspruch  der  Versammlung.) 
Bitte,  das  muß  ich  besser  verstehen.  (Heiterkeit.)  Es  mußte  aber  kom- 
poniert werden,  so  wie  all  die  anderen  Freiheitsgesänge,  deren  Vertonung 
mein  Lebenswerk  war,  ihren  Komponisten  finden  mußten.  Und  da  sich 
eben  kein  größerer  fand  (abermals  Widerspruch),  bin  ich  in  die  Bresche 
getreten  und  habe  nach  meinen  bescheidenen  Kräften  das  geleistet,  was 
ich  konnte   und  was  getan  werden  mußte.  (Stürmischer  Beifall.) 

Über  die  Entstehung  des  „Liedes  der  Arbeit"  hat  Rudolf  H  a  n  s  e  r  in  der 
„Illustrierten  Familienbibliothek"  vom  12.  März  1891  nähere  Angaben  ge- 
macht (die  auch  in  Brügels  „Geschichte  der  österreichischen  Sozialdemo- 
kratie", Bd.  I,  Seite  98,  abgedruckt  sind).  Danach  hat  man  im  Frühjahr  1868 
einmal  im  Briefkasten  des  damals  neugegründeten  sogenannten  Gumpen- 
dorfer  Arbeiterbildungsvereines  ein  Gedicht  vorgefunden,  dessen  Titel  „Das 
Lied  der  Arbeit"  lautete.  Der  Verfasser  war  nicht  genannt.  Der  bekannte 
Arbeiterdichter  Andreas  Scheu  übergab  das  Lied  seinem  Bruder  Josef, 
daß  er  es  komponiere.  Erst  als  das  Lied  schon  allgemein  gesungen  wurde, 
wurde  als  der  Dichter  der  Graveur  J.  J.  Zapf  festgestellt,  der  im  Jahre 
1847  geboren  wurde.  Die  Gründung  des  Arbeitergesangvereines  als  Sektion 
des  Arbeiterbildungsvereines  begrüßte  er  mit  der  Widmung  des  Liedes.  Er 
ist  sonst  in  der  Partei  wenig  hervorgetreten.  Josef  Scheu  wurde  am 
15.  September  1841  geboren  und  ist  am  12.  Oktober  1904  gestorben.  (Siehe 
Adlers  Rede  an  seinem  Sarg.) 


Am  Sarge  Jose!  Scheus.  '^ 


sie  als  das  Heiligste  und  Erhabenste  darstellt,  war  damals,  als  man 
den  Arbeiter  noch  als  ein  minderwertiges  Geschöpf  ansah,  ein 
neues  Evangelium.  Es  ist  auch  heute  noch  gar  nicht  SO  alt;  die 
Idioten,  welche  glauben,  daß  die  Arbeiter  eine  Rotte  von  Leuten 
sind,  die  nichts  arbeiten  wollen,  sind  noch  nicht  ausgestorben,  sie 
sind  im  Gegenteil  recht  zahlreich  geworden.  Es  gibt  keine  bessere 
Widerlegung  dieser  Anschauung,  als  wenn  man  ihr  das  Lied  der 
Arbeit  gegentiberhält.  Es  bewies  dem  Bürgertum  schon  vor  dreißig 
Jahren,  daß  die  Sozialdemokratie  keine  Erhebung  gegen  die  Arbeit. 
sondern  eine  Erhebung  gegen  die  Arbeitslosen,  gegen  die 
Müßiggänger  ist. 

Der  Redner  erinnert  an  die  Geschicke  der  jungen  Arbeiterbewe- 
gung in  den  sechziger  und  siebziger  Jahren.  Es  kamen  dann  traurige 
Zeiten  für  die  Partei,  sie  war  gespalten  und  zerfahren.  In  nichts 
verstanden  sich  die  hadernden  proletarischen  Brüder,  in  einem 
waren  sie  sich  einig,  imLiedderArbeit,  das  hüben  und  drüben 
ertönte. 

Es  ist  auch  die  Gewalt  der  Musik,  daß  es  so  unmittelbar  packt, 
der  Musik,  die  uns  auf  den  höchsten  Gipfel  der  Empfindung  führt, 
wo  alle  Einzelheiten  schwinden  und  nur  das  Große,  Erhabene  vor 
unseren  Blicken  steht.  Das  Höchste  unserer  Solidarität,  die  Be- 
geisterung für  die  heilige  Sache,  um  die  sich  die  Masse  brüderlich 
schart,  um  vereint  zu  leben  und,  wenn  es  sein  muß,  vereint  zu 
sterben  —  davon  kann  man  nicht  sagen,  das  muß  man  singen. 
Darum  sind  wir  vor  allem  unserem  Scheu  dankbar,  denn  er  hat 
uns  das  in  Tönen  ausgesprochen,  was  wir  nur  empfinden  und  nicht 
sagen  können*). 

Am  Sarge  Josef  Scheus. 

Leichenbegängnis  am   14.  Oktober  1904**). 

Verehrte  Leidtragende!  Genossen  und  Genossinnen!  Wir  sollen 
von  unserem  Josef  Scheu  Abschied  nehmen,  von  dem  Manne,  mit 
dem  unser  Bestes  verknüpft  ist,  verknüpft  ist  unser  bester  Wille 
und  unsere  beste  Begeisterung.  Alles,  was  es  Heiliges  und  Edles, 
alles,  was  es  Bleibendes  und  Menschliches  in  uns  gibt,  ist  engst 
verbunden  mit  dem  Manne,  der  alles  das  in  Töne  zu  bannen,  in 

*)  Der  Redner  schloß  mit  einem  Hoch  auf  die  Urheber  des  Liedes  der 
Arbeit  und  einem  Hoch  auf  die  internationale  Sozialdemokratie,  das  in 
der  Versammlung  brausenden  Widerhall  fand,  der  in  begeisterten  .lubel 
umschlug,  als  die  Sänger  das  Lied  der  Arbeit  anstimmten. 

**)  Am  14.  Oktober  1904  wurde  der  Sänger  des  Proletariats,  der  Kom- 
ponist des  „Liedes  der  Arbeit",  Josef  Scheu,  zu  Qrabe  getragen.  Im 
Namen  der  Parteivertretung  und  der  Redaktion  der  „Arbeiter-Zeitung", 
der  Scheu  seit  Begründung  des  Tagblattes,  also  seit  1895,  als  Musikreferent 
angehörte,  sprach  Adler,  als  der  Sarg  am  Grabe  niedergestellt  wurde. 
(Siehe  auch  Adlers  Rede  beim  Jubiläum  des  „Liedes  der  Arbeit"  am 
30.  Oktober  1898,  sowie  seine  Rede  bei  der  Enthüllung  des  Grabdenkmals 
am  1.  April  1907.  Über  Scheus  Verhaftung  beim  Merstallinger-Prozeß  siehe 
Hd.  VI,  Seite  3.) 


28  Zur  Parteigeschichte. 


Tönen  lebendig  zu  machen  wußte.  Genossen!  Der  Mann,  der  da 
liegt,  hat  vierzig  Jahre  lang  dem  Proletariat  gedient;  nicht  wie 
einer,  der  einem  anderen  dient,  sondern  er  hat  sein  Herzblut,  sein 
Innerstes  zum  Ausdruck  gebracht,  seine  Seele,  die  verbunden  war 
mit  der  Seele  des  Proletariats.  Scheu  war  ein  Sänger  und  ein  Held, 
ein  Held,  wie  es  alle  proletarischen  Helden  sind,  ohne  Glanz, 
schlicht,  aber  treu  und  mutig  und  tapfer.  Er,  der  zu  lieben  wußte, 
er  wußte  auch  zu  hassen,  wie  nur  die  lieben  können,  die  des  Hasses 
mächtig  sind.  Er  wußte  zu  hassen,  was  uns  knechtet,  was  uns  an 
den  Boden  zwingt  und  was  dem  Proletariat  und  der  Menschheit 
in  ihrem  Aufstreben  entgegensteht.  Aber  sein  Haß  entsprang  seiner 
großen  Liebe,  entsprang  dem,  daß  der  Kampf  für  unser  Höchstes 
seines  Lebens  Inhalt  war.  Auch  für  die  „Arbeiter-Zeitung'k  muß  ich 
Abschied  nehmen  von  unserem  lieben,  beweinten  Kollegen.  Er  hat 
auch  da  schlicht  und  treu  seine  Pflicht  getan,  weit  mehr  als  seine 
Pflicht  und  wir  werden  ihn  nie  vergessen. 

Wenn  wir  nun  Abschied  nehmen  und  ihm  nun  ins  ürab  hinab 
sehr  bald  sein  Lied,  unser  Lied  singen  werden,  das  Lied  der  Arbeit, 
so  schwindet  er  damit  nicht.  Er,  der  kein  Gläubiger  war  im  Sinne 
der  offiziellen  Bekenntnisse,  er  glaubte,  er  wußte,  was  wir  wissen, 
daß  unsterblich  ist  die  Leistung,  daß  unvergänglich  ist,  was  einmal 
gewirkt  wurde;  und  die  Bewegung,  die  der  Mann  in  die  Gemüter 
und  in  die  Herzen  gepflanzt  hat,  die  schwindet  nicht,  die  zeugt  fort, 
die  wirkt  ewig  weiter.  Wir  haben  keine  prangenden  Denkmäler  zu 
vergeben,  aber  er  braucht  kein  Denkmal,  er  wird  in  den  Herzen 
der  Arbeiter  Österreichs  leben,  leben  in  den  Herzen  der  Proletarier 
der  Welt,  solange  sie  singen  werden,  solange  man  den  Schwung 
und  die  Größe  der  proletarischen  Bewegung  empfinden  wird;  so- 
lange die  Revolution  kämpft,  wird  man  an  ihn  denken  und  wird 
ihn  lieben,  ihn,  der  ein  Revolutionär  war  durch  und  durch  und  in 
jedem  Blutstropfen. 

Wir  aber,  wir  sagen  ihm  Lebewohl.  Einen  um  den  anderen  sehen 
wir  gehen,  einer  um  den  anderen  müssen  wir  gehen.  Aber  alles, 
was  wir  hoffen,  alles,  was  wir  ersehnen,  ist,  daß  —  nicht  aus  den 
Gebeinen  —  aber  aus  unserem  Blut,  aus  unserem  Leben,  aus  dem 
Besten,  was  in  uns  ist,  Rächer  entstehen  für  das,  was  wir  gelitten. 
Fortsetzer  unserer  Arbeit,  und  daß  die  nächste  Generation 
empfinde  in  demselben  Geiste  des  Kampfes  für  Wahrheit  und  des 
Kampfes  für  Recht,  in  dem  Geiste,  in  dem  dieser  Josef  Scheu  gelebt 
hat,  von  dem  wir  nun  in  bitterer  Trauer  gehen. 

Das  Grabdenkmal  für  Josef  Scheu. 

Am  1.  April  190  7*). 

Heute  wie  vor  zweieinhalb  Jahren,  als  uns  einer  unserer  liebsten 
Freunde  wegstarb;  einer,  der  der  Arbeiterschaft  Österreichs,  allen 

*)  Am  1.  April  1907  wurde  auf  dem  Zentraifriedhof  das  Grabdenkmal 
des    Komponisten    des    „Liedes    der   Arbeit"    und   so    vieler    anderer 


|)as  Grabdenkmal  für  Josei  Scheu.  ^ 

und  .jedem  einzelnen,  ans  Herz  gewachsen  war,  zu  dem  wir  alle 
hinaufgesehen  haben  wie  zu  einem  Vater  und  den  wir  alle  geliebt 
haben  wie  einen  Bruder,  brennt  bitterer  Schmerz  in  uns  um  den 
schweren  Verlust.  Genosse  Scheu,  Meister  Scheu,  Vater  Scheu!  So 
haben  wir  ihn  genannt  und  jeden  dieser  Namen  hat  er  sich  reichlich 
verdient,  verdient  mit  seinem  Herzblut,  mit  dem,  was  das  Beste, 
Edelste,  Tüchtigste  in  ihm  war,  der  mit  der  Arbeiterschaft,  mit  dem 
leidenden,  aber  vor  allem  mit  dem  kämpfenden  Proletariat  gelebt 
hat  von  der  ersten  Stunde  an,  da  er  zu  politischem  Bewußtsein  ge- 
kommen, bis  zu  dem  Moment,  da  er  hinweggerafft  wurde. 

Josef  Scheu  hat  mehr  getan  als  jeder  von  uns,  die  wir  nur  mit 
schwachen  Mitteln  ausdrücken  können,  was  uns  erfüllt.  Er  hat  dem 
Proletariat  die  Sprache  der  Kunst  gegeben,  er  hat  aus  unseren 
Herzen  hervorgeholt,  was  wir  sonst  nicht  hätten  sagen  können.  So 
ist  er  der  Sänger  des  Proletariats  geworden.  So  hat  er  die 
Brücke  geschlagen  von  den  Höhen  der  Kunst  zu  den  Niederungen, 
in  denen  das  Proletariat  leben  muß.  Er  hat  die  Proletarier  gelehrt, 
Kunst  zu  empfinden,  er  hat  sie  hören  gelehrt  und  er  hat  ihre  neue 
Sangessprache  in  den  Dienst  zu  stellen  gewußt  des  gewaltigen 
Kampfes,  in  dem  wir  alle  Soldaten  sind.  Er  hat  aus  den  einzelnen 
vor  sich  Hinsingenden,  aus  philiströsen  Gesangübungen  etwas  ganz 
anderes  gemacht:  die  heilige  Kunst  im  Dienste  der  heiligen  Sache 
der  Befreiung. 

Genossen!  Als  wir  Meister  Scheu  begraben  mußten,  sagten  wir: 
Die  Stätte,  wo  er  liegt,  soll  von  mehr  zeugen  als  von  einem  ge- 
fallenen Kämpfer!  Nicht  ihm  allein  war  das  Denkmal  zu  setzen,  das 
aufgerichtet  wurde  von  der  Liebe  derer,  die  ihm  am  nächsten 
standen.  Es  stellt  nicht  ihn  allein  dar,  sondern  auch  die  große  Sache, 
der  er  gedient  und  für  die  er  gewirkt  hat.  Die  Sänger,  Männer  und 
Frauen  des  Proletariats,  die  wir  hier  dargestellt  sehen,  die  der 
Künstler  so  lebendig  vor  Sie  hingestellt  hat  als  eine  Gruppe  Singen- 
der und  zugleich  Kämpfender,  soll  ein  Zeugnis  geben  vom  Wirken 
Scheus,  davon,  daß  er  die  Brücke  geschlagen  vom  Proletariat  zur 
Kunst. 

Die  lieben  Züge  unseres  alten  Freundes,  die  wir  hier  wieder 
sehen,  werden  uns  unvergeßlich  sein.  Aber  was  tiefer  greift  als  die 
persönliche  Erinnerung,  was  unsterblich  ist,  ist  seine  Arbeit  und  die 
Wirkung  dessen,  was  er  geleistet. 

Das  Lied  der  Arbeit,  das  er  uns  gegeben,  das  Kämpfer- 
lied, das  Trutzlied,  das  Hoffnungslied,  das  in  allen  Sprachen  unseres 
Staates  gesungen  wird  und  das  ein  Band  ist  für  die  Internationale, 
die  wir  in  Österreich  darstellen,  ist  das  Denkmal,  das  er  sich 

proletarischer  Lieder,  Josef  Scheu,  enthüllt.  Tiefe  Stille  war,  als  Adler 
vor  den  Soekel  trat,  um  das  Grabmal  im  Namen  des  Denkmalkomitees  der 
Obhut  der  Wiener  Arbeitersänger  zu  übergeben.  Das  Denkmal  ist  das 
Werk  des  jungen  Künstlers  Richard  LuksCh,  der  bald  nachher  einem 
Rufe  naeh  Hamburg  Folge  leistete.  -  Siehe  auch  Adlers  Rede  bei  dem 
Jubiläum  des  „Liedes  der  Arbeit"  am  30.  Oktober  18vN,  sowie 
am  Sarge   von  Josei  Scheu  am  24.  Oktober  1904. 


30  Zur  Parteigeschichte. 


selbst  gesetzt.  Doch  dieser  schlichte  Stein,  der  aber  so  aus- 
drucksvoll, so  greifbar  darstellt,  was  uns  vor  diesem  Grabe  bewegt, 
soll  ein  Zeichen  sein  unserer  Liebe  und  unserer  Verehrung, 
wie  er  Zeugnis  gibt  von  dem  großen  Kampfe,  in  dem  Meister  Scheu 
ein  Führer  war. 

Ich  spreche  hier  im  Namen  des  Denkmalkomitees,  ich  spreche 
aber  auch  im  Namen  der  klassenbewußten  Arbeiterschaft  Wiens, 
und  ich  darf  wohl  sagen,  ganz  Österreichs.  Da  geziemt  es  sich, 
denen  Dank  zu  sagen,  die  ermöglicht  haben,  das  Monument  zu 
setzen,  und  vor  allem  dem  Künstler  Dank  zu  sagen,  der  es  ge- 
schaffen hat. 

So  übergeben  wir  dieses  Denkmal  dem  Verband  der  Arbeiter- 
sänger Österreichs,  ihrem  Reichsverband,  den  mit  an  erster  Stelle 
Scheu  geschaffen  hat.  Aber  wenn  der  Verband  in  erster  Linie  der 
Hüter  des  Monuments  ist,  sein  Hüter  im  großen  Sinne 
ist  die  gesamte  k  1  a  s  s  e  n  b  e  w  u  ß  t  e  A  r  b  e  i  t  e  r  s  ch  af  t 
Österreichs. 

Zu  Ehren  Andreas  Scheus. 

Festversammlung  am  22.  Juni  190  1*). 

Wir  haben  heute  einen  weit  leichteren  Kampf,  als  die  ersten  Vor- 
kämpfer des  Proletariats  ihn  Ende  der  sechziger  Jahre  hatten. 
Heute  fühlen  —  was  damals  nur  einzelne  Auserlesene  empfanden  — 
schon  alle,  daß  die  Zukunft  der  Sozialdemokratie  gehört.  Die  Vor- 
kämpfer von  1869  wurden  als  Wahnwitzige,  Narren,  Schwärmer, 
wenn  nicht  als  bezahlte  Halunken  von  aller  Welt  angesehen.  Die 
Regierung  umschmeichelte  zuerst  die  Wortführer  und  versuchte  es 
dann  mit  dem  Einsperren.  Mit  Urteil  vom  15.  Juli  1870  wurde 
Andreas  Scheu  als  Hochverräter  zu  fünf  Jahren  schweren  Kerkers 
verurteilt.  (Zwischenruf:  Zu  sechs  Jahren.)  Zu  fünf  Jahren!  —  alles 
was  recht  ist,  in  Österreich  wissen  die  Richter  ganz  genau  die  ge- 
rechte Strafe  (Heiterkeit)  —  Q  e  h  r  k  e  und  S  c  h  ö  n  f  e  1  d  e  r,  die 
auch  heute  hier  anwesend  sind,  wurden  auch  verurteilt.  Ich  glaube, 
der  Gehrke  zu  zwei  Monaten  —  na,  die  hat  er  aber  reichlich  ver- 
dient. (Große  Heiterkeit.)  Damit  Sie  aber  einen  Begriff  bekommen, 
welches  Individuum  Sie  heute  feiern  (erneute  Heiterkeit),  will  ich 
Ihnen  ein  paar  Zeilen  aus  der  Urteilsbegründung  vorlesen:  Die  An- 
geklagten bekennen  sich  zu  einem  Programm,  in  dem  es  heißt:  Die 

*)  Am  23.  Juni  1901  begrüßten  die  Wiener  Vertrauensmänner  einen 
ihrer  Vorkämpfer,  Andreas  Scheu,  der  in  den  Anfängen  der  Arbeiter- 
bewegung unter  ihnen  gewirkt  hatte  und  nachdem  er  in  dem  großen 
Hochverratsprozeß  1870  zu  fünf  Jahren  Kerker  verurteilt  worden  war, 
nach  seiner  Amnestierung  nach  England  ausgewandert  war.  Nun  kam  er 
zum  Besuch  nach  Wien  und  wurde  hier  gefeiert.  Er  erschien  mit  seinem 
Bruder  Josef  Scheu  bei  dem  zu  seinen  Ehren  im  Gasthaus  Weigl  ver- 
anstalteten Abend.  Adler  hielt  die  Begrüßungsansprache,  in  der  er  nach 
einer  Schilderung  der  Anfänge  der  Partei  auch  von  den  heutigen  Zeiten 
sprach. 


Am  Sarge  Julius  Popps.  31 


heutigen  politischen  und  sozialen  Zustände  sind  im  höchsten  Grade 
ungerecht  und  müssen  dalier  mit  größter  Energie  bekämpft  werden. 
Im  Punkt  vier  wird  gesagt,  daß  in  die  sozialen  und  politischen  Ver- 
hältnisse nur  im  demokratischen  Staate  Ordnung  zu  bringen  wäre. 
dadurch  wird  Haß  und  Verachtung  gegen  das  Bestellende  eingeflößt. 
Ein  solches  Programm  muß,  sobald  es  Gegenstand  der  Verbreitung 
wird,  den  Tatbestand  des  Hochverrats  involvieren.  Während  der 
Verhandlung  erkühnte  sich  Genosse  Scheu,  bei  einem  geistreichen 
Ausspruch  des  Richters  zu  lachen.  „Kommt  Ihnen  das  erheiternd 
vor,  Herr  Scheu?"  fragte  der  Vorsitzende.  „Ich  habe  das  Recht, 
Sie  abführen  zu  lassen."  —  Scheu:  „Wenn  ich  mit  dem  Kopf 
schüttle,  stört  das  niemand."  In  der  Urteilsbegründung  wird  Ge- 
nossen Scheu  auch  als  Verbrechen  angerechnet,  daß  er  als  sozial- 
demokratischer Agitator  eine  hervorragende  Tätigkeit  entfaltet 
habe.  (Bravorufe.)  Adler:  Sie  rufen  Bravo,  aber  die  Richter  haben 
auf  fünf  Jahre  erkannt.  Damit  haben  Sie  auch  das  Wichtigste  von 
seinen  Schandtaten  erfahren. 

Aber  nicht  nur  als  politischen  Vorkämpfer  haben  wir  Scheu  zu 
feiern,  sondern  auch  als  den  Dichter  des  Proletarierliedes.  Wir 
haben  heute  einige  Lieder  gehört,  die  so  aus  der  Seele  des  Prole- 
tariats geschöpft  sind,  und  namentlich  des  österreichischen  Prole- 
tariats, daß  man  sagen  kann:  Keiner  so  wie  er  hat  es  verstanden, 
die  soziale  und  politische  Lage  des  Proletariats  in  Liedern  so  zum 
Ausdruck  zu  bringen.  (Großer  Beifall.) 

Genosse  Adler  schloß:  Wir  heißen  ihn  willkommen  in  seiner 
Heimat,  wir  sagen  ihm,  wir  lieben  ihn  als  den  Unsrigen,  als  Vor- 
kämpfer, und  wir  rufen  ihm  zu: 

Hoch  Andreas  Scheu! 

Hoch  die  internationale  Sozialdemokratie! 

Am  Sarge  Julius  Popps. 

Am  21.  Dezember  19  02*). 

Parteigenossen  und  -genossinnen!  Ich  soll  hier  aussprechen, 
was  ich  nicht  aussprechen  kann.  Ich  soll  hier  sprechen  im  Namen 
der  Zehntausende,  die  den  Mann  da  gekannt  haben,  die  ihm  ver- 

*)  Am  18.  Dezember  1902  ist  Julius  Popp,  53  Jahre  alt,  gestorben.  Einer 
der  eifrigsten  von  denen,  die  mit  Adler  an  der  Einigung  der  Partei  ge- 
arbeitet hatten,  war  der  Schuhmacher  Julius  Popp,  der  dann  auch  der 
Vorsitzende  des  Hainfelder  Parteitages  wurde  und,  solange  er  lebte,  auf 
allen  Parteitagen  den  Vorsitz  führte. 

Popp  gehörte  der  radikalen  Gruppe  an.  Schon  im  Anfang  der  sechziger 
Jahre  —  nicht  viel  über  zwanzig  Jahre  alt  —  war  er  in  den  vordersten 
Reihen  der  Wiener  Bewegung  gestanden.  Die  Schuhmacher  waren  damals 
die  Radikalsten  unter  den  Radikalen,  und  als  ihr  Obmann  und  seit  1887 
auch  als  ihr  Gehilfenobmann  war  Popp  in  alle  Einzelheiten  der  Geheim- 
organisatiou  eingeweiht.  Als  Soldat  hatte  er  sich  bei  einer  Übung  eine 
Entzündung  der  Wirbelsäule  zugezogen,  die  eine  leichte  Verkrümmung 
nach  sich  zog,  so  daß  er  den  Körper  gebückt  halten  mußte.  Obwohl  er  ein 
Radikaler  war,  war  es  doch  einer  seiner  ersten  Schritte  in  der  Gewerk- 


32  Zur   Parteigesehichte. 


traut,  die  ihn  geliebt  haben  und  für  die  er  sein  Leben  gelassen  hat. 
Dieser  unser  Julius  Fopp,  den  wir  hier  in  die  Erde  legen,  er  war 
ein  Arbeiter,  ein  Arbeiter  in  des  Wortes  herrlichster  und  größter 
Bedeutung.  Er  hat  sich  hingegeben  den  größeren  Zwecken,  nicht 
weinend,  nicht  resigniert,  sondern  mutig  und  tapfer,  als  er  jung  war, 
mit  jenem  Mut,  der  vor  nichts  zurückschreckt,  auch  nicht  vor  den 
größten  Gefahren,  und  als  wir  alle  älter,  besonnener  und  reifer 
wuiden,  mit  jenem  Mut,  der  sein  Blut  nicht  auf  einmal  hingibt, 
sondern  tropfenweise,  Tag  für  Tag  es  hingibt  für  das,  was  uns 
heilig,  für  das,  was  für  die  Menschheit  bedeutend  ist.  Unsere  alten 
Parteiblätter  trugen  ein  Motto,  das  mir  vor  diesem  Grabe  in  den 
Sinn  kommt :  Wir  schulden  unser  Leben  jenen 
Zwecken,  in  deren  Werkstatt  die  Geschlechter 
nur  Arbeiter,  nur  Hingegebene  sind!  Julius  Popp  hat 
diese  Schuld  abgetragen  . . . 

Genossen!  Wir  haben  mehr  an  ihm  verloren,  als  wir  vielleicht 
heute  noch  wissen.  Wenn  ich  hier  sprechen  kann  im  Namen  der 
Sozialdemokratischen  Arbeiterpartei  Österreichs,  im  Namen  der 
Sozialdemokratie  aller  Nationen,  die  durch  Delegierte  vertreten 
sind,  im  Namen  der  sozialdemokratischen  Abgeordneten,  im  Namen 
der  „Arbeiter-Zeitung",  wenn  heute  in  Österreich  eine  gewaltige 
Organisation  der  Arbeiter  aufgerichtet  ist,  so  ist  der  Mann,  der  da 
liegt,  einer  der  ersten  Baumeister  am  Werke  gewesen. 

Was  soll  ich  nun  denen  sagen,  die  ihm  am  nächsten  gestanden 
sind,  unserer  lieben  Genossin  Popp  vor  allem?  Wir  können  ihr 
heute  nur  das  eine  sagen:  so  wie  wir  ihm  die  Treue  halten,  so  wie 
sie  ihm  die  Treue  gehalten  hat,  so  werden  wir  ihr  und  ihren 
Kindern  die  Treue  halten.  Wir  können  ihm  nicht  vollen  Dank  ab- 
statten, wir  können  auch  nicht  völlig  sein  Verdienst  würdigen,  wir 
können  nur  sagen:  unsterblich  ist  er  durch  das  Werk,  in  dem 
Werke,  dem  yölkerbefreienden  Werk,  an  dem  er  mitgeschaffen  hat. 
Als  er  in  die  Arbeiterbewegung  eintrat,  da  war  der  Arbeiter  in 
Österreich  ein  geknechteter  Mann,  der  es  nicht  wagte,  aufzublicken, 
und  es  hat  mehr  Kraft  und  Mut  bedurft,  als  ihr  Jungen  alle  wißt, 
um  damals  mitzutun. 

Das  Andenken  an  unseren  Freund  und  an  sein  Wirken  wird  uns 
stärken;  es  wird  uns  erheben,  wird  uns  tapfer  machen  in  allen  ent- 
scheidenden Momenten.  So  nehmen  wir  für  die  Proletarier  Öster- 
reichs Abschied  von  Julius  Popp,  von  unserem  Popp,  der  für  sie 
geleistet  hat,  was  ein  Mensch  leisten  kann. 

schaft,  die  zersplitterte  Organisation  der  Schuhmacher  zu  einigen.  So  war 
er  der  geeignete  Mann,  den  Adler  für  die  Einigung  im  Lager  der  Radikalen 
gewann.  Als  im  Juli  1889  die  kurz  vorher  eingestellte  „Gleichheit"  durch 
die  „Arbeiter-Zeitung"  ersetzt  wurde,  war  Popp  schon  Mitherausgeber; 
dann  wurde  er  Parteikassier  und  Administrator  des  Blattes.  Seit  Hainfeld 
war  er  auch  Vorsitzender  des  Parteivorstandes.  Am  18.  Dezember  1902 
ist  er  gestorben.  Am  21.  Dezember  wurde  er  begraben.  In  ernster  Be- 
wegung, gegen  die  er  nur  mühsam  ankämpfte,  sprach  Adler  zu  den  Tausen- 
den, die  ihm  das  Geleite  gaben.  (Siehe  auch  Adlers  Rede  bei  der  Enthüllung 
des  Grabdenkmals  am  10.  November   1903.) 


Mein  erster  Mai. 


Am  Grabdenkmal  für  Julius  Popp. 

Am   I  0.  Nov  ein  her  1  903*). 

Die  Gesamtvertretung  der  Sozialdemokratie  Österreichs  hat 
ihre  Arbeit  unterbrochen,  um  den  toten  Freund  ZU  besuchen,  um  des 
Mannes  zu  gedenken,  der  nun  schon  fast  ein  Jahr  liier  unter  der 
Erde  schlummert.  Julius  Fopp  gehörte  uns  seit  den  Anfängen  der 
Bewegung  und  er  bleibt  uns  auch  nach  seinem  Tode  als  eine  teure 
Erinnerung.  Der  Proletarier,  der  die  Kette  bricht,  so  wie  ihn  der 
Künstler  uns  hier  dargestellt  hat,  ist  das  Symbol  unseres  Kampfes 
und  das  Symbol  der  Lebensarbeit  Popps.  Und  so  wie  dieser  (ie- 
danke  der  Inhalt  seines  Lebens  war,  so  ist  er  auch  das  Vermächtnis, 
das  er  uns  hinterließ.  Wir,  die  wir  eine  Internationale  des  öster- 
reichischen Proletariats  repräsentieren,  wir,  die  wir  den  Lebens- 
kern, die  Vernunft,  die  Zuknnftshoffnung  dieses  Reiches  repräsen- 
tieren, wir  richten  uns  auf  an  diesem  Denkmal  und  gedenken 
unseres  Werkes  und  unserer  Aufgaben,  indem  wir  unseres  Freundes 
Julius  Popp  gedenken. 

Daß  dieser  Stein  unsere  Stimmung  so  deutlich  ausdrückt,  danken 
wir  den  Künstlern,  die  ihre  Liebe  und  ihr  Können  daran  gewendet 
haben,  dem  Architekten  Q  e  ß  n  e  r,  dem  Bildhauer  Klug  und  dem 
Steinmetz  Kolbenschlag,  den  es  als  Parteigenossen  mit  Stolz 
erfüllt,  an  der  Herstellung  gerade  dieses  Monuments  mitgewirkt 
zu  haben.  So  übergebe  ich  es  denn  in  die  Hut  der  Genossen  Wiens 
und  die  werden  es  würdig  zu  hüten  und  zu  bewahren  wissen. 

Mein  erster  MaL 

Maifest  schritt  1909**). 

Die  erste  Maifeier  habe  ich  nicht  im  Prater  miterlebt,  sondern 
im  Wiener  Landesgericht,  Zelle  32,  im  ersten  Stock.  Es  war  ein 
einsamer  Tag,  einsamer  als  jeder  andere  in  den  vier  Monaten,  die 
ich  damals  abzusitzen  hatte,  aber  ein  Tag  der  tiefsten  Aufregung, 
die  ich  auch  heute  noch  in  mir  zittern  fühle,  wenn  ich  an  ihn  denke. 

Natürlich  war  es  mir  recht  unlieb,    gerade    am   1.  Mai    nicht 

)  Am  10.  November  1903,  während  in  Wien  der  Gesamtparteitag  statt- 
fand, wurde  auf  dem  Zentralfriedhof  das  Grabmal  für  Julius  Popp  ent- 
hüllt. In  zwei  Extrazügen  fuhren  die  Mitglieder  des  Parteitages  zum 
Zentraliriedhof.  Nachdem  die  Kränze  niedergelegt  waren,  hielt  Adler 
folgende  Ansprache.  Dann  sprach  noch  Nemec  tschechisch. 

)  In  der  Maifestschrift  des  Jahres  1909,  also  zur  zwanzigsten  Maifeier, 
schrieb  Adler  diese  interessante  Erinnerung,  die  auch  wieder  in  der  Mai- 
restschriit  zwanzig  Jahre  später  abgedruckt  wurde.  Zum  näheren  Ver- 
ständnis siehe  Adlers  Reden  und  Aufsätze  zum  „Streit  um  die  Mai- 
feier (Bd.  VI,  Seite  176  bis  198),  dann  aber  auch  Adlers  Artikel  über  die 
Gründung  der  neuen  Internationale  für  die  Festschrift  zum 
internationalen  Kongreß,  der  im  Jahre  1914  in  Wien  hätte  stattfinden 
sollen,   aber  infolge   des   Kriegsausbruches   nnterhlieh   (Bd.   VII,'  Seite   58). 

Adler,  Briefe.  XI.  Bd.  3 


34  Zur  Parteigeschichte. 


draußen  sein  zu  können,  und  es  war  recht  sonderbar,  daß  es  so 
kam.  Denn  Herrn  Holzingers  Ausnahmegericht  hatte  Bretschneider 
und  mich  schon  am  21.  Juni  wegen  anarchistischer  Bestrebungen 
abgeurteilt.  Der  Oberste  Gerichtshof  ließ  sich  allerdings  bis  zum 
7.  Dezember  Zeit,  um  das  Urteil  zu  bestätigen,  aber  noch  immer 
hatte  ich  die  Hoffnung,  rechtzeitig  die  Strafe  antreten  zu  können, 
um  in  der  zweiten  Hälfte  April  wieder  auf  freien  Fuß  zu  kommen. 
Ich  urgierte  die  Zustellung  des  Urteils,  aber  je  mehr  ich  drängte, 
desto  länger  dauerte  es,  und  erst  am  24.  Jänner  kam  ich  in  den 
Besitz  des  Schriftstückes.  Wir  waren  damals  überzeugt,  daß  die 
Trägheit  des  Amtsschimmels  im  Dienste  höherer  politischer  Ab- 
sichten stehe.  Aber  ich  konnte  nun  nichts  anderes  tun,  als  ein  paar 
Wochen  Strafaufschub  zu  fordern,  um  wenigstens  an  den  Vor- 
bereitungen zur  Maifeier  meinen  Anteil  nehmen  zu  können,  und 
Ende  Februar  mußte  ich  ins  Loch. 

Es  war  meine  erste  Haft  und  sie  fiel  mir  nach  den  ersten  Tagen 
der  Anpassung  wahrhaftig  nicht  schwer.  Ich  hatte  mir,  was  ich 
übrigens  auch  später  bei  allen  Rückfällen  prinzipiell  tat,  die  Einzel- 
haft als  Begünstigung  erbeten  und  durchgesetzt,  und  da  ich  Bücher 
hatte  und  als  „Politischer"  überdies  täglich  für  einen  Gulden  und 
fünf  Kreuzer  ausspeisen  durfte,  war  meine  Lage  nicht  schlecht. 
Wie  ich  überhaupt  diese  kurzen  Arreststrafen  niemals  als  Mar- 
tyrium empfunden  habe.  Trotz  mancher  physischer  Unbequemlich- 
keit habe  ich  damals  und  später  im  Arrest  Stunden  der  Ruhe,  der 
Sammlung,  ja  Erhebung  erlebt,  die  ich  zu  meinen  besten  Erinne- 
rungen zähle.  Aber  je  näher  der  1.  Mai  heranrückte,  desto  unruhiger 
wurde  ich,  bis  sich  die  Erregung  zu  einer  fast  unerträglichen 
Spannung  steigerte.  Das  kann  nur  der  ganz  verstehen,  der  mit- 
erlebt hat,  was  für  uns  jene  Maifeier  war,  was  sie  für  das  Prole- 
tariat Österreichs  bedeutete  . . . 

Seit  dem  Hainfelder  Parteitag  war  die  Organisation  der  Partei 
rasch  gewachsen,  unsere  Presse  gewann  an  Verbreitung  und  Ein- 
fluß, die  Absurdität  des  Ausnahmszustandes  und  seiner  dumm- 
dreisten Praktizierung  wurde  täglich  augenfälliger.  Da  holte  die 
Staatsweisheit  zu  einem  entscheidenden  Schlag  aus.  Dem 
„Anarchistenprozeß",  den  sie  uns  anhängte,  folgte  die  Einstellung 
der  „Gleichheit"  auf  dem  Fuße.  Aber  vier  Wochen  später  hatten 
wir  für  ein  neues  Blatt,  die  „Arbeiter-Zeitung",  gesorgt  und  standen 
als  Delegierte  der  österreichischen  Sozialdemokratie  im  Saale  der 
Rue  Rochechouart  in  Paris  beim  Ersten  Internationalen  Sozialisten- 
kongreß. Als  wir  unsere  Hände  erhoben,  um  für  den  Antrag  des 
Genossen  Lavigne  zu  stimmen,  für  die  Veranstaltung  einer  „großen, 
einheitlichen  Manifestation  der  Arbeiter  aller  Länder",  die  am 
1.  Mai  stattfinden  und  der  Forderung  des  Achtstundentages  ge- 
widmet sein  sollte,  da  sahen  wir  einander  ins  Auge  —  ich  sehe 
noch  Popp  und  Hybes,  neben  denen  ich  stand  —  fragenden 
Blickes,  was  wir  in  unserem  armen  Österreich  mit  diesem  Beschluß 
würden  machen  können.  Der  Kongreßbeschluß  besagte:  „In  jedem 
Lande  sollen  die  Arbeiter    die  Manifestation    in  der  Weise  ver- 


Mein  erster  M.n. 


anstaltcn,   welche  die   (ieset/e   und   Verhältnisse  daselbst   bedingen, 
beziehungsweise    ermöglichen."    Was    war    in    Österreich    möglich? 
Wir    hatten    keine    Vertreter    im    Parlament,    unsere    Presse    stand 
unter  der  Guillotine  der  Konfiskation  und  der  ausnahmsgesetzlicheri 
Sistierung;   unsere   Vereine   wurden   unter   unsäglichen   Schwierig- 
keiten ganz  langsam  und  allmählich  erst  wieder  aufgebaut,  unsere 
Versammlungen    waren    dem    Belieben    jedes    Polizeipräsidenten 
preisgegeben;   jede   Art   von    Manifestation,   wie    sie   in   gesitteten 
Ländern  möglich   und  üblich   ist,   konnte   in  Österreich   durch   den 
Ukas  jedes  Bürokraten  vereitelt  werden.  Und  doch  waren  gerade 
damals  alle  Vorbedingungen  für  eine  gewaltige  Manifestation  ge- 
geben, für  eine  Manifestation  nicht  allein  der  Partei,  sondern  dar- 
über hinaus:  des  Proletariats.  Es  war  eine  Zeit  des  Erwachens,  des 
Dranges.  Der  lange  brachgelegene  Boden  nahm  hungrig  die  Saat 
auf,  die  von  der  Sozialdemokratie  ausgestreut  wurde.  Wir  waren 
alle  über  diese  dummen  und  boshaften  Quälereien  der  Staatsgewalt, 
über  alle  diese  unsäglichen  Borniertheiten  der  bürgerlichen  Presse 
hinausgewachsen.  Die  Arbeiterschaft  war  im  Begriff,  zu  erwachen: 
es  bedurfte  nur  des  Anrufes,  des  Appells,  daß  sie  sich  erhebe,  sich 
als  Ganzes,  als  kämpfender  Körper,  als  eine  Einheit,  als  Klasse 
gegen  andere  Klassen  fühle  und  den  lähmenden  Traum  ihrer  Ohn- 
macht abstreife. 

Dieser  Weckruf  mußte  für  uns  in  Österreich  die  Maifeier  sein. 
Wir  haben,  wie  so  oft,  aus  der  furchtbaren  Not  eine  fruchtbare 
Tugend  gemacht,  und  weil  wir  nicht  simpel  manifestieren  konnten, 
gerade  darum  haben  wir  dem  Tag  die  Höhe  einer  Weihe  gegeben, 
die  unerreichbar  war  für  alle  Verbote  und  Schikanen.  Am  29.  No- 
vember verkündete  die  „Arbeiter-Zeitung"  die  Parole: 

Der  1.  Mai  1890  soll  der  internationale  Arbeiterfeiertag  werden. 
An  diesem  Tage  soll  die  Arbeit  überall  ruhen,  in  Werkstatt  und 
Fabrik,  im  Bergwerk,  wie  in  der  dumpfen  Kammer  des  Hauswebers. 
Der  Tag  soll  heilig  sein,  und  heilig  wirklich  wird  er  dadurch,  daß 
er  den  höchsten  Interessen  der  Menschheit  gewidmet  ist.  Die 
Menschheit  hat  heute  kein  höheres  Interesse  als  die  proletarische 
Bewegung,  als  insbesondere  die  Abkürzung  der  Arbeitszeit. 

Dann  wurde  als  Programm  vorgeschlagen:  Vormittags  Ver- 
sammlungen, nachmittags  Erholen  im  Freien,  und  weiter  hieß  es: 
„Die  Genossen  sehen,  unsere  Vorschläge  sind  einfach,  durchführbar 
und  gewiß  sehr  harmlos,  kein  Streik!  Donnerstag  am  1.  Mai  ist 
Arbeiterfeiertag,  aber  Freitag  am  2.  Mai  ist  jeder  wieder  in  seiner 
Schwitzbude,  früher  gewiß  als  der  Herr  Chef  an  diesem  Tage,  der 
müde  ist  von  der  —  Erholung.  Also  ganz  friedlich.  Aber,  warum 
sollen  die  Arbeiter  nicht  ihren  Feiertag  haben?"  Und  von  der 
Stunde  an,  da  dieser  Aufruf  erschien,  ging  eine  große,  von  Tag 
zu  Tag  wachsende  Bewegung  durch  das  ganze  Reich.  Hunderte 
von  Versammlungen  mit  der  Tagesordnung:  „Achtstundentag  und 
1.  Mai"  wurden  einberufen  und  wirkten,  wenn  sie  verboten  wurden, 
fast  noch  mehr,  als  wenn  sie  stattfinden  konnten.  Ein  Flugblatt  über 
den  Achtstundentag  fand  massenhafte  Verbreitung.  Täglich  erhielten 

3* 


36  Zur  Parteigeschichte. 


wir  Nachrichten  aus  Orten,  wo  es  sich  nie  gerührt  hatte,  daß  Vor- 
bereitungen für  die  Maifeier  im  Gange  seien.  Wahrhaft  rührende 
Briefe  von  ganz  naiven,  von  der  Bewegung  bisher  unberührt  ge- 
bliebenen Arbeitern  aus  den  entferntesten  Winkeln  des  Reiches 
zeigten,  wie  unser  Weckruf  in  die  Weite  gewirkt,  wie  er  das  rechte 
Wort  in  der  rechten  Stunde  gewesen  . . . 

Und  mitten  in  dieser  fieberhaften  Agitationsarbeit  mußte  ich  ins 
Loch!  Zwar  war  ich  von  der  Welt  nicht  völlig  abgeschnitten.  Ich 
durfte  außer  der  „Wiener  Zeitung"  die  alte  „Presse"  lesen,  ein 
seither  verschwundenes,  sehr  solides,  hochoffiziöses  Blatt,  und  bei 
gelegentlichen  Besuchen  meiner  Frau  und  meiner  Freunde  erfuhr 
ich  manches,  was  in  der  Welt  vorging,  erfuhr,  wie  mit  dem 
Wachsen  der  Maibewegung  im  bürgerlichen  Publikum,  in  der 
bürgerlichen  Presse,  ja  offenbar  auch  in  den  „maßgebenden" 
Regierungskreisen,  die  Furcht  aufkam,  daß  dieser  1.  Mai  eine  Art 
von  jüngstem  Tage  sein  werde,  zumindest  ein  Tag  der  Schreckens- 
herrschaft und  Plünderung.  Daß  in  dieser  wahnsinnigen  Angst  eine 
Gefahr  lag,  war  klar.  Alle  Zusammenstöße,  alle  Krawalle,  alles 
Blutvergießen  ist  noch  viel  öfter  durch  die  dumme  Furcht  der  Be- 
hörden als  durch  ihre  Brutalität  herbeigeführt  worden.  Daß  die 
Maifeier  im  Polizeisinn  „harmlos"  sein  werde,  glaubte  man  uns 
von  Tag  zu  Tag  weniger.  Der  Schrecken  war  dem  Bürgertum  in 
die  Glieder  gefahren  und  nahm  im  April  ganz  unglaubliche  Formen 
an.  Um  ein  Beispiel  anzuführen:  Der  Wiener  Wissenschaftliche 
Klub,  eine  Körperschaft,  in  der  so  ziemlich  die  obersten  Schichten 
der  Intelligenz  vereinigt  waren,  beschloß,  seine  gewohnte  Früh- 
jahrsreise abzusagen,  weil  man  doch  am  1.  Mai  nicht  Weib  und 
Kind  im  Stich  lassen  konnte.  Andere  wieder  entschlossen  sich,  vor 
dem  gefürchteten  Tage  mit  ihren  Familien  aus  Wien  zu  flüchten. 
Dabei  hetzte  die  bürgerliche  Presse  in  allen  Tonarten,  und  als  es 
Anfang  April  in  einigen  Ottakringer  Branntweinstuben  zufällig  zu 
ein  paar  Exzessen  des  Lumpenproletariats  kam,  woran  die  Ar- 
beiterschaft, wie  offiziell  zugegeben  wurde,  ganz  unbeteiligt  war, 
stieg  die  Angst  zu  einer  grotesken  Höhe.  Man  erörterte  in  Regie- 
rungskreisen die  Einberufung  der  Reservisten,  jedenfalls  sollte  das 
Militär  konsigniert  und  alle  Läden  gesperrt  werden.  Am  Morgen 
des  1.  Mai  noch  war  in  der  „Neuen  Freien  Presse"  zu  lesen:  „Die 
Soldaten  sind  in  Bereitschaft,  die  Tore  der  Häuser  werden  ge- 
schlossen, in  den  Häusern  wird  Proviant  vorbereitet,  wie  vor  einer 
Belagerung,  die  Geschäfte  sind  verödet,  die  Kinder  wagen  sich  nicht 
auf  die  Gasse,  auf  allen  Gemütern  lastet  der  Druck  einer  schweren 
Sorge ..." 

Aber  so  blödsinnig  diese  gefürchteten  Angstexzesse  waren,  es 
war  nichts  zu  befürchten,  wenn  die  Feier  gelang.  Die  Glücklichen, 
die  draußen  waren  und  mitarbeiten  konnten,  die  zweifelten  nicht 
einen  Augenblick.  Aber  für  mich  gab's  manche  bange  Momente. 
Die  Haft  bringt  wohl  für  jeden  hie  und  da  Stunden  der  Depression, 
wie  man  sie  ja  auch  draußen  hat,  die  aber  in  der  Einsamkeit 
schwerer  überwunden  werden.  Da   rannte  ich  wohl   stundenlang 


Mein  erster  Mar.  31 


auf  und  ab  und  erwog  alle  Möglichkeiten.  Allerdings,  jede  Woche 
ging  die  Bewegung  höher,  und  alle  Zumutungen  der  Behörde,  nach- 
zugeben, das  Programm  einzuschränken,  wurden  höflich,  aber  ent- 
schieden abgelehnt  Die  Arbeitsruhe  würde  umfassend  sein,  das 
war  ja  klar;  und  als  die  Zeitungssetzer  beschlossen,  dal*  sie  feiern 
werden,  war  entschieden,  dal.»  auch  der  Eindruck  nach  außen  auf 
das  große  Publikum  ein  bedeutender  sein  werde;  daß  es  keine 
Zeitungen  gibt,  ist  ein  Hauptmerkmal  des  Feiertages.  Aber  wird 
die  Polizei  nicht  provozieren?  Werden  unsere  Genossen  kaltes  Blut 
bewahren?  Und  wenn  die  Versammlungen  verboten  werden,  muß 
es  dann  nicht  zu  Zusammensteißen  kommen?  Und  wie  wird's 
draußen  in  der  Provinz  werden,  auf  dem  heißen  Boden  der  Kohlen- 
reviere? Und  dann  wollen  die  Unternehmer  uns  einreden,  die  Mai- 
feier sei  „Kontraktbruch"!  Es  ist  ja  Unsinn,  aber  wird  das  nicht 
doch  da  und  dort  die  Arbeiter  einschüchtern . . .?  Da  setzte  ich  mich 
denn  hin  und  schrieb  und  schrieb . . .,  polemisierte  und  argumen- 
tierte; so  lange  Artikel  habe  ich  weder  vorher  noch  nachher  ge- 
schrieben! Und  dann  schrieb  ich  Aufrufe  und  verfaßte  Instruktionen. 
Heute  kann  ich's  ja  gestehen,  daß  es  mir  gelang,  manches  Produkt 
meiner  Gefängnisarbeit  ins  Freie  zu  schmuggeln,  so  daß  ich  doch 
auch  etwas  beitragen  konnte  zu  dem  großen  Werke. 

In  der  letzten  Aprilwoche  hatte  ich  fast  täglich  Besuche.  Es  war 
entschieden:  unser  harter  Schädel  hatte  gesiegt;  die  Versamm- 
lungen waren  nicht  verboten,  die  Polizei  hatte  sich  entschlossen, 
einigermaßen  vernünftig  zu  sein  und  uns  gewähren  zu  lassen.  Als 
mir  Popp  und  Bretschneider*)  berichteten,  unsere  tausend  Ordner 
seien  parat,  mußten  sie  mir  aber  auch  erzählen,  daß  im  Prater  die 
Drähte,  die  die  Rasenplätze  umsäumten,  entfernt  wurden,  damit 
die  Kavalleriepferde  bei  der  eventuellen  Attacke  nicht  stürzen.  Und 
ich  selbst,  so  oft  ich  am  1.  Mai  in  die  Kanzlei  geführt  wurde,  hörte 
draußen  den  Schritt  der  Soldaten  und  erfuhr,  daß  alle  Tore  des 
Landesgerichtsgebäudes  selbst  geschlossen  gehalten,  daß  die  ganze 
Justizwache  und  alle  Aufseher  konsigniert  seien.  Ich  lachte  über 
die  Dummheit,  aber  das  Lachen  kam  mir  nicht  vom  Herzen,  denn 
ich  wußte,  wie  gefährlich  solche  Dummheit  werden  konnte . . .  Mit- 
tags kam  Bretschneider  auf  eine  Minute,  beruhigte  mich  über  den 
Verlauf  der  Versammlungen  und  steckte  mir  eine  Marschorder  und 
ein  Maiabzeichen  zu  —  das  ich  dann  oben  in  der  Zelle  ansteckte, 
wenn  der  „Wastl"**)  weit  vom  Guckloch  war.  Das  war  ein  langer, 
langer  Nachmittag  —  und  spätabends  hörte  ich  endlich  Signale,  die 
mir  sagten,  daß  das  Militär  in  die  Alserkaserne  einrücke...  und 
sregen  10  Uhr  noch  kam  mein  Aufseher  und  berichtete,  er  habe  es 
ganz  sicher  erfahren:  es  ist  alles  ruhig  abgelaufen  und  großartig 
soll's  gewesen  sein! 

)  Wer  Julius  Popp  und  Ludwig  August  Bretschneider  sind,  ist 
aus  früheren  Bänden  bekannt.  Bretschneider  war  überdies  der  Organi- 
sator aller  Demonstrationen  bis  zum  Krieg. 

i  Der  Spottname  des  Gefängnisaufsehers.  Das  Wort  ist  eine  mundart- 
liche Abkürzung  von  Sebastian. 


38  Zur  Parteigeschichte. 


Früh  konnte  ich's  dann  in  der  Zeitung  lesen  —  denn  bei  jener 
ersten  Maifeier  haben  unsere  braven  Setzer  zwar  kein  Abendblatt 
gemacht,  aber  um  9  Uhr  abends  gingen  sie  das  Morgenblatt  setzen, 
das  die  frohe  Botschaft  brachte  . . .  auch  mir  in  meine  Zelle . . . 

Dann  aber  wußte  ich:  eine  Entscheidungsschlacht  ist  gewonnen, 
nun  ist  der  Ausnahmszustand  tot!  Noch  mehr:  Nun  ist  das  Prole- 
tariat Österreichs  erwacht,  es  ist  zum  Bewußtsein  seiner  Kraft  ge- 
kommen und  steht  am  Beginn  seiner  Bahn,  die  zu  gehen  es  keine 
Gewalt  mehr  hindern  wird . . .  Und  der  2.  Mai  war  mein  frühester 
Tag  während  jener  ganzen  Haft!  Victor  Adler. 

Zu  Kronawetters  sechzigstem  Geburtstag. 

Fest  Versammlung  am  2  7.  Februar  189  8*). 

Es  wird  nicht  häufig  vorkommen,  daß  ein  Politiker  von  einer 
anderen  Partei  begrüßt  wird  von  einer  Partei,  die  mit  der  seinen 
häufig  im  Kampfe  war  und  sein  wird.  Aber  wenn  wir  auch  mit  den 
hier  versammelten  Parteigenossen  Kronawetters  und  seinen  engeren 
Freunden  nichts  zu  tun  haben,  so  sind  mit  gutem  Qrund  in  diesem 
Saal  auch  Vertreter  der  großen  Masse  der  österreichi- 
schen Arbeiterschaft  anwesend,  gegen  deren  Unter- 
drückung und  Vergewaltigung  Dr.  Kronawetter  als  ein  einzelner 
Mann  durch  lange  Jahre  gekämpft  hat.  (Beifall.)  Er  allein  hatte 
damals  den  Mut,  die  Rechte  der  Arbeiterschaft  zu  verteidigen  und 
die  Worte,  die  er  in  jener  Zeit  gesprochen,  waren  damals  fast  die 
einzige  inländische  Agitationsliteratur  der  österreichischen  Arbeiter- 
schaft; zugleich  aber  bilden  sie  eine  flammende  Brandmarkung 
jenes  traurigen  Stückes  österreichischer  Geschichte.  Das  politische 
Leben  Kronawetters  ist  reich  an  schmerzlichen  Enttäuschungen. 
Die  Prinzipien  der  bürgerlichen  Demokratie,  denen  er  gedient,  sind 
vom  Großbürgertum  nie  vertreten,  vom  Kleinbürgertum  verraten 
worden.  Was  Kronawetter  heute  um  sich  hat,  sind  nur  mehr  ein- 
zelne Männer.  Aber  er  möge  getrost  sein,  wenn  auch  die  Fahne 
der  bürgerlichen  Demokratie  nicht  siegen  kann,  die  Sache  der 
Freiheit,  Gleichheit  und  Brüderlichkeit  wird  siegen,  und  ihr  Träger 
ist  das  Proletariat.  Wenn  auch,  schloß  Dr.  Adler  unter  stür- 
mischem Beifall,  sich  noch  häufig  unsere  Wege  kreuzen  werden, 
wird  trotz  allem  Gegensatz  der  Parteistellung  die  österreichische 
Arbeiterschaft  niemals  vergessen,  daß  Dr.  Kronawetter  ihr  ein 
Freund  in  der  Not  gewesen. 


*)  Am  26.  Februar  war  die  Feier  des  sechzigsten  Geburtstages  Krona- 
wetters mit  einem  Festbankett  eingeleitet  worden  und  am  nächsten  Tage 
fand  im  Sofiensaal  eine  Festversammlung  statt,  in  der  außer  seinen  engeren 
Parteifreunden  auch  Pernerstoner  und  Adler  sprachen.  Über  Kronawetter 
siehe  den.  Artikel  Adlers  in  der  „Gleichheit"  vom  12.  Februar  1887  (Bd.  VIU. 
Seite  336)  und  die  Bemerkungen  beim  Artikel  „Das  allgemeine  Wahlrecht 
und  die  Liberalen"  vom  2.  Juni  1893  im  zehnten  Band  der  Adler-Schriften 
..Der  K  a  m  p  f  um  das  W  a  li  1  r  e  c  h  t"   (Bd.  X,  Seite   107,  Note). 


Abschied  von  Friedrich  Engels. 

Abschied  von  Friedrich  Engels. 

Q  e  d  e  nkfeieram   I  (>.  A.  u  z  u  s  i   l  s ()  5 ' ), 

Werte  Parteigenossen  und  -genossinnen!  Wir  haben  Sie  einge- 
laden, sich  zu  versammeln,  um  Friedrieh  Engels'  ZU  gedenken.  Nicht 
um  zu  Wagen,  nicht  um  zu  weinen,  sondern  weil  wir  gewußt  haben, 
daß  es  ihnen  ein  Bedürfnis  ist,  gemeinsam  zu  sagen:  Wir  haben 
einen  unserer  besten  Mitkämpfer  verloren,  wir  haben  einen  Freund 
verloren,  der  die  Fahne  vorangetragen  fünfzig  Jahre  lang,  der  uns 
den  Weg  gezeigt  hat,  der  die  Fahne  hochgehalten  hat  und  unbefleckt 
bis  an  sein  Ende.  Es  ist  uns  ein  Bedürfnis,  einander  in  die  Augen 
zu  sehen  und  uns  zu  sagen:  Wir  wissen,  wen  wir  verloren,  wir 
gedenken  des  Mannes,  und  in  der  rechten  Weise.  Wenn  Friedrich 
Engels  bei  einer  solchen  Gelegenheit  unter  uns  sein  könnte,  er  wäre 
der  letzte,  der  klagte,  der  Klage  guthieße.  Er  war  ein  Kämpfer  sein 
Leben  lang,  er  war  ein  Kämpfer,  ein  Denker.  Denn  das,  was  wir 
Engels  verdanken,  ist  mehr  und  ist  ein  anderes,  als  was  jeder  von 
uns  leisten  kann.  Gewiß,  was  die  großen  Männer  finden,  muß  erst 
vorhanden  sein,  die  Gedanken  bilden  sich  aus  dem  Unterbewußten 
der  Masse,  aus  den  Verhältnissen  heraus.  Aber  sie  zu  finden,  klar 
hinzustellen,  das  ist  nicht  jedermanns  Sache,  sondern  die  Sache  der- 
jenigen, die  selbst  ein  Produkt  ihrer  Zeit,  ihrer  Generation  sind, 
aber  ihr  bestes  und  schönstes  Produkt,  die  den  Gedanken  aus- 
sprechen, der  in  Tausenden  und  Millionen  von  Herzen  und  Ge- 
hirnen sich  findet. 

Friedrich  Engels  war  ein  Kämpfer.  Das  erstemal,  wo  er  hinaus- 
trat in  die  Öffentlichkeit  mit  einer  kleinen  Arbeit,  in  den  „Deutsch- 
französischen  Jahrbüchern",  konnte  man  sehen,  wie  der  junge 
Bursche,  23  Jahre  alt,  rechts  und  links  Hiebe  austeilte,  die  alte,  ver- 
zopfte Nationalökonomie,  die  Manchesterlehre  zerfetzte,  daß  rechts 
und  links  die  Funken  stoben  und  die  Stücke  flogen.  Damals  schon 
war  Friedrich  Engels  Sozialist,  damals  schon,  um  das  Jahr  1843  und 
1S44,  war  ihm  klar,  was  dem  Sozialismus  notwendig  sei,  um  aus 
einem  frommen  Wunsch  eine  weltbewegende  Macht  zu  werden. 
Das  Erste,  was  der  junge  Mann  tat,  als  er  sich  besann,  war,  daß  er 


*)  Was  über  Engeis  und  sein  Verhältnis  zu  Adler  zu  sagen  ist,  ist  in 
dem  ersten  Band  dieser  Schriften  „Victor  Adler  und  Friedrich 
R  n  g  e  1  s"  gesagt.  Dort  sind  auch  nicht  nur  die  Briefe  Adlers  an  Engels, 
sondern  auch  die  meisten  Reden  und  Artikel  Adlers  über  Engels  abge- 
druekt.  Die  Rede,  die  Adler  bei  der  Gedächtnisfeier  der  Wiener  Arbeiter 
hielt,  ist  dort  nicht  abgedruekt.  Schon  am  19.  August  1895,  also  genau 
zwei  Wochen  nach  dem  am  5.  August  erfolgten  Tode  von  Engels,  einem 
Montag  abends,  versammelten  sich  dreitausend  Arbeiter  im  Meidlinger 
Katharinensaal,  wohin  sie  von  der  sozialdemokratischen  Parteivertretung 
geladen  worden  waren,  um  an  der  Trauerfeier  teilzunehmen.  Nach  der  Auf- 
führung des  Trauermarsches  auf  den  Tod  eines  Helden  aus  Beethovens 
„Eroica"  und  nach  dem  Vortrag  des  von  Andreas  Scheu  gedichteten  und 
von  Josef  Scheu  in  Musik  gesetzten  Eestgesanges  hielt  Adler  die  Ge- 
dächtnisrede, die  in  der  ,. Arheiter-Zeitu rtvc"  im  Wortlaut  abgedruckt  wurde. 


40  Zur  Parteigeschichte. 


nach  Manchester  ging  und  dort  das  Leben  der  englischen  Arbeiter 
studierte.  Kr  lebte  mit  ihnen  jahrelang  und  brachte  zum  ersten- 
mal zu  Tage,  was  heute  nicht  nur  die  zünftige  Wissenschaft  nach- 
tut, sondern  was  wir  alle  tun  und  tun  müssen,  was  unser  wichtigstes 
Mittel  der  Agitation  und  Befreiung  ist,  daß  wir  wissen,  wie  die 
Arbeiter  leben,  daß  wir  die  Dinge  sehen,  wie  sie  sind,  die  Lüge  der 
falschen  Propheten,  die  Verbrämungen,  Bemäntelungen  und  Ver- 
himmelungen zerreißen,  die  Tatsachen  studieren  und  sie  hinstellen. 
Und  da  ergab  sich  fürwahr  ein  anderes  Bild,  als  die  damalige 
offizielle  Wissenschaft  von  der  Lage  der  Arbeiter  gab.  Es  zeigte 
sich,  allerdings  nur  in  den  wichtigsten  Dingen,  nur  im  ersten  Ent- 
stehen die  Entwicklung  der  Industrie  und  mit  ihr  das  Elend,  die 
Degeneration  und  Demoralisierung,  die  sie  über  die  englische 
Arbeiterschaft  brachte.  Engels  war  der  erste,  der  diese  Art  der 
Forschung  geübt  hat,  er  war  der  erste,  der  sie  auch  zu  benützen 
wußte. 

Sein  zweites  Wort  in  der  Öffentlichkeit  ist  das  von  ihm  und 
Marx  gemeinsam  veröffentlichte  „Kommunistische  Manifest",  worin 
es  als  Ergebnis  seiner  Forschungen  und  seiner  Kenntnis  der  eng- 
lischen Arbeiterklasse,  ihrer  Lage,  ihrer  Forderungen,  aber  auch  der 
Kenntnis  ihrer  Gegner  und  Unterdrücker  heißt:  „Die  Befreiung  der 
Arbeiterklasse  kann  nur  das  Werk  der  Arbeiterklasse  selbst  sein." 
Wie  soll  aber  die  Arbeiterklasse  dazu  gelangen,  dieses  Werk,  das 
sie  nur  vollenden  kann,  zu  tun?  Wenn  die  Befreiung  der  Mensch- 
heit vom  Joche  der  Sklaverei,  der  feigen  Unterdrückung  durch  die 
Gewalt,  vom  Joche  der  Verknechtung  und  Verblödung,  nur  ein 
Wunsch  wäre,  der  gerechteste  fürwahr,  der  Wunsch,  in  den  sich 
alles,  was  Menschliches  in  uns  ist,  hineinpreßt,  und  wäre  dieser 
Wunsch  noch  so  warm  und  tief  empfunden,  er  könnte  keinen  Stein 
vom  anderen  rücken.  Nicht  daß  eine  Sache  gut  ist,  nicht  daß  sie 
wünschenswert  ist,  nicht  daß  sie  gerecht  ist,  entscheidet  in  der 
Welt,  sondern  in  der  Welt  entscheidet,  daß  die  Sache  n  o  t  w  e  n  d  i  g 
ist,  daß  sie  eine  notwendige  Entwicklung  der  Menschheit  bedeutet. 
Das  ist  das  Stück  Arbeit,  das  Engels  und  Marx  geleistet  haben;  sie 
haben  uns  anstatt  des  bloßen  revolutionären  Feuers,  anstatt  des 
bloßen  Dranges  der  Menschenliebe  die  Waffe  gegeben,  um  durch- 
zusetzen, was  die  Menschenwürde  erfordert.  Keinen  unter  Ihnen, 
die  Sie  Mitkämpfer  sind,  wird  es  geben,  der  nicht  in  jahrelangem 
Kampf  mitunter  Stunden  gehabt  hätte,  wo  er  mutlos  ward.  Jeder 
von  uns  war  in  der  Lage,  wo  die  Hindernisse,  die  sich  in  den  Weg 
legen,  schier  nicht  überwältigt  werden  zu  können  schienen  von  der 
Arbeiterschaft,  einer  armen,  unterdrückten  Klasse,  von  armen  Men- 
schen, jeder  einzelne  ohnmächtig,  sich  seiner  Haut  zu  wehren, 
wehrlos  preisgegeben  jedem  Ausbeuter,  jeder  TjTannei,  jedem 
Büttel.  Als  einzelne  und  als  Klasse  verachtet,  sinkt  sie  nach  An 
strengungen  in  allen  Ländern,  wo  sie  sich  zusammenrafft  und  zu- 
sammenballt, um  für  den  Moment  zu  einer  Macht  zu  werden,  wieder 
zurück.  Wo  wäre  der,  der  da  nicht  mutlos  würde  in  einem  solchen 
Moment?  Da  gibt  es  für  jeden  von  uns  nicht  einen  Trost,  aber  eine 


abschied  von  Fri<  di  k  ii  l  lusels.  41 


Erkenntnis.  Was  wir  wollen,  das  müssen  wir,  das  Proletariat  ist 
nicht  der  Träger  der  revolutionären  Entwicklung  nur  weil  es  will, 
sondern  weil  es  muß.  Und  wenn  wir  noch  hunderte  um  uns  und 
Millionen  weit  von  uns  wissen,  die  noch  in  stumpfer  Ergebung  leben, 
und  wenn  wir  wissen,  daß  Millionen  die  Binde  noch  nicht  von  den 
Augen  genommen  ist,  und  wir  verzweifeln  an  der  Riesenarbeit,  sie 
wegzunehmen,  wir  wissen,  was  wir  als  einzelne  nicht  können,  die 
Weltgeschichte  kann  es;  die  Weltgeschichte  ist  es,  welche  in  ihrem 
Lauf  sie  dazu  zwingt,  Marx  und  Engels,  und  ihr  Verdienst  ist  von- 
einander nicht  zu  trennen,  haben  uns  die  Binde  von  den  Augen  ge- 
nommen, haben  uns  gezeigt,  daß  der  Kapitalismus  in  seinem  Lauf 
unaufhaltsam  vorwärts  zu  immer  höherer  Macht  der  einzelnen 
Kapitalisten  und  der  Kapitalistenklasse  führt,  aber  daß  im  selben 
Maße  nicht  nur  das  Heer  der  Proletarier  größer,  zahlloser  wird, 
und  gezwungen,  sich  zu  organisieren,  um  sich  zu  wehren,  sondern 
daß  auch  in  der  kapitalistischen  Produktionsweise  selbst  die  Mächte 
und  Kräfte  liegen,  die  ihr  ein  Ende  machen.  Die  kapitalistische  Pro- 
duktion, je  weiter  sie  vorwärtsgeht,  je  größer  ihre  Wunder  werden, 
je  mehr  sie  Schätze  häufen  lernt,  um  so  weniger  wird  sie  in  der 
Lage  sein  und  ist  sie  schon  heute  in  der  Lage,  ihre  Schätze  zu  be- 
herrschen. Sie  sitzt  wie  weiland  König  Midas  mitten  im  Gold  und 
weiß  nicht,  was  sie  mit  den  Schätzen  tun  soll,  sie  schafft  die 
Schätze,  aber  entzieht  zugleich  den  Leuten,  welche  die  Schätze  ver- 
zehren könnten,  die  Möglichkeit,  sie  zu  verzehren,  auf  der  einen 
Seite.  Auf  der  anderen  Seite  schafft  sie  Produktionsbedingungen, 
die  nicht  mehr  von  einzelnen  zu  bewältigen  sind,  sie  schafft  das 
Privateigentum  ab,  sie  untergräbt  es,  indem  sie  die  private  Pro- 
duktion zu  einer  Unmöglichkeit  macht.  Wo  wird  denn  heute  noch 
privat  produziert?  Wo  ist  noch  Einzelproduktion  vorhanden?  In 
rückständigen  Betriebsformen,  die  zum  Aussterben,  zum  Untergang 
verurteilt  sind,  mögen  sich  sämtliche  Quacksalber  darin  üben,  sie 
zurechtzuflicken.  Immer  mehr  wird  die  Produktion  organisiert, 
immer  mächtiger  die  Produktionsorganismen,  die  heute  geleitet 
werden  von  Menschen,  die  sie  nicht  übersehen  können,  weder  das 
Bedürfnis  noch  die  Produktion  selbst,  die  immer  ins  Blinde,  immer 
ins  Blaue  hineinproduzieren,  die  aber  zuletzt  daran  scheitern  müssen, 
daß  sie  zwar  die  Nutznießer  und  Pfründner  der  genossenschaft- 
lichen Produktion  sein  können,  aber  nur  ein  Hindernis,  nur  Schäd- 
linge für  diese  Produktion  selbst  sind.  Die  Kapitalistenklasse  for- 
miert also  selbst  die  Genossenschaft  der  Produzenten,  sie  macht 
sich  selbst  überflüssig,  wie  sie  sich  selbst  schon  längst  schädlich 
gemacht  hat.  Und  an  dem  Tage,  wo  das  Proletariat  reif,  wissend 
und  entschlossen  sein  wird,  diese  überflüssigen  Funktionäre,  die 
nicht  mehr  funktionieren  können,  ihrer  Funktion  zu  entheben,  wird 
sich  nichts  anderes  erfüllen  als  die  geschichtliche  Notwendigkeit, 
als  die  konsequente  Folge  der  wirtschaftlichen  Entwicklung.  Und 
nun,  wenn  die  Befreiung  ein  Gebot  der  Menschenliebe,  wenn  sie 
das  persönliche  Bedürfnis  ist,  und  wenn  solche  Menschen  außer- 
dem noch  wissen,  daß  diese  Befreiung  das  Ziel  der  Geschichte  ist. 


42  Zur  Parteigeschichte. 


daß  die  Kauze  Entwicklung  darauf  hindrängt,  daß.  was  sich  ihnen 
entgegenstellt,  mag  es  noch  so  prunken  und  prassen,  nichts  anderes 
ist  als  die  Vertretung  dessen,  was  dem  Moder  und  dem  Absterben 
geweiht  ist,  wenn  Menschen  diese  Gewißheit  des  Sieges  haben, 
dann  sind  sie  nicht  nur  Vertreter  einer  unüberwindlichen  Sache, 
sondern  sie  sind  selbst  unüberwindlich,  weil  ihnen  der  Glaube  und 
das  Wissen,  daß  sie  siegen  werden,  niemals  genommen  werden 
kann.  Diese  Siegessicherheit  aber  verdanken  wir  Engels  und  Marx. 

Es  ist  sehr  viel  über  das  Verhältnis  zwischen  beiden  Männern 
gesprochen  worden,  und  vielleicht  wäre  Engels  nicht  zufrieden 
damit,  wenn  er  es  hören  könnte.  Aber  das  eine  will  ich  sagen: 
Engels  hat  geradezu  geflissentlich  immer  seinen  Anteil  an  dem 
Werke  von  Marx  verkleinert,  bis  in  die  allerletzte  Zeit.  Nehmen 
Sie  den  dritten  Band  des  „Kapital"  zur  Hand,  Sie  werden  in  jedem 
Kapitel  die  Spuren  der  selbständigen  Arbeit  von  Engels  bemerken: 
und  gehen  Sie  zurück  auf  die  „Deutsch-französischen  Jahrbücher", 
die  er  geschrieben,  bevor  er  noch  Marx  gekannt  hat*),  und  Sie 
werden  finden,  jugendlich  und  unbeholfen,  mehr  enthusiastisch  als 
klar  überlegend,  aber  im  Kern  doch  dasselbe,  den  geschichtlichen 
Materialismus,  die  sozialistische  Ökonomie.  Engels  selbst  sprach 
sich  in  seiner  Schrift  „Ludwig  Feuerbach  und  der  Ausgang  der 
klassischen  Philosophie"  über  sein  Verhältnis  zu  Marx  aus:  „Was 
Marx  gemacht  hat  und  was  ich,  ist  vielfach  schwer  auseinander- 
zuhalten. Ich  habe  ja  Anteil  an  allem  gehabt,  aber  was  ich  konnte 
und  die  anderen,  das  hätte  Marx  alles  selbst  auch  gekonnt,  aber 
was  Marx  gemacht  hat,  war  uns  anderen  unmöglich."  So  schildert 
er  das  Verhältnis,  und  bis  in  die  letzten  Tage  seines  Lebens  war 
ihm  nichts  so  sehr  am  Herzen,  als  die  Gedankenarbeit  von  Marx 
klar  und  daß  nichts  verloren  gehe,  vollständig  ans  Licht  zu  stellen. 
Bevor  der  dritte  Band  erschienen  war,  wurde  er  einmal  sehr  schwer 
krank,  er  war  in  Gefahr:  da  saß  er  lange  und  oft  bei  seinem  Schreib- 
tisch und  versuchte  zu  arbeiten.  Es  war  unmöglich,  und  er  wieder- 
holte immer  vor  sich  hin :  „Es  muß  fertig  werden,  ich  habe 
es  ihm  versprochen,  es  muß  fertig  werde  n."  Damals 
war  er  ein  Mann  von  73  Jahren!  Von  der  menschlichen  Liebe,  die 
Engels  nicht  nur  zu  Marx,  sondern  auch  zu  allen  seinen  Freunden 
beherrschte,  davon  zu  sprechen,  wäre  hier  schwer,  aber  eines 
möchte  ich  doch  hervorheben.  Dieser  berüchtigte  Marx,  den  Sie  in 
der  gegnerischen  Presse  als  einen  Mann  geschildert  finden,  der 
Kinder  verzehrt,  als  einen  giftigen,  boshaften  Menschen,  und  dieser 
Engels,  nicht  um  ein  Haar  weniger  boshaft  als  dieser  Marx,  diese 
beiden  Ausgeburten  der  Hölle,  für  sie  zeugt  eines:  Nichts  war  ihnen 
lieber,  mit  nichts  konnten  sie  länger    und    ausdauernder    sich    be- 

*)  Engels  hatte  schon  Ende  1842  auf  der  Durchreise  nach  England,  als 
er  in  Köln  die  Redaktion  der  „Rheinischen  Zeitung"  aufsuchte,  Marx  zum 
erstenmal  gesehen,  aber  sie  waren  einander  sehr  kühl  gegenüber  ge- 
standen. Erst  im  September  1844  kamen  beide  in  Paris,  wo  Marx  bereits 
lebte,  während  Engels  nur  auf  der  Durchreise  von  Manchester  nach 
Härmen  wenige  Tage  dort  war,  einander  näher. 


abschied  von  Friedri(  h  Engels. 

schäftigen,  als  mit  kleinen  Kindern  zu  spielen,  und  dieselben  giftigen 
Leute  waren  durch  die  zartesten  Freundschaftsbande  verbunden.  Icli 
habe    nachgedacht    in    diesen    Wochen,    wo    etwas    Ähnliches   in    der 

Geschichte  zu  finden  wäre. 

Wir  finden  wiederholt,  daß  große  und  bedeutende  Männer  mit- 
einander eine  Zeitlang  gearbeitet  haben,  wie  Schiller  und  Goethe, 
die  jahrelang  in  den  engsten  Beziehungen  zueinander  gestanden  und 
sich  über  ihre  Arbeiten  auf  dem  Laufenden  gehalten  haben.  Aber 
von  jener  regen  Verbindung,  wie  sie  zwischen  Marx  und  Engels 
bestanden,  bleibt  diese  weit  entfernt,  und  wenn  Sie  eine  Erklärung 
hiefür  suchen,  so  ist  es  die:  Marx  und  Engels  waren  nicht  nur 
tiefe,  gute,  edle  Menschen,  sondern  sie  waren  verbunden  durch 
Blutgenossenschaft,  durch  Blutbruderschaft  zu  einem  gemein- 
samen, großen  heiligen  Werke,  dem  sie  sich  bis  auf  den  letzten 
Blutstropfen,  bis  auf  den  letzten  Gedanken  gewidmet  hatten  und 
gewidmet  blieben  bis  an  ihr  Ende.  Das  verbindet  ganz  anders  als 
bloße   gemeinsame   Arbeit   und   gemeinsame   Gelehrtheit. 

Verzeihen  Sie  die  Abschweifung  vom  Vorkämpfer  zum  Men- 
schen. Es  wird  aber  schwer,  die  Dinge  zu  trennen  bei  einem  Mann, 
der  so  eins  war  aus  einem  Stück  wie  Friedrich  Engels.  Aber  nicht 
nur  in  dem  Sinne,  daß  sie  die  Wissenschaft  des  Sozialismus  ge- 
schaffen, daß  sie  uns  gelehrt  hatten,  was  die  Notwendigkeit  der  wirt- 
schaftlichen Entwicklung  sei,  waren  Marx  und  Engels  unsere  Lehrer, 
sie  haben  nicht  nur  das  Ziel,  sondern  auch  den  Weg  gezeigt,  und 
hier  beginnt  die  Selbständigkeit  und  eigentümliche  Bedeutung  von 
Friedrich  Engels.  Er  hat  die  Kunst  der  Auffassung  der  politischen 
Dinge  und  nicht  nur  der  Auffassung,  sondern  vor  allem  ihrer  Ent- 
wirrung und  Klarstellung  und  der  Schlußziehung  aus  ihnen  besessen. 
Es  ist  da  seine  letzte  kleine  Schrift,  eine  unvollendete,  sie  lag  auf 
seinem  Schreibtisch,  als  ich  ihn  verließ.  Es  ist  ein  Vorwort  zu  einer 
neuen  Auflage  einer  Marxschen  Schrift:  „Die  Klassenkämpfe  in 
Frankreich",  ein  Vorwort  von  nur  wenigen  Druckseiten,  so  klein, 
daß  es  unser  Blatt  zum  größten  Teil  abgedruckt  hat.  Lesen  Sie  es 
einmal  mit  Besonnenheit  und  Ruhe  nochmals,  und  Sie  werden  zu- 
geben, ein  klareres  Bild  der  politischen  Entwicklung  der  Sozialdemo- 
kratie in  den  letzten  50  Jahren  zu  geben,  als  Sie  es  hier  finden,  ist 
unmöglich.  Es  zeigt  Ihnen  mit  der  größten  Klarheit  und  mit  jener  Ein- 
fachheit des  Stils,  wie  sie  nur  der  Meister  besitzt,  wie  das  Proletariat 
zu  kämpfen  hat;  wie  es  anders  kämpfen  mußte  und  konnte  zur  Zeit 
seiner  Schwäche  als  heute,  wo  es  anfängt,  an  Macht  zu  gewinnen. 
Er  zeigt  zugleich,  daß,  so  wie  die  besitzenden  Klassen  wirtschaftlich 
zugrunde  gehen  an  ihrer  Herrschaft,  wie  der  Kapitalismus  um- 
schlägt in  sein  Gegenteil  in  dem  Moment,  wo  er  auf  der  Spitze  ist. 
auch  die  politische  Herrschaft  der  besitzenden  Klasse  eine  Unmög- 
lichkeit wird  und  in  ihr  Gegenteil  umschlägt  im  Verlauf  derselben 
Entwicklung,  wie  die  Besitzenden  und  die  ihren  Staat  verwalten, 
früher  die  Gesetzlosigkeit  der  Arbeiter  gefürchtet  hatten,  heute  aber 
noch  mehr  zittern  vor  der  Gesetzlichkeit  der  Arbeiter.  Er  zeigt,  wie 
das   Proletariat   nichts   anderes   zu   tun  braucht,  als  die   Waffen   zu 


44  Zur  Parteigeschichte. 


benutzen,  die  die  Besitzenden  und  derselbe  Staat  ihm  in  die  Hand 
geben  müssen,  wenn  sie  überhaupt  leben  wollen,  und  daß  diese 
Waffen  genügen,  wenn  sie  das  Proletariat  einmal  zu  gebrauchen 
versteht;  er  zeigt,  daß  die  Zeit  vorbei  ist,  wo  die  Arbeiterschaft  es 
notwendig  hatte,  sich  auf  Abenteuer  einzulassen,  die  heute  niemand 
lieber  sehen  möchte  als  unsere  Gegner,  und  daß  die  Zeit  gekommen 
ist,  wo  wir  nichts  zu  tun  brauchen,  als  unsere  Brüder  zu  lehren, 
die  Waffen  in  die  Hand  zu  nehmen  und  zu  gebrauchen,  die  vor 
ihnen  liegen.  Das  freilich,  Genossen,  ist  nichts  Leichtes.  Auch  diese 
Art  des  Kampfes  braucht  für  jedes  Land  ihre  eigene  Methode,  ihre 
eigenen  Mittel  und  für  jede  Periode  in  jedem  Land  eine  eigene 
Arbeit. 

Und  noch  eines  haben  wir  von  Engels  gelernt.  Pläne  auf  lange 
Zeit  hinaus,  noch  so  fein  erdacht,  auf  dem  Schreibtisch  oder  in 
hitziger  Debatte,  haben  niemals  Wert.  Ein  Grundsatz  gilt:  Klares 
Wissen,  unser  Programm,  prinzipielles  Feststehen  auf  der  Selb- 
ständigkeit der  Arbeiterklasse  nach  allen  Seiten  als  politische  Partei, 
und  im  übrigen  sein  Verhalten  einrichten,  wie  es  die  Sachlage  in 
jedem  einzelnen  Moment  erfordert.  Dazu  freilich  ist  sehr  viel 
Wissen  notwendig,  und  Engels  hatte  nicht  nur  eine  lange  und  reiche 
Erfahrung  hinter  sich,  sondern  er  hatte  auch  Verbindungen  in  allen 
Ländern  und  die  Möglichkeit,  mit  Sozialisten  aller  Länder  zu  ver- 
kehren. 

Auf  uns  Österreicher,  Genossen,  hat  er  immer  sehr  viel  gehalten, 
und  es  gereicht  mir  zur  Freude,  das  hier  konstatieren  zu  können. 
Er  hat  viel  von  uns  gehalten,  seitdem  er  hier  in  Wien  war  und  uns 
persönlich  kennengelernt  hat.  Er  war  überzeugt  und  setzte  mir  aus- 
führlich auseinander,  wie  der  politische  Beruf  der  Sozialdemokratie 
in  Österreich  ist,  besonders  aus  einem  Grunde  früher  als  in  allen 
anderen  Ländern,  zu  einer  politischen  Macht  zu  gelangen,  weil  die 
Sozialdemokratie  die  einzige  Partei  ist,  die  der  schwierigsten  Frage 
in  Österreich  gewachsen  ist  und  sie  lösen  kann,  das  ist  die 
Nationalitätenfrage.  In  Österreich  ist  die  Sozialdemokratie 
die  einzige  Partei,  die  mit  dem  Element  fertig  wird,  das  sonst  alle 
Verhältnisse  zersetzt,  alles  verwirrt,  aus  einer  jeden  klaren  Situation 
eine  unsinnige  macht,  aus  Freunden  Feinden  und  aus  naturgemäßen 
Feinden  vereinigte  Freunde  und  Bundesgenossen;  mit  dieser 
Nationalitätenfrage,  die  die  österreichischen  Verhältnisse  geradezu 
zu  einer  Absurdität  gestaltet.  Bei  uns  ist  diese  Frage  gelöst. 
(Stürmischer  Beifall.)  Uns  fällt  nicht  ein,  uns  selbst  etwas  vorzu- 
machen, oder  anderen  etwas  vorzumachen,  und  heute  am  aller- 
wenigsten wäre  ich  dazu  geneigt.  Wir  wissen,  es  gibt  noch  einen 
ansehnlichen  Teil  des  Proletariats,  der  den  nationalen  Schlagworten 
nachläuft  und  noch  nicht  zum  politischen  Bewußtsein  erwacht  ist. 
Aber  in  dem  Moment,  wo  der  Proletarier  in  Österreich  seine 
Klassenlage  erkennt,  sich  auf  die  eigenen  Füße  stellt,  wo  er 
anfängt,  proletarisch  zu  denken  und  zu  fühlen,  hört  er  nicht  etwa 
auf,  Deutscher  oder  Tscheche,  Pole  oder  Ruthene  oder  Italiener 
zu  sein,  er  bleibt  Deutscher,  Tscheche,  Pole,  Ruthene  oder  Italiener, 


Abschied  von  Friedrich  Engels.  4f» 


weil  kein  Mensch  ans  seiner  Haut  herauskann,  aber  er  zeigt,  daß 
deutsche,  tschechische,  rutheiiischc,  polnische,  slowakische  und 
Italienische  Proletarier  gemeinsam  Über  gemeinsame  Dinge  reden 
können,  als  Menschen  gemeinsam  leben  können,  und  selbst  wenn 
strittige  Punkte  sind,  über  alles  als  Menschen  und  Brüder  sich  aus- 
einandersetzen können,  ohne  deshalb  wie  wilde  Bestien  übereinander 
herzufallen  und  diesem  Interesse  zuliebe  die  höchsten  Interessen  der 
Menschheit  und  des  Volkes  mit  Füßen  zu  treten.  (Heifall.)  Es  ist 
nicht  notwendig,  um  seine  nationale  Eigenart  zu  bewahren,  daß 
man  sein  Volk  verkaufte  an  deutsche  oder  polnische  Feudale,  an 
Pfaffen  und  Großkapitalisten,  die  national  tun.  Es  ist  nicht  not- 
wendig, dal.5  man,  um  sein  Volk  zu  retten,  das  Volk  selbst  preis- 
gibt, es  ist  nicht  notwendig,  daß  die  Völker  Österreichs  in  den 
Wahnsinn  hineingetrieben  werden  von  denen,  die  kein  anderes 
Interesse  haben,  als  daß  sich  die  Völker  zerreißen.  (Stürmischer 
Beifall.)  Und  daß  dies  nicht  notwendig,  zeigt  die  österreichische 
Sozialdemokratie.  Das  ist  der  wichtigste  Grund,  die  geachtete,  ja, 
in  vielen  Dingen  gefürchtete  Stellung,  die  die  Sozialdemokratie  in 
Österreich  heute  schon  hat,  in  schnellem  Fortschritt  zu  einer  noch 
geachteteren  und  gefürchteteren  zu  machen.  Man  fürchtet  sich  nicht 
vor  unseren  Fäusten,  die  sind  leer;  die  anderen  haben  ja  die  Ge- 
wehre; aber  man  sieht,  daß  nicht  nur  die  Entwicklung  der  Zukunft, 
sondern  daß  die  politische  Vernunft  und  der  gesunde  Menschen- 
verstand schon  heute  auf  unserer  Seite  stehen. 

Noch  eines  erlauben  Sie  mir,  Genossen,  zu  berühren.  Friedrich 
Engels  war  ein  Mann,  der  in  jeder  Art  im  Kampfe  durch  50  Jahre 
gestanden.  Als  junger  Mann  mit  den  Waffen  in  der  Hand,  später 
unermüdlich  in  der  Agitation  und  Organisation,  unermüdlich  auch 
gegenüber  den  Angriffen  jener,  die  oft  ihm  hätten  die  befreundetsten 
sein  sollen,  und  man  sagt  von  ihm  mit  Recht,  daß  er  einen  gesunden 
Hieb  zu  führen  wußte.  Er  hat  es  verstanden,  zu  schlagen,  und  hat 
es  auch  verstanden,  wenn  hingeschlagen  wurde.  Er  blieb  keinen 
Hieb  schuldig,  aber  er  zog  sich  nicht  in  die  Ecke  zurück,  er  wurde 
nicht  sentimental  und  klagte  nicht  über  die  Undankbarkeit  der 
Menschen,  wenn  man  ihn  nicht  richtig  auffaßte.  Mehr  als  50  Jahre 
in  diesem  Kampfe  zu  stehen,  das  wird  derjenige  von  Ihnen  be- 
greifen, der  auch  nur  fünf  Jahre  in  solchem  Kampfe  steht,  und  der 
wird  auch  begreifen,  was  es  heißt,  niemals  sich  zurückziehen,  zu 
klagen  über  die  Unsinnigkeit  der  Menschen,  die  so  gar  nicht  zur 
Vernunft  kommen  wollen.  Das,  Genossen,  ist  unsere  größte  Gefahr. 
Nicht  die  große  ist  es,  aber  die  kleine,  das  Nörgelnde  des  Lebens, 
die  Enttäuschung  und  Bitternis,  die  in  uns  entstehen,  weil  diejenigen, 
mit  denen  wir  es  am  allerbesten  meinen,  nicht  gleich  ihr  Herz  uns 
öffnen,  ja  weil  sie  anscheinend  oft  wirklich  unvernünftig  und 
undankbar  sind.  Lernen  wir,  Genossen,  von  Engels  auch  die  Aus- 
dauer im  Kampf,  und  lernen  wir  von  ihm  auch  Niederlagen, 
wenn  es  sein  muß,  zu  ertragen  und  sie  durch  neue  Siege  wett- 
zumachen. Denn  in  diesen  50  Jahren,  die  die  Geschichte  der  Sozial- 
demokratie in  Europa  umfaßt,  war  der  Lauf  der  Partei  nicht  in  einer 


46  Zur  Parteiseschichte. 


geraden  Linie,  Schritt  für  Schritt  immerfort  dem  Ziele  zu,  sondern 
Schanze  um  Schanze  mußte  genommen  werden,  und  manche  wurde 
mit  Leichen  gefüllt,  nicht  nur  mit  Leichen,  die  auf  dem  Schlachtfeld 
gefallen,  sondern  mit  solchen,  die,  ermüdet  vom  Kampfe,  frühzeitig 
in  ihrem  Bette  gestorben  sind,  und  das  waren  nicht  die  schlechtesten 
der  Soldaten,  die  auf  dem  Schlachtfeld  der  Revolution  gefallen  sind. 
Engels  freilich  —  das  war  sein  Glück  —  an  seinem  Lebensende 
noch  sah  er  genau  so  wie  der  Jüngling  in  die  Zukunft,  er  sah  das 
Ziel  klarer  denn  als  junger  Mann,  er  wußte  viel,  nicht  nur  welche 
Schwierigkeiten  unser  noch  warten,  er  hoffte  sogar,  noch  Siege 
erleben  zu  können. 

Als  er  mir,  da  ich  Abschied  von  ihm  nahm,  auf  seine  Schiefer- 
tafel schrieb:  Grüße  mir  die  österreichischen  Genossen!  und  mir 
die  Hand  gab,  da  wußte  ich,  daß  er  es  tat  in  dem  Sinne  und  in  der 
Hoffnung,  daß  wir  unermüdlich  und  unerschütterlich,  und  mag 
kommen,  was  will,  vorwärtsgehen.  (Stürmischer  Beifall.)  Genossen! 
Nicht  zu  klagen  sind  wir  zusammengekommen,  nicht  zu  jammern, 
sondern  um  eines  Mannes  zu  gedenken,  der  mit  uns  und  vor  uns 
gekämpft  hat,  und  möge  jeder  von  uns  an  seines  Lebens  Ende, 
möge  er  zu  Großem  oder  zu  Kleinem  berufen  und  geeignet  sein, 
wie  Friedrich  Engels  sagen  können:  „Ich  habe  der  Sache  der 
Menschheit  gedient  mit  meinem  besten  Können,  mit  meinen  besten 
Gedanken,  mit  meinem  besten  Blut;  ich  habe  getan,  was  ich  ver- 
mochte." Unsere  Sache,  Genossen,  ist  eine  hohe,  ist  eine  herrliche 
Sache,  sie  verdient  große  Männer,  wie  Marx  und  Engels,  sie  ver- 
dient, daß  wir  das  hingeben,  was  in  uns  das  Beste  und  Edelste  und 
Größte  ist.  In  diesem  Moment,  wo  wir  des  Dahingeschiedenen  und 
aller  seiner  Vorgänger,  deren  er  würdig  war,  und  die  für  die  Sache 
der  Revolution  gefochten,  gedenken,  lasset  uns  geloben,  getreu  zu 
sein,  mag  kommen,  was  will  und  mag  kommen,  wer  will.  In  diesem 
Moment  lasset  uns  geloben,  getreu  zu  sein  der  Fahne  der  inter- 
nationalen Sozialdemokratie! 

Liebknecht  und  Osterreich. 

„Vorwärts",   12.  August   1900*). 

Wie  ein  Blitz  traf  uns  die  Nachricht  von  unseres  Liebknechts 
jähem  Tod,  und  nicht  weniger  schmerzlich  wie  ihr  Deutschen 
draußen  beweinen  die  Arbeiter  Österreichs,  daß  sie  ihn  verloren. 


*)  Der  Berliner  „Vorwärts"  hatte  in  der  Gedenknummer,  die  er  dem 
am  selben  Tage  stattfindenden  Leichenbegängnis  Wilhelm  Liebknechts  wid- 
mete, außer  diesem  Artikel  Adlers  noch  solche  von  Hermann  Greulich 
(Schweiz),  H.  M.  Hyndman  (England),  Paul  L  a  f  a  r  g  u  e  (Frankreich) 
und  Enrico  F  e  r  r  i  (Italien),  die  alle  mit  beredten  Worten  sagten,  was 
Liebknecht  ihren  Proletariaten  war. 

Über  Liebknecht  siehe  noch  die  Artikel  Adlers  bei  Liebknechts  Tod  in 
der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  8.  August  1900  (VI.  Bd.  dieser  Sammlung, 
Seite  291)  und  am  ersten  Todestag  Liebknechts  im  „Wahren  Jakob"  im 
August  1903.  (Bd.  VI,  Seite  294.) 


I  iebknecht   mul   c  >stei  reich.  47 


Ef  war  unser  wie  euer.  KtlÜpfetl  doch  die  Österreicher  au  die 
Deutschen  noch  engere  Beziehungen,  als  was  das  Band  der  großen 
Internationale  ist,  die  Gemeinsamkeit  der  proletarischen  Interessen 
und  die  Einheit  des  Zieles:  Wir  sind  eines  Blutes  und  wir  haben 
eine  (ieschiclite.  Die  Ära  Metternicli  hat  nicht  minder  auf  Deutsch- 
land gelastet  und  die  Ära  Bismarck  hat  dein  österreichischen  Pro- 
letariat dieselben  Leiden  gebracht  wie  dein  deutschen.  Wie  unsere 
äußeren  Schicksale  bis  vor  kurzem  noch  dieselben  waren,  so  ist 
bis  heute  noch  in  hohem  (irade  die  innere  Entwicklung  der  Partei 
eine  parallele.  An  der  sozialdemokratischen  Bewegung  Deutschlands 
hat  sich  Lude  der  sechziger  Jahre  die  österreichische  entzündet,  und 
die  Person  Liebknechts  verkörperte  diesen  Zusammenhang  wie 
keine  andere. 

Für  Liebknecht  ist  die  Bismarcksche  Lösung  der  deutschen  Frage 
nie  etwas  anderes  gewesen  als  die  Zerreißung  Deutschlands;  in 
diesem  Punkt  war  er  bewußt  und  entschieden  der  Gegner  des 
Lassalleschen  Gedankenganges.  Und  er,  dessen  Lebensinhalt  es  vor 
dreißig  Jahren  war,  sich  gegen  das  Werdende  zu  stemmen,  hat  sich 
nicht  entschließen  können,  sich  in  das  Gewordene  zu  fügen.  Er  kam 
1869  nach  Wien,  um  die  österreichischen  Arbeiter  dafür  zu  ge- 
winnen, sich  der  „Organisation  für  die  gesamte  sozialdemokratische 
Partei  Deutschlands"  anzuschließen  und  den  Eisenacher  Kongreß 
zu  beschicken.  Was  er  in  Österreich  vorfand,  waren  allerdings  nur 
die  Anfänge,  aber  freilich  glänzende  Anfänge  einer  sozialistischen 
Bewegung.  Sie  hatte  mit  einem  wunderbaren  Schwung  eingesetzt, 
der  gesteigert  war  durch  den  Reiz  der  Neuheit,  den  die  zum  ersten- 
mal gegebene  Möglichkeit  öffentlicher  politischer  Betätigung  aus- 
übte. Und  wie  damals  alles  in  Österreich  neu,  jung  und  naiv  schien, 
fand  die  Bewegung  zunächst  mehr  sympathisches  Erstaunen  als 
Widerstand.  Sehr  bald  freilich  änderte  sich  das  Bild,  und  früher  noch 
als  die  deutschen  Genossen  erlebten  die  Österreicher  ihren  ersten 
Hochverratsprozeß,  und  schon  als  Liebknecht  im  Juli  1869  in  Wien 
sprach,  hatte  das  Bürgerministerium  die  ersten  Proben  seiner  echt 
bürgerlichen  Brutalität  gegen  die  Arbeiter  abgelegt,  und  die  spezi- 
fisch österreichische  Technik  politischer  Schikane,  die  später  eine 
so  raffinierte  Ausbildung  erfahren  sollte,  machte  eben  ihre  ersten 
Schritte.  Minister  des  Innern  war  jener  Giskra,  von  dem  das  er- 
leuchtete Wort  stammt:  Bei  Bodenbach  hört  die  soziale  Frage  auf. 
In  treffenden  Worten  führte  Liebknecht  damals  die  Anklage  gegen 
die  verblendete  Regierung,  die  den  Ast  absäge,  auf  dem  sie  sitze, 
und  er  sprach  das  prophetische  Wort:  „Begreift  denn  dieses 

Über  Liebknechts  Aufenthalt  in  Wien  sowie  über  den  Eisenacher 
Kongreß,  der  vom  7.  bis  9.  August  1869  die  „sozialdemokratische  Arbeiter- 
partei" begründete  und  das  „Eisenacher  Programm"  schuf,  siehe  das  Vor- 
wort von  Dr.  Karl  Renner  zum  „W  iener  Hochverratsproze  ß". 
wo  namentlich  auch  das  Verhältnis  der  österreichischen  zur  deutschen 
Sozialdemokratie  geschildert  ist.  Auf  Seite  145  ist  auch  die  Rede  Lieb- 
knechts wiedergegeben,  die  er  am  25.  Juli  1869  in  Zobels  Bierhalle  in  Wien 
hielt. 


48  Zur  Parteigeschichte. 


Ministerium  nicht,  daß  ohne  die  Arbeiter  keine 
freiheitliche  Bewegung  in  Österreich  denkbar 
ist?"  Aber  Liebknecht  überschätzte  freilich  die  liberalen  Staats- 
männer Österreichs  gründlich,  wenn  er  ihre  Freiheitsliebe,  ihren 
Mut  und  politischen  Verstand  in  Gegensatz  brachte  zu  dem  Preußen 
Bismarcks,  und  wenn  er  dem  zum  politischen  Leben  erwachten  Wien 
Berlin  gegenüberstellte,  „die  Zitadelle  der  Knechtschaft".  Die  Lebens- 
frage für  Österreich  aber  hatte  er  schon  damals  richtig  erfaßt  und 
er  ironisierte  Herrn  v.  Beust,  der  sich  vermaß,  die  Nationalitäten- 
frage meistern  zu  wollen:  „Eine  monarchische  Eidgenossenschaft 
will  der  Kanzler  aus  Österreich  machen,  aber  ich  kenne  nur  eine 
Eidgenossenschaft,  und  die  hat  keinen  Kaiser.  Der  Liberalismus  hat 
kein  System,  Österreich  muß  den  Weg  der  Freiheit  gehen,  jeder 
Fehltritt  stürzt  es  in  den  Abgrund.  FreiheitoderTod!  istdie 
Devise,  die  diesem  schönen  Österreich  durch  die 
Notwendigkeit  aufgezwungen  wir  d."  Heute,  nach 
dreißig  Jahren,  hat  sich  Österreich  noch  nicht  entschlossen,  welche 
Alternative  es  wählen  will,  und  jeder  Tag  bringt  es  dem  Abgrund 
näher. 

Die  österreichischen  Arbeiter  konnten  Liebknechts  Rat,  das  frei- 
sinnige Bürgertum  zu  unterstützen,  nicht  befolgen,  denn  dieses 
Bürgertum  war  nie  vorhanden  in  Österreich.  Aber  seine  eigentliche 
wichtige  Mission  hat  Liebknecht  damals  mit  vollem  Erfolg  durch- 
geführt: Er  hat  die  Verbindung  zwischen  der  deutschen  und  der 
österreichischen  Sozialdemokratie  geknüpft,  und  sie  ist  seither  stark 
und  unzerreißbar  geworden.  Daran  änderte  die  Tatsache  gar  nichts, 
daß  neben  der  Sozialdemokratie  deutscher  Zunge  in  Österreich  nach- 
einander kräftige  tschechische,  polnische,  italienische  Organisationen 
erstanden  und  heute  ein  kräftiges,  selbständiges  Leben  führen.  Die 
Eigenart  der  österreichischen  Parteiverhältnisse  wurde  von  unseren 
Genossen  im  Reich  stets  richtig  verstanden,  vor  allem  von  Lieb- 
knecht selbst.  Wie  er  als  deutscher  Sozialdemokrat  nie  ver- 
schmerzen konnte,  was  er  das  Verbrechen  Bismarcks  nannte,  daß 
die  Deutschen  Österreichs  ihrem  Schicksal  überlassen  wurden,  so 
begrüßte  er  als  internationaler  Sozialdemokrat  das  Erwachen  des 
slawischen  Proletariats  mit  wahrer  Begeisterung.  Er  begriff  wie 
einer,  daß  nicht  die  Unterdrückung,  sondern  nur  die 
Befreiung  der  Slawen  die  Grundlage  einer  ver- 
nünftigen Entwicklung  auch  der  Deutschen  in 
Österreich  sein  könne,  und  er  hat  persönlich  gerade  den 
jungen  Organisationen  stets  mit  Rat  und  Tat  beigestanden. 

Die  Popularität,  die  Liebknecht  in  der  österreichischen  Arbeiter- 
schaft genoß,  die  Liebe  und  Verehrung,  die  sich  an  seinen  Namen 
knüpfen,  sind  freilich  unabhängig  von  jeder  lokalgeschichtlichen  Be- 
ziehung, von  jeder  nationalen  Färbung.  Das  österreichische  Prole- 
tariat aller  Zungen  trauert  an  seiner  Bahre,  weil  Liebknecht  der 
Bannerträger  war  in  dem  Befreiungskampf,  ja  weil  er  den  unbeug- 
samen, rücksichtslosen  und  siegessicheren  Kampf  der  Sozialdemo- 
kratie in  seiner  Person  verkörperte.  Victor  Adler. 


Engelbert  Pernerstorfers  letzte  Fahrt.  49 

Engelbert  Pernerstorfers  letzte  Fahrt. 

I  in  Arbeit  e  r  li  e  i  m,  9.  .1  ä  n  n  e  r   I  9  1  S ' ). 

Es  ist  eine  harte  Stunde,  da  wir  von  Pernerstorfer  Abschied 
nehmen,  hart  für  uns  alle,  die  wir  ihm  persönlich  nahegestanden 
sind,  hart   für   ungezählte  Tausende,   die   ihn   geliebt   und  verehrt 

haben,  denen  er  ein  Helfer  und  ein  Freund  war.  Es  ist  jetzt 
fünfzig  Jahre  her,  und  er  könnte  ein  Jubiläum  feiern,  daß  er  sich 
zum  erstenmal  in  den  kleinen  Zimmern  des  Arbeiterbildungsvereines 
herumgetrieben  und  dort  das  Wort  der  Zukunft  gepredigt  hat. 
Fünfzig  Jahre!  Und  er  ist  derselbe  geblieben,  der  er  als  Knabe  war: 
tapfer,  ein  Idealist  sagen  sie,  aber  weiß  der  Himmel,  kein 
Phantast.  Fest  stand  er  auf  der  Erde,  aber  er  hatte  den 
eisernen  und  unerschütterlichen  Glauben  an  die  Zu- 
kunft, er  hatte  die  Tapferkeit,  trotz  alledem,  diese  Zukunft  zu 
erringen.  Trotz  alledem!  Das  war  das  Wort,  das  ihn  begleitet  hat. 
und  wenn  ich  hier  spreche  im  Namen  der  Vertretung  der  sozial- 
demokratischen Partei,  im  Namen  seiner  Partei,  so  spreche  ich  nicht 
nur  im  Namen  der  deutschen  Arbeiter  in  Österreich,  sondern  der 
Arbeiter  aller  Nationen  in  Österreich,  die  ihn  gekannt  und 
geliebt  haben,  durch  alle  Irrungen  und  Wirrungen  hindurch.  Weit 
über  die  Grenzen  Österreichs  war  er  bekannt  als  der  Fahnenträger 
der  großen  Idee  der  Menschheit,  und  das  letzte  Wort,  das  er  an  uns 
gerichtet  hat,  war  ein  Wort  des  Glaubens,  der  Zukunftssicherheit. 
Der  da  liegt,  war  ein  Kämpfer  vom  ersten  Augenblick  seines 
Wirkens  und  er  hat  zeitlich  angefangen,  zu  wirken.  Es  gibt  keinen 
von  uns  allen,  von  uns  Alten  und  von  den  Jungen,  denen  nicht  sein 
feuriges  Wort,  seine  Beredsamkeit  das  Licht  in  die  Seele  geworfen 
hat.  In  seiner  Seele  brannte  das  ewige  Feuer  der  Begeisterung. 


*)  Am  6.  Jänner  1918  ist  Engelbert  Pernerstorfer  gestorben  und  am 
9.  Jänner  wurde  er  auf  dem  Zentralfriedhof  bestattet.  Im  Arbeiterheim 
in  Favoriten  war  sein  Sarg  aufgebahrt  und  hier  bereiteten  ihm  Freunde 
und  Genossen  eine  Huldigung.  Zuerst  sprach  der  Präsident  des  Abge- 
ordnetenhauses Dr.  Gustav  Groß  im  Namen  des  Abgeordnetenhauses, 
dem  Pernerstorfer  mit  kurzer  Unterbrechung  seit  mehr  als  dreißig  Jahren 
angehört  hatte;  dann  sagte  Victor  Adler  dem  Genossen  und  Jugend- 
freund, sichtlich  tief  ergriffen,  Worte  des  Abschieds.  Auf  dem  Friedhof 
sprachen  im  Namen  der  Parteivertretung  Dr.  Ellenbogen,  im  Namen 
der  Stadtgemeinde  Wiener-Neustadt,  die  Pernerstorfer  im  Reichsrat  ver- 
treten hatte,  der  damals  sozialdemokratische  Vizebürgermeister  und  nach- 
malige Bürgermeister  O  f  e  n  b  ö  c  k,  im  Namen  der  tschechischen  Sozial- 
demokratie Abgeordneter  N  e  m  e  c,  im  Namen  der  Bibliophilen  Gesell- 
schaft, deren  Vorstandsmitglied  Pernerstorfer  war,  deren  Obmann  Hans 
F  e  i  g  e  1. 

Was  Pernerstorfer  der  Sozialdemokratie  in  ihren  Anfängen  war,  ist 
im  VI.  Band  dieser  Schriften  im  Kapitel  vorn  Kampf  gegen  den  Terror 
erzählt.  Eine  ausführliche  Biographie  von  Pernerstorfer  hat  Robert  A  r  x- 
haber  in  der  „Neuen  österreichischen  Biographie'*  (Bd.  II,  Seite  97). 
geschrieben.  Pernerstorfer  hat  auch  eine  große  Bibliothek  hinterlassen, 
die  nun  der  Studienbibliothek   der   Wiener   Arbeiterkammer  einverleibt  ist. 

Adler,  Briefe.   XI.  Bd.  4 


50  Zur  Parteigeschiehte. 


jener  Begeisterung,  ohne  die  große  Dinge  nicht  geschehen  können. 
Sie,  die  alten  Genossen,  werden  sich  erinnern,  daß  er  unser  Freund 
war,  unser  Schild  und  unsere  Waffe  zu  einer  Zeit,  wo  wir  keinen 
Schild  hatten  und  wo  wir  kein  Sprachrohr  hatten,  wo  wir  schwach 
und  verfolgt  waren.  Erinnern  Sie  sich  an  die  Zeit,  wo  er  furchtlos, 
rücksichtslos  gegen  Gemeinheit  und  Brutalität  kämpfte,  sicher,  daß 
dem  Sozialismus  die  Zukunft  gehört  und  daß  er  der  Weg  ist.  auf 
dem  die  Vervollkommnung  der  Menschheit,  wie  er  in  seinem  letzten 
Wort  sagt,  zum  Ziel  kommen  werde. 

Es  gibt  wenig  Männer  in  Österreich,  die  so  auf  das  Volk  zu 
wirken  verstanden  haben.  Nichts  Menschliches,  was  aufwärts  führt, 
war  ihm  fremd.  Selbst  die  Partei  schien  ihm  noch  eine  Schranke. 
Nicht  als  ob  er  sich  je  an  der  Disziplin  und  an  der  Geschlossenheit 
gestoßen  hätte,  aber  in  allen  Schichten,  in  allen  Gedankengängen 
war  er  zu  Hause  und  alle  nahm  er  in  sich  auf.  Seine  ungemeine 
Bildung  —  eine  Bildung,  deren  Ausmaß  nur  die  recht  kannten,  die 
ihm  nahestanden  —  ermöglichte  ihm,  wie  von  einem  Gipfel  alles 
zu  sehen,  und  es  ist  kein  Zufall,  daß  so  viele  seiner  Reden  schlössen 
mit  dem  Bilde  des  nahen  Sonnenaufgangs,  zu  dem  er  hinblickte, 
auf  den  er  hoffte  und  den  er  in  seinen  ersten  Strahlen  sah.  Der  Weg 
dahin,  der  mühevolle  Weg  des  Kleinlichen,  des  Elends,  wenn  ihm 
auch  menschliche  Sorge  nicht  fremd  gewesen,  war  ihm  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  erspart.  Denn  er  war  ein  glücklicher 
Mensch,  der  den  Ideen  der  Menschheit  gelebt  hat;  der  Mensch- 
heit große  Gegenstände  haben  ihn  immer  beschäftigt.  Weit  über  das 
Reich  hinaus  wußte  man  das,  liebte,  schätzte  ihn  und  so  bin  icli 
insbesondere  beauftragt,  im  Namen  des  Vorstandes  der 
deutschen  Sozialdemokratie,  der  hier  nicht  vertreten 
sein  kann,  weil  er  durch  wichtige  politische  Geschäfte  ferngehalten 
wird,  ihren  letzten  Gruß  auszusprechen.  Ich  darf  hier  wohl  eine  Er- 
innerung wachrufen,  die  mir  unvergeßlich  bleibt.  Wir  waren  vor 
dem  Greuel  dieses  Krieges  in  Basel  bei  der  Internationalen  Konfe- 
renz, die  die  Sturmglocken  des  Baseler  Münsters,  die  damals  noch 
Friedensglocken  waren,  in  Bewegung  setzte,  um  vor  dem  Entsetz- 
lichen, das  wir  und  er  jetzt  durch  Jahre  ertragen  haben,  zu  warnen, 
es  zu  verhindern.  Aber  die  Glocken  können  die  Gewitter  verkünden, 
nicht  beschwören.  Nachher  saßen  wir  in  einem  kleinen  Räume  bei- 
einander mit  unserem  armen  Jaures,  mit  dem  er  so  befreundet  war, 
und  den  er  geliebt  hat  und  mit  dem  er  soviel  Ähnliches  gehabt  hat, 
und  ich  erinnere  mich,  wie  die  beiden  über  die  Chartistenbewegung 
gesprochen  haben  und  über  die  christlichen  und  sozialen  Elemente 
in  dieser  Revolution.  Da  hat  er  ganze  Sätze  aus  den  Predigten  der 
revolutionären  Pfarrer  dieser  Jahre  zitiert,  die  die  Führer  des  Frei- 
heitskampfes waren. 

Wir  haben  keinen  besserenFreund  gehabt  als  ihn.  Was 
er  uns  als  Berater  war,  als  Vorkämpfer  und  vor  allem  als  Wort- 
führer und  für  Zehntausende  als  Lehrer,  das  wird  uns  unvergeßlich 
bleiben.  Wir  danken  ihm,  und  wir  nehmen  Abschied  von  ihm  (In 
tiefer  Bewegung):  Ja,  wir  nehmen  Abschied  und  senden  dir,  mein 
alter,  lieber,  lieber  Storfer,  den  letzten  Gruß. 


Die  Eröffnung  des  Arbeiter  heims  in  Favoriten.  51 

Liebe  Anna  (zur  Genossin  Pernerstorfer  gewendet),  die  du  seine 
Jugendgespielin  warst  und  die  du  ihn  herleitet  hast  bis  /um  letzten 
Atemzug,  Ohne  die  er  nicht  möglieb  gewesen  wäre,  ohne  die  er 
sein  Leben  so  nicht  hätte  führen  können,  wie  er  es  geführt  hat,  dir 

icli  spreche  es  aus  für  alle,  die  es  nicht  wissen  — ,  dir  danke 
ich,  daß  du  uns  dieses  Leben  SO  ermöglicht  hast.  Und  nun,  lieber 
alter  Freund,  Kamerad!  -  einen  bessern  find'st  du  nit  —  leb'  wohl! 
Lebe  wohl!  sage  ich  am  Grabe,  denn  er  wird  leben,  nicht  nur  in  uns, 
sondern  weit  über  uns  hinaus.  Gegner  hast  du  gehabt, 
Feinde  konntest  du  keine  hinterlassen,  denn  edel  warst  du,  h  i  1  f- 
reich  und  gut,  und  —  was  dort  nicht  steht  —  tapfer  warst 
du  durch  und  durch.  Ein  deutscher  Mann  warst  du,  doch  ein 
Mann  vor  allem  bis  zu  deinem  letzten  Atemzug.  Storfer,  leb' 
wohl! 

Die  Eröffnung  des  Arbeiterheims  in 

Favoriten. 

Am  7.  September  1902*). 

Geehrte  Festversammlung!  Werte  Festgäste!  Genossen  und 

Genossinnen! 

Wir  treten  vor  Sie  hin,  um  Sie  willkommen  zu  heißen  in  dem 
Hause,  das  dem  arbeitenden  Volke  gehört;  wir  treten  vor  Sie  hin, 
um  Ihnen  zu  sagen:  Was  hier  geschaffen  wurde,  isteuerWerk. 
Finen  Fleck  Boden  habt  ihr,  von  dem  aus  ihr  weiterkämpfen  sollt. 
Nicht  hier  zu  rasten  soll  euch  beschieden  sein,  euch  soll  beschieden 
sein,  von  hier  aus  erst  recht  zu  erobern.  So  mancher,  der 
in  diesem  Saale  ist,  wird  sich  noch  erinnern,  wie  wir  begonnen 
haben,  wird  sich  der  langen  Nächte  erinnern,  der  schweren  Sorgen, 
er  wird  sich  erinnern,  wie  wir  in  elendesten  Schlupfwinkeln  gehaust 
haben,  wie  wir  verfolgt,  gehetzt,  verachtet,  verhöhnt 
waren  in  diesem  Österreich,  in  diesem  Wien;  und  er  wird  daran 
denken,  welcher  Arbeit  von  Zehntausenden  es  bedurft  hat,  um  dem 
Arbeiter  in  diesem  Reiche  und  in  dieser  Stadt  Respekt  zu 
schaffen.  Nun  sind  wir  ein  Stück  weiter:  Hier  sind  wir  zu 
Hause. 

Wir  haben  ein  Heim! 

W7ir  wissen  sehr  gut,  nicht  alle  sind  erfreut  über  diesen  Bau, 
nicht  alle  haben  Genugtuung  daran,  daß  die  Arbeiter  endlich 

*)  Die  Rede  ist  der  Festschrift  „Das  erste  Arbeiterheim"  von  Berthold 
Alt  entnommen,  die  zum  25jährigen  Bestand  des  Arbeiterheims  erschienen 
ist  und  die  eine  Geschichte  des  Arbeiterheims  gibt.  Das  „Arbeiterheim"  in 
Favoriten,  das  am  7.  September  1902  eröffnet  wurde,  war  das  erste 
Arbeiterheim  der  Wiener  Arbeiter.  Einige  Jahre  später  wurde  das  Ar- 
neiterheim  in  Ottakring  gegründet.  Von  dem  Favoritner  Arbeiterheim  ist 
später  noch  die  Rede  in  der  Rede  Adlers  zur  Enthüllung  der  Gedenktafel 
an  den  Einbruch  der  Polizei  am  7.  November  1902  im  Kapitel  ..Adler  im 
I.  «i  n  d  t  a  k". 


52  .  Zur  .Parteigeschichte. 


zu  Hause  sein  dürfen.  Rings  um  uns  wogt  ein  Meer  von 
giftigem  Haß,  Neid  und  Scheelsucht,  in  Grund  und 
Boden  wollen  sie  uns  wünschen.  Wir  Sozialdemokraten  aber 
fürchten  uns  nicht,  und  unser  Haus  —  ein  roter  Punkt  ist  es 
in  dem  schwarzenMeere  ringsum,  ein  Punkt,  der  leuchtet, 
hell  ist  sein  Schein.  Das  Licht  unserer  Ideen,  das  von  ihm 
ausgeht,  wird  die  Finsternis  überwinden! 

Parteigenossen!  Wenn  wir  Sozialdemokraten  uns  ein  eigenes 
Heim  gründen,  ein  eigenes  Haus  bauen,  so  verfallen  wir  nicht  in 
die  Gewohnheit  der  Eigentumsbestie  und  in  den  Gedankengang  der 
Hausherren!  Gewiß,  dieses  Haus  ist  juristisch  Privateigentum,  auch 
wir  können  zunächst  aus  der  kapitalistischen  Welt  nicht  heraus. 
Aber  die  Paläste  der  Großen  sind  dem  Volke  verschlossen,  aus 
deren  Schweiß  sie  gebaut  sind,  hier  haben  Sie  ein  Haus,  das 
Ihr  Haus  ist,  das  Haus  des  gesamten  arbeitenden 
Volkes  von  Wien.  Wir  Sozialdemokraten,  die  man  als  Feinde 
der  Kultur  verschrien  hat,  wir  sind  stolz  darauf,  daß  wir  Sie  in 
unserem  Heim  empfangen  können,  das  nicht  nur  das  rote  Haus, 
sondern  auch  ein  schönes  Haus  ist.  Als  Arbeiter,  als  Werk- 
leute, laden  wir  Sie  ein,  Besitz  zu  nehmen  von  diesem  schönen 
Hause.  Es  gehört  Ihnen,  nicht  weil  Sie  es  gekauft  haben,  es  gehört 
Ihnen,  weil  Sie  es  erarbeitet,  geschaffen  haben,  weil  es 
Ihr  Eigentum  geworden  durch  die  Kraft  Ihrer  Hände, 
durch  die  Arbeit  Ihres  Hirns!  Mit  Stolz  zählen  wir  alle 
die  zu  uns,  die  mit  dem  Kopfe  arbeiten, 

wir  zählen  zu  lins,  was  denkt,  was  arbeitet. 

Dieser  Arbeit  wollen  wir  zum  Siege  verhelfen  und  diesem 
Kampfe  soll  dieses  Haus  dienen.  Es  war  nicht  leicht,  dieses  Werk 
zu  schaffen  und  es  wäre  ein  Unrecht  von  uns,  wenn  wir  in  diesem 
Augenblick  nicht  auch  jener  Zahl  von  Parteigenossen  gedenken 
möchten,  die  mit  rührender  Zähigkeit  an  dem  Plane  festgehalten 
haben  zu  einer  Zeit,  wo  kein  Mensch  ernstlich  hoffen  konnte,  es 
würde  in  absehbarer  Zeit  möglich  sein,  den  Plan  zu  verwirklichen. 
Dieser  Gründer  und  Anreger  gedenken  wir  dankbar.  Was 
wir  geschaffen  haben,  gilt  nicht  für  Favoriten  allein.  Es  ist  wohl 
zunächst  ein  Bezirkshaus,  ein  Amtshaus  für  die  politische  Organi- 
sation des  Bezirkes,  ein  Haus  für  die  gewerkschaftliche  Arbeit  in 
allen  ihren  Formen:  es  soll  ein  Volkshaus  sein  im  vollsten 
Maße.  So  schön  die  Räume  sind,  sie  sind  nicht  da,  um  in  ihnen  zu 
ruhen:  Aus  dem  Kampfe  ist  das  Haus  geboren,  Kampf  soll  von 
diesem  Hause  ausgehen!  Als  wir  noch  in  dumpfen, 
schmutzigen  Kneipen  unsere  Arbeit  verrichteten,  waren  unsere 
Köpfe  von  hohen  Gedanken  erfüllt  und  unsere  Herzen  schlugen 
heiß,  da  es  an  die  Arbeit  ging.  Das  wird  nicht  anders  werden.  Und 
ich  kann  diesem  Hause  keinen  besseren,  keinen  größeren  Wunscfi 
mitgeben,  als :  Es  möge  der  a  1 1  e,  d  e  r  sozialdemo- 
kratische, der  revolutionäre  Geist,  der  in  den  kleinen 
Kneipen  gewaltet,  auch  in  diesem  schönen,  großen  Hause  lebendig 
und  stark  bleiben. 


,    Die  Eröffnung  des  Arbeiterheirra  in  Favoriten. 

Genossen!  Wir  wollen  auch  nicht  unterlassen,  einen  Bück  nach 
rückwärts  zu  richten  und  dankbar  derer  zu  gedenken,  die  gefallen 
sind  in  dem  Kampfe,  wir  gedenken  derer,  die  lebendig  b  e- 
Kraben  wurden  in  den  Gefängnissen  und  derer,  die 
fern  in  der  Welt  im  Kampfe  stehen,  (iestern  habe  ich  hier  im  Saale 
einen  alten  Parteigenossen  wiedergefunden,  den  ich  seit  dem  Jahre 
1886  nicht  gesehen  habe.  Diesen  Genossen  konnte  ich  nicht  sehen, 
weil  er  fünfzehn  Jahre  schweren  Kerker  abzubüßen  hatte,  als  ein 
Opfer  der  Zeit,  die  nun  vorbei  ist,  vorbei  nicht  dank  der  Erleuch- 
tung; die  über  die  Herrschenden  von  oben  gekommen  ist,  nicht  dank 
der  sich  entwickelnden  Weisheit  der  Regierenden,  sondern  dank 
der  aufklärenden  Arbeit  der  Arbeiter,  dank  ihrem 
entschlossenen  Mute,  ihr  Recht  durchzusetzen  und  den  Weg  zu 
gehen,  der  ihre  geschichtliche  Mission  ist. 

So  hart  und  härter,  wie  wir  hier  den  Kampf  zu  führen  haben, 
so  haben  die  Proletarier  der  ganzen  Welt  zu  kämpfen,  und  Sie 
werden  mit  mir  fühlen,  wenn  ich  sage:  Def  erste  Gruß  aus  diesem 
Hause  möge  jenem  Proletariat  gelten,  das  heute  gerade  im 
heißesten  Kampfe  steht  und  ihn  mit  bewunderungswürdigem  Opfer- 
mut führt.  Ich  sende  den  ersten  Gruß  aus  diesem  Hause  dem 
russischen  Proletariat,  den  heldenmütigen  Kämpfern 
gegen  den  völkermordenden  Zarismus!  Den  zweiten  Gruß 
senden  wir  den  Arbeitern  überall  in  Österreich,  die  mit  uns  kämpfen 
und  empfinden  ohne  Unterschied  der  Nation,  den 
Deutschen,  den  Tschechen,  den  Polen  und  Ruthenen,  den  Italienern 
und  Slowenen,  die  sich  über  unsere  Erfolge  freuen,  d  i  e  a  1 1  e  d  i  e  s 
Haus  als  ihr  eigen  betrachten. 

Parteigenossen  und  geehrte  Festgäste!  Die  Arbeiter  sind  un- 
bescheiden geworden  und  das  ist  ihr  Ruhm.  Es  hat  eine  Zeit  ge- 
geben, wo  uns  das  Recht  auf  Arbeit  bestritten  wurde  und  man  hat 
darunter  verstanden:  das  Recht  des  Arbeiters,  sich  ausbeuten 
zu  lassen.  Heute  verlangen  wir  weit  mehr: 

Das  Recht  auf  die  Frucht  der  Arbeit,  das  Recht  auf  die  Schönheit, 

auf  Gesundheit,  auf  Wissen! 

Schönheit,  Gesundheit,  Wissen  +-  das  Höchste  für 
die  Menschheit  — ,  denen,  die  die  Träger  jedes  Fortschrittes  sind, 
die  die  Träger  der  mächtigen  Entwicklung  sind,  die  uns  der  Zu- 
kunft zuführt,  die  eine  Menschheit  sehen  wird,  die  nicht  aus 
Herrschenden  und  Beherrschten,  aus  Knechten  und  Ausbeutern, 
aus  Protzen  und  unwissenden  Sklaven  bestehen  wird.  Und  daß  die 
Arbeiterschaft  das  Bedürfnis  nach  Schönheit,  nach  höchstem 
Lebensgenuß  hat,  auch  dafür  zeugt  dieses  Haus.  Johann  Jakoby 
hat  einmal  gemeint,  dem  Historiker  der  Zukunft  werde  die  Grün- 
dung des  kleinsten  Arbeitervereines  ein  wichtigeres  Ereignis  sein 
als  die  Schlacht  bei  Sadowa.  In  diesem  Sinne  ist  auch  unsere  heutige 
Feier  ein  kleines  Stück  Geschichte.  Was  wir  errichten 
wollen,  ist  kein  altes  Monument,  es  ist  ein  H  a  u  s  d  e  s  Kampfes, 
wir  sagen  es  offen  heraus,  wir  sagen.es  unseren  Freunden  und  allen 
offenen    und    verbissenen  Gegnern:    Dieses    Haus    wird    er- 


54  Zur  ParteiKcscliichtc. 


öffnetim  Zeichen  der  Sozialdemokratie!  ich  begrüße 
Sie  mit  dem  Rufe :  Es  lebe  hoch  die  internationale, 
revolutionäre  Sozialdemokratie! 

Eröffnung  des  Ottakringer  Arbeiterheims, 

Am  16.  Juni  190  7*). 

Im  Auftrag  der  Parteivertretung  komme  ich,  euch  Otta- 
kringern  Glück  zu  wünschen  zur  Vollendung  des  Werkes.  Jeder  von 
uns  weiß,  welche  Arbeit  in  diesem  Arbeiterheim  steckt,  wieviel 
Sorge  und  Mühe  es  kostete.  Daß  ein  solches  Arbeiterheim  möglich 
wurde,  das  ist  nicht  die  Leistung  gewesen  der  Leute  allein,  die  hier 
unmittelbar  am  Werke  waren,  von  den  Proletariern  bis  zu  dem,  der 
die  Pläne  gemacht  hat;  das  ist  die  Arbeit  des  ganzen  Proletariats 
Wiens,  der  Proletarier  ganz  Österreichs.  (Lauter  Beifall.)  Vor  fünf 
Jahren  haben  wir  in  Wien  das  erste  Arbeiterheim  eröffnet,  heute 
eröffnen  wir  das  zweite  und  größere.  Auf  erobertem  Grunde  bauten 
wir  unsere  Festung,  um  von  hier  den  Kampf  weiterzuführen. 

Genossen  und  Genossinnen!  Ihr  Fest  fällt  zusammen  mit  der 
Eröffnung  eines  anderen  Heims,  auch  eines  Heims,  das  wir  uns  erst 
erobern  mußten,  des  Heims  der  Volksvertretung 
Österreichs.  Stolzen  Hauptes  werden  wir  morgen  einziehen 
als  Vertretung  der  Arbeiterschaft  Österreichs  in  dieses  neue  Heim, 
das  vorher  kein  Heim,  sondern  eine  Zwingburg  für  uns  war.  D  i  e- 
selbe  Kraft,  die  dieses  herrliche  Gebäude  aufgerichtet  hat,  war 
es,  die  die  Vertretung  der  Arbeiterschaft  im  Parlament  geschaffen 
hat!  Eine  Frucht  des  Kampfes  ist  dieses  Ottakringer  Heim  und  der 
Ausgangspunkt  neuer  Kämpfe.  Es  gebührt  uns  hier  zu  sagen:  Die 
Ottakringer  waren,  um  in  der  militärischen  Sprache  weiterzu- 
reden, ein  besonders  tapferes  Regiment.  Die  anderen  haben  auch 
ihr  Hausregiment**)  —  das  ist  unser  Hausregiment.  (Leb- 
hafte Heiterkeit  und  starker  Beifall.)  Genossen!  Wir  danken  Ihnen 
heute  für  die  große  politische  Arbeit,  die  Sie  vollbracht  haben.  Wir 
danken  Ihnen  dafür,  daß  Ottakring  für  unsere  Bewegung  ein  Heim 
war,  wo  es  noch  nicht  so  großartig  ausgeschaut  hat,  wo  wir  in 
kleinen,  elenden,  nicht  so  gut  ventilierten  Räumen  (Heiterkeit)  und 
unter  sehr  strenger  Aufsicht  und  wenig  begrüßt  von  der  bürger- 
lichen Öffentlichkeit  und  wenig  begönnert  von  den  staatlichen  Auto- 
ritäten für  dieselbe  Sache  gekämpft  haben.  Wir  sind  ein  bißchen 
gewachsen  in  den  letzten  zwanzig  Jahren  und  wir  hoffen  und  sind 
entschlossen,  weiter  zu  wachsen.  (Laute  Bravorufe.) 

*)  Fünf  Jahre  nach  Favoriten  erhielt  auch  Ottakring  sein  Arbeiterhcini. 
Die  Eröffnung  erfolgte  kurz  nach  dem  herrlichen  Wahlsieg  vom  14.  Mai 
1907.  Es  war  also  eine  Art  Siegesfeier.  Die  eigentlichen  Festreden  hielten 
hier  natürlich  die  Abgeordneten  von  Ottakring,  David  und  Schuh- 
meier. Adler  überbrachte  die  Grüße  der  Partei. 

**)  Man  nannte  die  Deutschmeister  das  Wiener  Hausregiment.  —  Siehe 
auch  die  Rede  vom  7.  September  1896  zum  „De  utschmeister- 
r  u  m  m  e  1".  Seite  239. 


\m  Grabe  der   Märzgefallenen. 

Denn,  Genossen,  weit  über  den  Moment  hinaus,  weil  hinaus  über 
den  Inhalt  des  augenblicklichen  politischen  Kampfes  ist  der  hau  von 
Arbeiterheimen  vorbildlich  und  ein  Symbol  für  uns.  Tan  Arbeiter- 
heini  enthält  die  Forderung  der  Arbeiterschaft,  teilzuhaben  an  allein 
Großen,  Schönen  und  Edlen,  das  durch  die  gesammelte  und  vereinte 
Kraft  der  Menschheit  geschaffen  wird;  den  Anspruch,  sich  an  den 
Tisch  zu  setzen,  den  die  Arbeit  des  Proletariats  mit  in  erster  Linie 
deckt,  und  die  Frucht  seiner  Arbeit  zu  genießen.  Die  Gründung  jedes 
Arbeiterheims  ist  ein  Symbol  für  die  gesamte  Arbeit  des  Prole- 
tariats: aus  der  Welt  ein  Heim  zu  machen  für  die 
arbeitende  M  e  n  s  c  h  h  e  i  t,  ein  Heim,  wo  die  Menschheit  nicht 
mehr  tributpflichtig  ist  anmaßenden  Hausherren,  die  sich  als  Herren 
in  dem  Hause  fühlen,  das  sie  nicht  geschaffen  haben.  Wie  wir  den 
Fleck  erobert  haben,  auf  dem  wir  jetzt  stehen,  werden  wir  von  hier 
aus  und  überall  in  diesem  weiten  Österreich  weiterkämpfen,  bis  der 
ganze  Staat  ein  Heim  ist  für  die  Arbeiterschaft  aller  Zungen  und  bis 
über  dem  Staate  weht  die  rote  Fahne  des  internationalen  Prole- 
tariats! So  begrüßen  wir  Sie.  (Großer  Applaus.) 

Am  Grabe  der  Märzgefallenen. 

1  0.  März    190  1*). 

Im  Namen  der  Parteivertretung  der  Sozialdemokratie  Österreichs 
begrüße  ich  Sie  hier,  die  Sie  seit  Jahrzehnten  herauskommen,  um 
diesen  Opfern  des  Absolutismus,  diesen  Opfern  des  Kampfes  gegen 
den  Absolutismus,  ihre  Ehrfurcht  zu  bezeugen.  Wir  kommen  hiehe-r 
in  dem  Bewußtsein,  daß  unser  Kommen  eine  Hoffnung  für  uns  ist 
und  eine  Warnung  für  die  anderen.  Heute  ist  es  freilich  nicht  mehr 
möglich,  in  einem  kurzen  Kampf  auf  der  Straße  die  Schlachten  der 
Menschheit  zu  schlagen,  aber  die  modernen  Formen  des  großen 
Weltkampfes,  der  die  Massen  in  Bewegung  setzt,  machen  es  ebenso 
notwendig,  sein  Blut  herzugeben,  Tropfen  für  Tropfen,  und  jeden 
Nerv  zu  opfern  für  das,  was  wir  wollen:  für  die  Befreiung  der 
Menschheit. 

Wir  leben  in  einem  traurigen  Lande.  Die,  deren  Befehl  damals 
diese  Toten  in  den  Sand  gestreckt  hat,  dieselbe  Klasse,  dieselbe 
Clique,  dieselben  Schurken  sind  es,  die  noch  heute  das  Volk  be- 
drängen . . .  Aber  wir  gehen  zielbewußt  in  immer  wachsenden 
Massen  unseres  Weges,  und  wir  werden  das  vollenden,  was  diese 
hier  begonnen  haben.  Die  Sozialdemokratie  beginnt  erst  ihr  Werk, 
und  wenn  von  Jahr  zu  Jahr  die  Massen  derer,  die  hieher  kommen, 

*)  Viele  Jahre  lang  ist  die  Wiener  Arbeiterschaft  in^  großen  Zügen  zum 
Grab  der  Märzgefallenen  auf  den  Zentralfriedhof  gepilgert:  den  gewaltigen 
Weg  von  den  Bezirken  bis  an  das  Rnde  von  Wien.  Erst  in  den  letzten 
Jahrzehnten   begnügt   man   sich   mit   Abordnungen,   die  Kränze  hinterlegen. 

Am  10.  März  .1901  zogen  die  Massen  zum  Märzobelisken,  Die  Gedenk- 
reden hielten  D  a  s  z  y  n  s  k  i  und  Adler.  Wir  bringen  hier  Adlers  Rede 
nach  dem  kurzen   Bericht  der  „Arbeiter-Zeitung''. 


56  Zur  Parteigeschichte. 


sich  vermehren,  so  ist  das  nur  ein  Beweis  dafür,  wie  in  ganz  Öster- 
reich die  Massen  nach  und  nach  in  Bewegung  kommen  und  sich 
den  alten  Mächten  der  Verdummung  und  der  Verknechtung  langsam 
zu  entwinden  anfangen. 

Aber  es  kommt  der  Tag,  und  jeder  Schritt,  den  wir  tun,  das 
kleinste  Werk,  das  jeder  von  Ihnen  für  die  Organisation  des  Prole- 
tariats leistet,  ist  ein  Opfer,  aber  jeder  bringt  es  gern  in  dem  Bewußt- 
sein, daß  er  an  einem  großen  und  gewaltigen  Werke  mitarbeitet. 
Wenn  heute  im  Parlament  Erwählte  der  Arbeiterschaft  sitzen,  wenn 
es  heute  wenigstens  einen  Punkt  im  Reiche  gibt,  wo  Sozialdemo- 
kraten die  Wahrheit  sagen  können,  Genossen,  das  ist  euer  Werk. 
Und  wir  wollen  uns  heute  zuschwören:  Wir  be- 
gnügen uns  nicht,  den  Weg  betreten  zu  haben,  wir 
sind  auch  entschlossen,  ihn  bis  an  das  Ende  zu 
gehen. 

Die   Erinnerung   an   den   13.  März   1848. 

Versammlung  am  12.  März  190 2*). 

Die  Kämpfer,  die  in  den  Märztagen  von  1848  gefallen  sind,  sind 
gestorben  mit  dem  Worte  „Konstitution"  auf  den  Lippen.  Eine  Kon- 
stitution, eine  Verfassung,  das  war  das  Ziel  ihres  Kampfes.  Nun, 
Verfassungen  haben  wir  jetzt  die  schwere  Menge:  eine  Verfassung 
im  Staat,  eine  Verfassung  im  Lande,  eine  Verfassung  in  der  Ge- 
meinde. Aber  alle  diese  Verfassungen  sind  nur  dazu  da,  um  ge- 
brochen zu  werden.  Das  hat  schon  im  Jahre  1848  so  angefangen. 
Die  Revolution  hat  gesiegt  und  Österreich  bekam  eine  Verfassung. 
Aber  schon  wenige  Tage  später  folgte  der  Verfassung  der  Ver- 
fassungsbruch. Schon  damals  hat  man  das  Wort  ge- 
geben, schon  damals  hat  man  es  gebrochen.  Und 
diese  Tradition  hat  sich  bis  heute  erhalten. 

Am  13.  März  1848  wurde  geschossen,  und  wenn  einer  jener 
Märzgefallenen  jetzt  wieder  erwachte,  so  würde  er  hören,  daß  noch 
immer  uniformierte  Proletarier  auf  Kommando  gegen  wehrlose 
Proletarier  schießen  müssen,  daß  noch  immer  wehrlose  Arbeiter 
im  Kampfe  für  ihr  gutes,  heiliges  Recht  fallen.  Das  ist  nicht 
anders  geworden  seit  damals,  aber  das,  was  anders  geworden 
ist,  das  ist,  daß  heute  das  Bewußtsein  dieser  Schmach  ein 
ganz    anderes    ist    als  vor    fünfzig   Jahren.    Vor    fünfzig   Jahren 

*)  Am  14.  Februar  1902  kam  es  in  Triest  bei  einem  Streik  zu  Zu- 
sammenstößen, bei  denen  zehn  Arbeiter  getötet  und  fünfzehn  schwer  ver- 
letzt wurden.  Das  war  der  Anlaß,  daß  in  diesem  Jahre  der  13.  März 
viel  feierlicher  und  demonstrativer  gefeiert  wurde.  In  Wien  fanden  am 
12.  und  13.  März  zehn  Versammlungen  statt.  In  der  Versammlung  beim 
Dreher  sprach  Adler.  Über  die  Märzrevolution  und  die  Schießereien  in 
Triest  hat  Adler  auch  im  nächsten  Jahre  in  einer  Jugendversammlung 
gesprochen.  („Das  Jahr  1848  und  die  Jugend",  Bd.  VII,  Seite  155.)  Über 
die!  Schüsse  von. Triest  siehe  Bd.  VIII,  Seite  225,  aber  auch  die  Ver- 
trauensmännerversammlung zu  den  Landtagswahlen  am  31.  März  1902. 


Die  Erinnerung  an  den   13.  März  1848. 


folgte  auf  die  Periode  der  Revolution  die  Periode  einer  furcht- 
baren Erstarkung  der  Reaktion,  wo  man  meinte,  daß  man  alles, 
was  in  den  Mär/tagen  Lebendig  geworden  ist,  mit  dem  Bahr- 
tuch der  schwarzen  Kulten  aui  ewig  werde  verhüllen  können.  Jene 
Zeit  ist  charakteristisch  geworden  durch  ein  merkwürdiges  ge- 
schichtliches Wort,  durch  das  Wort  „Naderer".  Das  war  die  Zeit, 
wo  man  dem  Freunde,  dem  Bruder  nicht  trauen  konnte,  wo  an 
jedem  Tische  ein  Verräter  saß,  wo  jeder  freiheitliche  Gedanke  de- 
nunziert wurde  als  ein  Verbrechen  gegen  die  Religion  und  gegen 
den  Staat.  Und  so  wie  die  Naderer  der  fünfziger  Jahre  wirtschaf- 
teten, so  möchten  die  Naderer  von  heute  auch  wirtschaften, 
und  so  wie  in  den  fünfziger  Jahren  die  Helden  und  die  Opfer  von 
1848  beschmutzt  und  in  den  Staub  gezerrt  wurden  von  den 
Knechten  der  Klerisei,  von  allen  denen,  die  schmarotzen  am  leben- 
digen Körper  des  Volkes,  genau  so  wird  heute  die  Bewegung  des 
arbeitenden  Volkes  von  diesem  Gesindel  besudelt  und  verleumdet. 
(Lebhafte  Zustimmung.)  Man  sagt,  daß  die  Leute,  die  in  Triest  ge- 
fallen sind,  die  Februargefallenen,  die  Opfer  einer  inter- 
nationalen Verschwörung  sind,  die  natürlich  von  Juden  geleitet 
wurde  und  die  gegen  die  Dynastie,  gegen  die  Religion  und  gegen 
das  Vaterland  gerichtet  ist.  Aber  das  kapitalistische  Judentum  war 
es  ja,  zu  dessen  Ehren  immer,  von  Ostrau  bis  Triest,  die 
Flinten  knallten. 

Herr  v.  Körber,  der  angekündigt  hat,  daß  er  ein  moderner  euro- 
päischer Minister  sein  wolle,  hat  wirklich  gehandelt,  wie  europäische 
Minister  in  einem  Kampfe  zwischen  Arbeit  und  Kapital  zu  handeln 
pflegen.  Allerdings  in  unserem  Nachbarstaat,  in  Italien,  hat  man  in 
einem  ähnlichen  Falle  anders  gehandelt,  da  scheint  ein  Minister- 
präsident zu  sein,  dem  die  Interessen  des  Volkes  immerhin  soviel 
wiegen  wie  das  Stirnrunzeln  von  ein  paar  feisten  Millionären  oder 
das  Augenbrauenzucken  seines  angestammten  Königs.  Das  ist 
natürlich  bei  uns  nie  der  Fall  gewesen.  Der  Verstand  und  die 
Energie  eines  Körber  zerschmilzt  an  der  Sonne  eines  Gnadenblicks 
von  oben.  Die  Vorfälle  von  Triest,  die  Herrn  v.  Körber  in  den  Augen 
jedes  vernünftigen  Menschen,  jedes  Volksfreundes  gerichtet  haben, 
die  haben  ihm  einen  Tempel  aufgerichtet  in  den 
Herzen  derer,  die  in  Österreich  herrschen.  Man  muß 
es  gesehen  haben,  als  Herr  Körber  im  Parlament  mit  dem  Säbel 
rasselte,  als  er  die  Autorität  des  Staates  gegen  die  gesetzlosen 
Elemente  verteidigte,  wie  diese  verhaßten  Gesichter  unserer  größten 
Feinde  leuchteten,  wie  die  Fratze  des  Jaworski*)  fast  aus  dem 
Leim  ging  vor  Vergnügen,  und  wie  Fürst  Liechtenstein  wohl- 
gefällig grinste.  Daß  auch  der  Axmann,  ein  Vertreter  der  fünften 
Kurie,  den  Ministerpräsidenten  beglückwünschte,  ist  ein  Zeichen, 
daß  der  Geist  des  Naderertums  und  der  Knechtseligkeit  auch  heute 
noch  nicht  erstorben  ist. 


*)  Ritter  v.  Jaworski,  der  Führer  des  Polenklubs;  Axmann,  der 
Vertreter  der  fünften  Kurie  des  vierten  Wiener  Wahlkreises,  Führer  der 
christlichsozialen   Handlungsgehilfen. 


58  Zur  Parteigeschichte. 


Wenn  wir  uns  alljährlich  der  Märzgefallenen  erinnern  und  zu 
ihrem  Grabe  hinausziehen,  so  darum,  weil  die  Geschichte  der  Be- 
freiung für  uns  noch  immer  nicht  geschlossen  ist.  Einige  Kapitel  der 
Geschichte,  die  1848  begonnen  hat.  sind  geschrieben,  aber  das 
Schlußkapitel,  das  wichtigste  Kapitel,  ist  noch  zu  schreiben,  ist  noch 
zu  machen,  und  der  Autor  dieses  Buches,  der  Schöpfer  dieses 
Schlußkapitels,  kann  niemand  anderer  sein  als  die  Erben  jener 
Revolutionäre  vom  Jahre  1848.  niemand  anderer  als  die  sozial- 
demokratische Arbeiterschaft.  (Stürmischer,  andauernder  Beifall.) 

Enthüllung  des  Hugo-Schmidt-Denkmals. 

Jägerndorf,  P  f  i  n  g  s  t  s  o  n  n  t  a  g   19  0  9*). 

Wir  sind  hier  versammelt,  um  das  Andenken  eines  Mannes  zu 
ehren,  der  hier  in  Schlesien  geboren  wurde,  auf  dem  Boden  dieses 
Landes  emporgewachsen,  durch  40  Jahre  hier  gekämpft  hat  und 
hier  gestorben  ist:  ein  Kämpfer  für  Freiheit  und  Recht,  der  mitten 
im  Kampfe  für  seine  Partei  gestorben  ist.  Wir  sind  hieher 
gekommen,  eines  Mannes  zu  gedenken,  aber  nicht  um  zu 
weinen  und  zu  trauern.  Der  Verlust,  den  die  sozialdemokratische 
Partei  erlitten  hat,  als  Genosse  Schmidt  hier  an  dieser  Stelle 
zusammenbrach,  war  ein  großer.  Als  die  Kunde  von  seinem  Tode 
zu  uns  drang,  da  dachten  wir  mit  Tränen  in  den  Augen  der 
Schlachten,  die  wir  zusammen  geliefert,  der  Nächte,  die  wir  im 
Rate  zusammengesessen,  der  bitteren  Stunden,  die  wir  zusammen 
durchgemacht.  Von  der  Größe  dieser  Bitternisse  können  sich  die 
jungen  Leute  keine  Vorstellung  machen.  Hugo  Schmidt  war  ein 
Arbeiter  in  des  Wortes  bester  Bedeutung.  Dieser  Mann  hat  in  den 
schwersten  Stunden  den  Kopf  oben  behalten,  niemals  den  Mut 
verloren.  Das  Bild  seines  Lebensganges  ist  das  Bild  der  Ent- 
wicklung, der  Geschichte  der  Partei.  Als  junger  Mann  arbeitete  er 
hier  als  Weber.  Von  hier  ging  er  nach  Brunn,  wo  der  erste 
Zusammenstoß  erfolgte,  der  ihm  den  Gegensatz  vor  Augen  führte 
zwischen  Ausbeutung  und  Ausgebeuteten.  Es  war  zum  erstenmal, 
daß  sich  die  Arbeiter  rührten,  daß  sie  des  Gegensatzes  bewußt 
wurden  und  auch  gleich  die  ganze  Brutalität  des  Gegners  zu 
fühlen  bekamen.  Ein  Weberstreik  brach  in  Brunn  aus.  Wer  wissen 
will,  wie  niedrig  die  Löhne  im  Jahre  1869  in  Brunn  waren,  muß 
wissen,  wie  niedrig  sie  noch  heute  sind  und  vor  15  Jahren  waren. 
Die  erste  Tat  war  eine  Kulturtat,  um  die  Arbeiter  aus  der 
schlimmsten  Lage,  aus  dem  Hungerdasein  herauszubringen,  etwas. 


*)  Hugo  Schmidt,  von  Beruf  Tuchmacher,  hatte  ursprünglich  in  Nord- 
böhmen gewirkt  und  hat  bereits  an  der  großen  Kundgebung  auf  den 
Jeschkenberg  am  7.  August  1870  als  Organisator  und  Einberufer  mit- 
gewirkt. Später  kam  er  nach  Jägerndori  und  hat  an  der  Aufrüttelung  des 
schlesischen  Arbeiters  ein  hervorragendes  Verdienst.  Auf  dem  Züricher 
internationalen  Sozialistenkongreß  im  Jahre  1893  war  er  als  Delegierter 
anwesend. 

Der  Bericht  über  die  Rede  ist  der  „Schlesischen  Volkspresse'*  entnommen. 


Enthüllung  des  riugo-Schmtdt-Denkmals. 


ein  weniges,  zu  erringen.  Aber  ihnen  stellten  sich  nicht  nur  die 
Fabrikanten  entgegen,  sie  fanden  nicht  nur  die  Türen  der  Fabriken 

geschlossen,  sondern  davor  Militär:  den  Hungernden  Blei.  Drei 
Gewehrsalven  wurden  auf  die  Streikenden  abgegeben,  drei  Tote 
und  an  hundert  Verwundete  blieben  auf  dem  Platze.  Das  war  der 
erste  Eindruck,  die  erste  Lehre,  die  Hugo  Schmidt  vom  Klassen- 
kampf erhielt.  Das  war  das  Bild,  das  ihn  bis  an  sein  Lebensende 
begleitete,  seine  Feuertaufe.  Genosse  Hugo  Schmidt  stand  nicht 
an  der  Spitze,  aber  es  genügte,  daß  er  dabei  war,  und  er  wurde 
ausgewiesen.  Er  ging  nach  Reichenberg.  Ein  tüchtiger  Arbeiter, 
war  er  nicht  zufrieden,  für  den  Unternehmer  zu  roboten,  arbeitete 
er  als  Vertrauensmann  der  Gewerkschaft  für  die  Befreiung  der 
Arbeiter.  Und  wer  die  Reichenberger  Behörden  von  heute  kennt, 
dem  ist  es  klar,  daß  es  damals  nicht  lange  dauerte,  und  er  mußte 
hinaus.  Er  kam  nach  Wien.  Aber  auch  da  ging  es  ihm  nicht  besser, 
auch  hier  hieß  es  hinaus.  Von  Wien  ging  es  nach  Deutschland. 
Man  sagt,  der  Sozialdemokrat  kennt  kein  Vaterland.  Umgekehrt 
ist  es  der  Fall,  überall  hat  der  Sozialdemokrat  sein  Vaterland, 
wohin  er  kommt,  ist  er  zu  Hause,  unter  Brüdern.  Auch  Hugo 
Schmidt  wurde  es  klar,  daß  dieses  Vaterland,  ihn  genau  so 
behandelt  wie  sein  eigenes,  auch  hier  wurde  er  ausgewiesen.  Wrer 
es  damals  wagte,  die  Augen  und  noch  mehr  den  Mund  auf- 
zumachen, der  wurde  gejagt  von  Ort  zu  Ort,  heimatlos  gemacht. 
Ihre  Wut,  Hetzer  heimatlos  zu  machen,  hat  gar  nichts  genützt,  sie 
hat  eher  mitgeholfen,  das  Feuer  von  Ort  zu  Ort  zu  tragen.  Die 
Liste  der  Ausgewiesenen  ist  eine  Ehrenliste  der  Partei,  die  Namen 
der  Besten  sind  darin  verzeichnet.  Hugo  Schmidt  kam  nach  Hause 
und  siedelte  sich  hier  an.  Täglich  mußte  er  um  seine  Existenz 
ringen,  ringen  um  das  Erwachen  der  Arbeiter.  Er  wächst  mit  der 
Partei,  für  deren  Wachstum  er  so  viel  geleistet.  Er  stirbt  voll 
froher  Hoffnungen,  siegessicher.  Hugo  Schmidts  Leben  ist  ein 
Bild,  an  dem  wir  uns  alle  erheben,  ein  Beispiel  nehmen  können. 
Aus  diesem  Bild  muß  jeder  die  Verpflichtung  ableiten,  zu  tun  in 
seinem  Kreise,  was  seine  Pflicht.  Und  seine  Pflicht  tun  ist  alles 
tun,  was  er  leisten  kann.  Alte  und  Junge,  Männer  und  Frauen,  alle 
haben  für  die  Befreiung  der  Menschheit  die  Pflicht,  zu  leisten,  was 
in  ihren  Kräften  steht.  Wäre  denn  sonst  das  Leben  zu  ertragen, 
diese  Ausbeutung  auszuhalten,  ein  Leben,  wo  zehntausende  fleißige 
Menschen  verkümmern,  geistig  und  körperlich  nicht  zur  Ent- 
wicklung gelangen  und  einige  Tausende  in  Reichtum  und  Überfluß 
in  Palästen  hausen.  Könnte  man  es  denn  mit  ansehen,  wie  ganze 
Generationen  Kinder  nicht  zum  Leben  gelangen,  weil  sie  im 
Mutterleib  verhungern,  weil  die  Mutter  hungert;  wie  Kinder  in  den 
ersten  Lebensjahren  dahinsiechen,  weil  sie  nichts  zu  essen  haben, 
daß  es  keine  alten  Leute  gibt,  weil  sie  zu  früh  sterben,  und  Junge 
schon  alt  sind  in  Jahren,  in  welchen  die  Besitzenden  erst  an- 
fangen, zu  leben,  wenn  wir  nicht  die  Überzeugung  hätten:  so  wird 
und  darf  es  nicht  bleiben.  Wir  sind  nicht  allein  da,  die  Opfer  dieses 
kapitalistischen  Staates  zu  bilden,  die  Arbeiterschaft  ist  da,  diese 


60  Zur  Parteigeschichtc. 


Zustände  zu  ändern.  Wäre  nicht  das  Bewußtsein  in  uns,  alles  zu 
tun,  um  die  heutigen  Zustände  hinwegzuschaffen  und  an  ihrer 
Stelle  andere  Zustände  zu  schaffen,  wir  könnten  nicht  leben,  wir 
würden  verzweifeln,  müßten  uns  verachten  und  verkommen.  Mit 
dem  Verfluchen  der  heutigen  Zustände  allein  ist  nichts  gemacht! 
Es  gibt  viele,  die  glauben,  wenn  sie  nur  unzufrieden  sind,  nur 
fluchen,  damit  sei  schon  alles  geschehen.  Der  kapitalistische 
Klassenstaat  sind  nicht  die  Mauern  von  Jericho,  die  die  Juden 
durch  Blasen  stürzten,  das  sind  mächtige  Burgen,  ausgestattet  mit 
modernen  Waffen,  die  die  Arbeiterklasse  ihnen  lieferte.  Diesen 
Mächten  gegenüber  ist  mit  dem  Ballen  der  Faust  in  der  Tasche 
nichts  getan.  Der  Bauer,  der  Gewerbetreibende  wird  immer  mehr 
proletarisiert,  trotz  den  Anwälten,  die  vorgeben,  sein  Interesse  zu 
vertreten.  Immer  mehr  Kleinbauern  gehen  mit  der  Kaffee-  und 
leider  oft  auch  mit  der  Branntweinflasche  in  die  Fabrik.  Ihre 
Existenz  schmilzt  schneller  als  der  Schnee.  Aber  derselbe  kapita- 
listische Prozeß,  der  die  Arbeiter  in  den  Fabriken  zusammenführt, 
kann  die  Ausbeutung  nicht  organisieren,  ohne  gleichzeitig  die 
Arbeiter  zu  organisieren.  Wir  sehen  in  überlegener  Weise,  wie 
täglich  gearbeitet  werden  muß,  man  zeigt  uns,  wie  aus  kleinen 
Gruppen  große  Armeen  werden,  wie  wir  uns  zu  schulen  haben. 
Und  das  hat  bewirkt,  daß  unsere  Organisationen  etwas  sind, 
worum  uns  unsere  Gegner  beneiden.  Wie  wäre  es  erst,  wenn  wir 
alle  täten,  was  wir  tun  können.  Vieles  ist  geschehen,  was  man 
sich  vor  30  Jahren  noch  nicht  vorstellen  konnte,  aber  noch  ist  viel 
zu  tun,  die  Not  brennt  in  allen  Hütten.  Momentan  haben  wir  in 
Österreich  verhältnismäßig  günstige  politische  Zeiten.  Nicht  etwa, 
daß  die  Regierung  einen  Anfall  von  Vernunft  bekommen  hätte,  so 
etwas  gibt  es  in  Österreich  nicht,  daß  die  Besitzenden  human, 
menschlich  geworden  wären;  nein.  Wenn  es  besser  geworden  ist, 
so  wegen  zweier  Faktoren.  Bessere  ökonomische  Existenz- 
bedingungen durch  eine  gewisse  Zeit  und  darin,  daß  die  Sozial- 
demokratie geerntet  hat,  was  durch  30  Jahre  geackert,  gepflügt 
und  gesät  wurde.  Manche  Saat  ist  verkommen,  noch  ehe  sie  zu 
keimen  begonnen  hat.  Viele  Samenkörner  haben  spät,  aber  doch 
zu  keimen  begonnen.  Seit  der  ersten  Maifeier  im  Jahre  1890  ist  es 
mit  der  österreichischen  Arbeiterbewegung  Schritt  für  Schritt 
vorwärtsgegangen.  Wir  haben  uns  das  Vereins-  und  Ver- 
sammlungsrecht, so  ziemlich  die  Preßfreiheit  und  insbesondere  das 
Koalitionsrecht  erobert.  Wenn  auch  die  Behörden  manchmal 
Seitensprünge  machen,  unter  dem  Einfluß  reicher  Fabrikanten  sich 
hie  und  da  einen  Mißbrauch  der  Amtsgewalt  zuschulden  kommen 
lassen,  wer  die  Zustände  mit  den  siebziger  und  achtziger  Jahren 
vergleicht,  wird  den  Unterschied  sofort  erkennen.  Und  wir  haben 
uns  das  große  politische,  das  allgemeine  Wahlrecht  erkämpft. 
Unsere  89  Abgeordneten  können  Österreich  nicht  umkrempeln, 
dazu  sind  sie  unter  516  zu  wenig.  Aber  eines  können  sie  tun:  Jedes 
Attentat  auf  das  Recht  der  Arbeiter  ist  heute  unmöglich.  Wir,,  die 
Internationale,  in  der  Mitte  der  Nationalen  im  Parlament  sind  die 


Enthüllung  des  HuRO-Schmidt-Denkmals.  ()1 


Bürgschaft  für  die  Freiheit  und  das  Recht  des  Arbeiters.  Wfcnn 
so  weit  gekommen  ist,  dürfen  wir  dennoch  nicht  stille  sein  und 
ruhen.  Wir  Alten  haben  die  Verpflichtung,  es  den  Jungen  zehn- 
und  hundertmal  zu  sagen:  Ihr  habt  die  Verpflichtung,  zu  kämpfen, 
denn  ihr  habt  es  viel  leichter  wie  wir.  Es  sind  annähernd  2\  Jahre, 
daß  ich  hier  war.  Viele  von  denen,  die  damals  mit  uns  waren,  sind 
nicht  mehr  unter  den  Lebenden;  denen  möchte  ich  vergönnen,  die 
Kinder  zu  sehen  mit  ihren  roten  Schärpen  und  Krawatten,  wie  sie 
voll  Stolz  sagen:  Mein  Vater  ist  auch  Sozialdemokrat,  sie,  die  in 
einer  Zeit  gelebt  haben,  wo  kein  rotes  Schnupftuch  geduldet 
wurde,  wo  die  in  den  Kerker  geworfen  wurden,  die  als  Menschen 
leben  und  kämpfen  wollten.  Es  geht  vorwärts,  aber  jeder  muß  alles 
einsetzen,  er  ist  es  seinen  Kindern  schuldig,  daß  sie  in  ihren  Hoff- 
nungen nicht  betrogen  werden.  Wir  Alten  sterben  einer  nach  dem 
anderen,  der  eine  da,  der  andere  dort.  Beneidenswert,  der  mitten 
im  Kampf  stirbt,  wie  unser  Hugo  Schmidt,  dessen  Leben  erfüllt 
war  von  Arbeit  bis  zum  letzten  Atemzuge.  Wir  haben  nicht  zu 
trauern,  zu  klagen:  Wir  wollen  uns  die  Hände  reichen  und  zu- 
rufen: Hugo  Schmidt,  du  bist  tot,  aber  dein  Gedanke  lebt  in  uns 
fort!  Wollen  wir  diesem  Gedanken  Leben  verleihen,  dann  muß  er 
in  der  Brust  eines  jeden  Arbeiters  Energie,  Klugheit,  Offenheit  und 
Aufrichtigkeit  auslösen.  Das  kämpfende  Proletariat  braucht  viele 
Tugenden  und  Eigenschaften  und  eine,  die  notwendigste,  wird  am 
wenigsten  geschätzt:  Wahrheitsliebe  gegenüber  dem  eigenen 
Freunde.  Leute,  die  zum  Sturm  reden  und  zum  Sturm  führen,  sind 
tapfer.  Aber  die  nicht  allein  gegen  den  Feind  tapfer  sind,  die  auch 
den  Mut  haben,  dem  Freunde  die  Wahrheit  zu  sagen,  das  sind  die 
wertvollsten,  die  besitzen  eine  besondere  Art  der  Tugend,  die 
Tapferkeit.  Und  Hugo  Schmidt  besaß  nebst  seinem  Mut,  Besonnen- 
heit und  Kaltblütigkeit  diese  Eigenschaft  in  besonders  hohem 
Maße.  Und  in  diesem  Gedanken  wird  man  von  ihm  immer  sagen: 
Was  Hugo  Schmidt  war,  war  er  als  Sozialist.  Der  Gedanke  des 
Sozialismus  hat  sein  ganzes  Leben  ausgefüllt.  So  denken  wir 
seiner  am  besten,  wenn  wir  ein  Hoch  auf  die  Internationale  aus- 
bringen und  uns  hier  das  feierliche  Versprechen  geben,  daß  wir  alle 
in  diesem  Gedanken  kämpfen,  leben  und  sterben  wollen. 


62  Klerikalismus  und  Schule. 


Klerikalismus  und  Schule. 

Der  Liechtensteinsche  Schulantrag. 

Versammlung  am  4.  Februar  188 8*). 

Wir  in  dieser  Versammlung  sind  ja  ganz  klar  und  einig  über 
unsere  Stellung  zu  dem  Gesetz.  Aber,  ohne  Zweifel,  haben  gewisse 
Kreise  des  Volkes  eine  andere  Ansicht  darüber.  In  den  Bauern- 
gemeinden agitieren  nicht  nur  die  Pfarrer,  sondern  auch  die 
Bürgermeister  mit  Erfolg  f  ü  r  den  Entwurf. 

Darauf  mache  ich  Sie  aufmerksam,  und  warum  ist  es  so?  Dali 
das  heute  so  ist,  das  ist  die  Schuld  jener,  welche  dieses  Gesetz 
gemacht  haben,  unser  altes  Volksschulgesetz;  das  ist  die  Schuld 
jener  Bourgeoisie,  die  uns  eine  derartige  liberale  Gesetzgebung  ge- 
schaffen hat.  Das  will  ich  Ihnen  beweisen.  —  Es  gibt  niemand,  es 


*)  Am  25.  Jänner  1888  brachte  Prinz  Alois  Liechtenstein,  damals  noch 
Abgeordneter  der  Bauern  von  Hartberg  in  Steiermark,  einen  Gesetzentwurf 
ein,  der  die  interkonfessionelle  Schulgesetzgebung  beseitigen  und  die  kleri- 
kale Schule  einführen  sollte.  Der  §  1  erklärte  rundheraus:  Die  Volksschule 
hat  die  Aufgabe,  mit  den  Eltern  die  Kinder  nach  den  Lehren  der  Religion 
zu  erziehen  und  sie  in  diesen  sowie  in  den  für  das  Leben  nötigen  elemen- 
taren Kenntnissen  und  Fertigkeiten  zu  unterrichten  und  auszubilden.  Die 
Schulpflicht  wurde  von  acht  auf  sechs  Jahre,  bei  fünf  Unterrichtstagen  in 
der  Woche,  herabgesetzt,  der  Kirche  wurde  ein  bedeutendes  Mitaufsichts- 
recht erteilt,  die  Lehrer  sollten  das  Glaubensbekenntnis  der  Schüler  teilen. 
Die  gesetzlichen  Bestimmungen  über  die  Lehrerbildungsanstalten  blieben 
den  Landtagen  vorbehalten.  Am  30.  Jänner  überreichte  die  Bischofskonferenz 
dem  Unterrichtsminister  ein  von  allen  Bischöfen  unterzeichnetes  Memo- 
randum für  die  konfessionelle  Schule.  Zugleich  wurde  von  den  Kanzeln  die 
Agitation  für  eine  Petition  zugunsten  des  Antrages  Liechtenstein  eingeleitet. 
Selbstverständlich  erregte  dieser  klerikale  Vorstoß  sowohl  im  Bürgertum 
wie  besonders  in  der  Arbeiterschaft  große  Erregung  und  es  wurden  überall 
Versammlungen  veranstaltet.  Am  4.  Februar  fand  eine  Massenversammlung 
beim  Schwender  statt,  die  der  politische  Verein  .,Wahrheit"  einberufen 
hatte.  L  e  i  ß  n  e  r  eröffnete  die  Versammlung,  Grosse  wurde  zum  Vor- 
sitzenden gewählt.  F  o  r  t  e  1  k  a  referierte.  In  der  Debatte  kam  auch 
Adler  zu  Worte,  nach  ihm  Pernerstorfe  r.  Die  Redner  wurden  vom 
Polizeikommissär   wiederholt   unterbrochen,   die   Resolution   beanstandet. 

Der  Antrag  Liechtenstein  beschäftigte  die  Öffentlichkeit  zwei  Jahre 
lang.  Die  Regierung  hatte  auch  eine  Vorlage  ausgearbeitet,  die  aber  von 
den  Kirchenfürsten  als  nicht  weit  genug  gehend  abgelehnt  wurde. 

Über  die  weiteren  klerikalen  Schulanträge  siehe  die  Bemerkungen  in 
Bd.  VIII,  Seite  374  und  436. 


Der   Liechtensteinsche  Schulantr« 


gibt  nicht  einen  Vater,  der  so  borniert  wäre,  daß  er  sagt:  Ich  will, 
tlaLi  meine  Kinder  weniger  wissen;  es  gibt  keine  Eitern,  welche 
sagen:  wir  wollen  unsere  Kinder  in  Blödsinn  aufziehen.  Aber  es 
gibt  etwas  anderes:  es  gibt  Eltern,  (iemeüiden,  welche  unter  dem 
Druck  von  ökonomischen  Verhältnissen  stehen,  und  deren  öko- 
nomische Vorteile  in  Widerspruch  gesetzt  wurden  zu  einer  wirk- 
lichen Volksschule,  zu  unserer  Volksschule  hier  in  Österreich  und 
in  den  meisten  anderen  Stauten,  eben  darum,  weil  die  Lasten  der 
Schule  auf  die  Gemeinden  übergewälzt  wurden.  Darum  ist  es 
so  weit  gekommen,  daß  die  Bauerngemeinden,  die  allerdings  an 
sich  schon  nicht  sehr  begeistert  sind  von  dem  Wert  des  Wissens, 
in  dieser  mangelnden  Begeisterung  durch  ihre  Pfarrer  bestärkt, 
wenn  nun  auch  der  Geldkasten  ins  Spiel  kommt.  Feinde  unserer 
Schule  werden. 

Und  das  war  die  Schuld  der  Bourgeoisie,  das  war  die  Schuld 
der  liberalen  Gesetzgebung. 

Eine  unentgeltliche  Volkschule,  eine  unentgeltliche  Volks- 
bildung, wie  wir  sie  hier  wollen,  bedeutet  nicht  allein,  daß  der 
einzelne  kein  Schulgeld  zahlt,  sondern  bedeutet,  daß  jedem  das 
Maß  von  Wissen  von  Staats  wegen  ermöglicht  und  zugeführt  wird, 
welches  unsere  Gesellschaft,  unsere  Kultur  zu  bieten  vermag,  daß 
das  jedem  einzelnen  zugänglich  gemacht  wird. 

Es  ist  nicht  wahr,  daß  Wissenschaft  und  Kultur,  daß  die 
geistigen  Errungenschaften,  daß  sie,  wie  man  von  der  Anhäufung 
ökonomischer  Güter  sagt,  das  Arbeitsprodukt  von  einzelnen  Be- 
sitzenden sind:  sondern  es  ist  klar,  die  Bedingungen  für  jede 
Kultur,  für  jede  neue  Erkenntnis,  und  wenn  sie  der  einzelne  Ge- 
lehrte auf  seiner  Sternwarte  macht,  sind  die  Arbeit  des  gesamten 
Volkes.  Und  das  Volk  hat  daher  das  gute  Recht,  auch  hier  sein 
volles  Arbeitsprodukt  für  sich  zu  verlangen. 

Sie  sehen  also,  auf  der  einen  Seite  haben  die  liberalen  Parteien 
die  Bedingungen  geschaffen,  durch  die  weite  Volkskreise  in  Wider- 
spruch gesetzt  wurden  zum  Fortschritt,  sie  haben  aber  noch  ein 
Weiteres  getan,  sie  haben  das  wenige,  was  sie  getan  haben,  nur 
halb  und  schlecht  getan. 

Man  spricht  soviel  von  Glaubenslosigkeit  des  Bürgertums, 
man  spricht  soviel  von  dem  frechen  Mut  gegen  alle  Autorität, 
geistige  Autorität,  von  ihrer  revolutionären  Gesinnung  gegenüber 
der  Kirche.  Aber  es  ist  fürwahr  nicht  viel  daran;  das  ist  zu  Hause 
für  die  vier  Wände;  hinaustragen  wollen  sie  es  nicht  lassen;  denn 
sie  wissen  ja,  wenn  diese  „aufrührerischen"  Gedanken  im  Volke 
sind,  bleiben  sie  vor  der  Bourgeoisie  nicht  stehen. 

Aber  die  anderen.  Die  Partei,  welche  diesen  Antrag  vorgelegt 
hat,  richtet  sich  eigentlich  von  selbst.  Eine  jede  Partei,  eine  jede 
Anschauung  —  und  ich  respektiere  jede,  wenn  sie  mir  noch  so 
entgegengesetzt  ist  — ,  sagt  wenigstens:  „Du  hast  nur  darum 
meine  Anschauung  nicht,  weil  du  zu  wenig  gelernt  hast."  Die 
klerikale   Partei   aber   sagt:   „Ihr   seid   nicht   unserer   Anschauung. 


64  Klerikalisinus   und   Schule. 

weil  ihr  zuviel  gelernt  habt,  ihr  müßt  weniger  lernen!"  Eine  solche 
Partei  ist  durch  sich  selbst  gerichtet.  Aber  wollen  wir  uns  dies 
ein  bißchen  ansehen.  Es  wurde  bereits  vom  Referenten  ausgeführt, 
daß  das  neue  Schulprogramm  sehr  viel  Religion  und  Singen  und 
weniger  Geschichte,  Geographie,  Zeichnen  usw.  enthält.  Es  ist 
aber  noch  eines.  Es  soll  das  Kind  anstatt  acht  Jahre  nur  sechs 
Jahre  in  die  Schule  gehen,  der  Schulunterricht  soll  mit  dem 
zwölften  Jahre  aufhören  und  nur  in  einem  Sonntags-Wiederholungs- 
unterricht  fortgesetzt  werden. 

Nun  könnte  man  allerdings  vom  hygienischen,  vom  medi- 
zinischen Standpunkt  sagen:  Ja,  das  Alter  von  sechs  Jahren  ist 
für  Kinder,  besonders  für  Kinder  von  Eltern,  die  nicht  gut  genährt 
sind,  zu  zeitlich,  um  sie  in  die  Schule  zu  bringen;  es  könnte  für 
ihre  physische  Entwicklung  notwendig  werden,  bei  acht  Jahren 
zu  beginnen.  So  würden  wir  sagen,  wenn  wir  nicht  wüßten,  daß, 
wenn  der  Schulstock  aufhört,  die  Hungerpeitsche  beginnt;  daß 
unsere  Ordnung  es  erzwingt,  daß  die  Kinder  aus  der  Schule  in 
die  Fabrik,  in  die  Werkstätte  getrieben  werden,  wenn  nicht  auf 
die  Landstraße  als  Vagabunden. 

Man  könnte  also  sagen,  wir  lassen  die  Kinder  erst  mit  acht 
Jahren  beginnen,  wo  sie  dann  bis  zum  16.  oder  18.  Jahre,  wie  es 
das  sozialistische  Programm  verlangt,  in  allen  Künsten  und  Wissen- 
schaften unterrichtet  werden.  Eine  solche  Beschränkung,  ein 
solches  Wegschneiden  nach  unten  hätte  möglicherweise  einen  Sinn, 
darüber  ließe  sich  reden. 

Aber  diese  Partei  will  oben  beschneiden,  die  letzten  zwei  Jahre. 
Nicht  die  ersten  zwei  Jahre,  wo  man  Lesen,  Schreiben,  Rechnen 
lernt,  die  letzten,  wo  man  die  Geschichte  und  Naturlehre  lernt, 
das  sind  die  gefährlichen. 

Nur  werden  Sie  aber  da  einen  eigentümlichen  Widerspruch  be- 
merken: Fürst  Liechtenstein  wie  seine  Genossen  sind  nicht  nur 
Klerikale,  sie  sind  auch  Sozialreformer;  ja,  sie  lassen  sich  viel 
lieber  bei  diesem  Namen  nennen.  Nun  mache  ich  Sie  aufmerksam, 
diese  Herren  haben  mit  großem  Eifer  —  allerdings  nicht  mit  so 
großem,  wie  für  dieses  Gesetz  — ,  aber  immerhin  mit  großem  Eifer 
eine  Gewerbeordnung  eingeführt  und  zur  Fabrikgesetzgebung  bei- 
getragen, wo  unter  vielem  anderen  Wichtigen  —  wenn  es  auch 
noch  so  lückenhaft  — ,  Ausbeutungen  schon  weniger  leicht  sind 
und  noch  viel  weniger  leicht  wären,  wenn  sie  ausgeführt  werden 
würde  —  wo  unter  den  wichtigsten  Bestimmungen  auch  die  Be- 
schränkung der  Kinderarbeit,  vom  14.  Jahre  angefangen,  vorkommt. 
Diese  Beschränkung  wird  durch  dieses  Gesetz  einfach  aufgehoben. 
Es  ist  eine  geschichtliche  Erfahrung  in  allen  Ländern,  daß  die  Be- 
schränkung der  Kinderarbeit  nur  durchzuführen  ist  durch  die 
Schulpflicht,  daß  nur  der  Lehrer  imstande  ist,  die  Aufsicht  über  die 
Kinder  durchzuführen,  daß  nur  der  Schulzwang  der  Hungerpeitsche 
gewachsen  ist. 

Sie  sehen,  hier  wird  Fürst  Liechtensein,  der  Sozialreformer, 
von  dem  Fürsten  Liechtenstein,  dem  Klerikalen,  totgeschlagen. 


Der  Liechtenstei tische  Schulantrag.  65 


Und  nun,  meine  Herren,  es  ist  schon  betont  worden,  wir 
Sprechen  niemand  ZU   Dank  und   niemand   zu  Nutzen. 

Es  ist  Ja  sehr  wahrscheinlich,  daß  die  eine  wie  die  andere 
Partei  aus  unserer  Versammlung  wird  Kapital  schlagen  wollen. 
Die  Arbeiter,  werden  die  Klerikalen  sagen,  haben  die  Bourgeoisie 
beschimpft,  und  die  Bourgeoisie  wird  sagen,  sie  haben  dem  An- 
trag des  Fürsten  Liechtenstein  kräftig  opponiert,  und  beide,  wenn 
sie  das  sagen,  werden  recht  haben  und  wir  werden  damit  zu- 
frieden sein. 

Wir  sind  nicht  in  der  Lage,  unsere  Stimmen  in  gründlicher 
Weise  geltend  zu  machen.  Einen  Einfluß  auf  die  Gesetzgebung 
haben  wir  nicht;  wenn  jemand  im  Parlament  für  die  Arbeiterschaft, 
für  das  Proletariat  spricht,  so  tut  er  es,  nicht  weil  ihn  seine 
Wähler  hineingeschickt  haben,  sondern  trotzdem  ihn  seine 
Wähler  hineingeschickt.  Hier  habe  ich  eine  Rede  des  Abgeordneten 
Kronawetter  in  der  Hand,  worin  er  selber  erzählt,  daß  er 
eine  Petition  mit  30.000  oder  300.000  Unterschriften,  es  kommt  ja 
für  den  Erfolg  auf  dasselbe  hinaus,  für  das  allgemeine  Wahlrecht 
in  den  Papierkorb  des  Abgeordnetenhauses  überreicht  hat. 

Wir  werden  die  Papierkörbe  des  Abgeordnetenhauses  nicht 
mehr  füllen.  Unsere  Sache  ist  es  nur,  klarzumachen,  was  wir 
wollen,  was  wir  für  richtig  halten,  um  den  anderen  zu  sagen,  daß 
wir  sie  für  die  Folgen  verantwortlich  machen. 

Uns  fällt  nicht  ein,  von  der  Bourgeoisie  zu  verlangen,  sie  solle 
das  sozialdemokratische  Programm  ausführen.  (Wir  wissen 
übrigens,  daß  die  Sozialdemokratie  aus  Resolutionen  gestrichen 
werden  kann,  aber  nicht  aus  der  Weltgeschichte,  und  wir  lassen 
uns  darum  gewisse,  harmlose  Striche  ruhig  gefallen . . .)  Aber  wir 
können  nicht  dulden,  daß,  wenn  die  Bourgeoisie  schon  unser  Pro- 
gramm nicht  ausführt,  sie  so  feige  ist,  ihr  eigenes  Programm  nicht 
auszuführen. 

Und  sehen  Sie,  wenn  im  Krieg  der  feige  Soldat  nicht  ins  Feuer 
will,  da  ist  es  vorgekommen,  daß  ein  energischer  Feldherr  hinter 
seiner  Armee  hat  Kanonen  auffahren  lassen,  Diese  Rolle  spielen 
wir  heute  gegenüber  der  Bourgeoisie. 

Das  ist  das  einzige,  was  wir  zu  sagen  gehabt  haben. 

Sie  sehen,  wir  fürchten  uns  nicht,  und  wir  haben  es  auch  nicht 
notwendig,  zu  zeigen  und  zu  sagen,  was  wir  wollen,  aus  Furcht 
vor  Ruhestörungen.  Es  ist  eigentümlich,  die  anderen  Parteien 
dürfen  jede  so  viel  Versammlungen  abhalten,  als  ihr  Herz  begehrt, 
und  sie  fürchten  sich,  Versammlungen  abzuhalten;  und  wir  fürchten 
uns  gar  nicht,  und  wir  dürfen  fast  gar  keine  Versammlungen  ab- 
halten. 

Ich  glaube,  daß  man  sie  uns  darum  nicht  abhalten  läßt,  \v  e  i  1 
wir  uns  nicht  fürchten. 

Noch  ein  letztes  Wort.  Ich  bin  nicht  der  Ansicht,  daß  dieser 
Antrag  durchgehen  wird.  Nicht  etwa  deshalb,  weil  ich  glauben 
würde,   daß    im   Abgeordnetenhaus   sich   nicht   für   alles   eine   Ma- 

Adlcr,  Briefe.  XI.  Bd.  5 


66  Klerikalismus   und   Schule. 


jorität  fände,  sondern  darum,  weil  eine  Macht  es  nicht  wollen  wird, 
eine  Macht,  die  heute  so  ziemlich  die  einzige  ist,  welche  wünscht, 
daß  das  Volk  physisch  gesund  und  auch  geistig  gesund  ist.  Das  ist 
das  Militär.  Wir  hätten  heute  noch  keine  Fabrikgesetze,  trotz  allen 
Lamentos  von  rechts,  trotz  aller  Deklamationen  von  Recht,  aller 
freiheitlichen  Phrasen  von  links;  wir  hätten  noch  keinen  Normal- 
arbeitstag, wenn  nicht  die  Assentierungsresultate  wären,  denn, 
wenn  es  so  fortgeht,  haben  sie  bald  keine  Soldaten  mehr. 

Das  ist  etwas,  was  gewirkt  hat,  und  schon  hat  diesem  Gesetz 
gegenüber  der  Kriegsminister  Stellung  genommen  und  es  wurde 
konstatiert,  daß  beim  Soldaten  Lesen,  Schreiben  und  Rechnen,  ein 
gewisses  Minimum  an  Wissen,  eine  sehr  gute  Sache  sei,  deswegen 
weil  sie  Unteroffiziere  brauchen.  Und  das  Gesetz  wird  deswegen 
nicht  durchgehen.  Denn  Unteroffiziere  brauchen  sie!  Daß  wir 
Menschen  brauchen,  das  natürlich  ist  dabei  Nebensache.  (Leb- 
hafter Beifall) 

Die  Los-von-Rom-Bewegung. 

Versammlung,  11.  April  18  99*). 

Ein  bedeutender  englischer  Publizist  hat  sich  heute  bei  mir  über 
die  politische  Lage  in  Österreich  informieren  wollen.  Trotz  aller 
Mühe  gelang  es  mir  nicht,  ihn  über  unsere  Verhältnisse  aufzuklären. 
Wie  soll  man  auch  einen  Ausländer  in  einem  Vortrag  über  die  öster- 
reichischen Verhältnisse  informieren,  da  sie  kaum  uns  selbst  begreif- 
lich sind!  Gestern  hat  in  Wien  die  Vertrauensmännerversammlung 
der  Deutschen  getagt,  von  der  man  eine  Klärung  hoffte,  weil  man 
damit  eine  Wendung  in  der  Politik  erwartet  hat.  Man  hat  sich  aber 
damit  begnügt,  ein  Subkomitee  aufzustellen,  und  was  ein  Subkomitee 
in  Österreich  bedeutet,  ist  leider  allzusehr  bekannt.  (Heiterkeit.)  Die 
bürgerlichen  Parteien  sind  nicht  so  weit,  ein  gemeinsames  Programm 

*)  Im  Kampfe  gegen  die  Regierung  Thun  hatten  die  Alldeutschen  die 
Parole  „Los  von  Rom"  ausgegeben,  die  zugleich  mit  der  Propaganda  für 
den  Übertritt  zum  Protestantismus  verbunden  wurde.  Die  Abfallbewegung 
griff  immer  weiter  um  sich  und  vergebens  suchten  ihr  die  Bischöfe  durch 
Hirtenbriefe  und  Predigten  entgegenzutreten.  Im  April  1899  wurde  ein 
Hirtenbrief  des  Episkopats  von  allen  Kanzeln  verlesen  und  die  Regierung 
löste  eine  Reihe  deutschnationaler  Vereine  wegen  Förderung  der  Abfall- 
bewegung auf.  In  einer  Kundgebung  der  halbamtlichen  „Wiener  Abend- 
post" wurde  gerade  am  11.  April  die  Auflösung  mit  der  Abfallbewegung 
begründet.  Die  Sozialdemokraten  standen  der  Los-von-Rom-Bewegung 
neutral  gegenüber.  Wenn  auch  an  einzelnen  Orten,  namentlich  dort,  wo 
der  Altkatholizismus  Fuß  gefaßt  hatte,  auch  eine  größere  Anzahl  Arbeiter 
zu  diesem  übertraten,  so  begnügten  sich  die  Arbeiter  meist  damit,  den 
Kampf  gegen  den  Klerikalismus  zu  führen,  oder  wie  es  Schuhmeier 
formuliert  hatte:  Nicht  Los  von  Rom!  sondern  Los  gegen  Rom!  Übrigens 
wurde  das  Ergebnis  der  Los-von-Rom-Bewegung  allgemein  sehr  über- 
schätzt. Als  Ziel  hatte  Schönerer  angegeben,  zehntausend  Seelen  dem 
Katholizismus    abspenstig    zu    machen.    Bis   Ende    1901     sind    nach    der 


Die   Los-voji-Rom-Bewegung.  '" 

aufzustellen,  weil  man  eine  solche  Frage  nicht  vom  Standpunkt  d 
llerrsclicns  über  andere,  sondern  nur  von  dem  der  (ileichberechti  ■ 
gung  aufstellen  kann.  Wie  soll  denn  von  Leuten,  die  vom  nationalen 
Kämpft  leben,  die  nationale  Frage  gelöst  werden?  Seihst  die  bürger- 
lichen Interessen  werden  infolge  des  nationalen  Kampfes  geschädigt. 
Um  einen  Umschwung  im  demokratischen  Sinn  herbeizuführen, 
müßte  sich  das  deutsche  und  tschechische  Bürgertum  vereinigen, 
aber  die  Aussicht  hiezu  ist  sehr  gering.  Man  sucht  auf  deutschnatio- 
naler Seite  die  sogenannte  „L()s-v()n-Rorri"-Bewe(i:un£  ins  Leben  zu 
rufen,  und  von  vielen  Seiten  wurde  erwartet,  dal.»  diese  von  den 
Sozialdemokraten  mit  Enthusiasmus  begrüßt  werden  wird.  Diese 
stehen  aber  der  Sache  sehr  kühl  gegenüber.  Die  Herrschaft  des 
Klerikalismus  wird  dadurch  nicht  beseitigt,  daß  einige  tausend  Leute, 
die  längst  nicht  mehr  katholisch  waren,  Protestanten  werden.  Der 
Klerikal ismus  und  seine  Gefahr  für  Österreich  steckt  tief  in  den 
Knochen,  und  der  Charakter  des  Volkes  wird  durch  eine  Änderung 
des  Bekenntnisses,  selbst  wenn  sie  sehr  umfangreich  wäre,  nicht  ge- 
ändert. Die  Deutschnationalen  streben  die  Herrschaft  der  Deutschen 
an.  wie  sie  vor  dreißig  Jahren  bestand,  vergessen  aber,  daß  damals 
nicht  die  Deutschen,  sondern  die  deutschsprechende  Bürokratie  ge- 
herrscht hat,  und  daß  die  Tschechen  heute  nicht  mehr  unterzukriegen 
sind.  Es  muß  eine  Form  gefunden  werden,  daß  alle  Nationen  Öster- 
reichs friedlich  nebeneinander  leben  können,  und  da  könnte  Graf 
Thun  es  von  den  Sozialdemokraten  lernen,  wie  man  alle  Nationen 
zu  gemeinsamer  Arbeit  und  zum  Gefühl  der  Solidarität  erzieht.  Aber 
unser  Rezept  kann  er  nicht  anwenden,  weil  die  erste  Bedingung 
ernsthaft  demokratische  Einrichtungen  sind.  Auf  die  Herrschaft  der 
Christlichsozialen  in  Wien  übergehend,  meint  der  Redner,  daß  es 
damit  bereits  einigermaßen  nach  abwärts  gehe.  Selbst  die  Freunde 
Dr.  Luegers,  der  von  den  Sozialdemokraten  immer  als  ein  Komö- 
diant angesehen  wurde,  müssen  ihm  nach  seinem  kommunalen  Wahl- 
schwindel  sagen:  „Diese  Komödie  hättest  du  dir  ersparen  können." 
(Lebhafter  Beifall.)  Aber  die  Arbeiterschaft  dürfe  nicht  warten,  bis 


..Evangelischen  Kirchenzeitung"  zur  evangelischen  Kirche  19.000,  zur  alt- 
katholischen 8000  übergetreten.  Wenn  man  diese  Zahlen  mit  der  Abfall- 
bewegung infolge  der  Hetzreden  des  Bundeskanzlers  Seipel  nach  dem 
15.  Juli  1927  vergleicht,  gewiß  nicht  sehr  viel.  Aber  sie  regten  doch  die 
Bischöfe  sehr  auf.  Bekanntlich  ist  Körber  Ende  1904  vom  Hof  zum  Rück- 
tritt gezwungen  worden,  weil  er  sich  weigerte,  gegen  die  Los-von-Rom- 
Bewegung  mit  Gewalt  vorzugehen. 

In  der  Versammlung,  in  der  am  11.  April  1899  Adler  im  Weilandhof  in 
uer  Brigittenau  über  innere  Politik  sprach,  kam  er  —  offenbar 
gerade  infolge  der  Kundgebung  der  „Wiener  Abendpost"  —  auch  auf  die 
Los-von-Rom-Bewegung  zu  sprechen. 

Um  jene  Zeit  machten  die  bürgerlichen  Deutschen  den  Versuch,  zu  einer 
gemeinsamen  Politik  zu  kommen.  Aber  erst  am  19.  Mai  1899  gelang  es 
den  Parteien  der  „deutschen  (i  e  m  e  i  n  b  ü  r  g  s  c  h  a  f  t"  —  Deutsche 
Volkspartei,     Deutsche    Fortschrittspartei,     verfassungstreuer     Großgrund- 

itz.  Christlichsoziale  -  ,  zu  einem  einheitlichen  nationalen  Programm, 
dem  Dringst  Programm,  zu  kommen,  das  auf  der  Idee  der  Vor- 
Herrschaft   der   Deutschen  beruhte. 


68  Klerikalismus  und  Schule. 


die  Christlichsoziale!]  durch  die  eigene  Dummheit  umgebracht  wer- 
den, sondern  müsse  durch  energische  Agitation  den  Untergang  der 
christlichsozialen  Herrschaft  soviel  als  möglich  beschleunigen.  Im 
Staate  wie  in  der  Gemeinde  ruht  alle  Hoffnung  auf  der  eigenen  Kraft 
der  klassenbewußten  Arbeiterschaft.  (Lebhafter  allgemeiner  Beifall.) 

Die  Maßregelung  der  Gewerbeschul- 
lehrer. 

Lehrerversammlung  am  12.  Oktober  190 2*). 

Es  ist  eine  der  erfreulichsten  Erscheinungen,  daß  die  Lehrer  des 
Volkes  anfangen  zu  wissen,  was  ihre  Pflicht  und  Aufgabe 
i  s  t.  Ich  stehe  hier  als  Vertreter  der  sozialdemokrati- 
schen Partei,  als  Vertreter  der  Arbeiterklasse.  Ich  brauche 
Ihnen  nicht  zu  versichern,  daß  das,  was  die  Lehrer  bedürfen,  um 
ihrer  Aufgabe  als  Lehrer  der  Kinder  des  Volkes  vollauf  zu  genügen, 
von  uns  als  eine  notwendige  Bedingung  der  politischen  Entwick- 
lung unseres  Landes  angesehen  wird.  Wir  kommen  nicht  zu  Ihnen, 
um  Sie  für  unsere  Partei  zu  gewinnen,  wir  versprechen  Ihnen 
nichts,  um  von  Ihnen  politische  Unterstützung  zu  erlangen.  Was 
wir  tun  —  wir  sprechen  es  offen  aus  — ,  tun  wir  durchaus  nicht 
ihnen  zuliebe,  wir  tun  es  uns  zuliebe,  wir  tun  es  zu- 
liebe den  Kindern  der  Arbeiterklasse.  (Beifall.)  Wir 
erwarten  von  Ihnen  weder  politische  Hilfe,  noch  rechnen  wir  darauf, 
daß  auch  nur  ein  einziger  von  Ihnen  zuliebe  der  Unterstützung  der 
Sozialdemokraten  irgendeine  politische  Konzession 
macht.  Im  Gegenteil.  Wir  kämpfen  dafür,  daß  Ihnen  die  Möglichkeit 
geboten  werde,  unabhängige,  freie  Männer  zu  sein.  Ich 
war  Landtagsabgeordneter  nur  sehr  kurze  Zeit;  aber  die  kurze 
Zeit  hat  genügt,  um  mir  die  Gesellschaft  ein  bißchen  aus  der  Nähe 
anzusehen  (Heiterkeit),  mit  der  wir  es  zu  tun  haben.  Aber  so  wenig 
schmeichelhaft    die    Meinung  war,    die    ich  von  vornherein   gehabt 


*)  Sämtliche  freisinnigen  Lehrervereine  Wiens  hatten  für  Sonntag  den 
12.  Oktober  in  Wimbergers  Saal  eine  Lehrerversammlung  einberufen  mit 
der  Tagesordnung:  „Die  Schule  und  der  Landtag.  —  Die  Maß- 
regelung der  Gewerbeschullehre  r."  Der  Vorsitzende,  Ge- 
meinderat H  o  h  e  n  s  i  n  n  e  r,  Präsident  des  Reichsbürgerschuilehrerbundes. 
verwies  darauf,  daß  zu  Beginn  des  Schuljahres  fünfzig  Lehrer  von 
der  Gewerbeschulkommission  Knall  und  Fall  ent- 
lassen wurden:  Noch  nie  ist  in  den  Kreisen  der  Lehrerschaft  die  Welle 
des  Unwillens  gegen  die  Christlichsozialen  so  hoch  gegangen:  die  Lehrer 
sind  auf  das  tiefste  empört  über  den  neuen  Gewaltakt  der  Christlich- 
sozialen. Auf  dem  flachen  Lande  ist  eine  offene  Empörung  gegen  die 
Christlichsozialen  ausgebrochen;  sollen  wir  uns  von  den  Bewohnern  des 
flachen  Landes  beschämen  lassen?  (Beifall.)  Unsere  Parole  muß  lauten: 
„Hoch  die  freie  Schule!"  (Lebhafter  Beifall.) 

Nachdem  der  Lehrer  Hellmann  über  den  Punkt  „Schule  und 
Landtag"  referiert  und  Kronawetter  dazu  gesprochen  hatte,  kam 
Dr.  Adler  zu  Worte. 


Die  Maßregelung  der  Gowerbeschullehrer,  ,,(* 

habe,  sie  ist  weit  üb  ertroffen  worden.  Ich  habe  es  nicht 
für  möglich  gehalten,  daß  es  einen  solchen  brutale  n  Z  y  n  i  S- 
in  n  s  gibt.  Es  hat  ein  Beispiel  segeben,  das  allein  schon  die  ganze 
Partei  charakterisiert  und  sie  brandmarkt.  Ich  erinnere  Sie  an  den 
von  Dr.  Of  ner  eingebrachten  Antrag!  der  für  die  Unterlehrer  eine 
Kündigungsfrist  bestimmen  sollte,  eine  Sache,  von  der  man  an- 
nehmen mußte,  daß  sie  ohne  Debatte  als  g  a  n  z  sei  b  s  t- 
verständlich  erledigt  werde,  und  ich  gestehe  Ihnen,  ich  war 
so  naiv,  es  anzunehmen,  und  habe  dem  Geßmann  gesagt:  „Schreien 
Sie  nicht,  Sie  werden  den  Antrag  schließlich  docli  annehmen 
müssen",  und  ich  habe  mich  bitter  blamiert.  (Heiterkeit.)  Die  Leute 
haben  die  Schamlosigkeit  gehabt,  den  Antrag,  den  jeder  Volks- 
vertreter, der  das  Interesse  der  Lehrer  und  Kinder  wahrt,  annehmen 
müßte,  brüsk  abzulehnen.  (Pfuirufe.) 

Fast  jede  Partei  von  bürgerlichem  Aussehen  hat  ihre  Macht  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  mißbraucht.  Dieser  schamlose,  rück- 
sichtslose Mißbrauch,  dieser  Cäsarenwahnsinn,  der 
aber  in  dieser  Partei  lebt,  ist  ein  Punkt,  der  uns  bestimmt,  sie 
mit  dem  Aufwand  aller  Kraft  zu  bekämpfen  und  auf  diesem  Wege 
mitzunehmen,  wer  sich  uns  anschließen  will.  Der  andere  Punkt  i  s  t 
noch  viel  schlimmer.  Von  dieser  Partei  geht  aus  eine  Ver- 
giftung und  Korrumpierung  des  öffentlichen 
Geistes,  es  geht  aus  eine  Verlogenheit,  eine  Erziehung  zur  Lüge, 
eine  Mißachtung  alles  dessen,  was  jedem  Menschen,  gehöre  er 
welcher  Partei  immer  an,  hoch  und  heilig  ist.  Es  gibt  in  Wien  bald 
keinen  städtischen  Beamten  mehr,  der  das  Bewußtsein  seiner 
Pflicht  hätte.  Sie  haben  die  Gesamtheit  der  Beamten  dahin  gebracht, 
daß  sie,  die  Verwaltungsbeamte  der  Gesamtheit  sind,  um  das 
Butterbrot  eines  Avancements  für  die  Willkür  jeder  Partei  zu  haben 
sind.  Wer  die  inneren  Vorgänge  des  Magistrats  kennt  und  auch  nur 
weiß,  was  jetzt  bei  den  Wahlen  wieder  geschehen  ist,  der  weiß,  daß 
das  nicht  geschehen  könnte  ohne  die  gänzliche  Verwahr- 
losung der  Gewissen  dieser  Leute.  Diese  Korrumpie- 
rung des  öffentlichen  Geistes  ist  ein  systematisches  Komplott  der 
klerikalen  Partei  im  Bunde  mit  der  Plutokratie.  Ausgezogen  sind 
sie  gegen  die  jüdische  Plutokratie,  und  geführt  haben  sie  uns  i  n 
die  Knechtschaft  der  klerikalen  Plutokratie*). 
(Lebhafter  Beifall.) 

Ich  bin  nicht  hieher  gekommen,  um  lange  Reden  zu  halten.  Ich 
weiß,  was  Sie  wollen,  und  Sie  wissen  ungefähr,  was  ich  will.  Sie 
können  versichert  sein,  daß  jeder  Sozialdemokrat,  der  in  einem 
Vertretungskörper  sitzt,  für  Ihre  Forderungen  eintritt,  ja  Ihr 
Programm  als  ein  Minimalprogramm  ansehen  wird.  Die 
Forderungen  der  Sozialdemokraten  gehen  viel  weiter.  Wir 
erschrecken  nicht  davor,  Utopisten  genannt  zu  werden,  wir  meinen 
in  der  Tat,  daß  es  notwendig  ist,  daß  das  Recht  der  Kinder 
auf   Ernährung  und  Erziehung  gewahrt  wird,  und  zum 

*)  Seither  haben  sie  sich  auch  mit  der  kapitalistischen  Plutokratie  ver- 
söhnt. 


70  Klerikalismus   und   Schule. 


Rechte  des  Kindes  gehört  in   volle  m   Umfang  das   Recht 
der  Lehrer.  (Stürmischer  Beifall.) 

Der  Landtag  und  die  Wissenschaft. 

Versammlung  am  4.  November  190  3*). 

Professor  Ebner  hat  seinen  Vortrag  mit  der  Hoffnung  auf  die 
kommende  Wahrheit  geschlossen.  Die  Wahrheit  ist  eine  große 
Sache,  aber  sie  siegt  nur,  wenn  man  ihr  siegen  hilft!  Wir  leiden 
in  diesem  Lande  nicht  nur  unter  der  konservierten  Dummheit 
träger  Massen,  die  von  gewissenlosen  Demagogen  benützt  wird ; 
noch  viel  mehr  an  dem  Mangel  an  Mut  in  allen  anderen  Schichten. 
Nicht  nur  die  christlichsozialen  Demagogen  sind  in  diesem  Falle 
die  Schuldigen,  mitschuldig  sind  andere,  vor  denen  viele  sonst  den 
Hut  sehr  tief . ziehen.  Schuldig  der  Feigheit  ist  der  Statt- 
halter K  i  e  Im  a  n  s  egg,  s  ch  u  1  di  g  ist  der  Unterrichtsminister 
Harte  1,  -schuldig  ist  der  Ministerpräsident  K  ö  r  b  e  r!  Die 
Herren  wissen  ganz  gut,  wie  verlogen  diese  Agitation  ist.  Wrir  leiden 
unter  der  Pflichtvergessenheit  unserer  hohen  Be- 
amten! Diese  Versammlung  ist  erfreulich,  weil  sie  vielen  wieder 
neuen  Mut  gibt.  Ich  habe  seit  acht  Tagen  die  fürchterliche  Pflicht, 


*)  Ende  Oktober  1903  begannen  die  Christlichsozialen  im  niederöster- 
reichischen Landtag  wieder  einmal  einen  Feldzug  gegen  die  Universität. 
Bielohlawek,  Gregor  ig  und  Schneider  fingen  mit  einer  Debatte 
über  die  V  i  v  i  s  e  k"  t  i  O'ti  an  und  beschimpften  die  Professoren  und  die  „jüdi- 
schen Ärzte".  Als  das  medizinische  Professorenkollegium  und  die  Ärztekammer 
sich  dagegen  verwahrten,  daß  eine  dazu  nicht  berufene  Körperschaft  über 
die  Frage  der  Tierversuche  beschließe,  brachte  Abgeordneter  Steiner 
einen  Antrag  auf  gesetzliche  Überwachung  des  Obduktionswesens  ein. 
wobei  in  der  Debatte  wieder  vom  Statthalter  Grafen  Kielmansegg  ruhig 
hingenommene  Beschimpfungen  der  Professoren  erfolgten.  L  u  e  g  e  r 
brachte  einen  Antrag  ein,  die  „anmaßende  Erklärung  der  Professoren 
zurückzuweisen..."  und  begründete  den  Antrag  mit  Schimpfereien  über 
die  „Tier-  und  Menschenschinder".  Weiskirchner,  Schneider  und 
P  a  1 1  a  i  gingen  gegen  die  Kliniken  los,  worauf  Lueger  den  Vogel  abschoß 
•mit  dem  geflügelten  Worte,  solange  ein  Gelehrter  nicht  einmal  einen 
Grashalm  konstruieren  könne,  sei  er  ein  Pfuscher  und  Pfründner  . . . 
In  einem  Schreiben  an  den  Landmarschall  Abt  Schmolk  vom  3.  November 
erklärte  der  Rektor  Escherich,  daß  er  als  Virilist  im  Landtag  nicht  mehr 
sprechen  werde,  solange  nicht  der  Wissenschaft  und  der  Universität  die 
gebührende  Achtung  entgegengebracht  werde.  Zugleich  legten  die  Mit- 
glieder der  Ärztekammer  als  Protest  dagegen,  daß  der  Statthalter  die  Be- 
schimpfungen der   Ärzte   nicht  zurückgewiesen  hatte,   ihre  Stellen  nieder. 

Aber  am  schändlichsten  war  dann  die  schmähliche  Hetze,  die  die 
Christlichsozialen  gegen  den  Professor  Politzer  einleiteten.  Professor 
Politzer,  ein  bahnbrechender  Forscher  auf  dem  Gebiet  der  Ohrenheilkunde, 
dabei  Ohrenarmenarzt  in  den  Gemeindeanstalten,  hatte,  da  ihm  die  Unter- 
richtsverwaltung kein  Universitätslaboratorium  einrichtete,  sich  schon  bald 
nach  seiner  Habilitierung  als  Privatdozent  ein  privates  Laboratorium  für 
Anatomie  und  Pathologie  der  Gehörorgane  in  seiner  Wohnung  eingerichtet 
und  schon   im   Jahre   1862  hatte   ihm  der  Wiener   Magistrat  die  Erlaubnis 


Der  Landtag  und  die  Wissenschaft  71 


diese  Debatten  im  Landtag,  diesen  Weichsel zopf  von  Lügen,  liii- 
wissenlieit  und  I  lalhwahrlieiten  ZU  lesen  und  mir  zu  entwirren. 
(Zwischenruf:  Ekelhafte  Arbeit!)  Das  ist  ekelhaft.  Aber  an  den 
Ekel  niuü  man  sich  in  Österreich  gewöhnen,  sonst  könnte  man 
liier  Überhaupt  nicht  arbeiten.  (Zustimmung.)  Nehmen  Sie  den 
heutigen  Fall:  Professor  Politzer  hat  Hunderte  von  Ohren 
•  zum  Heile  der  Menschheit!  untersucht.  Im  Ländtag  wird  er 
heute  mit  Angriffen  und  Beleidigungen  überschüttet.  Und  was  bleibt 
als  einziges  Argument  von  der  heutigen  Debatte  gegen  Professor 
Politzer  übrig?  Daß  er  einem  Diener  zu  wenig  Trinkgeld 
g  i  b  t.  (Heiterkeit.)  Von  dem  Vorgehen  des  Lueger  und  Konsorten 
will  ich  gar  nicht  reden.  Schließlich  kann  man  vom  Ochsen  nur 
Rindfleisch  verlangen.  (Heiterkeit.)  Aber  Herr  Kielmansegg  ich 
verlange  von  ihm  nicht  zuviel  (Heiterkeit)  könnte  anders  auf- 
treten, er  bekommt  sein  Material  vom  Referenten  fix  und  fertig 
zugestellt.  Die  Lügen  der  Herren  von  der  Majorität  sind  populär, 
die  Herren  sind  ja  ganz  schlau,  wenn  sie  gegen  die  Spitäler  hetzen. 
Es  gehört  Mut  dazu,  dem  auf  Schritt  und  Tritt  entgegenzutreten, 
denn  esfehlt  ja  sehr  viel  in  unserem  heutigen 
Sanitätswesen.  Wenn  wir  den  Arbeitern  fortwährend  sagen 
müssen:  „Unsere  Spitalzustände  sind  schlecht,  die  Ernährungsver- 
hältnisse  in  unseren  Spitälern  sind  mangelhaft",  da  wird   es  uns 

gegeben,  die  in  den  Versorgungshäusern  der  Gemeinde  befindlichen  Ohren- 
kranken  zu  untersuchen  und  nach  ihrem  Tode  ihre  Gehörorgane  einer 
wissenschaftlichen  Untersuchung  zu  unterziehen.  Jahrzehntelang  übte  er 
diese  Praxis.  Im  Jahre  1894  hatte  aber  ein  Diener,  der  damit  betraut  war, 
ihm  diese  Leichenteile  zu  bringen,  in  seiner  Wut,  daß  ihm  das  Trinkgeld, 
das  er  dafür  bekam,  zu  gering  erschien,  eine  Anzeige  erstattet,  aber  nach 
kurzen  Schwierigkeiten  war  dem  Professor  wieder  die  alte  Erlaubnis  ge- 
geben worden.  Jetzt  auf  einmal,  in  ihrer  Hetze  gegen  die  Universität  —  An- 
fang November  1903  — ,  brachten  die  Christlichsozialen  diesen  Fall  entstellt 
zur  Sprache  und  Abgeordneter  Leopold  Steiner  beschuldigte  den  Gelehrten, 
er  habe  „gestorbenen  Pfründnern  diu  Ohren  ausgeschnitten  und  zu  diesem 
Zwecke  die  Leichenwärter  bestochen".  Darüber  gab  es,  da  Steiner  auf  die 
öffentliche  Erwiderung  des  Professors  einen  Dringlichkeitsantrag  auf  gesetz- 
liche Regelung  des  Obduktionswesens  einbrachte,  am  4.  November  eine  aus- 
führliche Politzer-Debatte,  in  der  der  Abgeordnete  S  e  i  t  z,  der  sich  der  Uni- 
versität annahm,  von  Bielohlawek,  Geßmann,  Steiner  und 
Lueger  beschimpft  wurde. 

Am  4.  November  fand  aber  auch  eine  öffentliche  Versammlung  mit  der 
Tagesordnung  „Die  Universität  und  der  Landtag"  statt,  in  der 
zahlreiche  Universitätsprofessoren  anwesend  waren.  Den  Vorsitz  führte 
Dozent  Dr.  Ludo  Hartmann,  das  Referat  erstattete  Professor 
v.  F  b  n  e  r.  In  der  Debatte  sprach  auch  Adler. 

Außerdem  sprachen  noch  Dozent  Dr.  Fröhlich  und  Professor  T  o  1  d  t, 
worauf  folgende  von  Dr.  Lostorfer  beantragte  Resolution  einstimmig 
beschlossen  wurde: 

Die  Versammlung,  entrüstet  über  die  gehässigen  und  wahnwitzigen 
Angriffe  der  Landtagsmehrheit  gegen  die  medizinische  Fakultät  und  die 
Ärzteschaft,  sieht  in  dem  Versuch  der  Zerstörung  des  Vertrauens  auf 
die  klinischen  Krankenanstalten  und  die  Ärzte  eine  schwere  Schädigung 
höchster    Kulturinteressen    und    der   armen   Bevölkerung   Wiens. 


72  Klerikalismus  und   Schule. 

schwer  fallen,  den  Arbeitern  «leichzeitig  klarzumachen:  Die  An- 
griffe wider  die  Wissenschaft  sind  Verleumdungen!  Es  ist  schwer, 
den  Leuten  klarzumachen:  nicht  die  Ärzte  sind  an  den  Mängeln 
schuld,  sondern  eine  knauserige  Verwaltung!  Ich  bin  heute  im 
Landtag  mit  Schmähungen  überhäuft  worden  —  Bestialität  war  das 
wenigste  (Heiterkeit),  weil  ich  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  geschrieben 
habe,  jeder  hat  im  gewissen  Sinne  die  Pflicht,  der  Wissenschaft 
seinen  Körper  zur  Verfügung  zu  stellen!  Jeder  oder  keiner!  Das 
bedeutet,  daß  das  heutige  System,  in  dem  nur  der  Arme  benützt 
wird,  verurteilt  werden  muß!  Eines  ist  sicher:  Den  Kampf  gegen 
die  Christlichsozialen  kann  man  gar  nicht  führen  oder  —  gründlich! 
Wir  müssen  sie  nicht  nur  bekämpfen,  wenn  sie  offen  lügen,  sondern 
auch,  wenn  sie  Wahrheiten  entstellen.  S  e  i  t  z,  der  auf  seinem 
Platze  steht,  es  ist  der  schlechteste  Platz  in  ganz  Österreich 
(Heiterkeit),  hält  der  ganzen  Horde  stand,  trotzdem  auch  er  —  wie 
der  Herr  Rektor  Escherich  —  ein  genügendes  Maß  von 
Selbstachtung  besitzt.  Wenn  man  einen  Posten  auszufüllen  hat,  so 
darf  man  sich  eben  die  Pflichten  nicht  aussuchen.  Hier, 
wo  ein  Stück  europäischer  Schande  ruchbar  wurde, 
hätten  die  Professoren  sich  auch  öffentlich  vor  Europa 
über  den  Herrn  Unterrichtsminister  äußern  sollen. 
Diese  offene  Stellungnahme  hätte  reinigender  gewirkt  als  alles 
Vornehmtun.  (Stürmischer  Beifall.)  Heute  war  im  Landtag  nur  von 
Leichenschändung  die  Rede.  Ich  kann  Ihnen  sagen,  was  eine 
Leichenschändung  ist.  Da  ist  kürzlich  einem  Arbeiter  in  einer  Buch- 
binderei die  Hand  von  der  Kreissäge  abgeschnitten  worden.  Der 
Chef  gab  den  Auftrag:  „Werfen  Sie  die  Hand  auf  den  Misthaufen!" 
Dort  haben  sie  später  Arbeiter  gefunden;  die  Arbeiter  waren 
empört,  mit  Recht!  Aber  glauben  Sie  mir,  wenn  sich  ein  Arzt  diese 
Hand  geholt  hätte,  um  sie  zu  untersuchen,  die  Arbeiter  wären  nicht 
empört  gewesen.  (Zustimmung.)  Ich  schließe  mit  dem  Wunsche, 
daß  Sie  für  die  gute  Sache  auch  dann  eintreten  mögen,  wenn  es  sich 
nicht  allein  um  ein  Gebiet  Ihrer  persönlichsten  Interessen  handelt. 
(Stürmischer  Beifall.) 

Gegen  die  klerikalen  Schulverderber. 

Versammlung,   7.  November   190 4*). 

Wir  sind  zusammengekommen,  um  einer  schweren  Gefahr,  die 
uns  alle  bedroht,  entgegenzutreten.  Wir  sind  hier  versammelt,  nicht 
allein  um  einer  Partei,  deren  Führer  durch  Unwissenheit  und  Bru- 


*)  Als  im  Jahre  1904  der  christlichsoziale  Landesausschuß  von  Nieder- 
österreich ein  Defizit  von  drei  Millionen  Kronen  feststellte  und  auch  der 
Wiener  Gemeinderat  vor  einem  Defizit  stand,  beschlossen  die  Christlich- 
sozialen eine  Landesbiersteuer  von  1  K  70  h  für  den  Hektoliter.  Als  Vor- 
wand dafür  wurde  die  Notwendigkeit  der  Gehaltsregulierung  der  Lehrer 
genommen,  die  die  Christlichsozialen  schon  seit  Jahren  hinausgeschoben 
hatten.  Die  Gehaltsregulierung  wurde  auch  beschlossen,  aber  während  die 
Biersteiier  schon  am  1.  Jänner  1905  in  Kraft  trat,  sollte  der  höhere  Gehalt 


Gegen  die  klerikalen  Schulverderber.  7* 


taiität,  durch  Gewissenlosigkeit  und  Stumpfsinn,  durch  syste- 
matische VcrdinnmuiiK  und  Verrohung  des  Volkes  das  Äußerste 
leisten,  unsere  Meinung  zu  sagen,  nicht  allein  um  die  niederträch- 
tigen Beschimpfungen  abzuwehren,  die  diese  Menschen  gegen  die 
Arbeiterschaft  und  gegen  ihren  Vertreter  im  Landtag  begangen 
haben,  sondern  um  einer  ernsten  Gefahr  entgegenzutreten,  Seit- 
dem das  Volksschulgesetz  besteht,  hat  es  einen  Feind,  die  Kleri- 
kalen. Seitdem  man  anfingt  die  Kinder  des  arbeitenden  Volkes  not- 
dürftig auszustatten  für  den  Kampf  ums  Leben,  haben  diese  Kinder 
einen  Feind:  die  klerikale  Partei,  die  sich  heute  die  christlichsoziale 
Partei  nennt.  Unermüdlich  hat  diese  Partei,  mit  offener  Agitation 
und  mit  Intrige,  gesucht,  das  bißchen  Volksschule  zu  verderben, 
zu  untergraben,  untauglich  zu  machen  für  ihren  Zweck.  Und  als  der 
offene  Einbruch  in  die  Volksschule  abgeschlagen  wurde,  da  sagte 
Lueger:  Wir  brauchen  kein  Gesetz,  wir  brauchen  das  Parlament 
nicht;  das  machen  wir  uns  schon  selber.  Und  indem  sie  es  sich 
selber  machen,  statten  sie  den  Tribut  ab  an  die  Klerikalen,  die 
ihnen  geholfen  haben,  daß  sie  heute  Wien  und  Niederösterreich  be- 
herrschen. Mit  dem  Gehirn  der  Arbeiter  bezahlt 
Dr.  Lueger  die  Erlaubnis,  die  Taschen  der 
Arbeiter  zu  plündern.  Das  ist  der  Pakt  und  jetzt  soll  ein 
Stück  seiner  Erfüllung  kommen.  Das  ist  die  Gefahr,  die  uns  Er- 
wachsene angeht.  Die  Sozialdemokraten  in  allen  Ländern  sind  mit 

erst  am  1.  Juli  ausbezahlt  werden.  Das  Erträgnis  der  Biersteuer  des  ersten 
halben  Jahres  mußte  zur  Sanierung  der  Landesfinanzen  verwendet  werden. 
Aber  nicht  genug  daran,  wollte  Geßmann  die  Gehaltsregulierung  der  Lehrer 
wieder  zum  Anlaß  einer  Änderung  der  Schulgesetze  nehmen.  In  der  Land- 
tagssession, die  am  20.  September  1904  begann,  legte  der  Landesausschuß 
ein  neues  Schulaufsichtsgesetz,  ein  Gesetz  über  die  Rechtsverhältnisse  der 
Lehrer  und  ein  neues  Gesetz  über  die  Schulerrichtung  und  die  Schul- 
erhaltung vor  und  ließ  die  Vorlagen  trotz  dem  Protest  der  Lehrer  und  der 
Öffentlichkeit  am  18.  Oktober  im  Schulausschuß  und  am  25.  Oktober  im 
Landtag  beschließen.  Dadurch  wurden  nicht  nur  die  Gemeinden  und  die 
Schulräte  entrechtet  und  alle  Macht  dem  Landesausschuß  gegeben,  sondern 
es  wurde  auch  auf  Grund  des  Gesetzes  in  Hunderten  von  Volksschulen 
der  Halbtags  Unterricht  eingeführt.  Gegen  diese  Anschläge  auf  die 
Schule  kämpfte  im  Landtag  allein  mit  Energie  der  einzige  Sozialdemokrat 
Abgeordneter  S  e  i  t  z.  Deshalb  wurde  er  auch  immer  wieder  von  der 
christlichsozialen  Meute  angepöbelt,  ja  der  Abgeordnete  Ernst  Schnei- 
der stürzte  sich  einmal  mit  erhobener  Faust  gegen  Seitz  und  wurde  von 
einem  wirklichen  Angriff  nur  dadurch  abgehalten,  daß  er  im  letzten 
Augenblick  doch  Angst  bekam,  als  Seitz  in  seine  Tasche  griff  und  drohte, 
zu  schießen,  wenn  er  ihn  anrühre. 

Als  Protest  gegen  diese  Schulgesetze  fand  am  7.  November  eine 
Massenversammlung  im  Hotel  Savoy  auf  der  Mariahilferstraße  statt,  in  der 
Adler  referierte.  Nach  ihm  sprachen  Seitz  und  Schuhmeier.  Nach 
der  Versammlung  fand  eine  Demonstration  vor  der  Wohnung  des  „Landes- 
alkoholikers" Schneider  statt. 

K  ö  r  1)  e  r  vermochte  übrigens  seine  Nachgiebigkeit  gegenüber  den 
Christlichsozialen  nicht  zu  retten.  Arn  30.  Dezember  mußte  er  zurück- 
treten, weil  die  Thronfolgerchque  empört  war,  daß  er  sich  weigerte,  gegen 
die  Los-VOn-Rom-Bewegung  die  Gerichte  zu  mobilisieren. 


74  Klerikalisnuis   und   Schule. 

mächtigeren  Feinden  fertig  geworden,  als  die  Leute  sind,  die  heute 
für  eine  Weile  in  Niederösterreich  herrschen.  Wir  können  uns 
wehren.  Wer  aber  wehrlos  ist,  wen  wir  nicht  schützen  können,  das 
sind  die  Massen  der  Kinder  des  Volkes,  die  preisgegeben  sind  ihren 
Feinden.  Ich  habe  vor  kurzem  den  Brief  eines  Arbeiters  erhalten. 
Der  Arbeiter  schrieb:  Was  haben  wir  Arbeiter  anderes  als  unsere 
Arbeitskraft?  Aber  der  Wert  unserer  Arbeitskraft  hängt  ab  von 
der  Hand  wie  vom  Hirn,  und  so  greift  man  an  unser  einziges 
Vermögen,  indem  man  auf  unser  Hirn  schlagen 
will.  Man  greift  auf  das,  was  einzig  den  Fortschritt  der  Arbeiter- 
schaft in  der  Zukunft  ermöglicht. 

Darum  ist  dieses  Attentat  auf  die  Schule  um  so  gefährlicher,  als 
es  zuletzt  darauf  hinausläuft,  daß  die  ganze  Verwaltung  der  Schule 
in  die  Willkür,  in  die  Diktatur  einer  kleinen  Clique,  die  heute  im 
Lande  und  in  der  Gemeinde  herrscht,  gegeben  wird.  Darin  liegt  die 
Perfidie  und  die  Gefahr  dieses  Planes  der  Pfaffenherrschaft,  daß 
sie  die  Verwaltung  der  Schule  in  die  Hände  einer  rücksichtslosen 
Gesellschaft  legt,  die  gewöhnt  ist,  mit  den  gemeinsten  Mitteln  des 
Gesinnungsdruckes  und  der  Inquisition  zu  herrschen,  die  ihre 
Beamten  und  ihre  Lehrer  mißbraucht  und  sie  zu  elenden,  ge- 
drückten Werkzeugen  ihrer  Macht  herabwürdigt,  daß  die  Ver- 
waltung der  Schule  Leuten  überlassen  wird,  die  vor  jeder  Gewalt 
kriechen,  die  aber  keinen  Respekt  haben  vor  dem  einzigen,  was 
Achtung  einflößt,  vor  dem  freien  Willen  des  Mannes,  vor  der 
Persönlichkeit  des  Menschen.  Leuten,  die  in  bewußter,  niederträch- 
tiger Absicht  Mann  für  Mann  und  Seele  für  Seele  korrumpieren  und 
erniedrigen,  bis  nichts  mehr  da  ist.  als  wehrlos  gebrochene  Leute 
(lebhafter  Beifall,  Pfuirufe),  bis  diejenigen,  die  zum  wichtig- 
sten und  höchsten  Amte  berufen  sind,  zu  dem  Amte, 
die  Kinder,  das  ist  die  Zukunft  der  Menschen,  zu  bilden,  erbärm- 
lich am  Boden  kriechen,  bis  ihnen  das  Rückgrat 
gebrochen  ist  und  ihnen  alles  weggenommen  ist. 
was  den  Wert  des  Menschen  ausmacht,  wie  sie  ja 
heute  schon  daran  sind,  die  Lehrer  und  Beamten  zu  drangsalieren, 
bis  hinunter  zu  den  Massen  der  Arbeiter,  die  im  Dienste  der  Kom- 
mune und  des  Landes  stehen,  niederträchtigsten  Gesinnungsterro- 
rismus zu  treiben. 

Aber  vergessen  wir  über  den  Schuldigen  die  Mit- 
schuldigen nicht,  mitschuldig  in  dem  Grade,  daß  man  sie 
fürwahr  die  Hauptschuldigen  nennen  möchte.  Solche  Gesetze 
können  nicht  gemacht  werden,  wenn  die  Regierung  nicht  will,  eine 
Regierung,  die  stark  genug  ist,  in  Innsbruck  den  Bürgermord*)  nicht 
nur  geschehen  zu  lassen,  sondern  ihn  geradezu  anzustiften:  eine 
Regierung,  die   stark   genug  ist,   um   dort  ihren  frevelhaften   und 

*)  Am  3.  November  1904  wurde  die  italienische  Rechtsfakultät  in  dem 
Innsbrucker  Vorort  W  i  1 1  e  n  eröffnet,  abends  kam  es  zu  einem  Kampfe 
zwischen  deutschnationalen  und  italienischen  Studenten,  es  wurde  ge- 
schossen, die  Fakultät  gestürmt,  Militär  schritt  ein  und  tötete  einen 
Demonstranten. 


Gegen  die  klerikalen  Scmilvefderber,  T8 

törichten  Willen  um  den  Preis  von  Menschenleben  durchzusetzen, 
obwohl  dort  in  Innsbruck  der  einzige  Punkt  ist,  über  den  die  Natio- 
nen des  Landes  des  Sprachenstrcites  einig  sind,  liberal!  streiten 
in  Osterreich  die  Nationen  um  die  Schule.  Aber  in  Österreich  sind 
Deutsche  und  Italiener  einige  darüber,  daß  sie  beide  in  Innsbruck 
die  italienische  Universität  nicht  wollen.  Und  eine  vernünftige 
Regierung  wäre  glücklich,  daß  sie  einig  sind.  Aber  nein,  (ierade 
als  ob  dieser  Körber  von  einem  boshaften  Teufel  besessen  wäre. 
mußte  mit  frevelhafter  Hand  dieses  Streitobjekt  hingesetzt  werden. 
Und  so  ist  das  de  wissen  dieser  Regierung  mit  dem 
15  1  utc,  das  in  Innsbruck  geflossen  ist,  belastet. 
Aber  diese  starke  Regierung,  die  alles  vermag,  die  es  sogar  ver- 
mag, sich  dem  gesunden  Menschenverstand  und  dem  ausgesproche- 
nen Willen  des  Volkes  entgegenzusetzen,  diese  Regierung  läßt  in 
Niederösterreich,  ohne  daß  sie  den  Mund  aufmachen  würde,  ein 
Gesetz  zustande  kommen,  von  dem  sie  überzeugt  sein  muß.  daß 
es  dem  Interesse  der  Bevölkerung  und  der  Kultur  nicht  nur,  son- 
dern auch  dem  Interesse  des  Staates  entgegengesetzt  ist.  Diese 
Regierung,  die  in  Innsbruck  soviel  Courage  hat,  ist 
in  Wien  so  feig,  und  die  an  der  Spitze  stehen,  die  Herren 
Körber  und  Hartel*),  sie  haben  kein  Wort  des  Einspruches  gegen 
diese  Maßregel  gehabt.  Ja,  sie  haben  nicht  einmal  den  Mut  der 
Zustimmung.  Denn  ob  das  Gesetz  sanktioniert  wird,  das  soll  nach 
dem  Willen  des  Herrn  v.  Körber  das  Schacherobjekt  für 
Monate  hinaus  bilden. 

Von  Seiner  Exzellenz  dem  Statthalter**)  von  Niederöster- 
reich (Gelächter)  spreche  ich  nicht.  Wozu  soll  man  von  dem  armen 
Herrn  sprechen,  der  eine  so  traurige  Rolle  spielt.  Aber  für  uns 
steht  die  Sache  so:  Wenn  es  eine  Tatsache  ist,  daß  sich  die  Regie- 
rung der  Macht  des  Pfaffentums  in  Österreich,  der  Macht  der  reak- 
tionärsten Elemente,  die  heute  schon  besteht  und  von  der  man  sich 
für  die  Zukunft  noch  mehr  verspricht,  wenn  nämlich  der  Patron 
des  Katholischen  Schulvereines***)  der  Patron  von  ganz  Österreich 
geworden  sein  wird,  blind  unterwirft,  so  ist  es  die  Aufgabe  der 
Bevölkerung,  die  einsieht,  daß  hier  eine  Gefahr  vorliegt,  dieser 
Macht,  diesem  Willen  den  Ausdruck  des  anderen  Willens  entgegen- 
zusetzen. Obwohl  das  Bürgertum  in  weitem  Umfang  weiß,  daß  das 
eine  Gefahr  ist  —  ich  spreche  nicht  von  denen,  die  so  im  Banne 
der  christlichsozialen  Lügen  sind,  daß  sie  das  Denken  überhaupt 
verlernt  haben  -—,  so  können  wir  auf  eine  Machtentfaltung  dieser 
bürgerlichen  Elemente  nicht  rechnen,  weil  diese  Leute  sich  mit  der 
christlichsozialen  Partei,  mit  der  sie  Geschäfte  machen,  von  der 
sie  Ämter  kriegen,  vertragen,  und  weil  sie  schließlich  auch  ihre 
Ruhe  haben  wollen.  Denn  das  Bürgertum  kann  alles,  nur  kämpfen 
kann  es  nicht.  Dazu  ist  es  längst  schon  zu  bequem  geworden.  Wenn 

*)   Der  Unterrichtsminister  Professor  Ritter  v.  Hartel. 

(*)  Das  war  der  nachmalige  Ministerpräsident  B  i  e  n  e  r  t  h. 

*)  Der  Thronfolger  Franz  Fe  r  di  n  a  n  d,  der  im  April  1901  das  Pro- 
tektorat  über  den    Katholischen  S  c  h  u  1  v  e  r  e  i  n   übernommen   hatte. 


76  Klerikalismus  und  Schule. 


es  jemand  gibt,  der  ihnen  Widerstand  entgegensetzen  kann,  so  ist 
es  ganz  allein  die  Arbeiterklasse.  Und  sie  ist  auch  die 
nächste  dazu,  weil  sie  am  schwersten  dadurch  betroffen  wird 
und  weil  sie  am  wenigsten  der  Verwüstung  entrinnen  kann,  ob  der 
Angriff  nun  auf  das  Gehirn  der  Arbeiter  oder  auf  ihre  Taschen  geht. 

Symbolisch  und  in  einem  plastischen  Bilde  drückt  sich  das  Ver- 
hältnis heute  schon  im  niederösterreichischen  Landtag  aus.  Es  zeigt 
sich,  daß  die  Minorität  wohl  ab  und  zu  mit  leiser  Stimme  versucht, 
einige  Einwendungen  geltend  zu  machen,  daß  aber  einen  mächtigen, 
entscheidenden,  wirksamen  und  unbeugsamen  Protest  dort  nur  der 
einzige  Sozialdemokrat  vorzubringen  weiß,  der  in  diesem  Landtag 
sitzt.  (Hoch  Seitz!)  Und  wir  sind  es  dem  Genossen  Seitz  schuldig, 
der  dort  eine  Aufgabe  zu  verrichten  hat,  von  deren  Schwierigkeit 
sich  viele  von  Ihnen  vielleicht  noch  immer  nicht  den  gehörigen 
Begriff  machen,  der  es  über  sicn  bringt,  nicht  nur  Arbeit  zu  leisten, 
sondern  allein  in  dieser  Gesellschaft  zu  sein,  was  an  sich  schon  für 
jeden  ehrliebenden  Menschen  ein  Opfer  ist,  der  nicht  nur  sein 
Wissen  und  seine  Energie,  sondern  auch  seinen  Mut  dort  einzu- 
setzen weiß,  wir  sind  es  ihm  schuldig,  ihm  den  herzlichsten, 
wohlverdienten  Dank  der  arbeitenden  Bevölke- 
rung Wiens  auszusprechen.  (Stürmische,  sich  immer 
wiederholende  Rufe:  Hoch  Seitz!)  Zu  den  Dingen,  die  am 
schlimmsten  aussehen,  die  aber  nicht  das  Schlimmste  sind, 
gehört  die  rüde  und  ungebildete  gemeine  Diskussionsmethode 
dieser  Leute.  Für  einen  Menschen,  der  gewohnt  ist,  mit  „un- 
gebildeten" Arbeitern  zu  verkehren,  ist  es  geradezu  ein  un- 
erhörtes Opfer,  mit  diesem  ungebildeten  Gesindel 
verkehren  zu  müssen.  Wenn  dieser  Herr  Schneider 
(laute  Pfuirufe)  in  seinem  chronischen  Alkoholismus  eine  Angriffs- 
bewegung macht,  so  hat  gerade  er  die  meisten  Milderungsgründe 
für  sich.  Denn  würde  er  wegen  dieser  niederträchtigen  Tat  vor 
Gericht  kommen  können,  so  würde  er  ja  mit  gutem  Rechte  auf  Un- 
zurechnungsfähigkeit plädieren  können.  Allerdings  muß  man  ge- 
stehen, unter  diesen  Umständen  bekommt  man  wirklich  das  Be- 
dürfnis nach  einem  alkoholfreien  Landtag.  Das  wäre  höchst  nütz- 
lich. Aber  ich  fürchte,  daß  das  nur  die  Folge  hätte,  daß  die  Herren 
schon  angesoffen  hinkämen.  (Heiterkeit  und  Beifall.) 

An  demselben  Tage,  an  dem  dieser  Schneider  gegen  Abgeord- 
neten Seitz  versucht  hat,  handgreiflich  zu  werden,  ist  in  der  fran- 
zösischen Kammer  der  Kriegsminister  von  einem  Parteigenossen 
des  Herrn  Schneider  tätlich  überfallen*)  und  in  feigster  Weise  miß- 
handelt worden.  Nun  kann  man  meinen,  was  in  der  französischen 
Kammer  geschieht,  kann  auch  im  niederösterreichischen  Landtag 
passieren.  Denn  der  Landtag  ist  nicht  so  ehrgeizig,  daß  er  nobler 

*)  Der  Abgeordnete  Syveton  hatte  den  66jährigen  Kriegsminister  Gene- 
ral Andre  von  hinten  überfallen  und  geohrfeigt,  weil  er  die  klerikalen 
Machenschaften  an  der  Offiziersschule  in  Saint  Cyr  nicht  dulden  wollte, 
weshalb  der  monarchistisch-klerikale  „Figaro"  einen  Preßfeldzug  mit  an- 
geblichen Enthüllungen  eingeleitet  hatte. 


Gegen  die  klerikalen  Schitlverderber.  77 


sein  will  als  die  französische  Kammer.  (Heiterkeit.)  Aber  es  ist 
doch  ein  gewaltiger  Unterschied.  Vor  allem  ist  der  Angriff  in  Paris 
VOI1  einem  Mitglied  der  Minorität  gegen  ein  Mitglied  der  Regierung 
begangen  worden,  während  hier  die  ganze  ungeheure  Majorität  sich 
auf  den  einen  Mann  stürzte.  (Pfui!)  Also  schon  moralisch  ein  ge- 
waltiger Unterschied.  Dann  aber  wurde  die  feige  Tat  des  Syvcton 
in  Paris  von  der  ganzen  Kammer  verurteilt,  während  wir  hier  ge- 
sehen haben,  daß  der  Herr  Landinarschal  1*)  (stürmische  Pfui- 
rufe), der,  mit  der  doppelten  Würde  eines  Würdenträgers  des 
Staates  und  der  Kirche  betraut,  eine  doppelte  Verantwortung 
fühlen  sollte,  ein  feiges  Werkzeug  dieser  Leute  ist.  Dieser 
Mann  hat  ja  zunächst  denjenigen  attackiert,  auf  den  das  Attentat 
verübt  wurde  und  Seitz  hat  erst  Inkriminationen  erheben  müssen, 
um  zu  erzwingen,  daß  er  denjenigen,  der  sich  so  rüpelhaft  be- 
nommen hat,  auch  diszipliniert.  Ich  begreife  vollständig,  daß  Ge- 
nosse Seitz,  der  die  steigende  Unbändigkeit  dieser  Herren  alle 
Tage  sieht,  sich  sagen  mußte:  Diesen  Leuten  ist  alles  zuzutrauen, 
und  ich  bin  gezwungen,  wenn  ich  in  den  Landtag  gehe,  mich  zu 
rüsten,  wie  ich  mich  rüsten  muß,  wenn  ich  durch  den  Bakonyer- 
wald  gehe,  wenn  auch  der  Revolver  keine  parlamentarische  Waffe 
sein  mag.  Aber  ich  hoffe,  daß  das  Exempel  vom  Freitag,  obwohl 
es  mit  der  Ausschließung  des  Genossen  Seitz  geendet  hat,  genügen 
wird,  um  den  Herren  für  immer  die  Lust  zu  solchen  Künsten  zu 
vertreiben,  und  daß  der  Revolver  des  Abgeordneten  Seitz  um  so 
eher  überflüssig  wird,  je  mehr  die  Arbeiterschaft  zeigt,  daß  Seitz 
nicht  der  Vertreter  einen  kleinen  Gruppe  von  Leuten  ist,  sondern 
daß  er  im  Landtag  steht  als  Wortführer  und  Vertrauensmann  der 
gesamten  arbeitenden  Bevölkerung.  (Stürmischer  Beifall.) 

Die  Versammlung  ist  die  Einleitung  eines  Kampfes, 
sie  sei  aber  zugleich  eine  Warnung  und,  sagen  wir  es  nur,  eine 
Drohung  an  die  Regierung  Körber.  Unser  Protest 
richtet  sich  gegen  die  Christlichsozialen,  aber  an  denen  ist  nichts 
zu  bessern.  Sie  sind  verkauft  mit  Haut  und  Haaren,  sie  sind  ver- 
raten und  sie  sind  Verräter.  Unser  Kampf  richtet  sich  nicht  gegen 
sie  in  erster  Linie,  sondern  gegen  die  Regierung,  die  sehr  wohl  weiß, 
welches  Verbrechen  an  dem  Volke  verübt  werden  soll  und  die  die 
Verantwortung  trifft,  wenn  das  Verbrechen  begangen  wird.  Diese 
Regierung,  die  das  ganz  unfertige  absurde  Vereinigungsprojekt  ge- 
nehmigt, weil  der  Größenwahn  des  Lueger  es  will,  diese  Regierung, 
die  duldet,  daß  Steuer  auf  Steuer  auf  die  Bevölkerung  gewälzt  wird, 
gerade  zu  einer  Zeit  einer  ungeheuren  Verteuerung  der  Lebens- 
mittel, die  jede  Schändlichkeit  der  Christlichsozialen  unterstützt 
hat,  will  jetzt  gestatten,  daß  nun  auch  die  Jugend  des  Volkes  an 
die  erbittertsten  Feinde  dieser  Jugend  ausgeliefert  werde.  Wir 
sehen  da  wieder,  wie  Körber  in  seiner  kleinlichen  Schacherpolitik, 
um  sich  die  Gunst  von  den  paar  Herren  für  ein  paar  Wochen  zu 
sichern,  Stück  für  Stück  die  teuersten  Güter  des 
Volkes  verkauft.  Gegen  diese  verderbliche  Politik  der  Regie- 

')   her   Prälat   Sc  h  m  Ol  k. 


78  Klerikalismus   und   Schule. 


rung  ist  unser  Protest  in  allererster  Linie  gerichtet,  gegen  sie  wird 
die  Arbeiterschaft  den  Kampf  zu  führen  haben,  und  sie  wird  ihn 
führen.   (Stürmischer,  andauernder  Beifall.) 

Der  Fall  Wahrmund. 

Aus  der  Budgetrede  vom  3.  Juni    190  8*). 

Wenn  ich  nun  auf  den  Fall  Wahrmund  übergehe  und  von  dem 
Sachlichen  und  Zufälligen  dieser  Sache  absehe,  so  stellt  sich  für 
mich  das  Tatsächliche  dieses  Falles  so,  daß  ein  Hochschullehrer 
einen  Vortrag  gehalten  hat  und  daß,  weil  dieser  Vortrag  insbeson- 
dere den  Häuptern  der  klerikalen  Parteien  nicht  genehm  war, 
dieser  Professor  seine  Vorlesungen  einstellen  mußte.  Wir  haben 
doch  einen  liberalen  Unterrichtsminister,  nicht  wahr?  (Heiterkeit.) 
Und  es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  man  Herrn  Dr.  Marchet  für  einen 
Mann  gehalten  hat,  der  mit  ehrlicher  Überzeugung  in  das  Mini- 
sterium eingetreten  ist  und  den  redlichen  Wunsch  hatte,  wenn 
schon  nicht  das  Gute  zu  tun,  so  doch  nach  altliberalem 
Muster  wenigstens  einiges  von  dem  Schlechten 
zu  verhüten.  Dieser  Herr  Dr.  Marchet  ist  heute  in  keiner 
beneidenswerten  Verfassung.  Die  Politik  der  jetzigen  Regierung 
hat  ihn  dahin  gebracht,  daß  das  einzige,  was  er  besaß,  das  Ver- 
trauen zu  seiner  Geradheit  und  Redlichkeit,  zu 
der  Sicherheit,  mit  der  er  seiner  Überzeugung  Ausdruck  gibt, 
wesentlich  vermindert  worden  ist.  Der  sozialdemokra- 
tischen Partei  sind  die  Universitätsfragen  an  sich,  so  wie  sie  heute 
auftreten,  durchaus  nicht  Dinge  allerersten  Ranges.  Der  Krieg  der 


*)  Als  im  Jahre  1907  die  Regierung  für  den  unpopulären  Ausgleich  mit 
Ungarn  eine  Mehrheit  brauchte,  nahm  Beck  eine  Parlamentarisierung  der 
Regierung  vor.  Die  Christlichsozialen  G  e  ß  m  a  n  n  und  Ebenhoch,  der 
deutsche  Agrarier  P  e  s  c  h  k  a,  der  tschechische  Agrarier  Praschek, 
der  Jungtscheche  Fiedler  und  der  polnische  Schlachziz  Abraham  o- 
wiez  traten  in  die  Regierung  ein.  Um  die  Christlichsozialen,  die  sich 
immer  als  fanatische  Feinde  jedes  Ausgleiches  mit  Ungarn  gebärdet  hatten 
—  Lueger  hatte  das  Wort  von  den  Judäomagyaren  erfunden!  — ,  zu 
gewinnen,  machte  Beck  dem  Bürgermeister  Lueger  einen  Besuch  und  ließ 
ihn  sogar  durch  den  kaiserlichen  Kabinettsdirektor  S  c  h  i  e  ß  1  bearbeiten. 
Außerdem  war  übrigens  der  Deutschfreiheitliche  Professor  Marchet  noch 
von  früher  Unterrichtsminister.  Als  die  Christlichsozialen  in  die  Regierung 
eintraten,  gab  Lueger  auf  dem  Katholikentag  die  Parole  aus,  nachdem  die 
Volksschule  erobert  sei.  gelte  es  neben  der  Mittelschule  auch  die 
Hochschulen  zu  erobern,  diese  „Brutstätten  der  Reli- 
gionslosigkeit  und   Vaterlandslosigkei  t". 

Die  Wirkung  zeigte  sich  wirklich  bald.  Am  18.  Jänner  1908  hielt 
der  Professor  des  Kirchenrechtes  an  der  Innsbrucker  Universität,  Dr.  Lud- 
wig Wahrmund,  als  Antwort  auf  den  vom  Papst  Pius  X.  eingeleiteten 
Kampf  gegen  den  „M  odernismu  s",  in  einer  Versammlung  des  Vereines 
..Freie  Schule"  vor  einem  zuni  größten  Teil  aus  Arbeitern  bestehenden 
Publikum  einen  Vortrag  über  „Katholische  Weltanschauung 
und  freie   Wissenschaft".   Als   der   Vortrag  in   München   als   Bro- 


hn    Fall  Wahrmund.  7-' 

Studenten  um  Schläger  oder  Nichtachläger  geht  uns  nicht  nahe; 

auch  die  Präge,  Qb  kanonisches  Recht  in  dieser  oder  jener  Fasson 
vorgetragen  werde,  ist  für  uns  an  sich  nicht  sehr  wichtig,  wohl 
aber  ist  der  Fall  für  uns  ein  Paradigma,  ein  laut  sprechen- 
des Symptom.  Wenn  man  es  schon  wagt,  im  Lichte  der 
Öffentlichkeit  einen  Hochschullehrer,  dessen  Sicherheit  unter 
Garantie  der  Vertreter  des  deutschen  Bürgertums  gestellt  worden 
ist,  in  dieser  Weise  zu  behandeln:  wie  muß  es  dann  erst  in  den 
Tausenden  von  Fällen  Rehen,  in  denen  nicht  auf  dem  Theater  der 
Öffentlichkeit,  sondern  im  Zwielicht  der  Bezirks-  und 
Lau  de  sschulräte  entschieden  wird,  wenn  es  sich  nicht 
um  Hochschullehrer,  sondern  um  die  wirklichen  Lehrer 
des  Volkes  handelt,  wie  muß  es  dann  erst  mit  der  Unab- 
hängigkeit des  Denkens,  mit  der  Freiheit  der  Lebensführung  jener 
Zehntausende  von  Lehrern  aussehen,  denen  die  Arbeiterschaft  ihre 
Kinder  anvertraut?  Schon  aus  diesem  Grunde  allein  nimmt  die 
sozialdemokratische  Partei  an  dem  Fall  Wahrmund  lebhaften  An- 
teil, trotzdem  es  ihr  wirklich  fernliegt,  den  großen  wirtschaftlichen 
und  politischen  Kampf  der  Arbeiterschaft  auf  den  Kampf  gegen 
den  Klerikalismus  abzulenken.  Freilich  hat  das  eine  andere  Be- 
deutung, als  wenn  Dr.  Chiari*)  namens  seiner  Partei  erklärt,  er 
wünsche 

keinen  Kulturkampf 

zu  führen.  Eine  solche  Erklärung  aus  dem  Munde  eines  Deutsch- 
liberalen weckt  die  Erinnerung  an  den  Kulturkampf  in  Deutsch- 
land, an  den  Kampf  gegen  den  Katholizismus  mit  Hilfe  von  Aus- 
nahmsgesetzen. Aber  gegen  diese  Art  von  Kulturkampf  haben  nicht 

schüre  erschien,  setzten  die  Klerikalen  durch,  daß  diese,  offenbar  im  Auf- 
trag des  Justizministeriums,  wegen  Beleidigung  einer  Religionsgenossen- 
schaft konfisziert  wurde.  Außerdem  verlangten  sie  von  der  Regierung  zum 
..Schutz  der  katholischen  Bevölkerung"  eine  Maßregelung  Wahrmunds  und 
seine  Versetzung  in  den  Anklagezustand.  Gleichzeitig  wurden  in  allen 
Tiroler  Kirchen  die  Bauern  gegen  Wahrmund  gehetzt.  Das  paßte  allerdings 
nicht  in  Becks  Plan  eines  bürgerlichen  Blocks,  und  auch  die  Deutsch- 
freiheitlichen  hatten  keine  rechte  Lust,  sich  des  Professors  Wahrmund  an- 
zunehmen. Als  aber  am  16.  Mai  1908  von  dem  christlichsozialen  Abgeord- 
neten Hagen  hofer  geführte  klerikale  Bauern  in  die  Qrazer  Universität 
eindrangen  und  man  am  1.  Juni  Professor  Wahrmund  an  der  Wiederauf- 
nahme seiner  Vorlesungen  hindern  wollte  —  die  Regierung  hatte  einfach 
alle  Vorlesungen  an  der  Innsbrucker  Universität  eingestellt  — ,  traten  die 
Studenten  aller  österreichischen  Hochschulen  in  den  Streik.  Der 
streik  endete  am  22.  Juni  damit,  daß  Wahrmund  die  Innsbrticker  Universi- 
tät verlassen  mußte,  aber  dafür  zum  Professor  an  der  Prager  deutschen 
Universität  ernannt  wurde.  In  der  Budgetdebatte  kam  Adler,  nachdem 
er  von  verschiedenen  anderen  Fragen  gesprochen  hatte,  auch  auf  den  Fall 
Wahrmund  zu  sprechen.  Die  eigentliche  Hochschuldebatte  kam  allerdings 
erst   nach   Abschluß   der   Budgetdebatte. 

)  Dr.  Karl  Chiari,  Fabrikant  in  Mährisch-Schönbcrg,  dort  auch  zum 
Abgeordneten  gewählt,  Führer  der  Deutschen  Volkspartei.  Seiner  ganzen 
Politik  nach    war  er  ein   Liberaler. 


80  Klerikalismus  und  Schule. 

nur  die  Sozialdemokraten  Deutschlands,  sondern  auch  die  öster- 
reichischen Sozialdemokraten  auf  das  kräftigste  protestiert.  (Leb- 
hafter Beifall  bei  den  Sozialdemokraten.)  Wir  wünschen 
nicht,  daß  gegen  irgendwelche  Meinung  mit  Aus- 
nahmsgesetzen verfahren  werde,  und  möge  diese 
Meinung  noch  so  sehr  mit  unserer  eigenen  Weltanschauung  im 
Widerspruch  stehen.  Wenn  aber  Dr.  Chiari  erklärt,  er  wünsche 
keinen  Kulturkampf,  so  bedeute  das  in  Wirklichkeit,  er  wolle 
für  die  durch  den  klerikalen  Vorstoß  wirklich 
bedrohte  Kultur  nicht  kämpfen.  (Lebhafter  Beifall  und 
Händeklatschen  bei  den  Sozialdemokraten.) 

Bei  der  Arbeiterschaft  aber  steht  die  Sache  wesentlich  anders. 
Ich  glaube  Ihnen,  Ihre  Wähler  sind  ja  sehr  brave  Leute,  aber  sie 
wollen  nicht  lange  mit  solchen  Dingen  behelligt  sein.  Das  soll  ge- 
schwind erledigt  werden.  Ich  glaube  es  Ihnen  schon,  daß  in  Ihrer 
Wählerschaft  alle  diese  Fragen  von  Lern-  und  Lehrfreiheit  und  von 
der  Freiheit  der  Überzeugung  vielleicht  nicht  allzu  lange  einen 
besonderen  Widerhall  finden.  Aber  in  der  Arbeiterschaft  liegen  die 
Verhältnisse  anders.  Ich  lade  jeden  von  Ihnen  ein,  mit  uns  in  eine 
Versammlung  zu  gehen,  in  Böhmen  wie  in  den  Alpenländern.  Wenn 
ich  in  einer  Arbeiterversammlung  von  der  politischen  Unter- 
drückung des  Proletariats  spreche,  werde  ich  aufmerksam  ge- 
spannte, verständnisvolle  Zuhörer  finden.  Wenn  ich  dann  weiter 
von  der  wirtschaftlichen  Ausbeutung  des  Proletariats,  von  dem 
großen  Elend,  das  noch  auf  den  breiten  Schichten  lastet,  und  von 
der  Schwierigkeit  ihres  Kampfes  sprechen  werde,  werden  die  Zu- 
hörer mit  mir  gehen  und  mich  verstehen.  Und  wenn  ich  zum  Schluß 
von  der  geistigen  Unterdrückung  durch  die  Herr- 
schaftsorganisation  der  Kirche  sprechen  werde, 
dann  wird  dies  bei  den  Arbeitern  —  gegen  meinen  Willen  vielleicht 
—  gerade  den  größten  Widerhall  und  den  begeistert- 
sten Zuspruch  finden.  (Lebhafte  Zustimmung  bei  den  Sozial- 
demokraten.) Das  ist  eine  Tatsache,  die  —  ich  erkläre  es  Ihnen 
offen  —  uns  in  unserer  Kampftaktik  und  Kampfmethode  auch  bei 
der  organisatorischen  Arbeit  durchaus  nicht  erwünscht,  sondern 
sehr  häufig  hinderlich  ist.  Es  kommt  vor,  daß  irgendein  sogenannter 
freireligiöser  oder  freidenkerischer  Schwätzer  nur  darum,  weil  er 
sich  gegen  die  kirchliche  Autorität,  gegen  die  Herrschsucht  der 
Kirche  wendet,  weit  leichter  das  Gehör  der  Massen  findet  als 
jemand,  der  vom  wirtschaftlichen  Standpunkt  die  Dinge  gründlich 
untersucht.  So  sind  die  Dinge.  Und  wenn  es  so  ist,  so  stehen  Sie 
vor  einer  ungemein  wichtigen  Tatsache,  die  auch  Sie  erkennen  und 
politisch  werten  müßten.  Sie  können  ja  in  Ihren  Schulen  die  Lehrer 
preisgeben  oder  sich  mit  zweideutigen  Redensarten  über  alles  hin- 
weghelfen, aber  Sie  dürfen  nicht  glauben,  daß  das  heimlich  ge- 
schehen kann  und  daß  die  Masse  dieses  Spiel  nicht  durchschaut. 
(Lebhafter  Beifall  bei  den  Sozialdemokraten.) 

Prinz  Alois  Liechtenstein  hat  vorgestern  hier  eine  sehr 
hübsche  Rede  gehalten;  er  hat  sich  an  die  Deutschliberalen  in  wirk- 


Der  Fäll  Wahrmund.  w 


lieh   rührenden   und   sehr   beweglichen    Worten    gewendet    und   d:\ 
deutsche  Volk  seines  erlauchten  Protektorats  versichert.  (Lebhafte 
Heiterkeit  und  Sehr  gut!  bei  den  Sozialdemokraten.)  Aber  wer  die 
Dinge  ZU  beobachten  versteht,  mußte  den  Lindruck  haben,  daß 

der  Fuchs  den  Gänsen  predigt. 

(Lebhafte  Heiterkeit.)  Daß  Prinz  Liechtenstein  ein  Luchs  ist,  das 
ist  ja  sicher  (lebhafte  Heiterkeit),  ob  er  aber  das  richtige  Publikum 
gefunden  hat  (erneute  lebhafte  Heiterkeit),  das  zu  entscheiden  ist 
nicht  meine  Sache.  Sicher  ist  aber  eines,  daß  die  Teilnahme  der 
deutschfreiheitlichen  Parteien  —  die  Erlaubnis,  sich  so  zu  nennen, 
haben  sie  ja  noch  (Heiterkeit)  —  an  der  Regierung  Beck  nichts 
anderes  bedeutet  als  die  Erlaubnis,  für  die  Regierung  das  1  i  b  e- 
rale  Feigenblatt  beizusteuern,  welches  Dr.  Marchet 
heißt.  Mehr  ist  der  Minister  Marchet  für  diese  in  ihrem  ganzen 
Wesen  klerikale  Regierung  nicht.  (Lebhafter  Beifall 
bei  den  Sozialdemokraten.)  Prinz  Liechtenstein,  der  ein  so  witziger 
Redner  ist . . . 

Resel:  Besonders,  wenn  er's  aufgeschrieben  hat! 

Schuhmeier:  Und  wenn  er  zehn  Jahre  darüber  nachgedacht  hat. 
(Heiterkeit.) 

Bieiohlawek:  So  gescheit  wie  in  Ottakring  können  wir  nicht 
sein! 

Adler:  Herr  Landesausschuß,  Sie  belieben  offenbar  darauf  an- 
zuspielen, daß  Prinz  Liechtenstein  ursprünglich  aus  Ottakring  in 
die  politische  Karriere  gekommen  ist*).  (Lebhafte  Heiterkeit  und 
Sehr  gut!) 

Prinz  Liechtenstein  hat  gemeint,  daß  die  politischen  Differenzen 
zwischen  seiner  und  der  deutschfreiheitlichen  Partei  nicht  so  groß 
sind,  daß  diese  Parteien  nicht  prächtig  zusammengehen  könnten, 
und  daß  nur  die  Boshaftigkeit  der  „Neuen  Freien  Presse"  es  ist, 
welche  fortwährend  in  die  Friedenssuppe  hineinspuckt.  (Lebhafte 
Heiterkeit.)  Ich  kann  mich  zu  der  Höhe  einer  solchen  politischen 
Auffassung,  aufrichtig  gesagt,  nicht  aufschwingen.  Ich  habe  bis  jetzt 
immer  gemeint,  daß  zwischen  den  einzelnen  Schichten  der  Be- 
sitzenden je  nach  den  ökonomischen  Verhältnissen,  unter  denen  sie 
leben,  je  nach  ihrer  Geschichte,  daß  insbesondere  aber  zwischen 
den  ländlichen  und  städtischen  Besitzenden  wirklich  einschneidende 
Gegensätze  bestehen.  Man  hat  oft  das  gesamte  Bürgertum  als  eine 
reaktionäre  Masse**)  darzustellen  gesucht;  aber  wir  haben  doch 
immer  gesagt,  einig  in  dieser  reaktionären  Richtung  ist  das  gesamte 
Bürgertum  nur  dann,  wenn  es  gegen  die  organisierte  Arbeiterschaft 
geht.     Untereinander  sind    aber    die  einzelnen  Schichten    überaus 


*)  Liechtenstein,  der  ehemals  in  Hartberg  in  der  Steiermark  klerikaler 
Abgeordneter  war,  wurde  1891  als  Christlichsozialer  in  dem  Wiener  Wahl- 
bezirk Ottakring-fiernals  gegen  Kronawetter  gewählt. 

")  Siehe  auch  die  Anschauungen  Adlers  über  dieses  Schlagwort  von  der 
eineßreaktionärenMasse  in  den  früheren  Bänden  dieser  Schriften, 
namentlich  Bd.  VIII,  Seite  337,  348  ff.,  392  f.,  443. 

Adler.  Briefe.  XI.  Md.  <> 


82  Klerikalismus    und    Schule. 


differenziert  und  haben  vielfach  durchaus  gegensätzliche  Interessen. 
Wenn  Ihnen  daher  Prinz  Liechtenstein  diese  Lehre  von  der 
einigen,  unterschiedslosen  reaktionären  Masse 
beigebracht  hat  —  um  so  besser  für  uns.  Denn  wir  könnten  den 
Prozeß,  daß  die  deutschfreiheitlichen  Parteien  bei  jenen,  die  noch 
für  freiheitliche  Dinge  ihre  Kraft  einsetzen  wollen,  immer  mehr  an 
Respekt  einbüßen,  den  Prozeß,  daß  die  deutschfreiheitlichen  Par- 
teien bei  den  wirklich  freiheitlichen  Schichten  des  Bürgertums  ab- 
wirtschaften, gerade  sehr  ruhig  lächelnd,  ja  mit  einem  gewissen 
Hohn  betrachten.  Allerdings  wird  unsere  reine  Freude  dadurch 
etwas  getrübt,  daß  wir  uns  sagen  müssen:  So  stark  die  Sozial- 
demokratie immerhin  ist,  so  ist  sie  allein  doch  nicht  imstande,  in 
den  entscheidenden  Augenblicken  die  große  Masse  vor  rückschritt- 
lichen Einflüssen  zu  bewahren,  und  darum  lachen  wir  nicht,  sondern 
wir  trauern  über  den  schmählichen  Verrat,  als 
den  sich  die  ganze  Politik  der  deutschfreiheit- 
lichen Parteien  der  breitesten  Öffentlichkeit 
darstellt.  (Lebhafter  Beifall  und  Händeklatschen  bei  den  Sozial- 
demokraten.) Nicht  um  Professor  Wahrmund  handelt  es  sich.  Ein 
Wahrmund  mehr,  ein  Wahrmund  weniger;  dem  Wahrmund  wird 
nichts  geschehen;  aber  Ihre  Reputation  geht  dabei  flöten.  Dessen 
können  Sie  versichert  sein. 


Die  Subvention  des  Volksbildungsvereines,  8.i 


Terror  und  Gewissenszwang. 

Die  Subvention  des  Volksbildungs- 
vereines. 

Versammlung  im  M  u  s  i  k  v  e  r  e  i  n  s  s  a  a  1,  6.  Juli  189  6*). 

Es  gibt  nur  zwei  Wege:  Entweder  wir  überlassen  das  Präsidium 
den  Einberufern,  die  ehrliche,  nichtpolitische  Männer  sind,  nicht 
Liberale,  oder  wir  wollen  zeigen,  wer  kommt,  wenn  man  das 
Volk  von  Wien  ruft.  Ein  Kompromiß  erscheint  nicht  möglich. 

*)  Kaum  hatten  die  Christlichsozialen  ihre  Herrschaft  im  Wiener  Ge- 
meinderat  angetreten,  kaum  war  der  Platzhalter  Luegers,  Strobach,  am 
15.  Mai  1896  als  Bürgermeister  bestätigt  worden,  als  sie  schon  daran- 
gingen, dem  Klerus  den  Dank  für  seine  Hilfe  abzustatten  und  ihre  klerikale 
Gesinnung  öffentlich  zu  bekunden.  Am  26.  Juni  beschloß  der  Gemeinderat, 
die  Subvention  für  den  Volksbildungsverein,  die  vom  früheren  Gemeinde- 
rat mit  dem  ohnedies  geringen  Betrag  von  3200  Gulden  bewilligt  worden 
war,  auf  500  Gulden  herabzusetzen.  Dieser  Beschluß  erregte  in  der  nicht- 
klerikalen Öffentlichkeit  die  größte  Empörung  und  eine  Reihe  von  Pro- 
fessoren der  Wiener  Universität  berief  für  den  6.  Juli  in  den  großen  Musik- 
vereinssaal eine  öffentliche  Protestversammlung  ein.  Da  geschah  nun  das 
Merkwürdige,  daß  das  sogenannte  liberale  Bürgertum,  das  offenbar  in  der 
Sommerfrische  war,  durch  seine  Abwesenheit  glänzte,  die  überwiegende 
Mehrheit  der  Versammlung  aber  die  Arbeiter  bildeten.  Diese  verlangten 
daher,  daß  das  Präsidium  aus  Sozialdemokraten  zusammengesetzt  werde 
und  wehrten  sich  gegen  den  Vorschlag  der  Einberufer.  Arbeiter  und  Pro- 
fessoren in  das  Präsidium  zu  berufen.  Der  Direktor  der  Sternwarte.  Doktor 
B  r  z  e  z  i  n  a,  schlug  nun  eine  Kompromißliste  vor:  Professor  P  h  i  1  i  p  p  o- 
vich  für  die  Einberufer,  Jordan  für  die  Lehrer  und  Popp  für  die 
Arbeiter.  Hu  eher  sprach  sich  entschieden  dagegen  aus  und  beantragte 
Reumann,  Popp  und  Winarsky  als  Büro.    Da  griff  nun  Adler  ein. 

Hier  sei  noch  erwähnt,  daß  die  Gemeinde  dem  Volksbildungsverein 
schließlich  doch  die  unverkürzte  Subvention  auszahlen  mußte,  die  ja  der 
Gemeinderat  ursprünglich  beschlossen  hatte.  Der  Verein  klagte  nämlich 
die  Gemeinde  und  diese  wurde  vom  Landesgericht  verurteilt,  ihm  den  Rest 
auf  die  ihm  zugesicherte  Subvention,  das  ist  den  Betrag  von  2700  Guide?) 
samt  Zinsen  und  151  Gulden  Kosten,  zu  bezahlen.  Der  Vertreter  der  Ge- 
meinde hatte  zunächst  die  Berufung  angemeldet,  aber  der  Stadtrat  hatte 
keinen  Mut,  die  Öffentlichkeit  noch  einmal  herauszufordern,  und  beschloß, 
die  Berufung  nicht  auszuführen  und  so  wurde  nach  Ablauf  der  Berufungs- 
frist, am  26.  Oktober  1898,  das  Urteil  rechtskräftig  und  die  Gemeinde  mußte 
zahlen.  Siehe  über  die  Situation  in  Wien  beim  Beginn  der  christlich- 
sozialeil   Herrschaft  auch   Bund   X,  Seite   199,  Note. 

6* 


N4  Terror  und  Gewissenszwang. 

Wenn  die  Sozialdemokraten  in  der  Minorität  sind,  werden  sie  in 
Ruhe  und  Ordnung  hier  bleiben  und  das  Präsidium  der  Majorität 
überlassen.  Die  Einberufer  sind  von  uns  als  hochachtbare,  durch 
ihre  wissenschaftlichen  Arbeiten  bekannte  Männer  geschätzt;  nicht 
aus  Mißtrauen  gegen  sie  verlangen  wir  das  Präsidium,  sondern 
damit  auch  der  leiseste  Zweifel  ausgeschlossen  bleibe,  daß  unsere 
Partei  mit  einer  gegenwärtigen  oder  künftigen  Partei  eine  Allianz 
eingehen  könnte.  Die  Einberufer  verdienen  unseren  Dank,  daß  sie 
als  Professoren  es  gewagt  haben,  das  Streben  nach  Bildung  dort 
zu  suchen,  wo  allein  es  zu  finden  ist,  im  Volke  selbst;  trotzdem  be- 
harren wir  auf  unserem  Verlangen*). 

* 
Wir  Sozialdemokraten  können  so  ziemlich  mit  jedem  Wort  ein- 
verstanden sein,  das  die  Referenten  ausgesprochen  haben.  Wir 
unterscheiden  uns  nur  darin,  daß  wir  nicht  so  genügsam  sind;  wir 
wollen  nicht  leugnen,  daß  wir  auch  noch  andere  Absichten  haben. 
Wir  müssen  hervorheben,  daß  der  Volksbildungsverein  nicht  der 
erste  Verein  ist,  der  sich  mit  der  Volksbildung  beschäftigt.  Die 
erste  Tatsache  eines  Bewußtseins  der  Arbeiterschaft  in  Österreich 
fängt  an  mit  den  Arbeiterbildungsvereinen.  Der  Volksbildungsverein 
beklagt  mit  Recht,  daß  die  heutige  Majorität  des  Qemeinderates 
noch  um  2700  fl.  schlechter  ist  als  die  frühere  liberale  Majorität. 
Aber  wir  dürfen  nicht  vergessen,  daß  auch  unsere  Arbeiterbildungs- 
vereine eine  Leidensgeschichte  haben.  Sie  wurden  unterdrückt 
durch  hochwohlweise  Regierungen  (wir  hatten  ja  immer  weise  Re- 
gierungen), die  ihrer  Gründung  systematisch  Hemmnisse  in  den 
Weg  legten,  und  wenn  die  Vereine  glücklich  fertiggebracht  waren, 
flugs  wurden  sie  von  der  Regierung  unter  irgendwelchen  nichtigen 
Vorwänden  aufgelöst.  Das  geschieht  noch  heute  so  und  nur 
deshalb  nicht  so  zahlreich,  weil  in  den  Arbeiterbildungsvereinen 
nicht  nur  die  Arbeiter  etwas  gelernt  haben,  sondern  auch  die  Herren 
Bezirkshauptleute.  Was  war  gegenüber  dieser  fortwährenden  Be- 
hinderung des  Unterrichtes  und  der  Bildung  des  Volkes  die  Stel- 
lung der  Parteien?  Von  den  Klerikalen,  die  sich  heute  zum  Teil 
Antisemiten  heißen,  will  ich  gar  nicht  reden.  Wer  kann  von  ihnen 
verlangen,  daß  sie  sich  für  das  Lesen  und  Schreiben  echauffieren? 
Und  die  Liberalen?  Als  wir  den  Ausnahmszustand  hatten  und  zu 
hunderten  Malen  vor  das  Parlament  gebracht  wurden,  wro  gegen 
Recht  und  Gesetz  die  Volksbildung  unterdrückt  wurde,  haben  da 
die  Liberalen  jemals  nur  den  Mund  aufgemacht?  Darum  sage  ich: 
Die  Gelehrten,  die  die  wahre  Wissenschaft  wrollen,  haben  recht, 
daß  sie  zu  uns  gekommen  sind;  sie  werden  immer  mehr  zur  Ein- 
sicht kommen,    daß  die    e  i  n  z  i  g  e  n  L  e  u  t  e,    die    sich    vor  der 

*)  Auf  den  Vorschlag  des  Professors  Philippovich  wurden  die  von 
Hueber  Beantragten,  außerdem  aber  noch  Professor  Mach  in  das  Präsi- 
dium gewählt.  Dann  erstattete  der  Professor  der  Geologie  Dr.  Eduard 
R  e  y  e  r  das  Referat.  Nach  ihm  sprach  der  Dekan  der  medizinischen  Fakul- 
tät, Dr.  Max  G  r  u  b  e  r,  der  eine  Resolution  mit  den  Forderungen  für 
Hebung  des  Volksbildungswesens  beantragte.  In  der  Debatte  kam  dann 
Adler  zu  Wort. 


Die  Subvention  des   Volksbildungsvereines.  88 

Wissenschaft  nicht  zu  fürchten  haben,  die  Sozialdemokraten  sind. 
Es  muß  ausdrücklich  konstatiert  werden,  daß,  so  schlimm  die  Anti- 
semiten sind  und  wahrscheinlich  sein  werden,  solange  sie  die  Macht 
haben,  daß  ganz  in  demselben  Maße  und  nicht  um  ein  Haar  besser 
die  Liberalen  gewirtschaftet  haben.  Professor  Q  ruber  hat  ihnen 
eine  große  Reihe  von  guten  Wahrheiten  gesagt  und  eine  große  Zahl 
von  Forderungen  aufgestellt,  die  wir  alle  unterschreiben  können. 
Aber  es  kommt  uns  vor,  als  sei  es  nicht  präzise  zum  Ausdruck  ge- 
kommen, daß  dieselben  Verhältnisse,  dieselbe  Mechanik  der  Gesell- 
schaft, die  das  Volk  in  wirtschaftlicher  Abhängigkeit  erhalten,  die 
es  ihm  unmöglich  machen,  für  eine  vernünftige  Wohnung,  für  ver- 
nünftige Kleidung  und  Nahrung  zu  sorgen,  daß  es  ganz  dieselben 
Verhältnisse  sind,  die  auch  die  Bildung  des  Volkes  verkümmern. 
Ich  will  nicht  den  alten  Streit  wieder  aufrollen,  der  in  den  achtziger 
Jahren  so  heftig  unsere  Gemüter  bewegte,  ob  durch  Freiheit  zur 
Bildung  oder  durch  Bildung  zur  Freiheit.  Aber  das  ist  sicher,  wir 
kommen  zu  einer  Bildung  auch  nicht  anders,  als  wenn  wir  sie  uns 
bewußt  als  organisierte  Klasse  erkämpfen.  Ich  fürchte,  daß  in  dem- 
selben Moment,  wo  die  Bourgeoisie  die  Erfahrung  macht,  daß  der 
Arbeiter,  der  etwas  gelernt  hat,  nicht  nur  Astronomie  gelernt  hat. 
sondern  auch  die  Dinge  dieser  Erde,  daß  der  Wissende  auch  wirt- 
schaftlich widerstandsfähig  ist,  daß  in  demselben  Moment  es  ver- 
gebens ist,  von  den  herrschenden  Klassen  ausgiebige  Unterstützung 
der  Volksbildung  zu  verlangen.  Die  besitzenden  Klassen  wissen  es 
instinktiv,  daß,  wenn  sie  die  Volksbildung  ernsthaft  fördern,  sie  den 
Ast  absägen,  auf  dem  sie  sitzen.  Deshalb  wird  die  Volksbildung 
unsere  eigene  Arbeit  sein.  Die  Verdienste  des  Volksbildungsvereines 
in  allen  Ehren,  aber  ich  wrette,  daß  es  zahlreiche  Arbeiter  gibt,  die 
in  die  Bibliotheken  desselben  denn  doch  mit  einem  anderen  Gefühl 
eingetreten  sind  als  in  die  ihres  eigenen  Vereines.  Es  liegt  das  darin, 
daß  ihnen  da  ein  Geschenk  gemacht  wird  vielfach  von  Leuten, 
von  denen  man  sich  nicht  gern  etwas  möchte  schenken  lassen.  Wir 
nehmen  die  Bildung  für  das  Volk  in  Anspruch,  wie  wir  überhaupt 
das  Arbeitsprodukt  des  Volkes  für  das  ganze  Volk  in  Anspruch 
nehmen.  Wir  stehen  auf  dem  Standpunkt,  daß,  wie  der  Forscher 
für  die  Gesamtheit  arbeitet,  auch  die  Gesamtheit  für  ihn  arbeitet, 
und  daß  er  ohne  Gesamtheit  ebenso  unmöglich  ist  wie  diese  ohne 
ihn.  Wir  glauben  also,'  daß  die  Gesamtheit  des  arbeitenden  Volkes 
nicht  zu  bitten  hat,  sondern  als  ihr  gutes  Recht  in  Anspruch  nehmen 
kann  die  Früchte  der  gesamten  geistigen  und  physischen  Arbeit 
des  Volkes.  Alle  Forderungen,  die  Professor  Gruber  in  seiner 
Resolution  aufgestellt  hat,  finden  sich  in  unserem  Kommunalpro- 
gramm, nur  etwas  schärfer  zugespitzt.  Wir  haben  nichts  gegen  die 
Annahme  der  Resolution,  aber  wir  sind  verpflichtet,  hinzuzufügen, 
daß  das  nicht  alles  ist,  was  wir  verlangen.  —  Genosse  Dr.  Adler 
empfiehlt  folgenden  Zusatz  zur  Resolution: 

Die  Versammlung  erkennt  die  Forderungen  der  von  Professor  Gruber 
vorgesehlae,enen  Resolution,  so  dringend  sie  sind,  lediglich  als  •  erste 
Sehritte  zur   Erreichung  des  Zieles,   das   kein   anderes   sein   kann   als  die 


86  Terror  und  Gewissenszwang. 


Beseitigung  der  Monopolisierung  des  Wissens  durch  die  Besitzenden, 
die  nur  zu  erreichen  ist  auf  dem  Wege  der  Erringung  der  politischen 
Macht  durch  das  arbeitende  Volk. 

Wenn  es  der  Volksbildung,  wenn  es  der  Wissenschaft  schlimm 
gehen  wird  und  immer  schlimmer,  je  mehr  der  Rückschritt  identisch 
ist  mit  der  besitzenden  Klasse,  je  mehr  diese  gezwungen  ist,  um 
ihr  Monopol  festzuhalten,  die  Verdummung  und  Vertierung  der 
Arbeiterschaft  zu  wollen:  dann  wird  es  so  kommen,  wie  es  mit  der 
Freiheit  gekommen  ist.  Für  die  politische  Freiheit  hat  auch  einmal 
das  Bürgertum  gekämpft  und  hat  dann  an  sie  vergessen.  Darum 
geht  es  aber  der  Freiheit  nicht  schlechter.  Es  hat  sich  eine  andere 
Klasse  gefunden,  die  die  Freiheit  erkämpfen  wird,  koste  es,  was  es 
wolle.  Es  wird  der  Volksbildung  und  der  Wissenschaft  nicht  schlecht 
gehen,  wenn  auch  das  Bürgertum  sie  verläßt,  es  bleibt  ihr  die  Ar- 
beiterklasse und  deren  Vorkämpferin,  die  klassenbewußte  Sozial- 
demokratie*). (Großer  Beifall.) 

Die  Maßregelung  des  Abgeordneten  Seitz. 

Protestversammlung  am  2  7.  März   1901**). 

Nicht  allein  die  gemeine  Rachsucht  der  Christlichsozialen  spricht 
aus  dieser  Maßregelung,  sondern  die  Absicht,  die  Lehrervertreter 
zu  entmutigen  und  die  gesamte  Lehrerschaft  einzuschüchtern. 
Lueger  will  den  Lehrern  sagen:  Da  habt  ihr  einen  Mann. 

*)  Nach  einem  Schlußwort  des  Professors  Gr  u  b  e  r  wurden  beide  Reso- 
lutionen angenommen,  die  des  Referenten  einstimmig,  die  Adlers  mit  über- 
wältigender Mehrheit. 

Über  die  Taktik  bei  der  Versammlung  wurde  auch  auf  dem  Parteitag 
des  Jahres  1897  gesprochen,  wo  sich  der  Obmann  des  Freidenkervereines. 
W  u  t  s  c  h  e  1,  über  das  Verhalten  der  Partei  gegen  die  Sozialpolitiker  be- 
schwerte. Adler  gab  ihm  in  seinem  Schlußwort  zur  „Parteitaktik"  darauf 
eine  Antwort.  (Siehe  Adlers  Rede  über  Klerikalismus  und  Nationalismus. 
Bd.  VIII,  Seite  389.) 

**)  Der  Führer  der  radikalen  Lehrerschaft.  Karl  Seitz,  war  bei  den 
Wahlen  im  Jänner  1901  im  Städtewahlbezirk  Korneuburg  als  sozialdemo- 
kratischer Kandidat  in  das  Abgeordnetenhaus  gewählt  worden.  Nun  ließ 
Lueger  seinen  verhaßten  Gegner  wegen  seiner  Wahlagitation  vom  Bezirks- 
schulrat in  Disziplinaruntersuchung  ziehen.  Da3  war  eine  offenkundige 
Verletzung  seiner  Immunität  und  am  11.  März  1901  forderte  Abgeordneter 
Dr.  Ofner  im  Parlament  den  Präsidenten  auf,  die  Sistierung  der  Diszi- 
plinaruntersuchung zu  veranlassen.  Mittlerweile  war  aber  Seitz,  der  von 
den  Lehrern  als  ihr  Vertreter  in  den  Bezirksschulrat  entsendet  worden 
war,  dort  mit  dem  christlichsozialen  Schimpfer  Gregorig  in  einen 
Konflikt  geraten  und  Lueger  ließ  ihn  nun  seiner  Stelle  als  Lehrer  entheben. 
Die  Sache  kam  noch  wiederholt  im  Parlament  zur  Sprache.  Aber  auch  die 
Lehrer  setzten  sich  zur  Wehr  und  im  ganzen  Reiche  wurden  Kundgebungen 
der  Lehrervereine  gegen  diesen  Gewaltakt  beschlossen.  Am  27.  März 
hielten  auch  die  Wiener  Arbeiter  vier  Versammlungen  ab,  in  denen  sie 
gegen  die  Maßregelung  protestierten.  In  der  Versammlung  in  Rappels  Rosen- 
sälen ergriff  nach  G 1  ö  c  k  e  1  und  Daszynski  Adler  das  Wort.  Seitz  ist 
bekanntlich  der  nachmalige  Bürgermeister  von  Wien. 


Die  Sozialdemokratie  und  die  arbeitend«    fugend.  #7 


d  e  11  s  i  e  s  <>  g  :l  r  z  u  m  A  I)  g  e  o  r  d  n  e  t  e  n  g  e  w  ä  h  1 1  li  a  b  e  n. 
Das    nützt    ihm    alles    nichts,    wenn    er    mein    Feind 

i  s  t  -  •  i  c  h  h  a  l)  e  i  li  n  ü  a  v  o  n  g  e  j  a  g  t.  (Stürmische  Entrüstung.) 
Und  wenn  das  ihn  betroffen  hat,  so  könnt  ihr  euch  vorstellen«  wie 
ich  mit  euch  umspringen  kann.  Das  ist  ö^i'  Sinn  dieser  Maßregel 
und  darin  liegt  die  ungeheure  Gefahr.  Der  Lehrer  ist  ein  armer 
Proletarier,  aber  mit  Kroßen  Bedürfnissen  des  Geistes.  Statt  diese 
befriedigen  zu  können,  werden  seine  Nerven  zerrüttet  durch  den 
Kampf  um  dieses  elende  Stückchen  Brot,  und  über  diese  gedrückten 
Männer  soll  nun  noch  Lneger  die  Zuchtrute  schwingen  dürfen.  Aber 
wir  haben  ja  noch  den  Unterrichtsminister  liartel,  dem  große  Ge- 
lehrsamkeit, großer  Freisinn  und  moderne  Gesinnung  nachgesagt 
wird.  Von  der  Gelehrsamkeit  will  ich  schweigen  (Heiterkeit),  was 
aber  den  Freisinn  und  die  Modernität  anlangt,  so  haben  wir  davon 
noch  nichts  zu  verspüren  bekommen.  (Heiterkeit.)  Es  wird  von  ihm 
behauptet,  daß  er  seine  guten  Eigenschaften  vornehmlich  den  Hoch- 
schulen gegenüber  betätigt.  Aber  die  Klerikalen  lassen 
sich  eher  zehn  freisinnige  Hoch  sc  hui  Professoren 
gefallen  als  einen  freidenkenden,  gebildeten 
Volksschullehrer.  Da  heißt  es  freisinnig  und  modern  sein. 
Eine  freie,  unabhängige  Volksschule  tut  uns  not,  und  solange  wir  die 
nicht  haben,  sind  selbst  die  sonst  löblichen  Bestrebungen  für  die 
Bildung  der  Erwachsenen,  die  ja  bei  uns  merkwürdigerweise  mehr 
als  anderswo  zu  finden  sind,  ganz  unersprießlich.  Solange  die 
Grundlage  fehlt,  sind  diese  Volkshochschulen,  Volkslesehallen  usw. 
ähnlich  jenem  Neger  aus  den  „Fliegenden  Blättern",  der  völlig  nackt 
einhergeht,  aber  einen  Zylinderhut  trägt.  (Heiterkeit.) 

Wenn  es  nun  auch  wahr  wäre,  daß  Herr  Hartel  Gutes  für  die 
Universitäten  tut,  so  habe  ich  ihn  sehr  in  Verdacht,  daß  er  ein 
ebenso  liberaler  Minister  ist  wie  seine  Vorgänger  Stremayr  und 
Gautsc  h,  wo  es  gilt,  die  Volksschule  gegen  die 
Klerikalen  zu  verteidigen.  Und  ich  fürchte,  daß  er  auch 
im  Falle  Seitz  nicht  liberaler  sein  wird.  Wir  werden  ihm  aber  ein- 
dringlich zu  sagen  verstehen,  daß  wir  dem  großen  Gelehrten,  dem 
Schätzer  der  Wissenschaft  genau  auf  die  Finger  sehen  werden,  und 
daß  es  ihm  nicht,  wie  seinen  liberalen  Vorbildern,  gelingen  wird, 
Stück  für  Stück  der  Volksschule  an  die  Klerikalen  zu  vermogeln 
und  zu  verhandeln.  (Stürmischer,  anhaltender  Beifall.) 

Die  Sozialdemokratie  und  die  arbeitende 

Jugend. 

Versammlung  am  2  6.  März  190 2*). 

Ich  gestehe,  daß  ich  von  den  Gegnern  aus  jahrelanger  Erfahrung 
gelernt  habe,  auf  alles  gefaßt  zu  sein,  und  nicht  viel  von  ihrem 
Edelmut,  ihrer  Vernunft  und  ihrem  Anstandsgefühl  erwarte;  aber 

*)  Arn  23.  März  hatte  der  Verein  jugendlicher  Arbeiter  beim  Hamberger 
eine    Vereinsversammlung   abgehalten,    in    der   Dr.    Adler    einen   Vortrag 


H8  Terror   und   Gewissenszwang. 

ich  muß  sagen,  daß  mich  das,  was  ich  Sonntag  hier  gesehen,  einfach 
überrascht  hat.  Ich  habe  eine  solche  Roheit  nicht  für  möglich  ge- 
halten. Wenn  Erwachsene  untereinander  roh,  brutal  werden,  wenn 
sie  bis  zur  viehischen  Beschimpfung  greifen,  so  ist  das  ja  tieftraurig 
und  wirkt  für  jeden,  der  etwas  Ordentliches  von  den  Menschen 
haben  möchte,  bedrückend;  aber  schließlich:  es  ist  ein  Mann 
gegen  den  anderenMann.  Aber  nun  bitte  ich,  sich  vorzustellen : 
Ich  bin  hieher  gekommen  und  finde  einen  Saal  voll  junger  Bürsch- 
chen,  und  ich  wrar  wirklich  überrascht,  daß  so  viele  junge  Leute  zu 
einem  Vortrag  an  einem  Sonntagnachmittag  zusammenzubringen 
sind.  Daß  ein  Bub,  der  die  ganze  Woche  in  einem  engen  Loch 
sich  schinden  muß,  der  die  ganze  Woche  unter  der  Fuchtel 
steht,  Sonntag  nachmittag  herkommt,  um  wieder  zu  lernen, 
das  ist  eine  hocherfreuliche  Erscheinung,  und  ich  sage 
Ihnen,  wenn  alle  die  jungen  Bürschchen,  die  da  waren,  in  der 
gegnerischen  Richtung  gedrillt  worden  wären,  wenn  sie 
durchaus  unter  christlichsozialer  Erziehung  gestanden  und  im  Haß 
gegen  uns  erzogen  gewesen  wären;  ich  hätte  mich  nicht  ent- 
schließen können,  diesen  jungen  Bürschchen  auch  nur  ein 
hartesWort  zu  sagen.  Ich  habe  die  Empfindung  gehabt,  das 
sind  junge  Leute,  denen  man  ein  Wort  sagen  muß,  das  ihnen 
das  Leben  erleichtert,  das  sie  besser  und  tüchtig 
macht.  Wie  kann  man  zu  solchen  Kindern  anders 
sprechen  als  im  Tone  des  Vaters  und  Lehrers  !  Und 
da  sah  ich  erwachsene  Menschen,  die  wie  wilde  Tiere 
auf  diese  Kinder  einhauen!  (Allgemeine  Bewegung.)  Ich 
hätte  begriffen,  wenn  ein  paar  nach  mir  das  Wort  ergriffen  und 
mich  dann  beschimpft  hätten.  Gut.  Oder  wenn  sie  den  jungen 
Leuten  gesagt  hätten,  daß  sie  gar  nicht  hieher  gehören  und  hier 
nichts  zu  suchen  haben ;  aber  daß  man  Buberln  prügelt, 
da  hört  sich  alles  auf.  So  sehr  ich  die  Prügel  bedaure,  die  einzelne 
gekriegt,  und  so  sehr  es  mein  menschliches  Empfinden  anwidert, 
ich  meine  doch,  daß  für  alle  jungen  Leute,  die  da  anwesend  waren, 
die  Versammlung  eine  tiefe  und  wertvolle  Lehre  sein  wird,  und  daß 
es  für  sie  ein  unauslöschlicher  Eindruck  bleiben  wird,  daß  Leute, 
die  ihnen  an  Kraft  dreifach  überlegen,  sich  auf  sie  stürzten 
und  sie  bestialisch  schlugen.  Sie  werden  es  gefühlt 
haben  und  nie  vergessen,  daß  diese  Leute  einer  Partei  angehören, 
die  nicht  wünscht,  daß  man  den  Lehrlingen  Wissen 
beibringt.  (Lebhafter  Beifall.)  Aber  es  gibt  für  uns  Erwachsene 
auch   eine   Lehre:    Wir  haben   unseren   jungen   Leuten   gegenüber 


halten  sollte.  Außer  den  Jugendlichen!  die  den  Saal  füllten,  fanden  sich  aber 
auch  etwa  120  Christlichsoziale  ein,  Mitglieder  von  christlichsozialen 
Meistervereinen  und  mit  Stöcken  bewaffnete  Gasarbeiter  (die  von  den 
Werkiührern  des  städtischen  Gaswerkes  den  Christlichsozialen  für  ihre 
Versammlungen  als  Ordner-  und  Prügelgarde  zugetrieben  wurden).  Kaum 
hatte  Dr.  Adler  das  Wort  ergriffen,  als  sich  diese  Bande  auf  die  Jugend- 
lichen stürzte  und  auf  sie  loshieb.  Die  Führung  dabei  hatte  ein  christlich- 
sozialer Gemeinderat  Urban.  Als  Antwort  auf  diesen  Überfall  war  die 
Versammlung  vom  26.  März  einberufen. 


Die  Sozialdemokratie  und  die  arbeitende  Jugend.  *'* 

kein  gutes  Gewi  s s  c  n.  Wir  müssen  uns  ihrer  mehr  annehmen. 
(Ruf:  Unsere  .1  u  n  g  e  n  I  a  S  S  e  n  wir  nicht  in  e  h  r 
seil  I  a  g  e  n!)  Ja,  das  ist  der  erste  Punkt,  aber  nur  der  erste  (Ruf: 
Sehr  richtig!  Das  ist  das  Wenigste!)  der  Zwischenrufer  gehört 
gewiß  nicht  ZU  jenen,  die  am  meisten  gepufft  wurden  und  ist  daher 
nicht  k  o  m  p  e  lent  (Heiterkeit)  ,  aber  wir  haben  mehr  zu  tun. 
als  sie  zu  schützen.  Die  eigentliche  Erziehung  und  der  eigentliche 
Unterricht  unserer  jungen  Leute  in  diesen  großen  Versammlungen 
ist  nicht  das  Wesentliche,  wir  haben  auch  die  Pflicht,  ihnen  n  a  c  h- 
zu  gehe  n  und  ihnen  zur  Verfügung  zu  stehen  mit  dem  Besten, 
was  wir  wisse  n,  mit  dem  Besten,  was  wir  e  m  p  f  i  n  d  e  n, 
haben  die  Verpflichtung,  ihre  Lehrer  zu  sein,  so  gut  wir 
können.  (Allgemeiner  Ruf:  I)  a  s  w  o  1 1  e  n  w  i  r  !) 

Ich  weiß,  so  ein  Wort  spricht  sich  leicht  aus.  Ihr  ruft  Bravo! 
Ihr  empfindet  das  heute  alle  und  es  ist  ein  ehrliches  Empfinden. 
Aber  da  ist  mehr  notwendig  als  ehrliches  Empfinden:  da  ist  not- 
wendig stetige  Arbeit,  Arbeit  von  jedem  einzelnen, 
nicht  nur  im  Verein,  auch  die  Arbeit  in  der  Werkstätte. 
Die  Propaganda,  die  im  Verein  geübt  wird,  die  ist  gewiß  erwünscht, 
aber  die  Propaganda,  die  in  der  Werkstätte  geübt  wird,  das 
ist  das  Notwendigste.  Der  Lehrling  soll  es  empfinden,  daß 
ein  Unterschied  ist  zwischen  einem  sozialdemokratischen 
Arbeiter,  der  ihn  als  jüngeren  Bruder  behandelt, 
und  einem  anderen,  der  ihn  hochmütig  von  oben  herab  betrachtet 
und  in  ihm  nur  das  Ausbeutungsobjekt  sieht.  Wir  haben  zu  sorgen, 
daß  die  jugendlichen  Arbeiter  die  Empfindung  haben,  daß  sie 
unter  dem  Schutze  der  sozialdemokratischen, 
das  heißt  der  aufgeklärten  Arbeiter  stehen.  Wir 
werden  besser  werden,  bessere  Menschen,  wenn  wir  uns  dessen 
befleißen,  gegen  unsere  Jugend  menschlich,  väterlich, 
brüderlich  zu  sein. 

Ich  weiß,  Genossen  vom  Verein  der  jugendlichen  Arbeiter,  da  11 
Sie  eine  schwere  Sache  durchfechten  und  auch  schon  auf  manche 
Erfolge  hinweisen  können.  Sie  dürfen  auch  nicht  verzweifeln,  wenn 
Sie  von  den  Älteren  nicht  die  Unterstützung,  das  Entgegenkommen 
finden,  wie  Sie  sich  vielleicht  vorgestellt,  und  Sie  dürfen  uns  nicht 
allzu  schlecht  beurteilen.  Wir  alten  Leute  haben  so  viel  für 
die  Gegenwart  zu  tun,  stehen  jeder  einzelne  in  so  schwerem 
und  hartem  Kampfe,  haben  so  ungeheure  Lasten  auferlegt,  daß  es 
jedem  eine  ganze  Summe  von  Überwindung  und  großen  persönlichen 
Opfern  kostet,  uns  auch  noch  um  die  Zukunft  zu  kümmern.  Die 
Zukunft,  die  seid  ihr,  und  die  ist  gewiß  sehr  wichtig.  Aber  wir  haben 
für  die  (iegenwart  soviel  zu  sorgen.  Bei  uns  ist  es  so,  wie  wenn 
einer  schnell  einernten  will,  was  schon  reif  ist,  und  ver- 
gißt, für  die  Zukunft  zu  säen.  Das  ist  unser  Fehler  und 
'Manchmal  auch  unsere  Sünde.  Aber,  junge  Genossen,  wir  selber 
sind  nicht  so  alt  wie  wir  aussehen.  Wir  sind  eine  Partei,  die  in  ein 
paar  Jahren  rasch  in  die  Höhe  gekommen,  die  in  einigen  Jahren 
errang,  was  sonst  in  zwanzig  Jahren  gebaut  wurde,  und  es  hat 
daher  jeder  ein  kiesenstück  Arbeit  auf  sich.  Aber  das  versprechen 


90  Terror  und  Gewissenszwang. 


wir  euch,  soweit  unsere  Kräfte  reichen,  wollen  wir  euch  helfen, 
soweit  wir  können,  stehen  wir  euch  zur  Seite,  und  was  immer  ge- 
schieht, wo  ihr  einen  unparteiischen,  wohlüberlegten  Rat  braucht, 
sollt  ihr  ihn  bei  uns  finden,  wenn  auch  vielleicht  nicht  immer  den. 
der  euch  am  liebsten  wäre.  Wir  müssen  vielleicht  Wasser  in  euren 
Wein  gießen,  wo  ihr  vielleicht  schneller  vorwärts  möchtet,  wo  ihr 
vielleicht  schon  Erfolge  in  Händen  zu  haben  glaubt,  wo  wir  noch 
keine  Erfolge  sehen. 

Vor  allem  aber  wollen  wir  euch  etwas  mitgeben,  was  euch  gut 
tun  wird  für  die  traurige  Erfahrung,  die  auch  euch  nicht  erspart 
bleiben  wird,  wenn  ihr  viele,  die  ihr  gewonnen  glaubt,  später  wieder 
verlieren  werdet.  Wenn  ihr  seht,  daß,  wenn  ihr  etwas 
aufbaut,  es  wieder  zusammenbricht,  dann  verzweifelt 
u  i  c  h  t.  Dann  werden  wir  euch  an  unsere  Geschichte  erinnern,  wo 
wir  aufbauten  und  es  niederbrach,  und  wo  wir  wieder  aufbauten 
und  immer  wieder  aufbauten,  bis  der  Bau  endlich 
mächtig  und  prächtig  bestehen  blieb. 

Ihr  sollt  von  dem  sozialdemokratischen  Programm  aufnehmen, 
was  ihr  aufnehmen  könnt.  Daß  ihr  das  politische  Programm  im  ein- 
zelnen versteht,  daß  ihr  das  ökonomische  Labyrinth  der  wirtschaft- 
lichen Zustände  begreifen  und  erforschen  sollt,  das  verlangen 
wir  nicht.  Aber  daß  ihr  den  menschlichen  Gehalt  in 
der  Sozialdemokratie  begreift,  daß  wir  euch  als  Menschen 
sehen,  als  Menschen,  deren  Zweck  ihr  selber  seid,  das 
wünschen  wir.  Wir  wollen  euch  nicht  haben,  um  euch  zu  be- 
nützen, wir  wollen  euch  nicht  fangen,  um  eure  Leiber 
zu  knechten,  wir  wollen  euch  nicht  vor  den  Wagen  einer  Partei 
spannen:  wir  wollen,  daß  ihr  armen  verprügelten  Buben,  die  ihr  es 
oft  schlechter  als  Tiere  habt,  an  denen  sich  gewissermaßen  jeder 
den  Fuß  abwischt,  das  Gefühl  bekommt,  daß  ihr  Men- 
schen seid.  (Warme  Zustimmung.)  Ihr  seid  nicht  allein  ver- 
stoßene, verachtete,  gering  geschätzte  kleine  Jungen,  ihr  seid 
Arbeiter,  und  das  bißchen,  was  ihr  Arbeiter  seid,  ist  euer 
Adelsbrief  als  Mensch,  was  euch  berechtigt,  in  das 
Heer  einzutreten,  das  Menschheitheißt.  (Stürmischer 
Beifall.)  Werdet  Menschen!  Wir  wollen  euren  Stolz,  eure 
Selbständigkeit,  eure  Kraft  wecken,  wir  wollen  euch  nur  helfen, 
damit  ihr  euch  selber  helfen  könnt. 

Genossen!  Ich  habe  eigentlich  fast  nichts  von  den  Gegnern  ge- 
sprochen. Es  kostet  mich  immer  eine  gewisse  Selbstüberwindung, 
wenn  ich  den  Mund  aufmachen  soll,  um  das  Gesindel  beim  Namen 
zu  nennen.  (Beifall.)  Es  stört  mir  die  Freude  an  der  Arbeit,  lähmt 
mich  in  dem  Gedanken,  daß  es  ein  so  erbärmliches  Ge- 
zücht gibt.  Nachdem  aber  dieses  erbärmliche  Gezücht  da  ist, 
muß  es  zertreten  werden.  (Allgemeiner  Beifall.)  Aber  dazu 
ist  ein  langer,  langsamer  Kampf  notwendig,  sehr  viel  Fleiß  und  sehr 
viel  Geduld;  denn  die  Gemeinheit  der  Menschen  ist  auch  eine 
Weltmacht  und  ist  mehr  als  in  jedem  Lande  und  jeder  Stadt 
in  dieser  Stadt  eine  Macht.  Weil  wir  wollen,  daß  es  unsere  Kinder 
anders  haben,  daß  ihnen  in  dieser  Stadt  eine  andere  Luft  wehe, 


Der  Qewaltstreioh  gegen  die  Straßenbahner,  (<1 

darlMTl   widmen    wir   uns    auch    mit   allem    Eifer   der    Kr  Ziehung 
U  n  s  e  r  e  r  .1  u  g  e  n  d.  (Stürmischer  Beifall.) 

Der    Gewaltstreich    gegen    die    Straßen- 
bahner. 

Prot  e  s  t  v  e  r  s  a  m  in  1  u  n  g,    I  2.  März   1  9  I  2 ' ). 

Der  Gegenstand,  der  uns  beschäftigt,  ist  nicht  neu.  Wir  kennen 
die  Christlichsozialen  seit  vielen  Jahren  und  ich  glaube  nicht,  daß 
es  viele  unter  Ihnen  gibt,  die  sich  wundern,  wenn  die  christlich- 
sozialen  Beherrscher  der  Gemeinde  oder  des  Landes  einen  Akt  der 
Feindseligkeit,  Brutalität  und  Borniertheit  begehen. 

Die  Straßenbahner  haben  oft  kämpfen  müssen,  sie  haben  ge- 
kämpft unter  verschiedenen  Umständen  und  mit  mangelhaftem  Er- 
folg. Schließlich  haben  sie  sich  auf  den  einzigen  vernünftigen  Weg 
begeben  und  eine  moderne  gewerkschaftliche  Organisation  ge- 
schaffen, die  überall  die  Garantie  dafür  ist,  daß  die  notwendige 
Auseinandersetzung  mit  den  Unternehmen  in  einer  geordneten,  ziel- 
bewußten Form  vor  sich  gehe.  Wir  stehen  jetzt  gegenüber  dem 
grandiosen  Schauspiel  in  England.  Eine  Organisation  von  Hundert- 

*)  Ende  April  1912  sollten  in  Wien  die  Gemeinderatswahlen  stattfinden 
und  die  Christlichsozialen  fürchteten  nach  der  Niederlage,  die  sie  bei  den 
Reichsratswahlen  1911  erlitten  hatten,  zumindest  auch  im  vierten  Wiener 
Wahlkörper  einen  Verlust,  zumal  da  sich  bei  den  Reichsratswahlen  ge- 
zeigt hatte,  daß  die  Gemeindearbeiter  nicht  mehr  Agitatoren  für  die 
Christlichsozialen  sein  wollten.  Der  der  Gewerkschaftskommission  ange- 
schlossene Reichs  verein  der  städtischen  Arbeiter  und  Bediensteten 
zählte  in  Wien  bereits  über  2000  Mitglieder,  die  alle  ehemals  dem 
christlichsozialen  Arbeiterverein  angehört  hatten.  Deshalb  suchten  die 
Christlichsozialen  diese  zweitausend,  mit  denen  die  Mehrheit  der  Ge- 
meindeangestellten, namentlich  die  Straßenbahner,  eines  Sinnes  waren, 
einzuschüchtern,  und  die  Direktion  der  Straßenbahn  erließ  am  1.  März 
1912  eine  Verfügung,  durch  die  die  Mitgliedschaft  beim  „Reichsverein" 
und  das  Lesen  des  „W  e  c  k  r  u  f  e  s",  des  Organs  des  Vereines,  ver- 
boten und  als  Dienstvergehen  erklärt  wurde.  Drei  Straßenbahner, 
die  in  einer  Protestversammlung  sprachen  und  dort  die  Erklärung  ab- 
gaben, daß  sie  und  ihre  Kameraden  treu  zum  Reichsverein  stünden,  wur- 
den entlassen.  Bezeichnend  für  die  christlichsoziale  Arbeiterbewegung 
ist,  daß  die  „Christlichsoziale  Arbeiter-Zeitung"  des  Herrn  K  u  n  s  c  h  a  k  den 
Erlaß  der  Straßenbahndirektion  noch  verteidigte  und  erklärte,  darin  liege 
kein  Angriff  auf  das  Koalitionsrecht,  da  ja  nur  ein  einziger  Verein  ver- 
boten sei,  die  Straßenbahner  also  den  anderen  Vereinen  angehören 
könnten  . . . 

Gegen  diesen  „S  p  ä  n  g  1  e  r  -  E  r  1  a  ß"  (so  genannt  nach  dem  Direktor 
der  Straßenbahn  Spängier)  protestierten  die  Wiener  Arbeiter  in  zahl- 
reichen Versammlungen,  deren  Tagesordnung  lautete:  „Der  Gewalt- 
streich gegen  die  Straßen  bahne  r."  In  der  Versammlung  im 
FavOfitner  Arbeiterheim  am  12.  März  1912  sprach  Adler. 

Ist  schon  dieser  Spängler-Frlaß  für  die  Verlogenheit  des  christlich- 
sozialen Geschreies  über  den  Terrorismus  der  Sozialdemokraten   bezeich- 


92  Terror  und  Gewissenszwang. 


lausenden  hat  sich  wie  ein  Mann  erhoben  und  kämpft  in  aller  Kühe, 
trotz  der  großen  Zahl,  ohne  ein  Wort,  das  ungesetzlich  oder  hart 
wäre,  ohne  eine  Bewegung,  die  auf  Aufregung  schließen  ließe,  und 
angesichts  dieses  unerhörten  Schauspiels  können  Sie,  in  Zeitungen 
von  angeblich  sehr  aufgeklärten  Leuten  geschrieben,  lesen,  daß  es 
das  Unglück  sei,  daß  die  englische  Regierung  die  Gewerkschaften 
hat  so  groß  werden  lassen.  (Heiterkeit.)  Die  Leute  haben  keine  Vor- 
stellung, wie  das  Wachsen  der  Organisation  mit  dem  wirtschaft- 
lichen Zustand  auf  das  engste  verknüpft  ist  und  man  den  Fortschritt 
der  Organisation  so  wenig  aufhalten  kann  wie  die  Donau  bei  Donau- 
eschingen. Alle  Versuche,  die  Organisation  gewaltsam  zu  unter- 
drücken, müßten  scheitern,  und  man  kann  nur  bewirken,  daß  die 
Entwicklung  auf  vernünftigem  und  friedlichem  oder  auf  stürmischem 
und  gewaltsamem  Wege  geschieht.  Die  Arbeiterschaft  verlangt 
nichts  anderes,  als  daß  ihr  Koalitionsrecht  gewahrt  werde;  aber 
sie  verlangt  auch,  daß  man  sie  nicht  durch  Gewalttaten,  Tücken  und 
Einschüchterungsversuche  auf  ihrem  Wege  hemme.  (Lebhafte  Zu- 
stimmung.) Die  Straßenbahner  stehen  einem  Unternehmer  gegen- 
über, der  mächtiger  ist  als  Unternehmer  gemeinig- 
lich sind.  Die  Kommunen  haben  als  Unternehmer  überall  eine 
kolossale  Macht,  die  dadurch  noch  verstärkt  wird,  daß  der  klaglose 
Betrieb  ein  allererstes  Interesse  der  ganzen  Gemeinde  und  jedes 
Einwohners  ist.  Aber  Unternehmer,  denen  die  Gewerkschaft  nicht 

riend,  so  wird  sie  noch  besser  beleuchtet  durch  die  Erklärung,  die  in  der 
christlichsozialen  Ära  jeder  Gemeindeangestellte  unterschreiben  mußte 
und  die  wir  hier  zum  ewigen  Gedächtnis  festhalten  wollen : 

Erklärung. 

Ich  bestätige  den  Empfang  eines  Exemplars  der  mit  den  Gemeinde- 
ratsbeschlüssen vom  27.  Dezember  1901,  Z.  15.124,  vom  12.  Mai  1903, 
Z.  5885,  und  vom  5.  Juni  1903,  Z.  7181,  genehmigten  Dienstordnung  für 
das  Dienstpersonal  der  städtischen  Straßenbahnen,  habe  deren  Inhalt 
zur  Kenntnis  genommen  und  unterwerfe  mich  vorbehaltlos  den  Bestim- 
mungen dieser  Dienstordnung. 

Ich  gelobe  mit  meinem  Ehrenwort,  Sr.  k.  u.  k.  Apostolischen 
Majestät  Franz  Josef  I.  und  Allerhöchsten  Nachfolgern  aus  dem  durch- 
lauchtigsten Hause  Habsburg-Lothringen  getreu  und  gehorsam  zu  sein, 

der  Stadt  Wien  Ehre  und  Vorteil  nach  allen  meinen  Kräften  zu  fördern 
und  jeden  Nachteil  von  ihr  abzuwenden.  Ich  erkläre  weiter  mit  meinem 
Ehrenwort,  daß  ich  einer  Partei,  welche  republikanische  oder  sonst 
Österreich  feindliche  Tendenzen  verfolgt,  weder  angehöre,  noch  ange- 
hören werde. 

Wien,  am 

Als  Zeugen:  Vor-  und  Zuname: 

Diensteigenschaft: 

Diese  Erklärung  haben  die  Christlichsozialen  jedem  Gemeinde- 
bediensteten abgepreßt,  sobald  er  aufgenommen  oder  definitiv  wurde. 
Erst  nach  dem  Umsturz,  am  28.  März  1919,  ist  diese  Erpressung 
auf  Einschreiten  der  Sozialdemokraten,  die  damals  im  Wiener  Gemeinde- 
rat eine  starke  Minderheit  bildeten,  eingestellt  worden. 


Der  Gewartstreich  Kegen  die  Straßenbahner.  99 

erwünscht  Ist,  gfrbl  es  auch  sonst.  Überall  hat  die  Organisation  an- 
fangs mit  dem  Widerstand  der  Unternehmer  zu  kämpfen.  Was  aber 
die  Wiener  Gemeinde  Verwaltung  von  allen  Unternehmern  unter- 
scheidet; ist  es,  daß  die 

große  Macht  in  den  Händen  einer  politischen  Partei 

ist,  und  daß  sie  diese  ihre  Macht  in  der  schmählichsten  Weise  z  n 
P  a  r  t  e  i  z  vv  e  c  k  e  n  mißbraucht.  (So  ist  es!)  Wenn  es  sich 
nur  darum  handeln  würde:  wie  steht  es  zwischen  der  Unternehmung 
und  den  Angestellten?  -  wenn  es  sich  nur  um  Fragen  des  Lohnes 
und  der  Behandlung  drehen  würde,  wäre  das,  ich  möchte  sagen, 
eine  geschäftliche  Sache,  bei  der  man  immer  zu  einem  Ausgleich 
kommt,  erst  zu  einem  ungünstigeren,  wenn  die  Organisation  schwach 
ist,  später  zu  einem  günstigeren.  Aber  das  Schlimme  ist,  daß  es  sich 
der  christlichsozialen  Partei  nicht  nur  um  die  Knechtung  der  Leiber 
handelt,  sondern  daß  sie  auch  gewissermaßen  die  Seelen 
knechtenwollen.  Ausbeuten  wollen  andere  Unternehmer  auch, 
aber  die  Christlichsozialen  wollen  ihre  Angestellten  zu  ihren 
Parteizwecken  mißbrauchen.  Man  hat  von  jeher  ge- 
sucht, diese  paar  tausend  Menschen  für  die  Wahlen  gefügig  zu 
machen,  und  weil  sich  nun  endlich  eine  Organisation  herausgebildet 
hat,  die  auf  rein  gewerkschaftlicher  Basis  steht  und  die  vor  allem 
gar  keinen  Anlaß  zu  Maßregelungen  und  Drangsalierungen  gibt, 
sondern  sehr  gut  weiß,  daß  eine  Organisation  nur  bei  Disziplin  und 
Selbstbeherrschung  wachsen  kann,  und  gerade  weil  die  Christlich- 
sozialen  das  sehen,  gehen  sie  auf  sie  wie  Stiere  auf  das  rote  Tuch 
los,  und  so  ist  die  Direktionsverfügung  entstanden  und  alles,  was 
ihr  folgte.  Der  Versuch,  Arbeiter  einzuschüchtern,  auf  sie  durch  eine 
Erpressung  zu  wirken,  ist  als  schmachvoll  zu  verurteilen,  von 
wem  er  auch  ausgeht.  Dreifach  schmachvoll  ist  es,  wenn  eine 
Gemeindevertretung,  wenn  diejenigen,  die  Vertrauensmänner  der 
Wählerschaft  Wiens  sein  sollten,  ein  so  schändliches  Beispiel  geben. 
(Stürmischer  Beifall.) 

Und  nun  will  ich  den 

Lügen,  die  man  in  den  christlichsozialen  Blättern  liest, 

die  Wahrheit  entgegenhalten.  Es  wird  erzählt,  die  Gemeinderäte 
Reumann  und  Winarsky  seien  zum  Statthalter  gegangen  und  haben 
die  „Autonomie  der  Gemeinde"  einschränken  wollen.  Es  wird  weiter 
erzählt,  daß  wir  abenteuerliche  „Drohungen"  ausgestoßen  haben, 
mit  einem  Massenstreik  gedroht  hätten,  geprahlt  hätten,  daß  die 
Organisation  „neunzig  Prozent"  der  Straßenbahner  umfasse,  und 
daß  wir  damit  versucht  hätten,  einzuschüchtern.  Das  sind  Lügen 
v  o  m  Anfang  bis  zum  Ende.  Die  Wahrheit  ist,  daß  zuerst  die 
Gewerkschaftskommission  mit  der  Organisation  der  Straßenbahner 
zu  Rate  ging.  Zweitens  war  aber,  auch  die  Partei  engagiert.  Wir 
mußten  uns  sagen,  wenn  es  zu  einem  Kampfe  kommt,  wenn  die 
Straßenbahner  zu  einem  Kampfe  genötigt  werden,  so  kann  das 
Folgen  haben,  von  denen  sich  die  Herren  oben  nichts  träumen 
hissen.  Weil  wir  von  der  Einsicht  der  Behörden  keine  übertriebene 


94  Terror   und   üewissenszwang. 


Meinung  haben,  und  weil  zu  befürchten  war,  daß  sie  nicht  wissen, 
was  auf  dem  Spiele  steht,  bin  ich  —  nicht  die  üemeinderäte  — 
Sonntag  vormittag  beim  Statthalter  gewesen  und  habe  ihm,  ohne 
Übertreibung  und  ohne  Prahlerei,  die  reine  Wahrheit  gesagt:  Wir 
machen  darauf  aufmerksam,  daß  die  Gemeindeverwaltung  einen 
Schritt  unternommen  hat,  der  möglicherweise  zu  einem  Kampfe 
führt,  wenn  nicht  ein  Rückzug  eingeschlagen  wird.  Wenn  es  aber 
zum  Kampfe  kommt,  kann  es  im  Laufe  dieses  Kampfes  -  weil  es 
sich  um  das  Koalitionsrecht  handelt  —  sehr  leicht  dahinkommen, 
daß  er  nicht  beschränkt  bleibt  auf  die  Straßenbahner,  sondern  ganz 
andere  Dimensionen  annimmt.  Ich  habe  mich  sehr  gehütet,  ein  Wort 
zu  sagen,  das  nicht  wahr  ist,  und  noch  mehr  gehütet,  eine  Drohung 
auszusprechen.  Im  Gegenteil,  ich  habe  ausdrücklich  gesagt,  w  i  r 
wünschen  diesen  Kampf  nicht,  wir  sind  nicht  so  blind 
und  gewissenlos  und  so  bar  jedes  Verantwortlichkeitsgefühls  wie  die 
Christlichsozialen.  Wir  wissen,  daß  unter  Umständen  auch  wir 
kämpfen  müssen;  aber  da  muß  der  Kampf  nötig  sein  und  der  Preis 
auch  der  Opfer  wert.  Aber  daß  wir  einen  Kampf  suchen  und  die 
Arbeiterschaft  in  einen  Kampf,  der  sich  möglicherweise  auf  der 
Straße  abspielen  würde,  hineintreiben,  ist  nicht  unser  Wunsch  und 
damit  drohen  wir  auch  nicht.  (Sehr  gut!)  Es  ist  auch  nicht 
wahr,  daß  irgendein  sozialdemokratischer  Abgeordneter  davon 
gesprochen  habe,  daß  „neunzig  Prozent"  der  Straßenbahner 
in  der  Organisation  stehen.  Ich  habe  auch  mit  dem  Minister 
des  Innern  gesprochen,  weil  die  Sache  ihn  angeht  und  weil 
es  meine  Pflicht  ist,  ihn  auf  die  Tatsachen  aufmerksam  zu 
machen.  Ich  habe  natürlich  nicht  gesagt,  daß  die  Organisation  der 
Straßenbahner  neunzig  Prozent  umfaßt.  Erstens  lüge  ich  nicht,  denn 
ich  habe  mit  der  Wahrheit  in  meinem  langen  politischen  Leben  zu 
gute  Erfahrungen  gemacht,  als  daß  ich  auf  die  Dummheit  des  Lügens 
verfallen  könnte,  und  zweitens  wäre  es  eine  große  Dummheit  ge- 
wesen, wenn  ich  das  gesagt  hätte.  Denn  ein  vernünftiger  Mensch 
müßte  mir  da  ins  Gesicht  lachen  und  sagen:  „Wenn  die  Straßen- 
bahner zu  neunzig  Prozent  organisiert  sind,  brauchen  Sie  nicht  zu 
mir  zu  kommen.  Dann  richten  es  sich  die  Straßenbahner  schon 
selbst!"  (Lebhafte  Zustimmung.) 
Jeder  Mensch  weiß,  daß  die 

Gefahr  eines  solchen  Kampfes  für  die  Allgemeinheit 
eben  nicht  in  der  großen  ausgebauten  Organi- 
sation besteht,  sondern  im  Gegenteil  in  der  Schwäche  der 
Organisation.  Bei  den  Schwierigkeiten,  unter  denen  die  Straßen- 
bahner kämpfen,  haben  sie  große  Fortschritte  gemacht  und  alle 
Anerkennung  muß  man  für  sie  haben.  Aber  wenn  sie  auch  geleistet 
haben,  was  unter  der  furchtbaren  Pression  möglich  war,  verfügen 
sie  noch  lange  nicht  über  alle.  Wir  wissen  auch,  daß  es  nicht 
möglich  wäre  in  Wien,  den  Betrieb  vom  Anfang  an  vollständig  ein- 
zustellen; wenn  dem  so  wäre,  wäre  der  Streik  keine  gefährliche 
Sache  mehr.  Es  wäre  eine  große  Schwierigkeit  für  den  einzelnen, 
der  die  Straßenbahn  benützen  will,  eine  Kalamität  für  den  ganzen 
Verkehr    und    die    Bewohner  Wiens;    aber    die    anderen    G  e- 


Der  Qewaltstreich  gegen  die  Straßenbahner.  M 

fahren,  die  mit  der  Erregung  der  Massen  verknüpft  sind,  wären 
vermindert.  Jedoch  gerade  darum  -  das  habe  ieli  den  Herren 
gesagt  - -,  weil  die  organisierten  Straßenbahner  nicht  die  ganze 
Masse  hinter  sich  haben,  weil  im  ersten  Moment  Konflikte  ent- 
stehen müssen,  wäre  es  ein  Streik  von  einer  Bedeutung,  der  sich 
über  die  ganze  Art  eines  gewöhnlichen  Lohnkampfes  weit  hinaus 
erstreckt.  Es  scheint  mir,  daß  ich  die  Verpflichtung  hatte,  dem  Statt- 
halter und  dem  Minister  das  klar  vor  Augen  zu  führen.  (Lebhafter 
Beifall.) 

Welchen  Gebrauch  die  Herren  davon  gemacht  haben,  weiß  ich 
nicht;  der  Statthalter  und  der  Minister  haben  mir  versprochen,  sich 
zu  informieren  und  mit  den  Herren  darüber  zu  sprechen.  Die  Auto- 
nomie der  Gemeinde  besteht  nicht  darin,  daß  die  Gemeindeverwal- 
tung Brutalität  und  Gesetzwidrigkeit  begehen  könne,  ohne  daß  sich 
jemand  darum  kümmert.  Nun  weiß  ich  nicht,  ob  es  dieser  Einfluß 
war,  oder  ob  doch  einzelne  von  den  Christlichsozialen  die  Lage  be- 
griffen haben:  immerhin  hat  nach  der  ersten  Versammlung  der 
Straßenbahner  der  Straßenbahnausschuß  wieder  eine  Sitzung  ge- 
halten und  sie  haben  zwar  den  Beschluß  gefaßt,  die  Verfügung  auf- 
rechtzuerhalten, aber  auch  ausdrücklich  gesagt,  daß  sie  das  Koali- 
tionsrecht respektieren.  Darin  liegt  nun  allerdings  ein  Widerspruch; 
aber  unsere  Sache  ist  es  nicht,  Widersprüche  der  Herren  aufzulösen 
und  wenn  wir  den  Herren  nichts  vorzuwerfen  hätten  als  Mangel  an 
Logik  und  Konsequenz  —  das  könnte  man  aushalten.  Man  konnte 
also  hoffen,  daß  sie  einsehen,  sie  seien  über  die  Grenze  hinaus- 
gegangen, daß  sie  es  aber  nicht  ausdrücklich  zugestehen  wollen.  So 
haben  es  gewiß  auch  einzelne  von  ihnen  gemeint.  Man  darf  nicht 
vergessen:  unsere  Christlichsozialen  sind  eine  sehr  sonderbare  und 
eine  sehr  gemischte  Gesellschaft.  Sie  sind  wie  eine  Armee,  die  auf 
der  Flucht  ist.  Da  schaut  jeder,  daß  er  seine  eigene  Haut  rettet,  und 
wenn  er  glaubt,  das  zu  tun,  gibt  er  dem  anderen  einen  Fußtritt.  Da 
gibt  es  nicht  klare  und  einheitliche  Politik.  Die  Möglichkeit  des  Ein- 
lenkens  war  also  gegeben.  Wir  haben  nun  den  Straßenbahnern  ge- 
raten, unter  diesen  Umständen  den  Streik  nicht  zu  unternehmen. 
Wir  haben  uns  gesagt:  ein  Streik  stellt  kolossale  Anforderungen  an 
die  Opferfähigkeit  nicht  nur  der  Straßenbahner  selbst,  sondern  auch 
anderer  Schichten  der  Arbeiterschaft.  Er  legt  der  ganzen  Bewohner- 
schaft Wiens  kolossale  Opfer  auf,  und  wenn  man  eine  solche  Sache 
irgendwie  vermeiden  kann,  ist  es  Pflicht,  es  zu  tun. 

Es  waren  viele,  die  in  der  Erregung  losschlagen  wollten;  wir 
haben  aber  den  Erregten  gesagt,  daß  jede  Organisation  solche  Pe- 
rioden hatte,  wo  sie  bedroht  war.  Jede  mußte  Schwierigkeiten 
überwinden,  und  daß  wir  es  für  klüger  halten,  sie  dadurch  zu  über- 
winden, daß  die  Straßenbahner  zur  Fahne  halten  und  den  Herren 
nicht  den  Gefallen  tun,  einen  Kampf  aufzunehmen,  den  die  Christ- 
lichsozialen offenbar  wünschen.  (Sehr  richtig!)  Warum  sie  ihn 
wollen,  darüber  zerbreche  ich  mir  nicht  den  Kopf.  Die  Gewissen- 
losigkeit dieser  Menschen,  ihre  Frivolität  und  Gewalttätigkeit  sind 
unermeßlich.  Ich  weiß  nicht,  was  sie  sich  gedacht  haben.  Sie  können 
auch  gerneint  haben,  daß  sie  damit  die  Straßenbahner  am  23.  April 


96  Terror  und  Gewissenszwang. 


wieder  als  Stimmvieh  haben  werden  wie  früher.  Aber  ich  bin  über- 
zeugt, daß  diese  Spekulation  falsch  ist.  Daß  sie  die  barbarische  Ge- 
walttätigkeit so  weit  getrieben  haben,  nachher  noch  drei  Organi- 
sierte zu  maßregeln,  ist  gewiß  nicht  eine  Maßregel,  die  ihnen  hilft. 
Ich  habe  noch  nie  gehört,  daß  Gewalttaten  beruhigen  und  daß  man 
Liebe  und  Anhang  gewinnt,  indem  man  drangsaliert  und  auf  das 
Pflaster  wirft.  (Lebhafte  Zustimmung.)  Man  erinnert  sich,  daß  die 
Christlichsozialen,  als  sie  im  Aufstieg  waren  und  um  die  Herrschaft 
kämpften,  daran  gegangen  sind,  alle  möglichen  Bediensteten  und 
kleinen  Beamten  zu  organisieren  —  das  war  doch  das  ganze  Ge- 
schäft des  Herrn  Prochazka  — ,  und  daß  sie  gerade  groß  ge- 
worden sind  dadurch,  daß  sie  sich  des  Koalitions- 
rechtes der  kleinen  Angestellten  bedient  und  bei 
ihnen  in  der  demagogischesten  Weise  gehetzt  haben.  Diese  Leute 
fangen  nun  zu  maßregeln  an.  Da  muß  nun  doch  jeder  begreifen: 

Heute  dir,  morgen  mir! 

(Lebhafter' Beifall.)  Da  muß  jeder  verstehen,  daß  die  Partei  in  ihrer 
Verzweiflung  schon  nicht  mehr  weiß,  was  sie  tut.  So  müssen  wir 
das,  wras  wir  sehen,  nicht  nur  auffassen  als  Auswuchs  der  Brutalität 
und  der  Gesetzesverletzung,  sondern  auch  der  besinnungslosen  Ver- 
zweiflung. (So  ist  es!)  Für  uns  Sozialdemokraten  und  für  die  organi- 
sierte Arbeiterschaft  steht  die  Sache  so:  Wir  waren  niemals  Freunde 
der  Christlichsozialen,  wir  haben  sie  vom  Anfang  an  erkannt  und 
danach  behandelt,  aber  sicher  ist,  daß  solche  Dinge  das  Verhältnis 
zu  dieser  Partei  noch  erheblich  ändern.  Hier  handelt  es  sich  nicht 
mehr  allein  um  einen  politischen  Gegner,  sondern  um  den  e  r- 
bittertsten,  gehässigsten  Arbeiterfeind,  den  es 
gibt.  (Brausender  Beifall.)  Sie  kennen*  mich  zu  gut,  als  daß  Sie 
meinten,  daß  ich  übertriebene  Vorstellungen  von  den  Tugenden  des 
freiheitlichen  Bürgertums  hätte.  Ich  verlange  von  ihnen 
keine  ideale  Politik  und  kann  ihre  politische  Zukunft  nicht  über- 
schätzen. Aber  das,  was  wir  hier  bei  den  Christlichsozialen  sehen, 
zeigt,  daß  die  Gewalttat  ein  Glied  in  der  Kette  dieser  korrupten 
Verwaltung  ist,  wie  das  sonst  nirgends  der  Fall  ist.  Wir  sehen  leider, 
daß  an  der  Spitze  der  Gemeinde  ein  Herr  Dr.  Neumayer  steht  —  wir 
müssen  „leider"  sagen,  denn  wir  sind  alle  bessere  Wiener  als  diese 
Herren  — ,  der  der  Führung  der  Geschäfte  nicht  gewachsen  ist,  der 
absolut  die  Tragweite  von  Worten  und  Handlungen  nicht  ermessen 
kann,  und  wir  sehen  weiter,  daß  er  umgeben  ist  von  Leuten,  die  ihm 
nicht  trauen  und  denen  er  nicht  traut;  ich  weiß  nicht,  wer  mehr 
recht  hat.  (Heiterkeit  und  Zustimmung.)  Wir  sehen  Leute  am  Ruder, 
die  nichts  im  Kopfe  haben  als: 

Zum  Teufel  die  Gemeinde,  wenn  ich  mich  nur  an  der  Oberfläche 

halte! 

Das  müssen  wir  sagen:  die  Wahl  muß  zeigen,  daß  die  Christlich- 
sozialen der  allergefährlichste  Feind  der  Arbeiten- 
den aller  Schichten  sind,  und  alles  muß  darangesetzt 
werden,  diese  Herrschaft  zu  erschüttern  und  ihr  ein  Ende  zu 
machen.  (Stürmischer  Applaus.) 


Der  Qewaltstreich  gegen  die  Straßenbahner.  W 

Die  Straßenbahner  werden  diese  Krise  überstehen,  wenn  sie  sich 
benehmen  wie  Männer,  welche  ihrer  Organisation  ruhig  treu  bleiben 
und  auf  die  Provokationen  der  christlichsozialen  Lockspitzel  nicht 
hineinfallen.  Schon  heute  hörte  ich,  daß  die  christlichsozialen  Werk- 
zeuge versuchen,  die  Organisierten  zu  zwingen«  sich  etwas  zu- 
schulden kommen  zu  lassen,  damit  man  sie  packen  kann.  Die  Straßen- 
bahner sollen  aber  wissen:  mit  kräftigen  Worten  wird  diese 
Schlacht  nicht  gewonnen!  Rache  muß  kalt  genossen 
w  e  rde  n.  Heute  heißt  es:  ruhig  an  der  Organisation  festhalten,  um 
Wahltag  sich  nicht  knebeln  und  zum  Stimmvieh  herabwürdigen 
lassen!  Dann  werden  andere  Zeiten  kommen.  (Brausender  Beifall.) 

Wir  wenden  uns  nicht  an  die  Straßenbahner,  weil  wir  ihre 
Stimmen  brauchen,  der  Kampf  um  das  Recht  des  Arbeiters  steht  uns 
höher  als  alle  Gemeinderatsmandate  der  Welt.  Wir  wollen  den 
Kampf  nicht  ausnützen  für  die  Wahlen;  umgekehrt:  die  Wahl  muß 
ein  Mittel  sein,  die  Gemeinheit  und  Niederträchtigkeit,  die  im  Rat- 
haus regiert,  abzuwehren.  Dann  wird  man  das  Koalitionsrecht  der 
Straßenbahner  nicht  verneinen  können.  Die  Mittel  und  Ziele  der 
Herren  sind  doch  aucli  gar  zu  kindisch.  Wie  kann  man  erwachsene 
Leute,  die  doch  der  Bürgermeister  und  seine  Stellvertreter  sind, 
ernst  nehmen,  wenn  sie  sagen:  den  „Weckruf"  halten  wir  nicht  aus! 
Daß  der  „Weckruf"  nicht  ausschließlich  mit  Glacehandschuhen  ge- 
schrieben ist  und  nicht  mit  lauter  Rosenwasser,  das  kann  man  ihm 
nicht  verübeln.  Der  Gegner  ist  ja  auch  nicht  danach.  (So  ist  es!) 
Wenn  es  die  Straßenbahner  schon  verstehen  würden,  wenn  er  sehr 
höflich  wäre,  die  Christlichsozialen  würden  es  doch  nicht  verstehen. 
(Heiterkeit  und  Zustimmung.)  Hingegen  würde  ich  mich  sehr  ent- 
schieden verwahren,  daß  ein  Blatt  in  dem  H  o  f  t  o  n  geschrieben 
wäre  wie  die  Bielohlaweksche  „Volkspresse"  oder  auch  nur  die 
„Reichspost".  Diese  Leute  beklagen  sich  über  Unhöflichkeit.  Da  muß 
wieder  gesagt  werden:  Leute,  die  Dinge  verübt  haben  wie  das 
Attentat  auf  den  toten  S  i  1  b  e  r  e  r*)  und  die  sich  mit  diesen  Dingen 
solidarisch  erklärt  haben,  weil  sie  nichts  gegen  sie  unternahmen, 
haben  ein  für  allemal  das  Recht  verwirkt,  über- 
haupt Kritik  zu  übe  n.  (Tosender  Beifall.) 

Ich  habe  so  maßvoll  als  möglich  den  Sachverhalt  klargelegt.  Es 
sind  zwrei  Dinge  zu  tun:  wir  haben  die  Organisation  der  Straßen- 
bahner zu  unterstützen,  so  gut  wir  können,  und  ihnen  in  jeder  Be- 
ziehung unsere  Hilfe  angedeihen  zu  lassen.  Für  die  Straßenbahner 

»  Der  sozialdemokratische  Wiener  Abgeordnete  Franz  S  i  1  b  e  r  e  r, 
Obmann  der  Bäckergewerkschaft,  war  auf  einer  Skitour  umgekommen 
und  das  christlichsoziale  Zentralorgan,  die  „Reichspost",  hatte  behauptet, 
er  sei  mit  der  (iewerkscliaftskasse  nach  Amerika  durchgebrannt;  ja,  die 
Christlichsozialen  hatten  sich  sogar  falsche  Zeugen  in  Amerika  bestellt, 
die  ihn  dort  gesehen  haben  wollten.  Als  dann  nach  der  Schneeschmelze, 
Anfang  April,  sein  Leichnam  aufgefunden  wurde,  behaupteten  die 
Christlichsozialen  —  vor  allem  die  „Reichspost"  und  der  Abgeordnete 
ferzabek  — ,  das  sei  ein  untergeschobener  „Kadaver".  Seither  hieß 
man  die  „Reichspost"  das  „L  e  i  c  h  e  n  s  c  h  ä  n  d  e  r  b  1  a  1 1"  und  den  Ab- 
geordneten   lerzabek   den   „Kadaver- Jerzabek". 

Kdler,  Briefe.   XI.  Bd.  7 


98  Terror  und  Gewissenszwang. 


heißt  es  aber :  sich  nicht  herauslocken  lassen,  nicht 
den  Schein  des  Unrechts  auf  ihre  Seite  zu  bringen. 
Das  Allernächste  aber,  was  wir  zu  tun  haben,  ist  der  Kampf  bei  den 
G  e  me  in  de  r  a  t  s  \va  h  1  en*).  Diesmal  kämpfen  wir  nicht  allein 
für  das  Recht  in  der  Gemeinde,  nicht  allein  für  sozialpolitischen  Fort- 
schritt, sondern  in  allererster  Linie  um  das  ursprünglichste  Recht 
des  Menschen,  seiner  Meinung  freien  Ausdruck  zu  geben  und  Ver- 
einen anzugehören.  Die  Christlichsozialen  werden  den  frivolen  An- 
griff auf  die  Arbeiterschaft  noch  bitter  zu  bereuen  haben.  (Stür- 
mischer, anhaltender  Beifall.) 


*)  Bei  den  Gemeiiuderatswahlen  siegten  die  Christlichsozialen  dank 
ihrem  Wahlkörpersystem,  dank  ihrem  Wahlschwindel  und  ihrem  Terroris- 
mus wieder.  Immerhin  zeigte  sich  folgendes  Kräfteverhältnis:  Die  Sozial- 
demokraten bekamen  mit  ihren  118.000  Stimmen  zehn  Mandate  im  vierten 
Wahlkörper,  die  Christlichsozialen  mit  120.000  Stimmen  in  allen  Wahl- 
körpern zusammen  135  Mandate!  Erst  nach  dem  Umsturz,  wo  das  gleiche 
Wahlrecht  auch  für  die  Gemeinden  eingeführt  wurde,  ist  die  christlich- 
soziale Herrschaft  in   Wien   schmählich   zusammengebrochen. 


Qiordano  Bruno. 


Kämpfer  gegen  den  Geistesdruck. 

Giordano  Bruno. 

„Gleichheit"   vom   14.   Juni    188  9. 

v.  a.  Am  Pfingstsonntag  wurde  zu  Rom  das  Denkmal  Q  i  o  r- 
dano  Brunos  enthüllt.  Es  steht  auf  demselben  Platz,  auf 
welchem  am  17.  Februar  1600  der  Scheiterhaufen  loderte,  welchem 
ihn  die  Inquisition  überantwortet  hatte.  Er  war  ein  „Ketzer".  Als 
15jähriger  Knabe  trat  er  in  den  Dominikanerorden  ein.  Nach  lang- 
jährigen Studien,  nach  bitteren  Kämpfen,  in  welchen  sein  mächtiger 
Geist  mit  den  Vorurteilen  seiner  Erziehung  rang,  nach  einer  Reihe 
von  Prozessen,  die  ihm  der  Verdacht  des  Abfalls  vom  rechten 
Glauben  eingetragen,  floh  er  aus  dem  Kloster,  legte  die  Kutte  ab 
und  nahm  ein  mühseliges  Leben  voll  härtester  Entbehrungen  und 
Verfolgungen  auf  sich.  Rastlos  lernend,  rastlos  lehrend  durchzog 
er  die  Schweiz,  Frankreich,  England,  Deutschland,  bald  die  Gast- 
freundschaft und  den  Schutz  edler  und  vorurteilsfreier  Männer 
genießend;  bald  vor  der  Rachsucht  der  Zeloten  auf  der  Flucht. 
Schließlich  ließ  er  sich  durch  die  Sehnsucht  nach  seinem  Vater- 
land und  das  Vertrauen  auf  den  zugesagten  Schutz  eines  hoch- 
adeligen  Venetianers  verleiten,  nach  Italien  zurückzukehren.  Sein 
hochgeborener  Schutzherr  überfiel  ihn  im  Schlafe  und  lieferte  ihn 
der  Inquisition  aus.  Der  Schurke  hieß  Giovanni  Mocenig'o. 

Unter  den  Bleidächern  des  Dogenpalastes  begann  im  Jahre  1592 
sein  Prozeß.  Der  Papst  verlangte  seine  Auslieferung,  die  im  Jahre 
darauf  erfolgte.  Sieben  Jahre  läng  versuchten  es  seine  Kerker- 
meister, ihn  zu  widerlegen  und  von  seinen  Irrtümern  zu  über- 
zeugen. Ihre  Gründe  konnten  ihn  nicht  widerlegen,  ihre  Folter- 
werkzeuge nicht  überzeugen.  Er  hatte  schwache  Momente,  während 
er  auf  der  Folter  lag,  und  versprach  wiederholt,  er  werde  wider- 
rufen. Aber  schließlich  konnte  er  sich  nicht  überwinden,  zu  lügen, 
wie  andere  sich  nicht  überwinden  können,  die  Wahrheit  zu  sagen. 
Denn  er  war  ein  Held.  Und  so  mußte  er  „ungebessert"  verurteilt 
werden.  Degradiert  und  exkommuniziert  wurde  er  der  weltlichen 
Obrigkeit  übergeben  mit  der  Bitte,  „ihn  so  gelinde  als  möglich 
und  ohne  Blutvergießen  (citra  sanguinis  effusionem)  zu  bestrafen"; 
das  hieß  damals,  ihn  zu  verbrennen.  Als  sein  Urteil  ihm,  dem 
knienden  armen  Sünder,  verkündet  wurde,  erhob  er  sich  stolz 
und  sprach :  „Mit  größerer  Furcht  sprecht  ihr  das 
Urteil,    als   ich    es    vernchm  e."   Acht   Tage   ließ   man   ihm 

7* 


100  Kämpfer  gegen  den  üeistesdruck. 


Frist  zum  Widerruf;  dann  wurde  ilim  die  Zunge  zerrissen  und  er 
bestieg  den  Scheiterhaufen.  Vom  Kruzifix,  das  man  dem  Sterben- 
den in  die  Flammen  zum  Kusse  reichte,  wandte  er  sich  schweigend 
ab.  Er  vermochte  das  Zeichen  der  göttlichen  Liebe  und  Duldung 
nicht  zu  erkennen.  Lautlos  starb  er. 


Brun  o  war  ein  großer,  selbständiger  Denker  und  Dichter. 
Die  Welt  war  ihm  ein  Ganzes,  ein  einziges  Wesen,  durch  sich 
allein  da,  außer  welchem  es  nichts  gibt.  Gott  als  Schöpfer  außer- 
halb der  Welt  findet  darum  nicht  Raum  in  seiner  Philosophie.  Die 
Welt  selbst  heißt  ihm  Gott.  Durch  „Scheidung  und  Entfaltung'4 
bringt  die  Materie  aus  sich  selbst  heraus  alle  ihre  Formen  hervor. 
Ihr  inneres  Wesen,  die  Weltseele,  ist  einzig  und  allumfassend. 

In  der  Entwicklung  dieser  Lehren,  die  er  in  zahlreichen 
Schriften  niederlegte,  mußte  Bruno  mit  dem  kirchlichen  Dogma 
in  Konflikt  kommen.  Seine  Tapferkeit  der  Gesinnung  führte  zum 
offenen  Bruche  mit  der  Kirche,  der  verschärft  wurde  durch  den 
heiligen  Eifer,  mit  dem  er  seine  Überzeugung  verbreitete.  Bruno 
war  aber  auch  Dichter.  Und  den  Dichter,  der  in  glühender  Be- 
geisterung seine  Weltanschauung  poetisch  ausmalte,  dessen  rück- 
sichtslos scharfe  Satire  jeder  Heuchelei  die  Maske  abriß,  fürchtete 
und  haßte  Rom  noch  mehr.  Das  stolze  Selbstbewußtsein  Brunos 
spricht  sich  in  folgenden  Versen  aus: 

Nicht  blinder  Wahn  der  Zeit,  nicht  Schicksals  Tücke. 
Nicht  offne  Wut,  noch  Hasses  gift'ges  Flüstern, 
Nicht  Bosheit,  roher  Sinn  und  freches  Trachten 
Vermögen  je,  den  Tag  mir  zu  verdüstern, 
Mir  zu  verschleiern  meine  hellen  Blicke, 
Noch  meiner  Sonne  Glanz  mir  zu  umnachten. 


Heute,  nach  300  Jahren,  errichtet  Rom  dem  Ketzer  ein  Denkmal. 
Und  neu  angefacht  umzüngelu  die  Flammen  des  Scheiterhaufens 
die  edle  Gestalt  des  feurigen  italienischen  Dichters  und  Denkers. 
Neuerdings  wird  ihm  der  Prozeß  gemacht  und  nochmals  brechen 
die  klerikalen  Zeloten  den  Stab  über  ihn*).  Der  Ketzer  ist  lebendig 
worden,  aber  die  Ketzerrichter  auch.  Sie  zeigen,  daß  sie  die  alten 
sind.  Gemeine  Schimpfwrorte  gegen  ihr  Opfer,  infame  Verdrehungen 
seiner  Lehren  füllen  die  klerikalen  Blätter.  Eine  ohnmächtige  Wut 
macht  sie  rasen. 

Woher  der  Zorn?  Wahrlich,  nicht  der  arme  tote  Bruno, 
nicht  seine  Asche,  die  sie  in  alle  vier  Winde  gestreut,  nicht  seine 
Lehre,  die  heute  längst  ihr  gefährlichster  Feind  nicht  mehr  ist, 
nicht  das  Andenken  an  den  Ketzer  läßt  sie  so  schäumen  und  Gift 


*)  In  einer  Ansprache  an  die  Kardinäle  erklärte  Papst  Leo  XIII.  am 
30.  Juni  1885,  als  das  Denkmal  beschlossen  wurde,  seine  Aufstellung  für 
eine  Beleidigung  der  Kirche,  „weil  mau  einen  zwiefach  Verpesteten,  der 
Autorität  der  Kirche  Widerstrebenden,  gefeiert  habe". 


Ludwig  Anzetigrüber.  Mi 


und  Qalle  speien.  Was  sie  so  fürchten,  ist  eins  Andenken  an  den 
Scheiterhaufen.  Und  da  war  es  denn  recht  unklug;,  daß  die  Kirche 
von  heute  sich  selbst  solidarisch  erklärte  und  seihst  verantwortlich 
inachte  für  die  Kirche  des  16.  Jahrhunderts.  Sie  selbst  erklärt  sich 
für  dieselbe,  die  (iiordano  Bruno  dem  Martertode  über- 
lieferte, sie  selbst  führt  den  Beweis,  wie  sie  noch  heute  über 
Duldung  von  ketzerischen  Meinungen  denkt. 

Merkwürdig  aber  ist,  daß  die  liberale  Bourgeoisie  nicht 
merkt,  daß  das  Denkmal,  welches  sie  errichtet,  ein  Schandmal  ist 
für  sie  selbst.  Sie  verdammt  den  Scheiterhaufen  von  damals  und 
sie  selbst  errichtet  zahllose.  Galt  den  Ketzerrichtern  von  anno  1600 
das  Verbrennen  eine  „milde  Strafe"  für  Andersdenkende,  so  ist 
den  bürgerlichen  Ketzerrichtern  von  heute  die  Verbannung,  der 
Kerker,  der  langsame  Hungertod  die  „milde  Strafe"  für  die  frechen 
Ketzer,  welche  finden,  die  heutige  Gesellschaftsordnung  sei  nicht 
die  Krone  und  das  letzte  Ziel  aller  menschlichen  Entwicklung.  Wer 
das  bürgerliche  Dogma  vom  kapitalistischen  Eigentum  angreift, 
wer  verkündet,  die  Ausbeutung  der  Arbeit,  die  Knechtung  der 
Masse,  die  Prostitution  des  Weibes  müsse  ein  Ende  nehmen  und 
werde  ein  Ende  nehmen,  ist  der  bürgerlichen  Inquisition  de^ 
19.  Jahrhunderts  verfallen. 

Aber  der  Strom  schwillt  und  die  Ketzergerichte  des  Kapita- 
lismus werden  verschwinden,  wie  die  der  Kirche,  vor  der  ge- 
schichtlichen Entwicklung.  Und  die  heute  Giordano  Bruno 
feiern,  sie  fürchten  selbst  für  sich  und  aus  Furcht  errichten  sie 
Scheiterhaufen,  genau  wie  weiland  die  Kardinäle.  Aber  auch  ihnen 
ruft   das   Proletariat   zu,   stolz,   wie   einst   Giordano  Bruno: 

Mit  größerer  Furcht  sprecht  ihr  das  Urteil,  als 
ich  es  vernehme. 

Ludwig  Anzengruber. 

„Arbeiter-Zeitung",  13.  Dezember  188  9*). 

Heute  wird  in  Wien  der  größte  dramatische  Dichter  unserer 
Tage  zu  Grabe  getragen.  Nach  einem  Leben  voll  Kampf,  Elend, 
Enttäuschung  und  Verbitterung  starb  er  in  einem  der  wenigen 
Augenblicke,  wo  die  Großen  und  Mächtigen,  halb  widerwillig, 
gezwungen  waren,  ihm  den  Lorbeer  zu  reichen.  Das  Volk,  dem  er 
entstammt,  das  er  liebte,  das  er  in  dauernden  Gestalten  schilderte 
mit  allen  seinen  Tugenden  und  Lastern,  mit  seinen  Hoffnungen 
und    seiner  Verzweiflung,    sein  Volk    kannte    ihn  nicht,   kennt  ihn 

*)  Im  Jahrgang  I,  Nummer  16  der  „Arbeiter-Zeitung"  vom  13.  De- 
zember 1889  erschien  als  Leitartikel  dieser  Aufsatz  von  Victor  Adler 
über  Ludwig  Anzcn  gruber,  der  kurz  vorher  gestorben 
war  —  in  derselben  Nummer,  die  auch  die  berühmte  Einspruchsverhand- 
lung vor  dem  Obersten  Gerichtshof  wegen  der  Verurteilung  Adlers  aus 
Anlaß  des  Tramwaystrciks  bringt.  Wenige  Tage  also,  bevor  Adler  in 
den  Arrest  wanderte,  fand  er  die  Zeit,  fühlte  er  die  Notwendigkeit,  sich 
mit   fragen   der   Kunst  zu   befassen.   („Kunst  und  Volk",  November   1Q28.) 


102  Kämpfer  gesell  den  Oeistesdruck. 

heute  fast  noch  nicht.  Von  allem  Empörenden  in  unserer  heutigen 
„Ordnung"  ist  es  Vielleicht  das  Empörendste,  daß  sie  das  Volk 
nicht  nur  dem  physischen  Elend,  der  quälenden  Not  überläßt,  daß 
sie  das  Volk  nicht  nur  politisch  knechtet,  sondern  auch,  daß  sie 
das  Volk  von  dem  Genuß  der  höchsten  geistigen  Schätze  aus- 
schließt. Die  großen  Gedanken  unserer  Denker,  die  mächtigen 
Schöpfungen  unserer  Künstler  sind  Ware,  wie  alles  Ware  geworden, 
und  sind  nur  dem  zugänglich,  der  ihren  Besitz  bezahlen  kann.  Kunst 
und  Wissenschaft,  bestimmt,  das  gesamte  Volk  zu  beglücken,  zu 
begeistern,  zu  erheben,  sind  die  Opfer  der  niedrigsten  Gewinnsucht 
von  Leuten,  die  in  Dramen  spekulieren,  die  sie  nicht  gemacht,  wie 
andere  in  Tuch,  das  sie  nicht  gewebt,  oder  in  Kohle,  die  sie  nicht 
gefördert.  So  werden  die  leuchtenden  Edelsteine  des  Gedankens 
an  die  plumpen  Protzen  verschachert,  welche  lieblos  und  ohne 
Verständnis  sie  gerade  gut  genug  dazu  finden,  mit  ihrem  Glänze 
das  Pfauenrad  ihrer  Eitelkeit  zu  schmücken.  Das  Volk,  der 
Mutterschoß  des  Genies,  genießt  nichts  von  seiner  Fruchtbarkeit, 
so  wenig  wie  von  den  Früchten  seiner  physischen  Arbeit. 

Wäre  das  Volk  so  sehr  im  Wohlstand  als  es  im  Elend  ist,  wäre 
es  heute  so  frei  als  es  versklavt  ist  —  die  einzige  Tatsache  müßte 
den  heutigen  Zustand  unerbittlich  verdammen,  daß  der  großen 
Masse  des  Volkes  jener  strahlende  Himmel  von  Gedanken  ver- 
schlossen ist,  ohne  welchen  dem  Wissenden  das  Leben  nicht 
lebenswert  erscheint.  Und  mit  welcher  Begierde  lechzt  die  elende 
Masse,  .der  „Pöbel"  in  Lumpen. und  mit  hungrigem  Magen,  nach 
jedem  schmalen  Lichtstreifen,  den  der  dicke  Vorhang  durchläßt, 
während  die  Großen  und  Mächtigen,  der  Pöbel  in  Seidenhüten, 
auf  schwellenden  Samtpolstern  "lungernd,  die  größten  Gedanken 
des  menschlichen  Gehirns  gelangweilt  und  übersättigt  vorführen 
sieht. 

Das  Monopol  auf  die  Frucht  der  menschlichen  Hirnarbeit  wird 
erst  gebrochen  werden  zugleich  mit  dem  Monopol  auf  die  Frucht 
der  Handarbeit. 

Ludwig  Anzengruber  war  ein  Volksdichter,  und  den  Charakter 
des  österreichischen  Volksstammes  hat  keiner  so  verstanden  und 
darzustellen  gewußt  wie  er.  Eine  Reihe  von  Volksstücken,  zum 
größten  Teil  im  österreichischen  Dialekt  abgefaßt,  eine  ansehnliche 
Zahl  von  Erzählungen  geben  *  davon  Kenntnis.  Als  dramatischer 
Dichter  ragt  er  so  nahe  an  Shakespeare  hinan  wie  kein  anderer 
der  Neueren.  Und  doch  ist  er  von  wenigen  geschätzt  und  hat  lange 
nicht  den  Ruhm  erlangt  wie  die  Fabrikanten  glatter  Rührstücke 
und  philiströser  Possen  oder,  wie  die  Zotenreißer,  welche  heute  die 
Bühne  beherrschen.  Warum?  Der  Grund  ist  klar.  Anzengruber  war 
ernst,  und  das  Publikum  will  Rührung.  Anzengruber  hatte  Humor, 
und  das  Publikum  will  Spaß.  Und  wenn  sie  ihn  anerkennen  mußten, 
wenn  sie  die  große  Dichtergestalt  nicht  länger  ignorieren  konnten, 
so  beugten  sie  sich  nur  widerwillig  und  grollend.  Sie  fühlten,  viel- 
leicht ohne  es  zu  wissen,  Anzengruber  gehöre  nicht  zu  ihnen. 


Ludwig   Aii/i-uv.i über.  103 


Wir  sin  d  \v  eil  davon  e  n  t  f  c  r  n  t,  i  li  n  als  S  0  Z  i  a- 
listen  zu  i)  r  o  k  l  a  m  leren.  Da  s  w  Irtschaftlichä  Pf  o- 

b  1  c  in  I  a  g  i  li  in  I  c  r  n.  A  h  e  r  c  r  f  ü  li  I  t  die  s  c  li  n  e  i  d  e  n  d  e  n 
Widers  p  r  ü  e  li  e  in  unserer  ( i  e  s  e  I  1  s  e  li  a  f  t  und  mit 
der  naiven  Wahrheitsliebe  des  wirklichen  Die  h- 
ters  sprach  er  aus,  was  er  sali  und  fühlte.  In  jedem 
seiner  Stücke  kommt  ein  Mann  vor,  der  den  Widerspruch  zum 
Ausdruck  bringt,  der  nicht  ist  wie  die  anderen,  sondern  der  denkt 
und  der  die  Menschen  liebt.  Der  Wurzelsepp  im  „Pfarrer  von 
Kirchfeld",  der  Steinklopferhannes  in  den  „Kreuzelschreibern",  der 
Einsam  in  „Stahl  und  Stein",  der  Hubermayer  in  „Fleck  auf  der 
Ehr",  sie  alle  sind  zugrunde  gegangen  in  und  an  der  Gesellschaft, 
und  sie  wußten  und  sahen  das.  Diese  „Lumpen",  durch  welche  die 
ganze  biedere,  ehrenwerte  Bürger-  und  Bauerngesellschaft  eigent- 
lich und  ihre  satte  Tugend  ein  verflucht  schäbiges  Aussehen 
bekommt,  sie  sprechen  die  Sprache  der  Wahrheit.  Und  das  macht 
den  Dichter  unbequem. 

Anzengruber  war  eine  Rebellennatur  wie  Beethoven,  wie 
Richard  Wagner,  und  daher  der  lange  Zeit  offene,  später  noch 
immer  versteckte  Krieg  gegen  ihn  wie  gegen  jene  Großen.  Ein 
einziges  Mal  winkte  ihm  der  allgemeine  Beifall  des  Bürgertums. 

Er  war  ein  Feind  der  Pfäfferei,  und  sein  „Pfarrer  von  Kirch- 
feld" fiel  in  jene  Zeit,  wo  die  österreichische  Bourgeoisie  den 
letzten  Anfall  von  Freisinnigkeit  hatte-  Das  machte  ihn  „populär" 
für  kurze  Zeit.  Das  Deutsche  Volkstheater,  in  welchem  nur  jenes 
Volk  Platz  findet,  das  Zeit  und  Geld  hat,  soll  Anzengruber  zu  Ehren 
bringen.  Aber  der  zahlungsfähige  Geschmack  verlangt  glatte  Ko- 
mödie, und  den  Luxus  wirklicher  Dichtung  kann  man  sich  selten 
gönnen. 

So  ist  der  Mann,  den  sie  morgen  begraben  werden,  nicht  zur 
vollen  Ruhe  gelangt.  Er  selbst  fühlte  es,  wie  die  Schwingen  seines 
Genies  gelähmt  wurden  durch  die  Stickluft,  die  Gleichgültigkeit, 
Denkfaulheit  und  die  egoistische  Beschränktheit  derjenigen 
Schichten,  denen  allein  er  sich  vernehmbar  machen  konnte.  Das 
Volk  aber,  zu  dem  er  gehörte,  zu  dem  er  sprach,  an  das  Volk 
konnte  er  nicht  herankommen.  Was  aus  Anzengruber  in  einem 
freien  Lande,  unter  menschlichen  Zuständen  geworden  wäre,  läßt 
sich  nicht  absehen.  Das  „kunstliebende"  Bürgertum  ließ  ihn  ver- 
kümmern, wie  es  Schiller  und  Feuerbach  verhungern  ließ,  wie  es 
Wagner  zwang,  unter  die  Protektion  eines  prachtliebenden  Fürsten 
zu  flüchten. 

Anzengruber  ist  in  kleinlichen,  dürftigen  Verhältnissen  ge- 
storben, aber  die  Lindau,  Moser  und  wie  die  dichtenden  Lakaien 
der  Bourgeoisie  alle  heißen,  wohnen  in  Palästen  und  speisen  mit 
den  Großen  der  Erde. 

Möge  der  Prunk  nicht  irreführen,  mit  dem  sie  Anzengruber 
morgen  begraben  werden.  Am  besten  gefällt  ihnen  an  ihm  eben 
—  daß  er  tot  ist. 

Aber  der  Tag  wird  kommen,  wo  unsere  Künstler  werden  zum 


104  Kämpfer  gegen  den  üeistesdruck. 


Volke  sprechen  können,  wo  die  Scheidewand  fällt,  welche  sie  von 
denen  trennt,  aus  deren  Herzen  sie  sprechen,  wo  die  Kunst  Gemein- 
gut sein  wird  für  alle,  die  Hirn  und  Herz  haben,  sie  zu  fassen. 

Die  Scheidewand  wird  fallen,  wenn  die  Ketten 
fallen. 

Die  Hinrichtung  in  Chikago. 

„Gleichheit"    v  o  m  1  2.  November   1887. 

V.  A.  Zur  selben  Stunde,  in  welcher  dies  Blatt  unter  die  Presse 
geht,  werden  sieben  Männer  im  fernen  Chikago  getötet  werden, 
sieben  wirkliche,  tapfere  Männer*).  Was  ist  ihre  Schuld? 

*)  In  Chikago  wurden  am  11.  November  1887  die  Anarchisten  August 
S  p  i  e  s,  Albert  P  a  r  s  o  n  s,  Adolf  Fischer  und  Georg  Engel  mit  dem 
Strang  hingerichtet.  Louis  L  i  n  g  g  hatte  am  Tage  vorher  in  der  Zelle 
Selbstmord  begangen.  Die  zwei  ebenfalls  zum  Tode  verurteilten  F  i  e  1  d  e  n 
und  Schwab  waren  infolge  der  internationalen  Protestbewegung  zu 
lebenslänglichem  Zuchthaus  begnadigt  worden.  Ein  achter,  N  c  e  b  e,  war 
gleich  zu  fünfzehn  Jahren  Zuchthaus  verurteilt  worden. 

Alle  acht  waren  ursprünglich  wegen  Mordes  angeklagt,  die  Anklage 
aber  dann  auf  Verschwörung  zur  Ermordung  von  Polizisten  umgewandelt 
worden.  Das  Verbrechen  sollen  sie  am  4.  Mai  1886  in  einer  Versammlung 
begangen  haben,  die  streikende  Arbeiter  abhielten.  Die  amerikanischen 
Gewerkschaften  hatten  beschlossen,  eine  energische  Aktion  für  die  Er- 
ringung des  Achtstundentages  einzuleiten  und  die  Anarchisten  hatten  die 
Parole  ausgegeben,  am  1.  Mai  1886  in  den  Streik  zu  treten.  Die  erschreckte 
Bourgeoisie  schrie  nach  Schutz,  und  als  sich  der  Streik  in  Chikago  .wirklich 
ausdehnte,  drangen  einige  hundert  Polizisten  in  eine  Versammlung,  die  am 
4.  Mai  abends  auf  dem  Heumarkt  stattfand.  Als  der  Offizier  in  die  friedliche 
Menge  zu  schießen  befahl,  explodierte  eine  Bombe,  die  sieben  Polizisten 
tötete  und  sechzig  verletzte.  Allgemein  war  man  der  Überzeugung,  daß 
die  Bombe  von  einem  Agent  provocateur  geworfen  worden  war,  aber  die 
Veranstalter  der  Versammlung  wurden  angeklagt  und,  obwohl  sie  jede 
Schuld  bestritten,  auch  keinerlei  Beweis  gegen  sie  vorlag,  verurteilt.  Ob- 
wohl nicht  nur  die  amerikanischen  Arbeiter,  sondern  die  ganze  gesittete 
Welt  für  die  Aufhebung  des  ungerechten  Urteils  schrie,  wurde  das  Urteil 
bestätigt. 

Die  anarchistische  Bewegung  war  durch  die  Mordtat  gelähmt,  aber  die 
Gewerkschaften  setzten  mit  einem  so  gewaltigen  Kampf  für  den  Acht- 
stundentag ein,  daß  er  im  Jahre  1890  Gesetz  wurde. 

Die  Opfer  des  Justizmordes  wurden  aber  sechs  Jahre  später  auch  amt- 
lich rehabilitiert  und  der  Prozeß  als  schändliche  Klassenjustiz,  die  Ver- 
urteilungen als  offenkundiger  Mord  erklärt. 

Am  25.  Juni  1893  wurde  auf  dem  Hügel,  unter  dem  die  Gebeine  der 
gemordeten  Opfer  ruhten,  ein  Grabdenkmal  aufgestellt,  das  aus  Beiträgen 
der  Proletarier  der  ganzen  Welt  geschaffen  worden  war.  Und  bald  danach 
ließ  der  Gouverneur  des  Staates  Illinois  J.  P.  A 1 1  g  e  1  d,  der  die  vielen 
tausende  Akten  des  Prozesses  durchstudiert  hatte,  die  drei  noch  am 
Leben  gebliebenen  Opfer  Fielden,  Schwab  und  N  e  e  b  e  aus  dem 
Zuchthaus  in  Joliet  nach  sieben  Jahren  Kerker  frei.  In  der  Amnestie- 
botschaft, die  er  veröffentlichte,  stellte  er  fest,  daß  der  Prozeß  gegen  alle 
acht  Angeklagten  in  parteiischer  Weise  geführt  worden  sei. 
Der  Staatsanwalt  G  rinn  eil  habe  nicht  wie  ein  Beamter  gehandelt,  der 


Die  Hinrichtung  in  Chikai  i(>r> 


Die  einzige,  die  wirklich  bewiesen  worden  vor  jenen  (ie- 
schwornen,  ihren  Richtern,  war  die  einzige,  ZU  der  sie  sich  frei- 
mütig und  furchtlos  bekannten.  Sie  haben  in  Schrift  und  Rede  die 
heutige  Gesellschaftsordnung  bekämpft.  Ob  sie  sich  Sozial- 
demokraten, ob  sie  sich  Anarchisten  nennen,  ob  wir  in  allein  und 
jedem  ihre  Überzeugung  teilen,  ob  nicht  sie  haben  für  die  Sache 
der  Zukunft  nach  ihrem  besten  Wissen  mit  freudigem  Mute  ge- 
kämpft. Und  deshalb  hängt  man  sie?  Man  hängt  sie  unter  einem 
Vorwand;  man  beschuldigt  sie,  sie  hätten  jene  „Bombe  von 
Chikago"  geworfen.  Die  Männer,  welche  erklären,  jede  „Gnade" 
zurückzuweisen,  würden  sich  auch  zu  dieser  Tat  bekennen.  Jeder- 
mann in  Amerika  aber  weiß,  daß  diese  Anschuldigung  erlogen, 
ein  bloßer  Deckmantel  für  einen  Akt  der  Klassenjustiz  und  nur 
durch  bestochene  Zeugen  „erwiesen"  ist. 

Wir  verlangen  von  unseren  Gegnern  nicht,  daß  sie  nach  unseren 
Prinzipien  urteilen,  wir  verlangen  noch  weniger  Schonung.  Aber 
selbst  nach  den  Prinzipien  des  bürgerlichen  Klassenstaates,  nach 
den  Rechtsgrundsätzen  der  bürgerlichen  Republik  von  Nordamerika 
ist  es  ein  Justizmord,  was  morgen  geschehen  wird.  Die  sieben 
Männer  verfallen  dem  Tode  einzig  und  allein  wegen  ihrer 
Meinungen,  welche  dem  Klasseninteresse  der  richtenden  Ge- 
schwornen  zuwiderlaufen. 

Die  blutige  Maiwoche,  welche  die  Kommune  von  Paris  fallen 
sah,  kostete  Tausende  von  Proletarierleben.  So  himmelschreiend 
die  Großtaten  der  Schergen  Gallifets  und  Thiers'  waren,  ein  Um- 
stand wirkt  nicht  mildernd,  aber  erklärend:  die  Tat  geschah  im 
Kampf,  in  jenem  gräßlichen  Rausch,  den  Kanonendonner  und 
dampfendes  Blut  erzeugen.  Die  sieben  Männer  morgen  werden 
kalten  Blutes  getötet  werden. 

In  der  ganzen  Welt  haben  nicht  etwa  die  Proletarier  allein, 
nein  alle,  deren  Herz  und  Hirn  noch  nicht  verdorrt  ist  in  brutalstem 
Klasseninteresse,  gegen  die  Vollstreckung  des  Urteils  protestiert. 
Umsonst! 

Wir  glauben  nicht  an  die  prahlerischen  Drohungen  von  schneller, 
blutiger  Rache,  von  der  Einäscherung  Chikagos,  wie  man  sie  wohl 
ab  und  zu  hören  konnte.  Aber  wir  glauben  an  die  tiefe,  anhaltende 
Wirkung  des  Aktes,  der  sich  morgen  vollziehen  wird.  Die  sieben 
Männer  fallen  nicht  vergebens! 

das  Recht  suchte,  sondern  wie  ein  heimtückischer  Verfolger,  der  eine 
Anzahl  politischer  Gegner  unschädlich  machen  wollte.  Der  Polizeiinspektor 
B  o  n  f  i  e  1  d  habe  auf  dessen  Anordnungen  hin  falsches  Beweismatcrial 
fabrizieren,  Meineide  schwören  lassen  und  den  Angeklagten  Handlungen 
und  Worte  unterschoben,  die  nur  in  der  Einbildung  bestanden,  während 
die  Richter  vom  Beginn  an  Entscheidungen  fällten,  die  davon  zeugten, 
daß  es  ihnen  nicht  darum  zu  tun  war,  Gerechtigkeit  walten  zu  lassen, 
sondern  die  Angeklagten  unter  allen  Umständen  an  den  Galgen  und  ins 
Gefängnis  zu  bringen. 

Altgeld  wurde  allerdings  für  diese  Tat,  die  ihm  das  Lob  der  ganzen 
zivilisierten  Welt  eintrug,  von  der  Bourgeoisie  gestraft,  indem  sie  ihn  nach 
Ablauf   seiner   Mandatsdaucr   nicht  mehr   wählte. 


106  Argumente   der   Christlichsozialen. 


Argumente  der  Christlichsozialen. 

Christliche  und  jüdische  Ausbeutung. 

Wählerversammlung,  2  8.  Februar  189  7*). 

Die  Antisemiten,  die  vorgaben,  der  ehrlichen  Arbeit  wieder 
zu  ihrem  Rechte  verhelfen  zu  wollen,  sind  jetzt  ganz  die  Partei 
der  Besitzenden  geworden.  Die  ärgsten  Ausbeuter  Wiens  sind  die 
christlichen  und  jüdischen  Hausherren,  die  eine  große  Organisation 
im  Hausherrenverein  haben,  dessen  erster  Ehrenpräsident  der 
Bürgermeister  Strobach  ist.  (Stürmische  Pfuirufe.)  Rufen  Sie 
nicht  Pfui!  Seien  wir  lieber  froh,  daß  die  Antisemiten  offen  als 
Hausherrenpartei  auftreten.  Worüber  man  aber  Pfui!  rufen  muß, 
ist,  daß  sie  dabei  noch  immer  die  Unverschämtheit  haben,  die 
Stimmen  der  Arbeiter  haben  zu  wollen.  Der  Dr.  Lueger  und  der 
Noske,  der  Oberantisemit  und  der  Oberjudenbeschützer,  sind  zu- 
sammengegangen, um  den  Schubwagen  zu  erhalten**).  Mögen  ein- 
ander diese  Herren  sonst  auch  noch  so  sehr  bekämpfen,  beim 
Schubwagen  treffen  sie  sich.  Trotzdem  die  Antisemiten  vor  kurzem 
erst  die  reichsten  Juden  zum  Ball  der  Stadt  Wien  geladen  haben, 
behaupten  sie,  daß  die  Sozialdemokratie  von  den  Juden  geführt 
werde.  Sie  hätten  sich  ja  auch  um  die  Arbeiter  kümmern  können. 
Allerdings,  der  Liechtenstein  hat  sich  ja  beispielsweise  um  den 
Ausnahmezustand  gekümmert,  aber  indem  er  erklärte,  der  Aus- 
nahmezustand sei  notwendig  gegen  die  Anarchisten.  Das  sagte  der- 
selbe Liechtenstein,  der  sehr  gut  wußte,  daß  der  „Anarchist" 
P  e  u  k  e  r  t,  mit  dem  er  verkehrte,  ein  Polizeispitzel  war.  Solange 
die  Arbeiter  kein  Wahlrecht  hatten,  haben  sich  die  Herren  nicht 
sehen  lassen,  jetzt  kommen  sie  und  verlangen  die  Stimmen  der 
Arbeiter.  Der  9.  März  wird  aber  zeigen,  daß  das  Volk  von  Wien 
nicht  unter  der  schwarzen  Kutte  steht,  sondern  daß  es  unter  der 
roten  Fahne  marschiert. 


*)  In  den  letzten  Wochen  vor  der  ersten  Wahl  aus  der  fünften  Kurie 
mußte  Adler  jeden  Tag,  oft  in  mehreren  Versammlungen,  sprechen.  So  sprach 
er  am  28.  Februar  in  einer  Versammlung  auf  der  Wieden,  welcher  bürger- 
liche Bezirk  zu  dem  Favoritner  Wahlkreis  hinzugefügt  war.  Da  hier  auch 
zahlreiche  Kleingewerbetreibende  anwesend  waren,  sprach  er  hier  vor- 
nehmlich über  das  Thema,  das  von  den  Christlichsozialen  in  den  Vorder- 
grund gestellt  wurde,  über  die  jüdische  Ausbeutung.  Seine  weiteren 
Reden  an  demselben  Tag  an  anderer  Stelle. 

**)  Beide  hatten  gegen  das  Heimatsgesetz  gestimmt. 


Sozialdemokratische    Wahlkosten.  107 


Sozialdemokratische  Wahlkosten. 

W  ä  h  I  e  r  v  e  r  s  a  rti  m  1  u  n  g,  2 8.   F  e b r u ar   \k()1'). 

Herr  Dr.  Lueger  konnte  diese  offene  Präge  um  SO  leichter  an 
inieli  richten,  weil,  wenn  der  Dr.  Adler  in  das  Lokal  gekommen 
wäre,  um  die  Frage  ZU  beantworten,  er  von  den  Ordnern  mit  den 
Ochsenziemern  sofort  hinausgeworfen  worden  wäre.  Das  hat  den 
Dr.  Lueger  aber  nicht  gehindert,  in  einer  einige  Tage  später 
abgehaltenen  Versammlung  pathetisch  zu  erklären:  „Herr 
Dr.  Adler  hat  meine  Anfrage  noch  immer  nicht  beantwortet!"  Die 
Antisemiten  glauben,  daß  es  bei  uns  so  zugeht  wie  bei  ihnen,  wo 
jeder  Schritt  schwer  bezahlt  werden  muß,  wo  jeder  Ordner  von 
St.  Marx**)  unter  4  bis  5  fl.  für  den  Abend  nicht  zu  haben  ist.  Der 
Dr.  Lueger  sieht  nun  die  ungeheure  Arbeit,  die  wir  während  der 
Wahlen  leisten,  und  da  sagt  er  sich,  daß  diese  Arbeit  bei  den  Anti- 
semiten einige  Millionen  kosten  würde.  Wenn  die  Antisemiten  an 
einem  Tage  in  ganz  Österreich  2V->  Millionen  Wahlflugblätter  ver- 
teilen wollten,  so  würde  sie  das  selbstverständlich  sehr  viel  kosten, 
wir  haben  das  umsonst;  wir  werden  am  Wahltag  in  Wien  mehr 
als  fünftausend  Genossen  brauchen,  und  wir  haben  sie  schon  jetzt 
zu  unserer  Verfügung.  Wenn  wir  da  jedem  5  fl.  zahlen  sollten  und 
Würstel  und  Bier,  wie  die  Antisemiten,  dann  würden  wir  allerdings 
sehr  viel  Geld  brauchen.  Wir  können  auf  den  Geldsack  der  Klöster 
verzichten,  ebenso  wie  auf  den  der  Juden,  weil  wir  über  den 
Opfermut  unserer  Genossen  verfügen.  Wir  haben  ein  Kapital  zur 
Verfügung,  das  die  Antisemiten  nicht  haben,  das  Kapital  der  Über- 
zeugung jedes  Genossen,  daß  unsere  Sache  die  wahre  ist,  der 
Überzeugung,  daß  jeder  Genosse  für  sich  und  seine  Familie 
arbeitet.  Im  weiteren  Verlauf  seiner  Rede  erörtert  Genosse 
Dr.  Adler  die  Wichtigkeit  des  politischen  Kampfes  neben  dem 
gewerkschaftlichen  und  die  Stellung,  die  die  verschiedenen  parla- 
mentarischen Parteien  zur  Arbeiterschaft  einnehmen.  Dr.  Adler 
schließt  mit  der  Aufforderung,  am  9.  März  wieder  so  vorzugehen 
wie  am  13.  März  und  am  1.  Mai  und  durch  Ruhe  zu  imponieren. 
Jeder  solle  sich  fest  vornehmen,  sich  durch  die  zu  erwartenden 
Bubenstücke  der  Gegner  weder  provozieren  noch  einschüchtern 
zu  lassen.  Der  Wahlsieg  solle  durch  keine  Ausschreitung  befleckt 
werden. 


*)  In  Rappels  Rosensaal  antwortete  Dr.  Adler  vor  einer  massenhaft 
besuchten  Metallarbeiterversaminlung  auf  die  „offene  Anfrage",  die 
Dr.  Lueger  an  ihn  gerichtet,  woher  die  Sozialdemokratie  die  kolossalen 
Summen  nehme,  die   sie  zum   Wahlrechtskampf   benötige. 

**)  Die  Christlichsozialen  ließen  ihre  Versammlungen  von  städtischen 
Arbeitern  des  Schlachthauses  von  St.  Marx  bewachen,  die  mit  Ochsenziemern 
jeden,  der  einen  Widerspruch  wagte,  bearbeiteten. 


108  Argumente    da    Christlichsozialen. 

Die  „jüdischen  Führer44. 

Wähler  v  e  rsanimlnng,  2.  März   18 9  7*). 

Dr.  Mayreder  haßt  das  Wort  „bürgerlich",  den  Klassenunter- 
schied, aber  mit  dem  bloßen  Hasse  bringt  man  den  Klassen- 
gegensatz nicht  aus  der  Welt.  Mag  man  auch  noch  so  sehr  Politik 
in  das  Himmelblaue  machen,  auf  Erden  stößt  man  immer  auf  den 
Gegensatz  zwischen  Kapital  und  Arbeit,  zwischen  Ausbeutern  und 
Arbeitern.  Es  nützt  nichts,  diesen  Gegensatz  zu  hassen, 
wenn  man  nichts  tut,  ihn  zu  beseitigen.  Dr.  Mayreder 
hat  gemeint,  daß  jemand  von  uns  die  französische  Republik  als  eine 
„sozialistisch  vorgeschrittenere"  Organisation  ansieht;  im  Gegen- 
teil, sie  ist  eine  kapitalistisch  vorgeschrittenere  Republik,  in  der  die 
reine  Geldsackwirtschaft  herrscht.  Diese  französische  Republik 
wird  gerade  von  uns  am  konsequentesten  bekämpft.  Auch  daß  der 
Pariser  Gemeinderat,  der  400.000  Franken  für  den  Zarenempfang 
bewilligte,  sozialdemokratisch  ist,  ist  unrichtig;  unsere  Pariser 
Genossen  haben  auf  eine  so  energische  Weise  dagegen  gekämpft, 
daß  sie  in  Österreich  nicht  unter  zwanzig  Jahre  Kerker  bekommen 
hätten.  Natürlich,  wenn  man  seine  Kenntnis  aus  den  Entstellungen 
der  bürgerlichen  Blätter  schöpft,  so  kommt  man  naturgemäß  zu 
falschen  Anschauungen.  Dr.  Mayreder  schlägt  die  Taktik  ein,  daß 
er  erklärt:  Die  sozialdemokratischen  Arbeiter  sind  ausgezeichnete, 
brave  Leute,  aber  die  Führer  sind  verflixte  Kerle.  Dabei  sprechen 
die  Herren  immer  nur  von  den  „jüdischen"  Führern  (nebenbei 
bemerkt,  gibt  es  unter  den  Antisemiten  mehr  Juden  als  unter  uns), 
nie  von  der  großen  Masse  der  führenden  arischen  Genossen.  Ich 
brauche  nicht  zu  sagen,  was  ich  geleistet  habe,  meine  Genossen 
kennen  mich.  Seit  zwölf  Jahren  ist  meine  Person  mit  der 
Geschichte  der  österreichischen  Arbeiterbewegung  verknüpft.  Daß 
ich  mir  da  die  Erlaubnis  hätte  holen  sollen  bei  den  Herren  Deutsch- 
nationalen, habe  ich  nicht  für  notwendig  gehalten.  Dr.  Mayreder 
wirft  mir  vor,  ich  hätte  bei  den  Verkehrsanlagen  nicht  den 
Dr.  Lueger  unterstützt,  er  weiß  sogar,  warum.  Nun,  weil  ich  ein 
internationaler  Mensch  bin,  mit  anderen  Sittlichkeitsbegriffen  usw. 
Ungefähr  im  Jänner  1892  habe  ich  einen  größeren  Artikel  in  der 
„Arbeiter-Zeitung"  geschrieben,  worauf  die  Bauarbeiter  Wiens  und 
die  anderen  Branchen  diese  Forderungen  erörterten**).  Dr.  Lueger 
und  Geßmann,  die  damals  in  der  Opposition  waren  und  sich  darum 
diesen  Luxus    erlauben    konnten,    haben    diese  Forderungen    zum 

*)  In  der  Wählerversammlung  auf  der  Wieden  trat  Dr.  Adler  der 
Deutschnationale  Dr.  Mayreder  gegenüber,  der  ruhig  angehört  wurde. 
Er  wünschte,  daß  die  Arbeiter  einen  Genossen  aus  ihrer  Mitte  wählen  und 
nicht  den  Dr.  Adler,  „der  seine  ganze  Machtstellung  der  Tätigkeit  seiner 
Vorfahren  verdanke". 

**)  Der  Artikel  ist  abgedruckt  im  fünften  Heft  dieser  Schriften.  Er  heißt 
„Die  Verkehrsanlagen  von  Groß-Wien  und  die  Wiener  Arbeiter",  vom 
8.  Jänner  1892.  (Bd.  V,  Seite  107.)  Anschließend  daran  noch  einige  Artikel 
über  das  gleiche  Thema. 


Die  „jüdischen  Führer".  n»'* 


Gegenstand  eines  Antrages  gemacht,  einen  anderen  Teil  haben  die 
abgeordneten  Kaizl  und  Bärnreither  vertreten.  Diese  Forderungen 
wurden  von  den  Gegnern  heftig  bekämpft.  Das,  was  an  dem  einen 

g  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  in  Erwiderung  der  Angriffe  der 
Gegner  stand,  wurde  am  anderen  Tage  von  (ießmaim  und  Lueger 
im  Parlament  vorgebracht.  Ich,  der  internationale  Sozialdemokrat, 
Italic  diesen  Feldzug  damals  allein  führen  müssen.  (Dr.  M  a  y  r  e  d  e  r 
ruft:  Im  nationalen  Sinne!?)  Was  meinen  Sie  mit  dieser  Frage? 
Wissen  Sie,  ich  kandidiere  auch  in  Reichenberg,  wo  die  nationalsten 
uer  Nationalen  wohnen,  und  wenn  dort  jemand  den  Arbeitern  von 
deutschnational  spricht,  dann  lachen  sie  ihn  aus,  weil  dieselben 
Herren,  die  die  ganze  Nacht  die  deutsche  Fahne  hochhalten  und 
für  die  deutschen  Volksgenossen  schwärmen,  am  nächsten  Morgen 
den  tschechischen  Arbeiter  aufnehmen,  wenn  er  um  fünf  Kreuzer 
weniger  verlangt  als  der  deutsche  Arbeiter. 

Wir*  die  wir  den  Arbeitern  eine  höhere  Lebenshaltung  bei- 
zubringen suchen,  wir  sollen  Feinde  des  Deutschtums  sein?  Wir 
wenden  uns  nicht  dagegen,  daß  der  chinesische  Kuli  bei  uns  ein- 
geführt wird,  aber  wir  verlangen,  daß  er  zu  einem  höheren  Lohne 
arbeite.  Die  deutschen  Reeder,  die  das  Deutschtum  immer  hoch- 
halten, sind  es,  die  die  chinesischen  Kuli  einführen,  weil  sie 
billiger  arbeiten  als  die  deutschen  Arbeiter.  Wir  wollen  unsere 
Arbeiter  lieben,  und  wir  wissen,  daß  das  nur  geschehen  kann, 
wenn  wir  auch  alle  anderen  Arbeiter  heben.  Jeder  Fortschritt 
der  tschechischen  Arbeiter  ist  auch  ein  Fortschritt  für  die 
deutschen  Arbeiter.  Aber  darum  lieben  wir  unser  Volk  nicht 
weniger  als  Sie.  Um  die  Bergarbeiter  in  Ostrau  braucht  sich  ein 
Deutscher  nicht  zu  kümmern,  denn  das  sind  Tschechen.  Aber  die 
Bergarbeiter  von  Falkenau  sind  Deutsche  und  ihre  Ausbeuter 
größtenteils  Juden,  und  trotzdem  ist  die  antisemitische  Presse, 
darunter  auch  die  deutschvolkliche,  gegen  die  Arbeiter  auf- 
getreten. Wo  waren  auch  die  deutschen  Volksgenossen,  als  man 
Hunderte  von  deutschen  Arbeitern  in  ganz  Böhmen  zusammen- 
gefangen hat  wie  die  Hunde  und  sie  in  Ketten  nach  Prag 
schleppte?  Ich  war  damals,  ich  gestehe  es,  ungesetzlicherweise 
in  den  Bergen  von  Reichenberg  herumgeschlichen  und  wurde 
spgar  in  Reichenberg  als  bedenklich  verhaftet  und  von  einem 
deutschnationalen  Polizeisekretär  vernommen.  Da  sagte  ich  mir: 
Ich  internationaler  Sozialdemokrat  bin  hundertmal  mehr  deutsch 
als  du  deutschnationaler  Heuchler  und  Kapitalistenknecht!  Herr 
Dr.  May  reder  ist  kein  bösartiger  Gegner,  aber  er  läßt  sich  ein- 
reden, daß  ich  diesem  Bezirk  von  einer  Kapitalistengruppe  auf- 
gedrängt wurde.  Aus  welcher  Welt  kommen  Sie  denn?  Wissen 
Sie  denn  nicht,  daß  es  wohl  keinen  Menschen  gibt,  den  die  öster- 
reichischen Kapitalisten  mehr  hassen  als  mich?  Die  Herren  vom 
Wienerberg  sagen,  wenn  von  mir  die  Rede  ist:  Der  „Jud"  kostet 
uns  300.000  fl.;  ähnlich  spricht  auch  der  Rothschild  und  die 
anderen  großen  Ausbeuter.  Alle  diese  Leute  hassen  mich,  wie 
man  das  Böse  haßt,  und  ich  bin  stolz  darauf.  Nun  kommen  die 
großen    Mittel    daran,   über  die   wir  verfügen   sollen.   Da  muß  ich 


110  Argumente   der   Christlichsozialen. 


Ihnen  ein  Geheimnis  anvertrauen,  Herr  Doktor.  Mit  unserem 
Wahlfonds  steht  es  schlecht.  Wenn  Sie  etwas  beisteuern  wollten, 
wir  könnten  es  sehr  gut  brauchen.  Bei  uns  wird  jeder  Kreuzer 
veröffentlicht;  können  Sie  das  von  dem  Wahlfonds  Ihrer  Partei 
auch  sagen?  Wenn  Sie  wissen  wollen,  über  was  für  Kapital  wir 
verfügen,  dann  will  ich  Sie  in  allen  Bezirken  herumführen  und 
Ihnen  da  zeigen,  wie  da  die  Arbeiter  in  unseren  Lokalen  die  ganze 
Nacht  umsonst  für  uns  arbeiten.  Das  ist  das  Kapital,  über  das  wir 
verfügen,  und  das  bitte  ich,  uns  nachzumachen!  Was  meine 
Person  und  meine  Mittel  betrifft,  so  kann  ich  Ihnen  sagen,  daß  ich 
früher  einmal  eine  Rente  von  ein  paar  tausend  Gulden  hatte;  ich 
habe  das  Kapital  nicht  versoffen  und  nicht  verspielt.  Seit  Jahren 
schon  lebe  ich  aber  bereits  vom  Ertrag  meiner  Feder.  Wenn  Sie 
aber  im  Verhältnis  zur  Qualität  Ihrer  Arbeit  so  schlecht  bezahlt 
würden  wie  ich,  wären  Sie  gewiß  nicht  zufrieden.  Ich  bin  so- 
zusagen ein  Streikbrecher,  ein  Schuster,  denn  ich  arbeite  weit 
unter  dem  Tarif,  der  bei  meinen  Branchenkollegen,  den  Redak- 
teuren, das  Drei-  bis  Vierfache  davon  beträgt.  Wenn  Sie  aber 
wünschen,  daß  ich  mich  mit  einem  Ihrer  Genossen  vergleiche,  so 
kann  das  geschehen.  Ich  bin  Zeitungsherausgeber,  und  auch  der 
Herr  Vergani*)  ist  es.  Ich  habe  angefangen,  als  ich  noch  ein  Haus- 
herr war;  jetzt  bin  ich  es  nicht  mehr.  Der  Vergani  hat  ohne 
Häuser,  aber  mit  Schulden  angefangen  und  ist  jetzt  mehrfacher 
Hausherr.  Freilich,  zu  den  Moralbegriffen  dieses  Ihres  Volks- 
genossen kann  ich,  der  Jude  Adler,  mich  nicht  emporschwingen. 
Ich  muß  gestehen,  ich  habe  vor  Ihnen  einen  gewissen  Respekt, 
Herr  Doktor,  denn  ich  habe  Sie  nie  bei  einer  der  Gemeinheiten 
Ihrer  Partei  gesehen;  meinen  Respekt  hat  es  erhöht,  daß  Sie 
heute  hier  erschienen  sind.  Aber  ich  begreife  nicht,  wie  ein  Mann 
wie  Sie  ruhig  von  mir  sagen  kann,  ich  hätte  geringere  Moral- 
begriffe. Allerdings,  in  einem  kann  ich  es  mit  Ihnen  nicht  auf- 
nehmen. Meine  Eltern  waren  Juden;  aber  meine  Eltern  waren 
darum  nicht  schlechter  als  die  Ihren,  Herr  Doktor.  Mit  einem 
Wort,  wenn  die  Arbeiterschaft  mich  kandidiert,  dann  tut  sie  es 
wahrscheinlich  deshalb,  weil  sie  mich  brauchen  kann.  Das  ist  der 
Stolz  meines  Lebens.  Die  Arbeiter  meinen,  daß  ich  ihnen  nützen 
kann**). 


*)  Ernst  Vergani,  der  Herausgeber  des  „Deutschen  Volksblattes", 
von  dem  Schönerer,  als  Vergani  von  ihm  abfiel  und  christlichsozial  wurde, 
die  unangenehmsten  Dinge  erzählte. 

**)  Mayreder  hat  darauf  nicht  mehr  geantwortet. 


Kampi  Kegea  öadeni.  '  l ' 


Von  Badeni  bis  Thun. 

Kampf  gegen  Badeni. 

Zwölf  V  e  r  s  a  m  in  1  u  n  g  e  n  am  2  2.  September   18  9  7*). 

Als  üraf  Badeni  vor  einigen  Monaten  das  Parlament  schloß,  da 
war  es  deshalb,  weil  er  ganz  ratlos  war.  Die  vierzehn  sozialdemo- 
kratischen Abgeordneten,  so  sehr  sie  auch  den  Wunsch  haben,  ihm 
das  Leben  so  sauer  und  auch  so  kurz  zu  machen  als  möglich,  sie 
allein  hätten  das  nicht  zustande  gebracht;  die  jetzt  dem  Badeni  so 
fürchterlich  wurden,  sind  unsere  alten  guten  Bekannten,  die  unter 


*)  Am  23.  April  1896  hatte  das  Abgeordnetenhaus  Badeni  seine  Wahlreform 
bewilligt,  die  am  14.  Juni  1896  sanktioniert  wurde.  Vom  4.  bis  zum  24.  März 
1897  waren  die  Wahlen,  die  aber  dem  Ministerpräsidenten  doch  keine  feste 
Mehrheit  gebracht  hatten,  so  daß  er  namentlich  für  den  Ausgleich  mit 
Ungarn  keine  Majorität  hatte,  obwohl  die  Christlichsozialen  dafür  zu 
stimmen  bereit  waren,  nachdem  er  ihnen  die  Bestätigung  des  am  8.  April 
zum  fünftenmal  zum  Bürgermeister  gewählten  Lueger  zugesagt  hatte.  Um 
die  Jungtschechen  zu  gewinnen,  versprach  er  ihnen,  ihre  wichtigsten 
sprachlichen  Wünsche  durch  eine  Verordnung  zu  erfüllen.  Statt  ein  Gesetz 
zu  schaffen,  was  mühevolle  Verhandlungen  erfordert  hätte,  wollte  er  diese 
wichtigste  Frage  Österreichs  durch  eine  Verordnung  regeln.  So  wurden 
am  5.  April  1897  die  S  p  r  a  c  h  e  n  v  e  r  o  r  d  n  u  n  g  e  n  für  Böhmen  und 
Mähren  erlassen,  die  von  den  Deutschbürgerlicheu  als  Angriff  auf  ihre 
nationalen  Rechte,  vor  allem  auf  das  geschlossene  deutsche  Sprachgebiet 
angesehen  und  mit  Obstruktion  beantwortet  wurden.  Am  2.  Juni 
schickte  Badeni,  nachdem  er  die  Obstruktion  e  n  t  z  ü  n  d  e  t  halte, 
das  Parlament  nach  Hause.  Aber  der  nationale  Streit  war  dadurch 
nur  auf  die  Straße  getragen  worden.  Vergebens  bemühten  sich  die 
deutschen  und  tschechischen  Sozialdemokraten  Böhmens,  den  nationalen 
Furor  einzudämmen.  Am  4.  September  fand  eine  Konferenz  der  Ver- 
trauensmänner beider  Nationen  statt,  die  beschloß,  im  ganzen  Lande  Ver- 
sammlungen mit  dem  Programm  „Stellung  der  Arbeiterschaft  zur  natio- 
nalen Hetze"  zu  veranstalten.  An  die  Arbeiterschaft  wurde  ein  Manifest 
für  den  nationalen  Frieden  herausgegeben.  Am  nächsten  Tag  fand  dann 
in  Prag  eine  große  Demonstration  für  den  Völkerfrieden 
statt,  an  der  auch  Hunderte  von  deutschen  Vertrauensmännern  aus  dem 
Lande  teilnahmen. 

Am  23.  September  trat  das  Parlament  wieder  zusammen,  ohne  daß  sich 
in  diesen  dreieinhalb  Monaten  etwas  geändert  hätte.  Am  Tag  vorher 
beschloß  der  sozialdemokratische  Verband,  eine  Reihe  von  sozialpolitischen 
Anträgen  einzubringen.  Am  Abend  fanden  dann  zwölf  Massenversamm- 
lungen statt.    In  der  Versammlung   beim   I  »reher  sprach   Adler. 


112  Von  Badeni  bis  Thun. 


früheren  Regierungen  mitunter  aueh  Opposition  machten,  mitunter 
auch  nicht,  je  nachdem  sie  gefüttert  wurden,  dieselben  Leute,  die 
von  jedem,  der  politisch  denkt,  als  abgetane  Schauspieler  erkannt 
sind.  (Bravo!)  Nicht  die  eigene  Kraft  der  bürgerlichen  Parteien  ist 
es,  sondern  die  Fehler  und  die  Unfähigkeit  des  Grafen  Badeni, 
die  es  ermöglichte,  daß  selbst  diese  schwächlichen  bürgerlichen 
Parteien  aussehen,  als  wären  sie  jemand.  Das  ist  eben  der  Fluch 
aller  ungesetzlichen  Regierungen,  daß  selbst  das  Gute,  was  sie  tun, 
zum  Schlechten  ausschlagen  muß.  Vor  einigen  Tagen  fragte  mich 
ein  christlichsozialer  Abgeordneter,  warum  wir  den  Badeni  be- 
kämpfen, da  wir  doch  wissen,  daß  sein  Nachfolger  uns  nicht  mehr 
gewogen  sein  wird.  Das  ist  bis  zu  einem  gewissen  Grade  richtig, 
aber  Graf  Badeni  ist  der  gefährlichste  Minister,  den  wir  seit  Jahr- 
zehnten gehabt  haben,  weil  es  scheint,  daß  er  so  fest  sitzt,  daß  er 
Fehler  auf  Fehler  machen  darf.  Die  Herren  Funke,  Pergelt  usw., 
Leute,  die  von  selbst  ruhig  geworden  wären,  wenn  man  sie  sich  hätte 
ausreden  lassen,  sind  durch  die  Kunst  Badenis  zu  Helden  gemacht 
worden,  und  sie  kommen  durch  seine  Kunst  aus  ihrer  Heldenrolle 
nicht  heraus.  So  kommt  es,  daß  wir  auch  heute  vor  einer  Situation 
stehen,  deren  Folgen  gerade  die  Arbeiterschaft  besonders  zu  tragen 
hat.  (Richtig!)  Mit  dem  festen  Willen  und  der  Fähigkeit,  etwas  zu 
tun,  mit  einem  festen  Programm  kamen  unsere  Abgeordneten  in 
das  Parlament,  und  nun  kommen  sie  nicht  dazu,  etwas  zu  tun,  weil 
sie  sich  sagen  müssen,  mögen  alle  Dringlichkeitsanträge  noch  so 
dringlich  sein,  das  Allerdringlichste  ist:  Weg  mit  Badeni!  Unsere 
Aufgabe  wird  also  sein,  alles  zu  tun,  um  unsere  Anträge,  die  wir 
vorbereitet  haben,  zur  Beratung  zu  bringen,  andererseits  aber  auch 
alles  zu  tun,  um  dieser  Regierung  das  Lebenslicht  auszublasen. 
(Stürmischer  Beifall.)  Die  Obstruktion  ist  eine  sehr  wichtige  Waffe, 
wenn  sie  gerichtet  wird  nicht  gegen  jene  Gesetze,  die  der  Regie- 
rung unangenehm  sind  (wenn  ein  Arbeiterschutzgesetzentwurf  ein- 
gebracht wird,  Obstruktion  zu  machen,  wäre  lächerlich),  sondern 
gegen  jene,  die  der  Regierung  von  Wichtigkeit  sind.  Was  wird  nun 
geschehen?  Wenn  alles  vernünftig  vor  sich  ginge,  wäre  Badeni  in 
vierzehn  Tagen  kein  Minister  mehr,  aber  Österreich  ist  das  Land 
der  Unvernünftigkeiten,  und  darum  weiß  man  nicht,  was  geschehen 
wird.  Wir  Sozialdemokraten  haben  in  den  letzen  Jahren  gute 
Arbeit  geleistet  und  auf  unserem  letzten  Kongreß  und  der  Prager 
Friedensmanifestation  haben  wir  gezeigt,  wie  man  die  Freiheit  und 
Selbständigkeit  jeder  Nation  vereinigen  kann  mit  brüderlichem  Zu- 
sammenwirken aller  Nationen.  Man  wird  eine  wirkliche  Volksver- 
tretung schaffen  müssen,  und  dann  wird  die  nationale  Frage  gelöst 
werden,  indem  man  allen  Nationen  volle  Gleichberechtigung  gibt. 
Der  Kampf  in  der  kommenden  Session  wird  hauptsächlich  von 
unseren  Abgeordneten  geführt  werden  müssen.  Es  wird  uns  freuen, 
wenn  die  bürgerliche  Opposition  festhält.  Aber  mag  sie  das  tun 
oder  nicht,  die  Sozialdemokraten  werden  ihre  Pflicht  tun,  und  diese 
Pflicht  besteht  darin :  Kampf  gegen  das  Ministerium 
Badeni  bis  ans  Ende.    (Stürmischer,  anhaltender  Beifall.) 


Badenis  Bankrottpolitik.  H'* 


Badenis  Bankrottpolitik. 

Versammlung  am  L8.  Oktober  1897*). 

Dr.  Adler,  mit  stürmischen  Hochrufen  empfangen,  bezeichnet 
die  gegenwärtige  Lage  als  verworrener  denn  je.  (iehört  es  in  Öster- 
reich schon  ZU  einer  besonderen  ( ieseliieklieiikeit,  die  Geschäfte 
nur  in  Bewegung  zu  erhalten,  so  haben  wir  jetzt  noch  das  Unglück, 
eine  Regierung  zu  besitzen,  die  sieh  durch  außerordentliche  Un- 
geschicklichkeit in  dieser  Richtung  auszeichnet.  Heute  stehen  wir 
auf  dem  Punkte,  daß  wir  nicht  einmal  über  die  Grundlage  des 
Reiches,  über  unser  Verhältnis  zu  Ungarn  im  klaren  sind.  Wenn 
der  Ausgleich  mit  Ungarn  verhandelt  werden  wird,  ist  es  Pflicht 
der  Sozialdemokraten,  darauf  zu  sehen,  daß  Österreich  so  wenig 
als  möglich  zahlt,  denn  die,  die  es  bewilligen,  zahlen  dazu  am 
wenigsten.  Die  Ungarn  sind  gegen  uns  da  immer  im  Vorteil,  weil 
sie  ein  wirkliches  parlamentarisches  Regime  haben.  Das  ungarische 
Parlament,  das  übrigens  nichts  weniger  ist  als  eine  Volksvertretung, 
läßt  sich  das  nicht  bieten,  was  sich  das  österreichische  Parlament 
gefallen  läßt.  Vielleicht  wird  das  auch  anders  werden.  Wird  das 
Ausgleichsprovisorium  nicht  parlamentarisch  erledigt,  dann  will 
man  es  als  Verordnung  oktroyieren.  Aber  ob  das  so  einfach  geht, 
darüber  werden  wir  in  einigen  Monaten  noch  zu  sprechen  haben. 
Aber  es  ist  klar,  daß  eine  Regierung,  die  nicht  ein- 
mal den  Ausgleich  zustande  bringt,  einfach  Ban- 
krott gemacht  hat.  In  dieser  Lage  ist  nun  Badeni.  Die 
Sprachenverordnungen,  die  den  Anlaß  zur  Obstruktion 
gegeben  haben,  sind,  wie  wir  wiederholt  erklärten,  zu  vier  Fünfteln 
vernünftig;  aber  auch  das  Vernünftige  ist  dadurch,  daß  es  oktroyiert 
wurde,  als  Verordnung,  als  Zwang  erlassen  wurde,  schädlich  ge- 
worden. Jetzt  steht  es  nun  so,  daß  eine  große  Minorität  im  Parla- 
ment auf  gesetzliche  Weise  die  ganze  Regierungsmaschinerie  still- 
zusetzen vermag.  Und  nun  handelt  es  sich  für  uns  darum,  ob  wir 
die  Opposition,  die  den  Grafen  Badeni  vielleicht  über  den  Haufen 
zu  werfen  vermag,  bekämpfen  sollen,  bloß  deshalb,  weil  die  Gründe, 
die  sie  zur  Bekämpfung  Badenis  hat,  nicht  unsere  Gründe  und  viel- 
fach unvernünftig  sind.  Dazu  werden  wir  uns  nicht  hergeben.  (Bei- 
fall.) Die  Sozialdemokraten  werden  alles  tun,  diese 
Regierung  zu  beseitigen,  die  durch  ihre  Existenz 
allein  jede  positive  Arbeit  im  Parlament  unmög- 

*)  Die  Stimmung  der  deutschbürgerlichen  Parteien  war  immer  ener- 
gischer geworden,  die  Lage  der  Regierung  immer  schwieriger.  Anfang 
Oktober  bildete  sich  die  Regierung  noch  ein,  den  Ausgleich  ohne 
Schwierigkeiten  durchsetzen  zu  können.  Aber  sie  mußte  bald  sehen,  daß 
es  nicht  so  einfach  ging.  Am  13.  Oktober  begann  im  Parlament  die  Ver- 
handlung über  fünf  Dringlichkeitsanträge,  die  die  Erhebung  der  Minister- 
anklage zum  Inhalt  hatten.  Es  kam  zu  Sturmszenen  und  zu  einem  förm- 
lichen Handgemenge  zwischen  Deutschen  und  Tschechen.  —  Das  war  die 
Situation,  als  Adler  im  Simmeringer  Brauhaus  über  die  politische  Lage 
prach. 

Adler,  Briefe.    XI.  Bd.  « 


114  Von  Badeni  bis  Thun. 


lieh  macht.  (Bravo!)  Redner  bespricht  nun  die  Politik  der 
Christlichsozialen,  die,  wie  die  Ratten  das  sinkende  Schiff,  jetzt  den 
Badeni  verlassen.  Unsere  vierzehn  Abgeordneten 
haben  mehr  Gewicht  im  Parlament  als  die  viel 
zahlreicherenChristlich  sozialen,  weil  man  weiß,  daß, 
wenn  ein  sozialdemokratischer  Abgeordneter  spricht,  er  die  Über- 
zeugung von  Hunderttausenden  zum  Ausdruck  bringt  und  nicht 
etwa  nur  seine  persönlichen  Einfälle  oder  vielleicht  gar  die  Ein- 
fälle irgendeines  „Herrgotts  von  Wien".  (Beifall.)  Genosse  Doktor 
Adler  streift  noch  kurz  die  Frage  des  Gemeindewahlrechtes,  wo- 
bei er  auf  die  früheren  Reden  Luegers  verweist.  Ende  dieses  Monats 
wird  der  Landtag  zusammentreten;  wenn  die  Gemeinde  bis  dahin 
nicht  einen  Entwurf  angenommen  hat,  wird  dieser  Landtag  wieder 
nichts  tun.  Die  Arbeiter  wissen  aber  ganz  genau,  wie  wichtig  das 
Gemeindewahlrecht  für  sie  ist,  und  darum  wird  diese  Frage  nicht 
verschwinden,  bis  wir  das  Gemeindewahlrecht  errungen  haben. 
(Stürmischer  Beifall.) 

Nach  Badenis  Sturz. 

Zehn  Versammlungen  am  2  9.  November   189  7*). 

Gestern  hat  auf  den  Straßen  der  „Pöbel"  gesiegt.  Alle  anderen 
mit  ihren  Erklärungen  haben  nichts  zustande  gebracht.  Die  Sozial- 
demokraten im  Parlament  wollen  nichts  anderes  sein  als  die  Ver- 
tretung des  „Pöbels".  (Bravo!)  Man  sagt  heute  schon,  daß  die 
deutsche  Opposition  es  war,  die  gesiegt  hat.  Aber  es  muß  fest- 
gestellt werden,  daß,  wenn  die  Sozialdemokraten  nicht  ihren  Leib  und 
ihr  Leben  gewagt  hätten,  die  Bürgerlichen  keinen  Hund  hinter  dem 
Ofen  hervorgeholt  hätten.  Der  Herr,  der  jetzt  ans  Ruder  kommt, 
den  kennen  wir  schon  lange.  (Ruf:  Schwarzer  Bruder!)  Gautsch 
wird  aber  durch  die  gestrigen  Ereignisse  wissen,  wo  eine  Grenze 
ist.  Wir  wissen,  daß  es  für  uns  keine  Ministerposten  gibt,  aber  wir 
haben  gekämpft  um  die  Möglichkeit  eines  weiteren  parlamentari- 
schen Lebens.  Die  Sozialdemokratie  hat  schon  Niederlagen  in  Wien 
erlitten,  aber  wer  geglaubt  hat,  daß  sie  niedergeschlagen  ist,  der 
hat  gestern  gesehen,  daß  sie  einen  wichtigen  politischen  Faktor  in 
Österreich  bildet.  Sie  ist  die  Vertretung  aller  politisch  anständigen, 
rechtlichen  Menschen**). 

*)  Die  Ereignisse,  die  dem  Sturz  Badenis  unmittelbar  vorausgegangen 
waren,  sind  wohl  bekannt.  Sie  sind  in  den  Bemerkungen  zu  Adlers  Referat 
über  Parteitaktik  auf  dem  Parteitag  in  Linz  1898  ausführlich  geschildert. 
(Siehe  dieses  Referat  unter  dem  Titel  „Die  Obstruktion  gegen 
Badeni"  im  8.  Band  der  Adler-Schritten  „Ö  sterreichische 
Politik"  im  Kapitel  vom  „Zerfall  Österreich  s",  Band  VIII, 
Seite  178  f.)  Nachdem  am  Sonntag  Badeni  durch  die  Demonstration  auf  der 
Ringstraße  gestürzt  worden  war,  fanden  am  Montag  in  Wien  zehn  Massen- 
versammlungen statt.  Beim  Dreher  auf  der  Landstraße  sprach  Adler. 

''*)  Dann  sprachen  die  Abgeordneten  Daszynski  und  .1  a  r  o  s  s  e- 
w  y  t  s  c  h,  worauf  Adler  sein  Schlußwort  hielt. 


Die  Schließung  des  Parlaments.  H5 

Wir  sind  nicht  ausgezogen,  um  das  tschechische  Volk  zu  be- 
siegen, nicht  um  die  Herrschaft  der  Detitschen  zu  befriedigen.  Wir 

sind  ausgezogen  nicht  gegen  die  Unterdrücker  des  deutschen 
Volkes,  sondern  jeden  Volkes  in  Österreich.  (Bravo!)  Wenn  die 
deutsche  Studentenschaft  mutig  war,  so  alle  Achtung  vor  ihr.  Sie 
können  vielleicht  noch  einmal  einen  Tag  erleben,  wo  sie  zu  uns 
kommen  müssen,  und  dann  wollen  wir  nicht  lauter  feige  Streber 
und  feile  Halunken  haben.  Es  hat  sich  jetzt  beinahe  eine  akademische 
Legion  in  Zivil  entwickelt.  Aber  heute  geht  die  Arbeiterschaft  nicht 
hinter  der  akademischen  Legion  her,  sondern  die  Studentenschaft 
muß  mit  Achtung  und  Respekt  sehen,  wohin  die  Sozialdemokratie 
geht. 

Die  Schließung  des  Parlaments. 

Versammlung  am  2  8.  Juli  1898*). 

Es  hat  sich  in  Österreich,  führte  der  Redner  aus,  durch  die 
Schließung  des  Reichsrates  nur  wenig  geändert.  Der  Reichsrat  ist 
ja  schon  seit  langem  nicht  mehr  auf  der  Welt.  Wenn  wir  uns  fragen, 

*)  Am  28.  November  1897  war  Graf  Badeni  von  den  demonstrierenden 
Massen  gestürzt  worden  und  der  Kaiser  ernannte  den  Freiherrn  Paul 
Gautsch  v.  Frankenthurn  zürn  Ministerpräsidenten.  Aber  auch  er  ver- 
mochte den  nationalen  Frieden  nicht  herbeizuführen  und  das  Parlament 
nicht  flottzumachen.  Am  7.  März  1898  mußte  er  zurücktreten,  weil  die 
böhmischen  Feudalen  dem  Kaiser  einredeten,  die  Verwirrung  sei  nur 
dadurch  entstanden,  daß  man  nicht  ihnen  die  Regierung  überließ.  So 
wurde  nun  der  Ausnahmsstatthalter  von  Böhmen,  Graf  Franz  T  h  u  n,  an 
die  Spitze  der  Regierung  berufen.  Aber  auch  er  vermochte  den  Staats- 
karren nicht  vorwärtszubringen.  Er  brachte  das  Regieren  mit  dem  §  14 
eigentlich  erst  in  ein  System.  Hatte  Gautsch  bloß  sieben  §  14-Verordnungen 
erlassen,  so  erreichte  Thun  bereits  die  Zahl  von  28  §  14-Verordnungen, 
eine  Zahl,  die  nur  noch  von  Körber  übertroffen  wurde.  Aber  Thun  machte 
das  keine  Sorgen,  er  vergnügte  sich  jeden  Sommerabend  in  „Venedig  in 
Wien",  so  daß  er  in  Wien  den  Spitznamen  des  Corian  doli -Grafen 
erhielt. 

Als  Finanzminister  hatte  Thun  den  tschechischen  Professor  Dr.  Kaizl, 
als  Handelsminister  den  deutschen  Großgrundbesitzer  Dr.  v.  Baernreither 
genommen,  der  auch  von  Sozialpolitik  etwas  verstand.  Aber  das  Regieren 
machte  Thun  wenig  Sorgen.  So  oft  es  im  Parlament  nicht  ging, 
schickte  er  es  heim  und  regierte  mit  dem  §  14.  Am  13.  Juni  hatte  er 
wieder  das  Parlament  vertagt  und  eine  Sprachenkonferenz  einberufen. 
Diese  mußte  aber  abgesagt  werden,  worauf  dann  am  26.  Juli  die  Session 
des  Reichsrates  geschlossen  wurde.  Im  Juni  war  es  in  Galizien  durch  die 
Bedrückung  der  Schlachta  zu  Bauernun  ruhen  gekommen  und  am 
28.  Juni  wurde  über  Neu-Sandec  und  Limanowa  das  Staud- 
recht, über  33  Bezirke  der  Ausnahmszustand  verhängt.  Bis  zum 
26.  September  regierte  Thun  ohne  Parlament.  Dann  versuchte  er  es  wieder 
mit  dem  Parlament.  Aber  am  3.  Oktober  trat  Baernreither  zurück  und  au 
seine  Stelle  trat  der  Tiroler  Klerikale  Baron  D  i  p  a  u  1  i. 

Als  das  Parlament  am  26.  Juli  geschlossen  wurde,  wurde  für  den 
28.  Juli  zum  Wimberger  eine  Versammlung  einberufen,  in  der  Adler 
sprach. 

8* 


116  Von  Budeni  bis  Thun. 


warum  der  Rcichsrat  geschlossen  wurde,  so  müssen  wir  konsta- 
tieren, daß  kein  Mensch  und  Graf  Thun  selbst  es  nicht  weiß.  Ge- 
nosse Dr.  A  d  1  e  r  setzt  nun  den  Unterschied  zwischen  der  Ver- 
tagung und  der  Schließung  des  Reichsrates  auseinander.  Wenn 
durch  die  Schließung  alle  Arbeit  von  neuem  beginnen  muß,  so  be- 
deutet das  höchstens  eine  Hebung  der  Papierindustrie  (Heiterkeit), 
indem  alle  Vorlagen  in  der  Staatsdruckerei  neu  gedruckt  werden 
müssen;  sonst  nichts,  denn  dieser  Reichsrat  hat  seit  Badeni  noch 
gar  nichts  geleistet.  (Sehr  gut!)  Es  ist  nicht  unmöglich,  daß  sich  die 
Regierung  denkt:  „Wenn  ich  nur  den  Reichsrat  mit  seiner  ver- 
stopften Tagesordnung  los  bin  und  einen  reinlichen  Reichsrat  vor 
mir  habe,  dann  wird  es  gehen."  Es  wäre  töricht,  so  zu  denken, 
aber  das  ist  kein  Grund,  daß  es  unmöglich  ist.  Die  Regierung  ver- 
kündet, sie  hoffe,  jetzt  freie  Hand  zu  haben;  aber  mit  keinem  Worte 
wird  verraten,  wozu  sie  die  freie  Hand  braucht.  Als  Graf  Thun  an 
die  Regierung  kam,  glaubte  man,  er  werde  sich  als  Minister  anders 
aufführen  wie  als  Ausnahmsstatthalter.  Aber  seitdem  diese  Regie- 
rung den  Ausnahmszustand  in  Galizien  verhängt  hat,  müssen  wir 
sagen:  Diese  Regierung  ist  zu  allem  fähig.  Allerdings,  was  sich 
Graf  Pininski  in  Galizien  erlaubt,  kann  sich  Graf  Thun  bei  uns  noch 
lange  nicht  erlauben.  Aber  wenn  man  zugleich  mit  der  Schließung 
des  Reichsrates  davon  hört,  daß  man  auch  die  Geschwornengerichte 
in  Galizien  aufheben  möchte,  so  wissen  wir,  was  das  bedeutet. 
Übrigens  können  die  Geschwornengerichte  ja  nur  aufgehoben  wer- 
den, nachdem  ein  Gutachten  des  Obersten  Gerichtshofes  hier  in 
Wien  eingeholt  worden  ist.  Und  wenn  die  Schwurgerichte  auf- 
gehoben werden,  dann  sind  unsere  Stanczyken  hier,  ob  sie  den 
Richtertalar  oder  sonst  ein  anderes  Beamtenkleid  tragen,  mitver- 
antwortlich für  alles,  was  dort  geschieht.  Mögen  sie  es  tun,  unsere 
Genossen  in  Galizien  sind  stark  genug,  auch  das  auszuhalten,  be- 
sonders wenn  sie  wissen,  daß  die  ganze  österreichische  Arbeiter- 
schaft hinter  ihnen  steht.  (Stürmischer  Beifall.)  Was  in  den  nächsten 
Wochen  geschehen  soll,  weiß  Graf  Thun  gewiß  nicht.  Wir  sagen, 
die  Ursachen  dieser  Unordnung  müssen  beseitigt  werden!  Statt  der 
scheinbaren  Volksvertretung  eine  wirkliche  Volksvertretung!  Die 
läßt  sich  nicht  vernichten  und  nicht  nach  Hause  schicken.  Es  ist 
nicht  wahr,  daß  die  Regierung  mit  dem  §  14  regiert,  weil  das 
Parlament  sich  so  stark  zeigt;  das  gerade  Gegenteil  ist  richtig. 
Nur  weil  die  Herren  wissen,  daß  ja  alles,  was  sie  brauchen,  ohne- 
dies geschieht,  und  zwar  mit  Hilfe  des  §  14,  nur  deshalb  haben  sie 
den  Mut,  im  Parlament  sich  so  zu  benehmen.  Wenn  die  Volksver- 
tretung wüßte,  daß  es  ohne  sie  nicht  geht,  dann  würde  sie  unter 
dem  Druck  ihrer  Verantwortlichkeit  den  nationalen  Frieden  endlich 
schließen,  der  eine  Notwendigkeit  für  Österreich  ist.  Die  Ohn- 
macht des  Parlamentarismus  ist  es,  an  der  Öster- 
reich krankt.  Dieser  Scheinparlamentarismus  ist  zusammen- 
gekracht, und  wir  weinen  ihm  keine  Träne  nach.  (Beifall.)  Wenn 
man  Ordnung  haben  will,  berufe  man  eine  wirkliche,  ernste  Volks- 
vertretung ein,  die  weiß,  daß  sie  dem  Volke  verantwortlich  ist  für 


Absolutismus  mui  Parläm&ntei  i  inus.  H7 


das,  was  sie  tut.  Man  spricht  heute  viel  von  allerlei  Staatsstreichen: 
einem  Staatsstreich  nach  rechts,  dein  Wahlrecht  durch  die  Land- 
tage, und  einem  Staatsstreich  nach  links,  der  Taaffeschcn  Wahl- 
reform.  Von  dem  ersten,  der  alle  feudalen  rönnen  wieder  einführen 
soll  und  nur  den  Streit  in  die  Landtage  trafen  würde,  lohnt  es  sich 
wirklich  nicht  zu  reden.  Was  ist's  aber  mit  der  Taaffeschcn  Wahl- 
reform?  Wenn  mau  die  (ieschichte  Österreichs  seit  1893  verfolgt 
und  sieht,  wie  die  Wurzel  aller  Kalamität  in  der  alten  Koalition 
liest,  dann  muß  man  sagen:  Ob  es  heute  noch  Zeit  ist,  eine  Wähl- 
ordnung zu  geben,  die  1893  sehr  gut  war,  das  ist  fraglich.  Gewiß 
wäre  die  Taaffesche  Wahlrcform  auch  heute  noch  ein  Fortschritt 
gegenüber  dem  jetzigen  Zustand.  Aber  ausreichen  würde  sie  heute 
nicht  mehr;  ausreichen  kann  heute  nur  mehr  das  allgemeine, 
gleiche  Wahlrecht,  die  volle  Umwälzung  Österreichs.  Man  will  uns 
heute  einen  „Absolutismus  mit  SozialreförhY'  präsentieren.  Ich 
wünsche,  daß  das  Gewissen  der  Regierung  wach  bleibt,  aber  wir 
müssen  sie  doch  aufmerksam  machen,  daß  wir  lahge  brauchen,  um 
überzeugt  zu  sein,  und  die  Minister  werden  nicht  nur  zu1  reden, 
sondern  auch  zu  handeln  haben.  Die  Schließung  des  .Reichsrates 
macht  uns  nicht  erzittern;  wir  bleiben  ruhig,  aber  nicht  etwa  des- 
halb, weil  wir  diese  Regierung  für  gut,  'sondern  weil  wir  uns  für 
stark  halten.  Wir  haben  keine  Angst  .vor  Gespenstern,  aber  wenn 
es  beginnt,  finster  zu  werden,  dann  beziehen  .wir  die  Wache,  sehen 
nach,  ob  unsere  Arsenale  in  Ordnung  sind  und  ob  wir  bereit  sind 
zum  Kampfe,  wenn  es  sein  muß.  (Stürmischer,  anhaltender  Beifall.) 

Absolutismus  und  Parlamentarismus, 

Vier  Volksversammlunge  n,  6.  F  e  b  r  u  a  r  1  8  9  9*). 

Absolutismus  oder  Parlamentarismus,  eine  Frage,  die  in  ganz 
Europa  nicht  mehr  diskutiert  wird,  steht  heute  in!  Österreich  nicht 
nur  auf  der  Tagesordnung,  sondern  ist  bei  uns  gelöst,  das  heißt  wir 
haben  den  nackten  Absolutismus.  Das  ist  mir  möglich,  weil  wir  in 
einem  Lande  leben,  in  dem  sich  durch  den  Nationalitätenhader  die 
Völker  zur  gegenseitigen  Ohnmacht  Verurteilen  und'  so  einer  ade- 
ligen Clique  mit  und  ohne  Adel  -  -  es  sind  nicht  alle  Grafen,  die  wert 
wären,  es  zu  sein  —  das  .Vorrecht  sichern,  Österreichs  Schlachten 
zu  verlieren,  Österreichs  Finanzen  zu  zerrütten,  mit  einem  Worte, 
Österreich  auseinanderzuregieren.  Bei  uns  gilt  so  etwas  wie  durch- 
dachte, zielbewußte  Politik  nicht.  Wir  sind  nicht  blind  gegen  die 

*)  Als  Thuii  am  1.  Februar  1899  das  Parlament!!  das  erst  am  17.  Jarrnef 
zusammengetreten  war,  wieder  vertagte,  um  mit  dem  §  14  zu  regieren, 
hielt  die  sozialdemokratische  Partei  in  Wien  vi,er  Volksversammlungen  ab 
mit  der  Tagesordnung :  „A  b  s  o  1  u  t  i  s  m  u  s  u  n  d  P  a  ,r  lta  m  e  n  t  a  r  i  s  m  u  s 
in  Ö  s  t  e  r  r  e  i  c  li."  In  allen  Versammlungen  würde  eine  Resolution  be- 
schlossen, die  mit  den  Worten  schloß:  „Weg  m  i  t  de  r  reaktionären 
Regierung  des  Grafen  T  h  u  n !  W  e  g  mit  d  e  m  P  r  i  v  i  1  e  g  i  e  n- 
f)  a  r  1  a  m  ent!"  ! 

In  der  Versammlung  beim  Proksch  in  Favoriten  referierte  A  d  l  e  r. 


118  Von  Badeni  bis  Thun. 


nationalen  Schwierigkeiten,  aber  wir  wissen  es,  daß  ein  nationaler 
Friede  möglich  ist,  und  bei  uns  ist  es  nicht  Phrase,  wenn  wir  das 
sagen,  denn  wir  zeigen  es  durch  die  Tatsache,  daß  trotz  des  natio- 
nalen Brandes,  trotz  der  hochgehenden  nationalen  Wogen  die 
Sozialdemokraten  aller  österreichischen  Völker  einheitlich  organi- 
siert sind  und  einheitlich  handeln.  Die  Advokaten,  die  vom  Streite 
leben,  schließen  selten  einen  Ausgleich,  und  die  bürgerlichen 
deutschen  und  tschechischen  Parteiführer  leben  vom  Streite.  An 
den  nationalen  Frieden  wird  erst  zu  denken  sein,  wenn  die  große 
Masse  selber,  die  nicht  vom  Streite  lebt,  sondern  unter  dem  natio- 
nalen Hader  leidet,  zu  Worte  kommt  und  durch  ein  kräftig  Wort 
ein  entschiedenes  Halt!  gebietet.  Es  ist  eine  unvernünftige  Politik. 
Rettung  für  den  Staat  von  außen  zu  erwarten.  Mag  man  die  Auf- 
lösung Österreichs  wünschen  oder  nicht  wünschen,  wir  können  die 
Tatsache  nicht  ändern,  daß  sich  Deutschland  und  Rußland  heute  für 
das  wirkliche  China  weit  mehr  interessieren  als  für  das  österreichi- 
sche China.  Alles  spürt  es  auch,  daß  hier  die  Massen  auftreten 
müssen.  Heute,  in  der  Not,  ruft  alles  nach  der  Sozialdemokratie,  von 
den  dümmsten  Christlichsozialen,  die  sich  bei  den  Staatsdienern 
nicht  zu  helfen  wissen*),  bis  zum  Grafen  Thun.  Man  ruft  unsere  Hilfe 
an,  aber  man  verweigert  uns  die  Möglichkeit,  zu  helfen.  Man  ver- 
weigert uns  das  allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht,  man 
will  uns  knebeln,  und  trotzdem  sollen  wir  helfen.  Man  gebe  uns 
wenigstens  Rede-  und  Preßfreiheit,  man  befreie  uns  vom  Kolpor- 
tageverbot, man  befreie  uns  vom  Stempel,  von  der  Konfiskation, 
man  lasse  uns  schreiben  wie  wir  denken,  und  dann  wollen  wir 
sehen,  ob  wir  dem  Grafen  Thun  nicht  —  Erleichterung  verschaffen 
können.  (Heiterkeit.)  Die  Obstruktion  hat  sich  nun  auch  zum  Mit- 
schuldigen gemacht.  Nachdem  wir  ihnen  schon  die  Vernunft  bei- 
gebracht hatten,  tauchte  bei  den  Obstruktionisten  plötzlich  die  neue 
Theorie  auf,  daß  man  den  Absolutismus  müsse  ausleben  lassen,  um 
ihn  zu  vernichten»  Das  erinnert  an  die  harte  Schule,  die  wir  durch- 
machten, da  wir  in  unserer  Jugend  hörten,  das  beste  Mittel,  die 
jetzige  Gesellschaft  aus  den  Angeln  zu  heben,  sei,  das  Elend  aufs 
äußerste  steigern  zu  lassen.  Wir  haben  gelernt,  daß  das  eine  falsche 
Taktik  ist,  und  daß  jeder  Fußbreit,  jeder  Zollbreit  Boden,  den  man 
dem  arbeitenden  Volke  gewinnt,  mehr  wert  ist  als  alle  Dummheiten 
und  Verbrechen  der  Behörden.  Es  war  auch  die  Obstruktion  ein 
entschiedener  Fehler,  und  er  wurde  gegen  das  bessere  Wissen  der 
Obstruktionisten**)  begangen,  die  nur  Mandatspolitik  machten,  indem 


*)  Die  Christhchsozialeii  hatten  sich  auf  die  Demagogie  unter  den 
Staatsdienern  verlegt,  denen  sie  alles  mögliche  versprachen,  während 
sie  immer  wieder  vor  der  Regierung  zurückwichen.  Irn  Jänner  war  es  den 
Sozialdemokraten  gelungen,  bei  dem  Staatsdienergesetz  Verbesserungen 
durchzusetzen;  das  Herrenhaus  stellte  aber  die  Regierungsvorlage  wieder 
her.  Am  31.  Jänner  1899  wurden  die  von  den  Sozialdemokraten  neuerlich  ein- 
gebrachten Anträge  mit  einer  Stimme  Mehrheit  abgelehnt  und  die 
Fassung  des  Herrenhauses  mit  dieser   Mehrheit  beschlossen. 

k)  Die  Liberalen  ließen  sich  immer  von  den  Radikalen  in  die  Obstruk- 
tion  treiben. 


Absolutismus  iimi  Parlamentarismus,  U(J 

sie  vor  den  Heulmeiern  zurückwichen.  Meute  leben  wir  unter  der 
Lüge,  daß  es  unmöglich  sei,  auf  gesetzliche  Weise  die  Geschäfte 
weiterzuführen.  Vor  allem  hat  eine  Regierung,  die  nur  mit  dem  Ver- 
brechen leben  kann,  zu  sterben.  Eine  Regierung,  die  so  weit  ist  wie 
die  Regierung  Thun,  die  ohne  Verfassungsbruch  nicht  bleiben  kann, 
muß  gehen,  das  ist  das  erste.  Wenn  ein  Parlament  wirklich  ein 
Körper  ist,  der  das  staatliche  Leben  zu  erhalten  unfähig  ist,  so 
setze  man  an  dessen  Stelle  ein  wirkliches  Volksparlament.  Wir  er- 
warten nicht  etwa  die  Heilung  aller  Schäden  von  einem  solchen, 
aber  das  ist  gewiß,  ein  Parlament,  das  eine  wirkliche  Volksver- 
tretung ist,  würde  nie  die  Torheit  begangen  haben,  die  dieses  be- 
gangen hat,  und  es  würde  sich  nie  die  Verbrechen  gefallen  lassen, 
die  dieses  Parlament  geschehen  ließ.  (Stürmischer  Beifall.)  Wenn 
Graf  Thun  auf  den  Druck  von  unten  rechnet,  so  soll  er  ihn  haben, 
wenn  er  verlangt,  daß  die  Sozialdemokraten  auf  der  Bildfläche  er- 
scheinen, sein  Wunsch  soll  erfüllt  werden,  und  er  soll  sie  so  sehen, 
daß  ihn  die  Augen  beißen.  Wir  Sozialdemokraten  haben  in  dieser 
Lage  nur  das  eine  zu  sagen:  Wir  können  euch  nicht  retten,  wir 
können  die  Dummheit  aller  Leute  nicht  gutmachen,  wir  können  nur 
verlangen,  daß  das  ganze  arbeitende  Volk  zu  uns  komme  auf  den 
rettenden  gemeinsamen  Boden  der  internationalen  Solidarität,  damit 
es  endlich  die  entscheidende  Macht  im  Staate  werde.  Wenn  man 
uns  dann  auch  fragt,  was  unser  Rat  ist,  dann  wollen  wir  ihn  auch 
nicht  versagen.  Unser  Rat  lautet:  Weg  mit  diesem  Ministerium! 
Weg  mit  diesem  Parlament! 


120  Adler  im  Landtag. 


Adler  im  Landtag. 

Die  Verschleppung  der  Landtagswahl. 

Versammlung  am  14.  Mai  1901*). 

Es  ist  wohl  das  erstemal,  daß  sich  die  Arbeiter  in  Wien  um  eine 
Landtagswahl  reißen,  auf  der  anderen  Seite  aber  sehen  wir  wieder 
das  merkwürdige  Schauspiel,  daß  man  diesmal  die  Wahl  nicht  aus- 
schreiben will.  Zwischen  die  vorigen  und  die  bevorstehenden  Land- 
tagswahlen fällt  aber  die  Revision  des  Wiener  Gemeindestatuts  und 
damit  auch  die  Erweiterung  des  Wahlrechtes  für  den  Landtag.  Die 
Pflicht,  die  neuen  Wahlen  auszuschreiben,  ist  durch  die  Landes- 
ordnung mit  absoluter  Klarheit  festgestellt.  Und  wenn  diese  Pflicht 
jemals  bestand,  so  besteht  sie  besonders  jetzt.  Aber  dieselben 
Gründe,  die  für  uns  die  Wahl  notwendig  machen,  machen  sie  den 
Beherrschern  des  Landes  höchst  unangenehm.  Es  ist  nämlich  'in 
Niederösterreich  und  in  Wien  speziell  eine  kleine  Wendung  ein- 
getreten. Die  Christlichsozialen,  die  bei  früheren  Wahlen  mit  großer 
Sicherheit  darauf  rechnen  konnten,  ihre  Mandate  zu  behaupten  und 
sogar  noch  Eroberungen  zu  machen,  fühlen  sich  heute  schon 
weniger  sicher,  besonders  wenn  auf  Grund  eines  breiteren  Wahl- 

*)  Bald  nach  seinem  Amtsantritt  hatte  K  ö  r  b  e  r,  um  die  Christlich- 
sozialen für  sich  zu  gewinnen,  das  Wiener  Gemeindestatut  am  18.  März 
1900  sanktionieren  lassen.  Bekanntlich  hatte  Lueger  das  allgemeine  Wahl- 
recht, allerdings  mit  fünfjähriger  Seßhaftigkeit,  für  den  Wiener  Gemeinde- 
rat beschließen  lassen,  war  aber  dann  nach  Rom  gefahren,  wo  er  vom 
Papst  Leo  XIII.  empfangen  wurde,  und  während  dieser  Zeit  hatte  er  seine 
Mamelucken  mit  Körber  das  Kompromiß  abschließen  lassen,  das  das  all- 
gemeine Wahlrecht  aufgab,  die  alten  drei  Wahlkörper  im  Wesen  unver- 
ändert ließ,  aber  ihnen  einen  vierten  Wahlkörper  des  allgemeinen  Wahl- 
rechtes mit  dreijähriger  Seßhaftigkeit  und  mit  zwanzig  Mandaten  (neben 
den  138  Mandaten  der  privilegierten  Wahlkörper)  anfügte.  Vergebens 
hatten  die  Arbeiter  gegen  diesen  Wahlrechtsraub  durch  Straßenumzüg  e, 
deren  größter  am  25.  Februar  1900  stattfand,  protestiert.  Da  aber  doch, 
wenn  auch  mit  geringerem  Rechte,  die  Einkommensteuerzahler  das  Wahl- 
recht für  den  Gemeinderat  hatten,  hatten  sie  es  auch  für  den  Landtag, 
dessen  Wahlrecht  sich  bis  zur  Landtagswahlreform  vom  21.  Oktober  1907 
auf  dem  Gemeindewahlrecht  aufbaute.  Das  Nähere  darüber  ist  in  der  Rede 
selbst  enthalten.  —  Siehe  auch  über  L  u  e  g  e  r  s  W  a  h  1  r  e  c  h  t  s  r  a  u  b, 
Bd.  X,  Seite  214,  Note. 

Nun  war  am  10.  April  der  Proiessor  Schlesinger  gestorben,  der  im 
Reichsrat    den    achten    Wiener    Bezirk,    Josefstadt,   und    im    Landtag    den 


Die  Verschleppung  der   Landtagswahl.  121 


rechtes  gewählt  wird.  Unsere  Nachbarn  in  Siiiiinering  sind  in  einer 
ähnlichen  Situation.  Ihnen  ist  ein  Genieinderat  abhanden  gekommen 

(Heiterkeit),  und  Herr  Lueger  trifft  keine  Vorkehrungen,  nni  die 
Neuwahl  anzuordnen.  Auch  in  Simmering  fühlen  sich  die  Christlich- 
sozialen  nicht  sicher,  das  Mandat,  das  sie  durch  aufgelegten 
Schwindel  in  die  Hände  bekommen  haben,  hei  ehrlichen  Wahlen 
zu  behalten*). 

Doch  ich  halte  es  trotz  dieser  Erwägungen  für  ausgeschlossen, 

daß  die  Wahl  in  Favoriten  nicht  ausgeschrieben  wird,  weil,  wenn 
der  Minister  des  Innern  Dr.  v.  Körber  die  Nichtausschreibüng 
dieser  Wahl  zuließe,  er  sich  eines  groben  Vergehens  g e  g e n 
die  Verfassung  und  gegen  die  Bevölkerung  schul- 
d  i  g  machen  würde.  Und  da  ich  ohne  Beweis  nicht  annehmen 
werde,  daß  der  Minister  ein  solches  Unrecht  begeht,  so  halte  ich 
es  für  ausgeschlossen,  daß  die  Wahl  nicht  ausgeschrieben  wird.  Die 
politische  Ehrenhaftigkeit  des  Ministerpräsidenten  ist  nun  eine 
schöne  Sache,  mindestens  ebenso  sicher  ist  aber  für  mich,  daß 
Dr.  Körber  doch  nichts  Unvernünftiges  machen  will.  Und  es  wäre 
das  die  höchst  e  U  n  v  ernunf  t.  wenn  er  ein  derartiges  poli- 
tisches Vergehen,  einen  derartigen  Gewaltstreich  beginge,  bloß  um 
der  schönen  Augen  des  Dr.  Lueger  willen.  Eine  jede  Sache  hat  ja 
ihren  Preis.  Politische  Verbrechen  sind  bei  uns  in  den  letzten  Jahren 
vielfach  begangen  worden,  aber  sie  mußten  sich  auszahlen.  Warum 
sollte  also  der  Dr.  v.  Körber  so  etwas  tun?  Es  wird  ihm  ja  unan- 
genehm sein,  wenn  im  Landtag  wirklich  ein  Sozialdemokrat  sitzt, 
aber  sie  sind  nicht  mehr  auszurotten,  die  Sozialdemokraten,  und  er 
weiß,  er  kriegt  sie  so  oder  so  in  den  Landtag  hinein.  (Beifall.)  Und 


zehnten  Bezirk,  Favoriten,  vertrat.  Die  Ergänzungswahl  für  den  Reichsrat 
wurde  sofort  anberaumt,  da  der  Bezirk  für  die  Christlichsozialen  sicher 
war,  und  es  wurde  auch  bereits  am  15.  Mai  (am  Tage  nach  dieser  Ver- 
sammlung) der  christlichsoziale  Magistratsrat  Dr.  Alois  H  e  i  1  i  n  g  e  r  mit 
großer  Mehrheit  gewählt.  (Nebenbei  bemerkt  hat  Heilinger  zehn  Jahre 
später  als  Führer  der  christlichsozialen  Fronde,  die  die  Korruption  der 
Parteiführer  enthüllte,  indem  sie  das  Schlagwort  vom  „Gott  N  i  m  m"  und 
von  den  Aasgeiern  erfand,  neben  Hraba  und  Silberer  am  meisten  zur 
Niederlage  der  Christlichsozialen  bei  den  Juniwahlen  des  Jahres  1911  bei- 
getragen.) Die  Landtagswahl  aber  wurde  nicht  ausgeschrieben,  weil  die 
Christlichsozialen  in  Favoriten  eine  Niederlage  fürchteten.  Deshalb  wurde 
für  den  14.  Mai  in  Rappels  Rosensäle  eine  Versammlung  einberufen,  die 
gegen  diese  Verzögerung  protestieren  sollte.  Diese  Verzögerung  war  um 
so  frivoler,  als  der  Landtag  bereits  Mitte  Juni  zusammentreten  sollte.  Das 
Referat  erstattete  Dr.  Adler. 

Die  Wahl  hat  bekanntlich  schließlich  am  1.  Juli  1901  stattgefunden  und 
mit  dem  Sieg  Adlers  geendet.  Dieser  erhielt  4298,  der  Christlichsoziale 
4125,  der  tschechischnationale  Zählkandidat  41   Stimmen. 

)  Im  elften  Wiener  Gemeindebezirk,  Simmering,  wurde  die  Wahl  des 
Christlichsozialen  wegen  unglaublicher  Schwindeleien  gerade  einige  Tage 
vor  dieser  Versammlung  vom  Verwaltungsgerichtshof  annulliert;  die 
neue  Oemeinderatswahl  fand  am  12.  März  1902  statt.  Sie  endete  dank 
einem  unerhörten  Wahlschwindel  wieder  mit  dem  Sieg  des  Christlich- 
lozialen. 


122  Adler  im  Landtag. 


bloß,  um  die  paar  Monate  zu  gewinnen,  sollte  er  dieses  Verbrechen 
begehen?  Nein,  so  dumm  ist  Herr  v.  Körber  nicht.  Aber  selbst 
wenn  es  möglich  wäre,  daß  ein  Minister  etwas  Derartiges  täte,  so 
muß  ich  gestehen,  von  meinem  agitatorischen  Standpunkt 
als  Sozialdemokrat  hätte  ich  gar  nichts  dagegen.  Es  würde  dann 
einmal  alle  Welt  sehen,  daß  selbst  in  einem  Fall,  wo  das  Gesetz 
ganz  klar  für  uns  spricht,  das  Gesetz  mit  Füßen  getreten  werden 
kann,  nur  um  zu  hindern,  daß  ein  Sozialdemokrat  in  den  Landtag 
komme.  Das  wäre  nicht  schlecht  für  unsere  Agitation,  und  ich 
glaube  nicht,  daß  die  Sozialdemokraten  darunter  Schaden  leiden 
würden. 

Aber  vielleicht  tun  wir  Herrn  v.  K  ö  r  b  e  r  wie  Herrn  v.  K  i  e  1- 
mansegg  überhaupt  unrecht,  wenn  wir  nur  an  die  Eventualität 
denken,  daß  so  etwas  möglich  wäre.  Wahrscheinlich  dürften  sie  die 
paar  Wochen  darüber  nachgedacht  haben,  wie  man  den  §  12  der 
Landtagswahlordnung  so  auslegen  könnte,  daß  die  Arbeiter  kein 
Wahlrecht  haben.  Dieser  Paragraph  sagt,  daß  in  Wien  außer  den 
Fünfguldenmännern  jeder  das  Wahlrecht  zum  Landtag  hat,  der  das 
Wahlrecht  für  die  Gemeinde  hat.  Das  sind  also  auch  die  Wähler 
des  vierten  Wahlkörpers.  Die  Herren  haben  wahrscheinlich  den  Para- 
graphen um  und  um  gedreht,  sie  haben  ihn  gebeutelt,  gezogen,  ge- 
dehnt, und  weil  natürlich  nichts  anderes  herausfallen  will  und  kann, 
was  darin  steht,  deshalb  —  nun  deshalb  warten  sie,  daß  vielleicht 
doch  noch  ein  Jurist  kommt,  der  ihnen  das  Blaue  vom 
Himmel  wegbeweist  und  ihnen  beweist,  daß  2X2  aus- 
nahmsweise 5  ist,  weil,  wenn  es  4  wäre,  das  für  Herrn  Lueger  un- 
angenehm wäre.  (Beifall.)  Nun  kann  man  ja  an  Wunder  glauben, 
aber  so  gut  Herr  Lueger  und  seine  Leute  auch  angeschrieben  sein 
mögen  bei  jenen  Faktoren,  die  Wunder  verrichten,  heutzutage 
geschehen  eben  keine  Wunder  mehr;  und  es  kann  sich 
das  Gesetz,  das  wir  nun  einmal  haben,  nicht  plötzlich  in  ein  anderes 
verwandeln.  Allerdings  wird  etwas  geschehen,  was  wie  ein  Wunder 
aussieht :  es  wird  nämlich  zum  erstenmal  aus  der 
Kurie  der  Städte  auf  Grund  des  allgemeinen  Wahl- 
rechtes (wenn  auch  mit  dreijähriger  Seßhaftigkeit)  gewählt 
werden. 

Wenn  das  Gesetz  nun  auch  ganz  klar  ist,  so  dürfen  wir  doch 
nicht  ruhig  zusehen.  In  Österreich  werden  nur  jene  Gesetze 
durchgeführt,  hinter  denen  auch  jemaiid  steht. 
Würden  sich  die  Wähler  nicht  rühren,  würde  im  Abgeordnetenhaus 
nicht  interpelliert  worden  sein,  würden  wir  in  der  Presse  nicht 
zeigen,  daß  wir  aufpassen,  so  wäre  es  allerdings  nicht  unmöglich, 
daß  man  diese  Wahl  „vergessen"  würde. 

In  der  Statthalterei  überlegt  man  offenbar,  ob  es  überhaupt  dafür 
steht,  wegen  eines  Abgeordneten  sich  so  zu  strapazieren.  Man  muß 
sich  nun  in  das  Gehirn  der  Leute  versetzen.  Sie  wissen,  daß  sie  eine 
neue  Wahlordnung  machen  werden.  Die  werden  sie  nun  nicht  so 
machen  wollen,  daß  alle  das  gleiche  Wahlrecht  erhalten,  sondern 
vielleicht  so  ein  Ding  wie  die  fünfte  Kurie,  kurz  sie  werden  wieder 
das  Wahlrecht  verschlechtern  wollen.  Nun  denken  sie 


Die   Verschleppung  der  Landtagswahl.  123 


offenbar  folgendermaßen:   Jetzt  sollen  wir  nach  einem   Verhältnis* 

mäßig  guten  Wahlrecht  wählen  lassen  und  in  ein  paar  Monaten 
werden  wir  denselben  Leuten,  die  schon  gewählt  haben. 
das  Wahlrecht  wieder  wegnehmen  wollen.  Das  ist 
doch  anmöglich.  Ganz  richtig.  Das  ist  unmöglich.  Aber  dafür  gibt 
es  nicht  den  Ausweg,  daß  man  denjenigen,  die  heute  das  Wahl- 
recht haben,  dieses  Recht  nimmt,  sondern  nur  den,  daß  man  den 
W  a  h  1  r  e  c  h  t  s  r  a  u  b,  den  man  plant,  unterläßt  (lebhafter 
Beifall),  daß  man  die  langen  Finger  vom  Wahlrecht  läßt. 

Über  das  alles  denkt  man  oben  krampfhaft  nach.  Aber  ich 
wiederhole:  Sie  können  sich  die  Köpfe  zerbrechen  wie  sie  wollen, 
sie  können  n  i c  h  t  i n  das  Gesetz  hineinlesen,  daß  die- 
jenigen, die  das  Wahlrecht  in  den  Gemeinderat  haben,  nicht  das 
Wahlrecht  für  den  Landtag  haben  sollen.  Und  weil  sie  das  nicht 
können,  sollen  sie  gefälligst  —  wenn  schon  nicht  aus  Gerechtigkeit, 
so  doch  aus  Klugheit  —  gute  Miene  zu  dem  für  sie  bösen  Spiele 
machen.  Ist  denn  der  arme  Dr.  Lueger  schon  so  herunter,  daß  ihm 
ein  einziger  Sozialdemokrat  im  Landtag  so  fürchterlich  ist,  daß  er 
Himmel  und  Hölle  in  Bewegung  setzt,  daß  die  Gesetze  mit 
Füßen  getreten  und  offene  Ungerechtigkeiten 
verübt  werden  sollen,  bloß  damit  der  eine  Sozial- 
demokrat nicht  hineinkomme?  Das  ist  doch  ein  Armuts- 
zeugnis, das  sich  die  Beherrscher  Niederösterreichs  selbst  geben! 
(Beifall.) 

Aber  es  genügt  nicht,  daß  die  Wahl  überhaupt  ausgeschrieben 
wird,  sie  muß  auch  rechtzeitig  ausgeschrieben  werden. 
In  der  nächsten  Session  des  Landtages  werden  sehr  wichtige  Dinge 
auf  die  Tagesordnung  kommen,  bei  denen  Vertreter  der  Arbeiter- 
schaft anwesend  sein  müssen.  Es  wird  über  eine  neue  Wahlordnung 
beraten  werden,  und  wenn  die  Christlichsozialen  nur  einen  Funken 
von  politischer  Ehre  im  Leibe  hätten,  wenn  sie  nur  eine  Spur  von 
Gerechtigkeitssinn  und  politischem  Schamgefühl  hätten,  müßten  sie 
selbst  es  als  eine  Schmach  empfinden,  daß  man  über  die  politischen 
Rechte  der  ganzen  Bevölkerung  Niederösterreichs  entscheiden  will, 
ohne  daß  auch  nur  ein  Vertreter  der  Rechtlosen 
anwesend  ist.  Und  sie  müßten  es  geradezu  als  eine  Erlösung 
empfinden,  daß  der  Zufall  es  ermöglicht,  daß  bei  der  Be- 
ratung so  wichtiger  Dinge  auch  ein  Vertreter  der  Arbeiter 
anwesend  ist.  Sie  sagen  ja,  daß  sie  die  Vertreter  der  breiten 
Massen  sind.  Nun  gut,  dann  wird  einer  von  ihnen  gewählt  werden, 
aber  es  wird  einer  dort  sein,  der  das  Volk  vertritt,  über  dessen 
Interessen  beraten  werden  soll. 

Aber  der  niederösterreichische  Landtag  wird  auch  die  Wahl- 
ordnung für  die  Landgemeinden  regeln,  wobei  ich  davon  absehe, 
daß  er  die  Wiener  Gemeindewahlordnung  wird  ändern  müssen.  Der 
Landtag  wird  sich  auch  mit  der  Regelung  des  Armenwesens 
und  mit  der  Frage  der  Wien  er  Spitäler  zu  beschäftigen  haben. 
Auch  das  Schulwesen  gehört  in  die  Kompetenz  des  Landtages 
und  Sie  wissen,   wie   notwendig   es   ist,   den  Verderbern   und  Ver- 


124  Adler  im  Landtag. 


pfaffern  der  Schule,  den  Bedrückern  unserer  Lehrer  an  Ort  und 
Stelle  gründlich  den  Standpunkt  klarzumachen. 

Aus  allen  diesen  Gründen  erheben  wir  Protest  gegen  die  Ver- 
zögerung und  wir  erklären,  daß  wir  nicht  daran  glauben,  daß  man 
dieses  Verbrechen  begehen  will,  daß  wir  aber,  wenn  wir  uns 
täuschen  sollten,  jeden,  der  das  Verbrechen  begeht,  so  be- 
handeln werden,  wie  es  Verbrecher  verdienen. 
(Stürmischer  Beifall*).) 

Der  christlichsoziale  Wahlrechtsraub. 

Versammlung  am  12.  Juli  190  1**). 

Als  wir  das  letztemal  hier  zusammenkamen,  geschah  es,  um  die 
Regierung  aufzufordern,  daß  sie  endlich  die  Wahl  ausschreibe.  Es 
bedurfte  energischer  Maßnahmen,  um  die  Herren  an  ihre  Pflicht  zu 
erinnern.  Die  Herren  Christlichsozialen  haben  ihre  Juristen  darüber 
nachdenken  lassen,  wie  man  ein  paar  tausend  Arbeiter  um  ihr 
Wahlrecht  bringen  könne.  Der  Redner  bespricht  dann  die  neue 
Auslegung  der  Landtagswahlordnung  durch  den  Magistrat  und 
zeigt,  daß  bei  der  Verfassung  dieser  niemand  daran  gedacht  hat, 
Qemeindewähler  vom  Wahlrecht  in  den  Landtag  auszuschließen. 
Trotzdem  stützt  sich  der  Magistrat  und  auch  die  Statthalterei 
darauf,  daß  die  meisten  Arbeiter  zwar  Gemeinde  g  1  i  e  d  e  r,  aber 
nicht  Gemeinde  m  i  t  gl  ie  de  r  sind  (Heiterkeit),  und  daß  ein  Ge- 
meindemitglied nur  derjenige  ist,  der  Steuer  zahlt  oder  zuständig 
ist,  nicht  aber  schon  jeder,  der  in  dieser  Gemeinde  rackert  und 
schuftet  und  mit  seinen  indirekten  Steuern  diese  Gemeinde  erhält. 
Wir  haben  von  vornherein  gewußt,  daß  sich  die  Christlichsozialen 
daran  klammern  werden,  obwohl  gerade  Dr.  L  u  e  g  e  r  persön- 
lich vor  noch  nicht  langer  Zeit  bindende  Ver- 
sprechungen bezüglich  des  Lan  d  tags  wa-hl- 
rechtesabgegebenhat.  Am  14.  Februar  1896  hat  Dr.  Lueger 
im  Landtag  im  Namen  seiner  Partei  die  feierliche 
Erklärung  abgegeben :  Meine  Parteigenossen  und  ich 
. . .  sind  für  die  möglichste  Erweiterung  desWahlr 
rechtes,  wir  sind  für  das  allgemeine,  gleiche  und 

*)  Hierauf  wurde  eine  Deputation  gewählt,  die  zum  Statthalter  Grafen 
Kielmansegg  gehen  und  ihn  fragen  solle,  wann  er  endlich  die 
Wahl  im  X.  Bezirk  auszuschreiben  gedenke. 

**)  Der  Magistrat  hatte  nach  langem  Nachdenken  endlich  herausbekommen, 
wie  er  die  Arbeiter  um  ihr  Wahlrecht  bringen  könne.  Die  Arbeiter  seien  keine 
Gemeindemitglieder,  sondern  nur  Gemeindeglieder  und  so  hätten  nur  die 
von  ihnen  das  Wahlrecht,  die  entweder  Steuer  zahlen  oder  nach  Wien 
zuständig  seien.  Und  unter  dieser  Bedingung  wurde  auch  die  Wahl  aus- 
geschrieben. Nun  fand  am  12.  Juni  in  Rappels  Rosensälen  wieder  eine 
Wählerversammlung  statt.  (Siehe  übrigens  die  Ausführungen  Adlers  über 
die  christlichsoziale  Wahlmache  in  Favoriten  und  ihre  Auslegung  der 
Wahlordnung  in  seiner  Rede  vom  11.  Juli  1901  über  die  Marodeure  d  es 
K  1  e  r  i  k  a  1  i  s  m  u  s.  Bd.  VIII,  Seite  420  bis  427.) 


Der  christlichsoziale  Wahlrechtsraub.  125 


direkte  Wahlrecht.  (Rufe:  Das  hat  er  schon  vergessen!) 
Das  hat  er  allerdings  in  jenem  Moment  gesagt,  wo  es  ausgeschlossen 
war,  daß  ihn  jemand  heim  Wort  nehme.  Und  Sic  wissen,  daß  vor 
zwei  Jahren  eine  Landtagswahlordnung  für  Niederösterreich  ge- 
plant war,  die  allen  diesen  Grundsätzen  in  das  Gesicht  schlägt.  Und 
derselbe  Dr.  Lueger,  der  jenes  Versprechen  gegeben  hat,  hat  jetzt 
von  allen  Auslegungen  des  Gesetzes  die  unmöglichste  heraus- 
gesucht, diejenige,  die  seinem  Versprechen  am  gründlichsten  wider- 
spricht. Aber  der  F  e  1  d  z  u  g  ist  noch  nicht  verloren; 
möge  jeder  reklamieren,  wir  werden  die  Frage  vor  den  Ver- 
fassungsgerichtshof  bringen  und  diesen  darüber  entscheiden  lassen. 
Diese  Wahl  ist  von  einer  großen  Bedeutung,  sie  ist  gewissermaßen 
die  Generalprobe  für  die  nächsten  allgemeinen  Landtagswahlen  in 
Niederösterreich.  Sie  fechten  deshalb  durch  Ihre  Reklamationen 
dafür,  daß  Ihnen  bei  den  nächsten  Wahlen  Ihr  Recht  werde.  Die 
zweite  Aufgabe,  die  Sie  bei  diesen  Wahlen  haben,  ist  die,  selbst 
unter  den  ungünstigen  Umständen,  die  die  Auffassung  der  Juristen 
Ihnen  bietet,  zu  zeigen,  daß  wir  in  den  Landtag  eindringen  können. 
(Lebhafter  Beifall.) 

Was  die  Christlichsozialen  diesmal  unternommen  haben,  ist 
kein  gewöhnlicher  Wahlrechts  raub,  sondern  ein 
solcher,  der  mit  juristisch-talmudischen  Ver- 
drehungen gemacht  ist.  Und  Sie  werden  zu  zeigen  haben,  ob 
es  durch  dieses  juristische  Einbrecherstück  gelingen 
kann,  daß  der  größte  Proletarierbezirk  Wiens  durch  einen  Abge- 
ordneten vertreten  werde,  den  die  überwiegende  Majorität  der  Be- 
völkerung nicht  will.  Denn  die  Majorität  der  Bevölkerung  ist  nicht 
christlichsozial,  und  wenn  von  irgendeinem  Bezirk  gesagt  werden 
kann,  daß  er  sozialdemokratisch  ist,  dann  ist  es  Favoriten.  (Stür- 
mischer Beifall.)  Die  Christlichsozialen  verlassen  sich  auch  heute 
darauf,  daß  es  mit  dem  Schwindel  schon  gehen  wird.  Ich  habe  ein 
kleines  Verzeichnis  von  Wählern  gesehen,  die  zwar  Einkommen- 
steuer gezahlt  haben,  auch  drei  Jahre  seßhaft  waren,  aber  nur  den 
einen  Fehler  haben,  daß  sie  auf  dem  Zentralfriedhof 
wohnen*).  (Hört!)  Die  Christlichsozialen  haben  sich  mit  ihren 
Schwindeleien  in  Simmering  eine  furchtbare  Blamage  geholt,  aber 
das  hat  sie  nicht  klug  gemacht,  höchstens  vorsichtiger.  Aber  das 
ist  für  uns  keine  Entschuldigung  in  diesem  Bezirk.  Es  kann  un- 
möglich so  viel  geschwindelt  werden,  um  die  erdrückende  Majo- 
rität von  Arbeitern,  die  in  diesem  Bezirk  wohnt,  zu  überstimmen, 
wenn  die  Arbeiter  nur  ihre  Pflicht  tun.  (Lebhafter  Beifall.) 


*)  Eines  der  bewährtesten  Mittel  des  christlichsozialen  Wahlschwindels 
bestand  darin,  daß  der  Magistrat  die  Wähler,  die  starben,  noch  jahrelang 
weiter  in  der  Wählerliste  mitführte  und  daß  ihre  Wahllegitimationen  dann 
den  christlichsozialen  Komitees  übergeben  wurden,  die  durch  verläßliche 
Leute,  die  übrigens  den  christlichsozialen  Mitgliedern  des  Wahlkomitees 
durch  besondere  Zeichen  kenntlich  waren,  abgegeben  wurden.  Diese 
„toten  Wähler"  vom  „Zcntralfricdhof"  entschieden  viele  Wahlen  zu- 
gunsten der  Christlichsozialen.  Siehe  im  zehnten  Band  die  Bemerkungen  bei 
den  Beratungen  über  die  Wählerlisten,  so  zum  Beispiel  Seite  401. 


126  Adler  im  Landtag. 


Dr.  Adler  bespricht  dann  die  Fragen,  die  den  Landtag  in  der 
nächsten  Zeit  beschäftigen  werden.  Da  ist  zunächst  die  Frage  des 
Wahlrechtes.  Es  gibt  in  Niederösterreich  ausgedehnte  Gebiete,  die 
von  Industriearbeitern  bewohnt  sind  und  wo  die  Arbeiter  ganz 
rechtlos  sind  und  nach  dem  Programm,  das  die  Herren 
Scheicher  und  G  e  ß  m  a  n  n  ausgetüftelt  haben,  es  auch  bleiben 
sollen.  In  dieser  Frage  hat  der  Sozialdemokrat,  den  Sie  in  den  Land- 
tag entsenden,  nichts  zu  tun,  als  sich  an  das  Programm 
des  Herrn  Dr.  Lueger  zu  halten,  natürlich  mit  dem  Unter- 
schied, daß,  wie  Dr.  Lueger  log  und  heuchelte,  der 
Sozialdemokrat  ehrlich  und  rücksichtslos  für  das 
Recht  des  Volkes  kämpfen  muß.  Eine  weitere  wichtige  Frage  betrifft 
die  Regelung  des  Wiener  Spitalwesens.  Die  Wiener  Spital- 
verhältnisse sind  ungefähr  die  elendesten  in  ganz  Mitteleuropa;  in 
keiner  Stadt  Mitteleuropas  gibt  es  einen  solchen  Mangel  an 
Krankenhäusern  wie  in  Wien  (Zwischenrufe:  Aber  Kirchen!),  keine, 
wo  so  gar  nicht  für  Kinderspitäler  vorgesorgt  ist.  An  dieser  Wirt- 
schaft sind  Gemeinde,  Land  und  Staat  gleich  schuldig.  Auch  da  wird 
ein  juristischer  Krieg  ausgefochten  zwischen  diesen  drei  Faktoren, 
und  zwar  auf  den  Leibern  kranker  Kinder  und  Greise.  (Rufe  der 
Entrüstung.)  Wenn  die  Begriffe  des  Menschenrechtes  und  der 
Menschenpflicht  in  der  kapitalistischen  Gesellschaft  noch  nicht  so 
weit  entwickelt  sind,  daß  jeder  das  Rechtzu  leben  hat,  so  weit 
sind  wir  doch  selbst  in  dieser  kapitalistischen  Barbarei  schon,  daß 
der  Anspruch  des  kranken  Menschen  auf  Pflege  und  Unter- 
kunft allgemein  anerkannt  wird.  Und  nicht  einmal  das  wird  bei  uns 
erfüllt.  Da  verstecken  sich  die  christliche  Kommune  und  die  nicht 
minder  christliche  Statthalterei  und  der  christliche  Landesausschuß 
—  christlich  sind  sie  ja  alle  —  hinter  die  Paragraphen,  um  nur  ja 
nichts  dafür  tun  zu  müssen.  Der  Redner  erörtert  sodann  eingehend 
die  geplante  Lösung  der  Wiener  Krankenhausfrage,  die  die  Frage 
nicht  entscheidet,  wann  denn  endlich  mit  der  Arbeit  begonnen  wird, 
und  noch  weniger  eine  Gewähr  bieten,  daß  auch  nur  e  i  n  Spitalbett 
mehr  sein  wird  als  bisher.  Und  noch  eine  Frage  ist  es,  die  den  Land- 
tag beschäftigen  wird:  die  Frage  der  Schule  und  der  Lehrer. 
Im  Landtag  muß  der  Hebel  angesetzt  werden,  um  da  bessere  Zu- 
stände einzuführen*). 

Die  Arbeiter  gegen  die  Zeitungsstrolche. 

Versammlung  am  5.  Juli  190  1**). 

Aber  regen  Sie  sich  doch  nicht  auf.  Heute  haben  wir  keinen  Anlaß 
dazu.  Heute  sind  wir  in  der  angenehmen  Lage,  die  anderen  schimpfen 
lassen  zu  können.  (Heiterkeit.)  Dr.  Lueger  hat  gerade  diese  Wahl  als 


*)  Über  diese  wichtigen  Fragen  hat  Adler  im  Landtag  gesprochen,  wie 
aus  den  im  folgenden  abgedruckten  Reden  hervorgeht. 

r*)  In  ihrer  Wut  über  Adlers  Wahl  hatten  die  Christlichsozialen  in  der 
„Deutschen   Zeitung"   erzählt,    es    hätten    sich    an   der   Wahlagitation  für 


Die  Arbeiter  gegen  die  Zeitungsstrolche.  127 

eine  große  Entscheidungsschlacht  zwischen  Christlichsozialen   und 

Sozialdemokraten  oder,  wie  er  sicli  ausdrückt,  zwischen  Christen  und 
.luden  ausposaunt.  (Heiterkeit.)  Das  war  sehr  unklug  von  ihm,  denn 
er  mußte  wissen,  daß  dieser  Bezirk  früher  oder  später  für  ihn  doch 
nicht  zu  halten  sein  werde.  Nim,  da  er  diese  Dummheit  begangen 
hat,  muß  er  die  Folgen  davon  trafen.  Diese  Wahl  hat  aber  auch  die 
Bedeutung,  daß  sie  die  Bahn  schafft  für  die  Lroberung  eines  Teiles 
des  Landtages,  und  daß  sie  uns  ein  Zeichen  ist,  daß  es  mit  der  Herr- 
schaft der  Christlichsozialen  im  Lande  Niederösterreich  sehr  bald  zu 
rinde  sein  wird.  Diese  Wahl  zerstört  den  Nimbus  des  Dr.  Lueger, 
das  Vorurteil,  daß  er  bei  den  Landtagswahlen  unbesiegbar  ist.  Die 
Haltung  der  bürgerlichen  Parteien  bei  dieser  Wahl  war  bezeichnend. 
Es  gab  naive  Leute,  die  meinten,  weil  die  gemeinsame  klerikale  Ge- 
fahr Arbeiter,  Bürger  und  Bauern  bedroht,  so  würden  die  „frei- 
sinnigen Parteien"  rücksichtslos  für  die  Sozialdemokratie  eintreten. 
Die  einzelnen  Personen  waren  vielfach  so  klug,  anders  aber  die  Par- 


Adler  „Prostituierte  aus  der  Novaragasse"  beteiligt.  Die 
„Arbeiter-Zeitung"  hatte  diejenigen,  die  diese  Verleumdung  brachten, 
„Pr  eß  s  tr  ol  ch  e"  genannt  und  hatte  dann  festgestellt,  daß  der  Artikel 
von  dem  Redakteur  Lothar  S  c  h  ä  f  f  e  r  geschrieben  wurde.  Dieser  klagte, 
mußte  aber  die  Klage  schließlich  zurückziehen,  nachdem  er  zugestanden 
hatte,  daß  ihm  die  Informationen  von  den  christlichsozialen  Führern 
selbst  gegeben  wurden.  Im  Landtag  hat  Lueger,  als  Adler  am  11.  Juli  seine 
Rede  gegen  die  Marodeure  des  Klerikalismus  hielt,  ihm  zugerufen,  er  sei 
ein  Vertreter  der  Novaragasse,  dann  aber,  als  ihn  Adler  stellte, 
so  getan,  als  ob  er  damit  doch  nichts  Ungebührliches  gesagt  habe. 

Die  ganze  Affäre  ist  im  VIII.  Band  dieser  Sammlung  bei  der  Rede 
Adlers  ausführlich  erzählt  und  es  sei  darauf  verwiesen.  (Bd.  VIII, 
Seite  430  bis  435.) 

Hier  sei  ergänzend  eines  Besuches  Erwähnung  getan,  den  zwei  Frauen 
in  der  Redaktion  der  „Deutschen  Zeitung"  machten,  um  eine  Zurücknahme 
jener  Beschimpfungen  zu  erwirken.  Die  „Arbeiter-Zeitung"  berichtete 
darüber  am  5.  Juli: 

*  Bei  den  Zeitungsstrolchen.  Trotz  aller  Erfahrungen  sind  wir  noch 
immer  der  Gefahr  ausgesetzt,  die  Gemeinheit  und  Feigheit  der 
christlichsozialen  Preßbengel  zu  unterschätzen  und  für  eine  Ausnahme 
zu  halten,  was  durchgängige  Regel  ist.  Die  Infamie,  deren  sich  die 
„Deutsche  Zeitung"  gegen  jene  Frauen  schuldig  gemacht  hat,  die  bei 
der  Favoritner  Wahl  agitierten,  schrieben  wir  einem  Einzelnen  zu  und 
gaben  der  Möglichkeit  Raum,  daß  seine  Kollegen  sich  dieses  Subjekts 
schämen.  Wir  haben  uns  geirrt,  und  zwei  Frauen  haben  es  bitter  ge- 
büßt, daß  auch  sie  angenommen  haben,  daß  der  Redakteur  eines 
christlichsozialen  Blattes  etwas  anderes  sein  könne  als  ein  feiger  und 
frecher  Bube.  Frau  Baronin  Amelie  v.  Langenau  und  Genossin 
Therese  Schlesinger,  die  die  Initiative  dazu  gegeben  hatten,  daß 
einige  Frauen  aus  dem  Bürgertum  sich  an  der  Wahlagitation  be- 
teiligten, glaubten  es  sich  selbst  und  den  Frauen,  die  sich  ihrer 
Initiative  angeschlossen  hatten,  schuldig  zu  sein,  selbst  einen  Schritt 
zur  Abwehr  jener  Beschimpfung  zu  unternehmen.  Sie  begaben  sich 
gestern     zu     Herrn     Dr.    Theodor    W  ä  h  n  e  r,    dem    Chefredakteur    der 


128  Adler  im  Landtag. 


teien.  Das  ist  für  uns  ein  Fingerzeig  für  die  Zukunft,  ein  Beweis,  daß 
sich  die  Arbeiterschaft  in  dem  Kampfe  gegen  den  Klerikalismus  nur 
auf  sich  selbst  verlassen  kann.  Trotzdem  ist  es  wahr,  daß  der  Sieg 
der  Sozialdemokraten,  oder  besser  gesagt,  daß  die  Niederlage  der 
Christlichsozialen  die  Bürgerlichen  gefreut  hat.  Am  liebsten  wäre  es 
ihnen  gewesen,  wenn  sie  weder  den  Adler  noch  den  Rissaweg  hätten 
fressen  müssen.  (Heiterkeit.)  Nun,  wir  werden  wieder  Wahlen  haben. 
Mögen  die  Herren  wissen:  Wir  gehen  bei  den  nächsten 
LandtagswahlenundbeijederanderenWahlrück- 
sichtslos  als  Sozialdemokraten  ins  Gefecht,  un- 
bekümmert um  die  anderen,  mögen  sie  liberal,  national  oder  volklich 
heißen.  (Lebhafter  Beifall.)  Wer  unserem  Weg  folgt,  möge  sehen, 
daß  er  uns  nachkomme.  Aber  ich  wiederhole  ausdrücklich,  weil  da- 
von so  viel  geredet  wurde:  Ein  Bündnis  zwischen  den  antikleri- 
kalen Parteien,  insofern  die  Sozialdemokraten  dabei  sind,  hat  nie 
bestanden  und  wird  nie  bestehen. 


„Deutschen  Zeitung",  um  den  Tatbestand  festzustellen  und  ihm  Ge- 
legenheit zu  verschaffen,  Genugtuung  zu  geben  und  Abbitte 
zu  leisten  für  das  Unerhörte,  das  in  seinem  Blatt  verübt  wurde. 
Aber  die  beiden  Frauen  hatten  sich  sogar  in  der  Annahme  geirrt,  in 
Herrn  Dr.  W  ä  h  n  e  r  einen  Mann  zu  finden,  der  jenes  banale  Minimum 
von  äußerlicher  Politur  hat,  das  genügt,  um  mit  Frauen  anständig  und 
höflich  zu  verkehren.  Nachdem  er  die  erste  Verblüffung  über  den  Be- 
such überwunden,  schrie  und  tobte  er  wie  ein  betrunkener  Kutscher 
über  den  „Skandal",  daß  eine  Dame  von  adeliger  Geburt  für  die  sozial- 
demokratische Partei  agitiere.  Der  Rest  war  namenlose  Feig- 
heit. Herr  Wähner  und  seine  Redakteure  erklärten  ein  über  das 
andere  Mal,  es  werde  ja  in  jenem  Artikel  gar  nicht  von  den  agitiei  enden 
Frauen  gesprochen,  es  seien  —  „andere"  gemeint  gewesen.  Die  Kerle 
fügten  hinzu,  man  möge  ihre  „Beweis  e"  abwarten.  Der  mutige 
Schritt  der  beiden  Frauen  hatte  trotzdem  einen  Erfolg:  das  Geständnis 
der  Redaktion,  daß  der  elende  Halunke,  der  jenen  Schandartikel  ge- 
schrieben hat,  den  Namen  Schauer  trägt,  und  die  wörtliche  und  un- 
widersprochene Erklärung  eben  dieses  Kumpans:  „Hier  sind  wir 
alle  solidarisch,  vom  Chef  bis  zum  letzten  Laus- 
k  e  r  1."  So  seien  sie  denn  auch  alle,  vom  ersten  bis  zum  letzten,  öffent- 
lich an  den  Pranger  genagelt.  Was  wir  gestern  nur  bedingt  und  ohne 
Namen  sagten,  wiederholen  wir  heute  deutlicher  und  bestimmter:  Der 
Verfasser  jenes  Artikels,  Herr  Schäffer,  ist  ein  ehrloser  Lügner  und 
niederträchtiger  Verleumder.  Und  wenn  sich  der  Stadtrat  und  Heraus- 
geber der  „Deutschen  Zeitung",  Herr  Dr.  Theodor  Wähner,  mit  dem 
schamlosen  Schurkenstreich  seiner  Angestellten  solidarisch  erklärt,  so 
handelt  er  ebenso  ehrlos  und  niederträchtig.  Und  nun  mögen  sie  hin- 
gehen und  uns  vor  Gericht  zitieren.  Den  braven  und  tapferen  Frauen 
aber  wird,  wie  jedem  Menschen,  der  Ehre  im  Leibe  hat,  aus  dieser 
Geschichte  um  so  deutlicher  geworden  sein,  wie  notwendig  es  ist  und 
wie  jeder  die  Pflicht  hat,  mitzuwirken,  daß  der  Boden  unserer  Stadt 
von    diesem   gemeinschädlichen    Gezücht   gereinigt   werde. 

Am  5.  Juli  hat  Dr.  Adler  auch  im  Gasthaus  Proksch  über  die  Wahlen 
und  die  infame  Verleumdung  gesprochen.  Gleich  als  er  begann,  ertönten 
stürmische  Pfuirufe   gegen   die  Christlichsozialen. 


hu-   Arbeiter  Kegen  die  Zeituntfsstrolehe.  129 

Dr.  L  ii  e  ge  r  erklärt  in  seiner  Interpellation,  daß  die  Wahlfreiheil 
voii  den  Sozialdemokraten  bedroht  ist  (Gelächter),  und  dal.)  der  Statt- 
halter die  Christlichsozialen  schützen  solle.  Diese  Heucheleien 
kennen  wir,  und  Herr  Dr.  Llieger  seihst  weiß,  dal.»  diese  Inter- 
pellation nur  ein  Trost  für  seine  Leute  ist.  Die  sind  so  be- 
trübt, dal.)  er  ihnen  die  Freude  machen  wollte,  zu  tun,  als  oh  er  an 
den  Terrorismus  der  Sozialdemokraten  glauben  würde.  (Beifall.)  Da 
habe  ich  kurz  zu  erklären:  Die  Arbeiter  haben  nicht  terrorisiert. 
Aber  mit  der  ( i  e  d  n  1  d  d  e  r  A  r  h  e  i  t  e  r,  die  sich  ans  lauter  Achtung 
vor  dem  Gesetz,  ans  lauter  Angst,  ein  großes  Ereignis  nicht  zu  ent- 
würdigen, die  größten  Beleidigungen  ruhig  gefallen  lassen,  ist  es 
z  u  Ii  n  d  e.  Mich  nennt  man  ^n  Beschwichti  g  u  n  g  s  h  o  f  r  a  t 
(Heiterkeit),  weil  ich  die  jüngeren  Genossen  zur  Besonnenheit 
mahne.  Aber  auch  ich  meine,  dal.»  d  a  s  M  a  ß  der  C  h  r  i  s  1 1  i  c  h- 
s  o  z  i  a  1  e  n  s  c  h  o  n  voll  i  s  t.  I  )ie  Christlichsozialen  schreien  über 
Terrorismus,  weil  es  vorgekommen  ist,  dal.»  ein  Genosse,  wenn  ihn 
so  ein  christliclisozialer  Agitator  gehöhnt  und  beschimpft  hat,  endlich 
diesem  ein  paar  Ohrfeigen  gegeben  hat.  Wenn  das  Terrorismus  ist, 
dann  sind  die  Christlichsozialen  wohl  in  der  Lage,  diesen  zu  be- 
seitigen: Dr.  Lueger  möge  endlich  einmal  seinen  Parteigenossen 
sagen,  sie  sollen  anfangen,  anständige  Menschen  zu  sein.  (Beifall.) 
Über  die  Beantwortung  der  Interpellation  Luegers  wird  keine  De- 
batte zulässig  sein,  aber  wir  werden  im  Landtag  die  Regierung  auf- 
fordern, daß  sie  beizeiten  dem  Wahlrechtsraub  im  großen  und 
kleinen,  wie  .er  sich  wohl  auch  bei  den  nächsten  Wahlen  vollziehen 
soll,  einen  Riegel  vorschiebe. 

An  der  Wahlagitation  hat  sich  auch  eine  Anzahl  von  bürgerlichen 
Frauen  beteiligt.  Ich  habe  entschieden  abgeraten,  daß  sie  das  unter- 
nehmen, weil  ich  aus  eigener  Erfahrung  weiß,  wie  hart  man  sein 
mnl.),  wo  mitzutun.  Unsere  braven  Genossinnen,  die  Tag  für  Tag  an 
unserer  Seite  kämpfen,  die  mit  uns  leben,  mit  uns  arbeiten,  die 
kennen  den  Gegner  und  sind  nicht  so  leicht  erschreckt.  Denen  traut 
man  sich  auch  nicht  soviel  anzutun.  Man  kennt  sie,  und  man  weiß,  daß 
man  einer  sozialdemokratischen  Arbeiterin  nicht 
m  e  li  r  antun  darf  als  einem  sozialdemokratische  n 
Arbeiter.  (Lebhafte  Zustimmung.)  Die  Frauen  aus  dem  Bürger- 
tum, die  nicht  aus  so  hartem  Holz  sind,  haben  aber  mit  einem  Eifer 
gearbeitet,  der  mich  überrascht  hat.  (Bravo!)  Man  hat  ihnen,  wenn 
sie  zu  einem  Spießer  kamen,  gesagt:  S  t  o  p  f  t's  euch  1  i  e  b  e  r  d  i  e 
Strümpfe!  Und  man  hat  ihnen  noch  andere  Liebenswürdigkeiten 
zugefügt,  aber  die  haben  sich  dadurch  nicht  abschrecken  lassen  und 
haben  ihre  Arbeit  geleistet.  (Stürmischer  Beifall.)  Und  am  nächsten 
Tage  hat  die  „Deutsche  Zeitung"  noch  den  traurigen  Mut  auf- 
gebracht, diese  Frauen  in  unglaublichster  Weise  zu  beschimpfen. 
(Pfuirufe.)  Ich  halte  jeden,  der  eine  wehrlose  Frau  beleidigt,  ob  die 
Krau  nun  ein  armes  Proletarierweib  ist  oder  eine  Erzherzogin,  für 
einen  gemeinen  Kerl.  Aber  daß  man,  statt  für  den  Schimpf  Abbitte 
zu  leisten,  feige  auskneift,  ist  echt  klerikal-jesuitische  Demagogie. 
(Lebhafter,  andauernder  Beifall.) 

Adler,  Briefe.  XI.  Bd.  9 


130  \ eiler  im  Landtag. 


An  die  Kinder. 

Siegesfeier,  7.  Juli  1901*). 

Liebe  Kinder!  Ich  danke  euch  herzlich  für  eure  Wünsche.  Ich  hoffe, 
daß  ihr,  wohin  ihr  auch  in  eurem  Leben  kommt,  treue  Kinder  des  Volkes 
sein  werdet.  Unser  aller  Streben  ist  es,  daß  ihr  nicht  so  blasse 
Kinder  seid,  sondern  daß  aus  euch  kräftige,  wohlgenährte  Menschen 
werden.  Ihr  wisset  heute  noch  nicht,  was  das  ist,  die  Sozialdemo- 
kratie. Aber  das  eine  könnt  ihr  heute  schon  verstehen:  Sozial- 
demokrat sein  heißt,  ein  guter,  ehrlicher,  braver  und  mutiger  Mensch 
sein!  Und  wenn  ihr  gute  Menschen  seid,  werdet  ihr  auch  auf  der 
ganzen  Welt  bei  den  Hunderttausenden  und  Millionen  von  Sozial- 
demokraten, die  alle  so  sind  wie  wir,  euch  zu  Hause  fühlen,  wie  bei 
Bruder  und  Schwester. 

Christlichsoziale  Schulverwaltung. 

Landtag,  6.  Juli  1901**). 

Wenn  auch  unsere  politischen  Meinungen  auseinandergehen,  in 
dem  einen  Punkte,  glaube  ich,  dürften  wir  doch  alle  eines  Sinnes 
sein:  darin  nämlich,  daß  wir  für  die  Schule  überhaupt  viel  zuwenig 
aufwenden.  Es  wurde  gestern  hier  auch  von  der  Stellung  der  Sozial- 
demokraten zur  Schule  gesprochen.  Wir  sind  gewiß  der  Ansicht, 
daß  das  Reichsvolksschulgesetz  ein  großer  Fortschritt  war,  aber 
wir  glauben,  daß  es  von  Geburt  aus  mit  dem  Fehler  behaftet  ist, 
der  auch  vom  Abgeordneten  Qeßmann  angeführt  wurde,  daß 
nämlich  die  Gemeinden  ökonomisch  nicht  in  der  Lage  sind,  es 
durchzuführen,  und  daß  der  Staat  zu  den  Lasten  nicht  herangezogen 
wird.  Nun  stehen  wir  Sozialdemokraten  durchaus  nicht  auf  dem 
Standpunkt  der  Liberalen,  den  Herr  Professor  L  u  s  t  k  a  n  d  1*>:*)  hier 
vertreten  hat  und  dem  sich  zu  meiner  Verwunderung  Herr  Landes- 
ausschuß Geßmann  sofort  angeschlossen  hat,  daß  es  eine  Gefahr 
wäre,  wenn  der  Staat  etwas  für  die  Schule  täte.  Man  sagt,  daß  wir 
dann  noch  für  Galizien,  für  die  Slowenen  usw.  aufkommen  müßten. 
Das  ist  richtig.  Aber  glauben  Sie  denn,  daß  die  75  Prozent  Analpha- 


*)  Die  Favoritner  feierten  den  Sieg  durch  ein  prächtiges  Siegesfest. 
Als  Adler  kam,  wurde  er  mit  Jubel  begrüßt  und  die  Proletarierkinder 
überreichten  ihm  einen  Strauß  roter  Nelken.  Darauf  antwortete  Adler  mit 
folgenden  Worten. 

**)  In  zwei  Sitzungen  beschäftigte  sich  der  niederösterreichischc  Land- 
tag mit  den  Voranschlägen  der  Bezirkschulfonds:  am  6.  Juli  hatte  Ad; 
Gelegenheit,  auf  die  Ausführungen  der  christlichsozialen  Redner,  vor  allem 
des    Wohlfahrtsreferenten     Leopold     Steiner     und     des    Schulreferenten 
Dr.  Albert  Geßmann,  zu  antworten. 

***)  Der  Professor  des  Staatsrechtes  an  der  Wiener  Universität  Doktor 
Wenzel  Lustkandl  war  auch  als  Vertreter  der  Universität,  die  eine 
Virilstimme  im  Landtag  hatte,  Abgeordneter;  er  gehörte  der  liberalen 
Partei  an. 


Christlichsoziale  Schulverwaltung.  '  ;l 

beten  in  Galizie  n  und  die  beinahe  ebenso  vielen  Analphabeten  in 
den  südlichen  Provinzen  uns  jetzt  nichts  kosten?  Weil  Qalizien  eine 
so  schlechte  Volksschule  hat,  herrscht  dort  unbeschränkt  eine 
Partei,  die  dem  Staate  ganz  gehörig  im  Säckel  liegt.  Hätte  n  w  i  r 
d  ort  nicht  S  0  viele  A  n  a  I  |)  li  a  I)  e  t  e  n,  in  Ü  ß  t  e  n  w  i  r 
nicht  s  o  viel  f  ü  r  die  ,,s  trategische  n"  B  a  h  n  e  n 
zahle  n,  und  wir  müßten  den  polnischen  Kava- 
lieren nicht  ihre  Schulden  z  a  li  len  helfe  n.  Ich  weiß, 
daß  ich  hier  nicht  eine  Änderung  des  Reichsvolksschulgesetzes  be- 
antragen kann,  aber  nachdem  gestern  nach  Schluß  der  Debatte  diese 
Frage  hier  berührt  wurde,  wollte  ich  mit  einem  Worte  darauf 
zurückkommen.  Aber  gestern  hat  Herr  Landesausschuß  Steiner 
auch  ein  glänzendes  Bild  von  den  Schulen  in  der  (i  c  m  e in d e 
Wien  entwickelt,  und  ich  muß  gestehen,  ich  war  verblüfft  über  die 
Unmasse  von  Ziffern,  die  er  der  Stadtbuchhaltung  entnommen,  und 
ich  war  förmlich  beschämt,  daß  die  Schulfeinde  um  soviel  mehr 
ausgeben  als  unter  der  liberalen  Ära  ausgegeben  wurde.  Was 
heißt  denn  überhaupt  „Schulfeindschaft"?  Glauben  Sie  denn,  wenn 
wir  Ihnen  sagen,  wir  halten  Sie  nicht  für  Freunde  der  Volksschule, 
daß  wir  dann  meinen,  Sie  wollen  gar  keine  Schulen?  Wir 
glauben,  daß  Sie  sich  mäßigen  können  in  Ihrer  Schulfeindschaft,  wir 
glauben,  daß  Sie  sich  Zügel  anlegen  können;  Botokuden  sitzen 
schließlich  im  Wiener  Gemeinderat  auch  heute  nicht,  und  es  wäre 
auch  unmöglich,  denn  die  Bevölkerung  braucht  doch  Schulen.  Aber 
es  handelt  sich  nicht  um  das  Minimum,  das  muß  jede  Gemeinde 
gewähren;  die  Schulfreundlichkeit  fängt  dann  an,  wrenn  man  über 
das  gesetzlich  Notwendige  hinaus  etwas  tut. 

Sie  machen  es  in  Ihrer  Kritik  oder  Antikritik  der  Anwürfe  auf 
Ihre  Schulfeindschaft  so,  daß  Sie  sagen:  Die  Liberalen  haben  soviel 
hergegeben  und  wir  geben  noch  mehr  her,  oder:  Die  Liberalen 
haben  es  geradeso  gemacht,  was  wrollt  ihr  denn  von  uns? 

Ich  erkläre  hier  —  und  diese  Erklärung  hat  meine  Partei  von 
jeher  abgegeben  — ,  daß  die  liberale  Handhabung  des 
Schulgesetzes  den  Sozialdemokraten  auch  nie- 
mals entsprochenhat.  Die  Todsünde  liegt  schon,  wie  gesagt, 
in  dem  Paragraphen  des  Reichsvolksschulgesetzes,  der  den  Ge- 
meinden die  Aufgaben  aufbürdet,  denen  sie  nicht  gewachsen  sind, 
die  sie  nicht  zu  tragen  imstande  sind.  Aber  auch  die  Durchführung 
des  Gesetzes  in  Wien  hat  durchaus  nicht  dem  entsprochen,  was  man 
von  einer  so  reichen  Gemeinde  verlangen  kann.  Aber  Ihre  Berufung 
auf  die  Liberalen  kommt  mir  in  Ihrem  Munde  sehr  merkwürdig  vor- 
Es  ist  sonderbar,  wenn  die  heute  herrschende  Partei  nach  der  An- 
erkennung buhlt,  daß  sie  ebenso  gut  oder,  richtiger  gesagt,  ebenso 
schlecht  ist  wie  die  Liberalen.  Aber  es  bedürfen  leider  auch  die 
Ziffern,  die  gestern  Herr  Landesausschuß  Steiner  vorgebracht 
hat,  einer  näheren  Untersuchung.  Da  stellt  sich  denn  heraus,  daß  der 
Vergleich  leider  nicht  so  zu  Ihren  Gunsten  ausfällt,  wie  Sie  gestern 
meinten.  Wenn  wir  wenig  entzückt  sind  von  der  liberalen  Schul- 
politik, so  sind  wir  es  noch  weniger  von  der  Ihrigen.  Ich  will  nichl 

9* 


132  Adler  im  Landtag. 


sprechen  von  den  Lehrermaßregelungen,  dazu  wird  noch  bei  der 
Budgetdebatte  Gelegenheit  genug  sein,  ich  will  bei  den  Ziffern 
bleiben,  die  Herr  Landesausschuß  Steiner  gestern  vorgebracht  hat. 
Herr  Abgeordneter  Steiner  hat  Beziehungen  zur  städtischen  Buch- 
haltung, und  so  war  es  ihm  möglich,  amtliche  Ziffern  in  Mengen  über 
unsere  verblüfften  Häupter  auszugießen.  Diese  Ziffern  lassen  sich 
nicht  kontrollieren,  aber  ich  will  darauf  mit  Ziffern  antworten,  eben- 
falls amtlichen  Ziffern,  die  Sie  jederzeit  nachkontrollieren  können. 

Ich  habe  mich  aus  dem  statistischen  Jahrbuch  der  Stadt  Wien 
belehrt,  so  gut  es  geht,  und  da  kommt  folgendes  heraus:  Herr 
Landesausschuß  Steiner  hat  auf  die  Steigerung  der  Schulausgaben 
vom  Jahre  1892  bis  1900  von  10  Millionen  auf  15V-;  Millionen  Kronen 
hingewiesen.  Man  hat  da  mit  Unrecht  dazwischengerufen:  „Das  war 
vor  der  Vereinigung  der  Vororte  mit  Wien!"  Das  war  irrtümlich, 
aber  nicht  irrtümlich  war  es,  daß  das  Jahr  1892  unmittelbar 
nach  der  Vereinigung  der  Vororte  mit  Wien  folgte,  das  heißt  zu 
einer  Zeit,  wo  das  Schulbudget  für  Groß-Wien  noch  nicht  vollständig 
in  Ordnung  war.  Das  Schulbudget  hat  zwei  Hauptposten:  der  eine 
ist  ein  stabiler  Posten,  an  dem  die  Gemeinde  nicht  viel  ändern 
kann,  da  das  Gesetz  vorschreibt,  was  zu  leisten  ist,  das  sind  die 
Bezüge  der  Lehrpersonen,  der  Eröffnung  neuer  Klassen,  wenn  mehr 
Schüler  da  sind,  usw. 

Wir  haben  jährlich  eine  Vermehrung  der  Schülerzahl  um  2501) 
bis  3000,  das  bedingt  an  sich  wieder  eine  neue  Belastung  des 
städtischen  Schulbudgets  um  eine  gewisse  Anzahl  von  Schulen. 
Also,  ob  Sie  nun  liberale  oder  antiliberale  Schulfreunde  oder  Schul- 
feinde sind,  diese  Auslagen  müssen  Sie  vermehren,  und  so  sind  im 
Budget  die  Auslagen  von  3,650.000  Gulden  auf  ungefähr  5,000.000 
Gulden  erhöht  worden.  Es  hat  auch  die  Schülerzahl  in  dieser  Zeit 
um  25.000  Kinder  zugenommen.  Aber  es  gibt  einen  Teil  im  Schul- 
budget, der  nicht  so  fest  ist,  das  ist  jener  Teil,  der  sich  mit  der 
Errichtung  und  Eröffnung  von  Schulen,  der  Bewilligung  von  Lehr- 
mitteln usw.  befaßt,  kurz,  jener  Teil,  der  jene  Schulfreundlichkeit 
betrifft,  die  vom  Gesetz  nicht  ausdrücklich  vorgeschrieben  ist.  Wie 
steht  es  nun  mit  diesem?  Im  Jahre  1892  hat  die  Gemeinde  für  Schul- 
bauten 449.000  fl.  ausgegeben,  und  wenn  Herr  Landesausschuß 
Steiner  dieses  Jahr  1892  zum  Vergleich  gewählt  hat,  so  hat  er  sehr 
gut  gewußt,  daß  er  dabei  sehr  gut  abschneidet,  und  wenn  er  es 
nicht  gewußt  hat,  so  haben  es  diejenigen  gewußt,  die  ihm  die  Ziffern 
gegeben  haben;  denn  im  Jahre  1893,  als  die  Schulverwaltung  von 
Groß-Wien  schon  ein  bißchen  befestigt  war  —  wenn  wir  Sie  mit 
aller  unserer  Kraft  bekämpfen,  so  ist  es  uns  nicht  darum  zu  tun,  die 
Zustände,  wie  sie  unter  den  Liberalen  herrschend  waren,  wieder 
herbeizuführen,  sondern  um  menschliche,  wirklich 
sozial  vernünftige  Zustände  zu  schaffen;  das  taten 
die  Liberalen  so  wenig  wie  die  Christlichsozialen  — ,  im  Jahre  1893 
also  hat  sich  die  Ziffer  von  449.000  bereits  erhöhen  müssen  auf 
1,000.000  fl. 


Christlichsoziale  Schulverwaltung.  133 

Im  Jahre  1894  Stieg  die  Ziffer  auf  1,345.000,  im  Jahre  1895  auf 
1,493.000  fl,  Meine  Herren,  wann  sind  Sie  aber  zur  Regierung  ge- 
kommen? Naeh  der  Rede  des  Herrn  Steiner  sieht  es  so  aus,  als 
ob  das  Jahr  L892  das  letzte  liberale  Budgetjahr  gewesen  wäre  und 
als  ob  der  ganze  Zuwachs  im  Schulbudget  seit  189J  auf  I  h  r  Konto 
käme;  das  ist  aber  nicht  derFall,  das  erste  Budget,  auf  das  Sie 
faktisch  Einfluß  gehabt  haben,  war  das  Jahr  1897. 

Dr.  Geßmann:  Oho,  schon  1896! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Über  das  werden  wir  nicht  streiten;  es 
kommt  mir  auf  das  eine  Jahr  nicht  an.  Wenn  Sie  aber  sagen  1896, 
so  ist  es  mir  auch  recht,  denn  im  Jahre  1895  betrug  das  Schulbudget 
1,493.000  fl.,  i  m  Jahre  1  8  9  6  a  b  e  r  n  u  r  m  e  h  r  9  4  8.0  0  0  fl.,  im 
Jahre  1897  fiel  es  sogar  auf  600.000  fl.  herunter,  im  Jahre  1898  auf 
518.000  fl.  Erst  in  den  letzten  zwei  Jahren,  nachdem  soviel  ver- 
nachlässigt wurde  an  neuen  Schulbauten,  ist  es  wieder  etwas 
in  die  Höhe  gegangen.  Ich  werde  an  zwei  Tatsachen  belegen,  daß 
die  Gemeinde  Wien  tatsächlich  zuwenig  tut  und  daß  wir  zuwenig 
Schulen  haben.  Sie  können  den  Arbeitern  in  Ottakring  noch  soviel 
erzählen,  wieviel  Sie  gebaut  haben:  der  Arbeiter  schickt  sein  Kind  tat- 
sächlich in  eine  überfüllte  Schul  e*),  wenn  er  nicht  genötigt 
ist,  wie  das  leider  in  den  letzten  Jahren  immer  häufiger  wird  —  und 
ich  mache  den  Landesschulrat  darauf  aufmerksam,  denn  ein  Aus- 
weis existiert  darüber  gar  nicht  — ,  das  Kind  in  die  S  p  ä  t  s  c  h  u  1  e 
zu  schicken.  Die  Spätstunden  mehren  sich.  Sie  kennen 
dieses  System.  Um  8  Uhr  früh  gehen  die  Kinder  in  die  Schule,  um 
10  Uhr  gehen  sie  wieder  hinaus,  und  nach  10  Uhr  geht  eine 
zweite  Schicht  von  Kindern  in  dieselben  Räume, 
und  davon  weiß  man  nichts,  denn  darüber  wird  kein 
Bericht  erstattet;  ich  wüßte  es  auch  nicht,  wenn  mir  nicht 
aufgefallen  wäre,  daß  ich  im  „Amtsblatt  der  Stadt  Wien"  wiederholt 
gelesen  habe:  „Stadtrat  Tomola  referiert  über  eine  Zuschrift  des 
Bezirksschulrates  X.  über  die  erfolgte  Zuerkennung  einer  Remune- 
ration von  90  Kronen  an  den  Oberlehrer  Y.  für  den  erteilten  Spät- 
unterricht." Das  wiederholt  sich  oft.  Aber  dieser  Spätunterricht  ist 
hygienisch  —  das  sage  ich  Ihnen  vom  ärztlichen  Standpunkt  aus  — 
unzulässig.  Es  ist  bedenklich,  wenn  man  in  eine  solche  Schule,  wenn 
sie  noch  so  gut  ventiliert  ist,  aus  der  soeben  die  Kinder  hinaus- 
gegangen sind,  wieder  andere  hineinschickt. 

Es  ist  also  nicht  richtig,  daß  wir  Grund  haben,  mit  der 
städtischen  Schulverwaltung  so  zufrieden  zu  sein,  wie  uns  gestern 
zugemutet  wurde.  Es  ist  richtig,  daß  neue  Schulen  gebaut  wurden. 
Es  wäre  auch  unmöglich,  daß  keine  gebaut  würden,  aber  auf  Ihr 
Konto  kommen  nur  16  Schulen. 

Landesausschuß  Dr.  Geßmann:  Da  rechnen  Sie  die  Doppel- 
Schulen. 


)   Die   durchschnittliche   Schülerzahl   in   den    Wiener   Volksschulklasseii 
betrug  im  letzten  Friedensiahr  47;  jetzt  29. 


134  Adler  im  Landtag. 


Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ich  rechne  die  Doppelschulen,  weil  sie 
Herr  Landesausschuß  Steiner  auch  ausdrücklich  gerechnet  hat.  Ich 
bitte,  sich  nur  zu  überzeugen.  Das  Material  ist  Ihnen  ebenso  zu- 
gänglich wie  mir. 

Ich  werde  Gelegenheit  haben,  später  über  Schulküchen  und 
Suppenanstalten  zu  sprechen,  aber  erlauben  Sie  mir,  eines 
vorwegzunehmen:  Herr  Landesausschuß  Dr.  Oeßmann  hat  mir 
gestern  die  unverdiente  Ehre  erwiesen,  von  einem  System 
Adler  zu  sprechen ;  das  System,  daß  die  Kinder  ordentlich 
ernährt  werden  sollen,  ist  weder  mein  privilegiertes 
System,  sondern  das  ist  die  Anschauung  aller  jener,  die,  wenn  sie 
auch  nicht  Sozialdemokraten  sind,  irgendwie  soziales  Emp- 
finden haben;  die  Methode  aber,  die  mir  Dr.  Geßmann  insinuiert 
hat,  wünscht  niemand  einzuschlagen,  auch  nicht  die  Sozialdemo- 
kraten. Herr  Landesausschuß  Steiner  hat  gestern  gesagt:  Was 
wissen  die  Leute,  was  eine  Weltstadt  braucht?  Wir  sind  nicht  die 
einzige  Weltstadt.  Sie  wraren  ja  in  Paris  und  haben  dort  manches 
gesehen,  und  Herr  Landesausschuß  Steiner  war  sehr  begeistert  von 
dem,  was  die  anderen  bei  der  Wiener  Schulverwaltung  lernen 
konnten. 

Erlauben  Sie  mir  nur,  mit  einem  Worte  anzudeuten,  was  Sie  in 
Paris  lernen  könnten  und  was  die  Herren  Lehrer,  die  Sie  selbst  mit 
Stipendien  hingeschickt  haben  —  es  waren  keine  böswilligen 
Sozialdemokraten  oder  Deutschnationalen,  obwohl  es 
wünschenswert  wäre,  diese  schlechten  Menschen  in  Paris  etwas 
ausbilden  zu  lassen,  vielleicht  würden  sie  sich  dann  auf  Ihre  Höhe 
entwickeln  (Heiterkeit),  sondern  Leute,  die  ohnehin  auf  Ihrem 
Standpunkt  stehen  — ,  in  Ihrer  „Deutschen  Schulzeitung"  ge- 
schrieben haben.  Sie  rühmen  sich,  daß  60.000  Kronen  für  Ernährung 
der  Schulkinder  ausgegeben  werden,  und  die  Herren  haben  in 
Paris  erfahren,  daß  dort  für  Schulküchen  eine  Million 
Franken  gezahlt  wird.  Freilich,  das  sind  schlechte  Menschen,  die 
das  gemacht  haben,  das  war  die  sozialistische  Gemeinde- 
vertretung. Heute  haben  die  dort  eine  Gemeindevertretung,  die 
Ihnen  viel  näher  steht,  und  Sie  haben  ja  gejubelt  über  den  Sieg  der 
Nationalisten,  und  wir  wollen  abwarten,  ob  diese  den  Mut  haben 
werden,  die  Pariser  Schulverwaltung  auf  das  Niveau  zu  bringen, 
auf  dem  es  ihre  Parteigenossen  in  Wien  heute  festhalten  und  sich 
dabei  noch  rühmen,  etwas  Außerordentliches  damit  zu  tun. 

Also,  selbst  damit  so  zufrieden  zu  sein,  wie  Sie  es  sind,  haben 
Sie  keine  Ursache.  Sie  haben  sich  vielleicht  nicht  allzusehr  zu 
schämen  vor  den  Leuten,  die  vor  Ihnen  geherrscht  haben.  Sie  sind 
vielleicht  nicht  sehr  viel  schlechter  als  jene,  das  will  ich  zugeben, 
aber  das  ist  die  äußerste  Konzession,  die  ich  Ihnen  machen  kann. 
Bei  denjenigen  aber,  die  das  Recht  des  Kindes  auf  die 
Schule  auf  eine  breitere  Basis  gestellt  wissen 
w  o  1 1  e  n,  kann  Ihre  Selbstzufriedenheit  durchaus 
nicht  Beifall  finden.  (Beifall.) 


Christlichsoziale   Schulverwaltung.  ' 


Schulküchen*). 

Der  Referent  hat  seihst  zugestanden,  daß  das,  was  liier  für 
Suppenanstalten  gegeben  werden  soll,  viel  zuwenig  ist.  Es  ist  auch 
wirklich  zu  wenig.  Diese  Summe  von  (>l)()()  Kronen  steht,  in  gar 
keinem  Verhältnis  zum  Bedarf.  Wenn  Sie  die  Freund- 
lichkeit haben,  Ihre  eigenen  Berichte  über  che  Aufteilung  dieser  Sub- 
ventionen anzuschauen,  so  werden  Sie  sehen,  daß  da  50  H.,  30,  ja 
_;()  fl.  für  Mittagssuppen  ausgegeben  werden,  und  Sie  werden  mir 
lIaiwi  zugestehen,  daß  da  mein-  gegeben  werden  muß.  Sie  können 
auch  nicht  leugnen,  daß  die  Kinder  schlecht  genährt  sind,  und  der 
Herr  Landesausschuß  Geßmann  hat  erzählt,  wie  die  Kinder  den 
ganzen  Tag  in  der  Schule  bleiben  müssen  und  mittags  nicht  nach 
Hause  können.  Ich  stelle  mir  diese  Mittagssuppen  auch  nicht  gerade 
lukullisch  vor.  Schauen  Sie,  wir  geben  doch  vom  Land  hübsch  viel 
Geld  aus:  wenn  wir  so  viel  aufbringen,  vielleicht  bringen  wir  auch 
hier  noch  ein  paar  tausend  dulden  auf.  Wir  könnten  dem  Landes- 
ausschuß die  Möglichkeit  bieten,  auch  dort,  wo  bisher  solche 
Mittagssuppen  nicht  eingeführt  sind,  sie  anzuregen.  Sie  sehen,  ich 
bin  sehr  bescheiden,  ich  will  hier  die  prinzipielle  Frage  gar  nicht 
erörtern,  ich  will  vom  Landtag  nicht  verlangen,  daß  er  das  Recht 
des  Kindes  auf  Er  n  ä  h  r  u  n  g  anerkennt,  dazu  wird  schon  ein 
anderes  Mal  Gelegenheit  sein,  Sie  zu  fragen,  wie  Sie  sich  dazu 
stellen.  Ich  meine  aber,  daß  Sie  selbst  dazu  kommen  werden. 

Abgeordneter  Mayer  (Christlichsozialer):  In  dreißig  oder  vierzig 
Jahren. 

Abgeordneter  Adler:  Ich  hoffe,  wir  werden  früher  dazu  kommen, 
daß  die  Kinder  unseres  Landes  ordentlich  ernährt  werden,  und  daß 
das  nicht  auf  dem  Wege  der  Wohltätigkeit  geschieht, 
sondern  daß  das  Kind  ein  Recht  in  Anspruch  nimmt  und  auch  die 
Litern. 

Abgeordneter  Prinz  Liechtenstein:  Diese  verlieren  das  Recht, 
ihre  Kinder  zu  ernähren! 

Allgeordneter  Dr.  Adler:  Das  R  e  c  li  t,  die  Kinder  zu  ernähren? 
Schauen  Sie  sich  einmal  in  Wien  um.  Alle  anderen  Rechte  wollen 
Sie  diesen  Proletariern  nur  sparsam  zufließen  lassen.  Aber  nur  das 
einzige  Privilegium,  ihre  Kinder  zu  ernähren,  wollen  Sie  ihnen  ver- 
gönnen, weil  Sie  wissen,  daß  sie  es  nicht  ausüben  können. 

Abgeordneter  Sturm:  Zu  Hause  werden  die  Kinder  billiger  er- 
nährt! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Zu  Hause  werden  sie  schlechter 
ernährt.  Aber  ich  will  nicht  leugnen,  heute  schauen  die 
S  i!  p  p  enanstalte  n  s  o  a  u  s,  daß  nur  der  größte 
Hunger  die  Kinder  zwingt,  hineinzugehen.  Einer  der 
Herren  hat  gesagt:  „Fällt  uns  nicht  ein,  unsere  Kinder  in  diese 
^iipl^c naMstalten  hinzuschicken!"  Da  haben  Sie  das  Mittel,  eine 
bessere   Ernährung  herbeizuführen.  Wenn   wir   diese   Anstalten   so 

I    Dann    berichtet   der    Prälat   Schmolk   über   die   Subventionen    für 
ippenanst  alten  und   Kinderhorte,  wofür  er  °uuu  Kronen  be- 
antragt. Da/u   spricht  sofort  Dr.  Adler  als  erster  Redner. 


136  \dlcr  im  Landtag. 

ausstatten,  daß  sie  für  alle  sind,  dann  werden  Sie  schon  selbst  dafür 
sorgen,  daß  die  Kinder  etwas  Ordentliches  zu  essen  bekommen, 
weil  auch  Ihre  Kinder  dort  sein  werden.  Ich  stell  e  a  1  s  o  d  e  n 
A  n  t  r  a  g,  daß  die  P  o  s  t  v  o  n  9  0  0  0  K  r  o  neu  für  Mittag  s- 
SUppen  und  Kinderhorte  auf  2  0.0  00  Kronen  e  r  h  ö  h  t 
w  e  r  d  e. 

Ich  sage  gleich,  ich  bin  gefaßt  darauf,  daß  mir  wieder  der  Vor- 
wurf gemacht  werde,  es  seien  agitatorische  Gründe,  die 
mich  zu  meinem  Antrag  bewegen.  Herr  Dr.  Qeßmann  ist  sogar 
weitergegangen  und  hat  mir  gesagt,  daß  ich  böswillige  Angriffe 
erhebe,  und  daß  ich  ausschließlich  Parteipolitik  treibe.  Ich  erkläre 
Ihnen  hier:  Gewiß  treibe  ich  Parteipolitik,  weil  ich  das  Be- 
wußtsein habe,  daß  ich  der  Bevölkerung  diene,  indem 
ich  meiner  Partei  diene.  Bezüglich  des  Ausdruckes,  der 
von  Dr.  Geßmann  allerdings  nur  hypothetisch  gebraucht  wurde, 
aber  doch  gebraucht  wurde,  bezüglich  des  Ausdruckes  „p  e  r  f  i  d" 
will  ich  ein  für  allemal  kurz  bemerken:  Ich  bin  von  Natur  aus  ein 
sehr  höflicher  Mensch  und  froh,  wenn  ich  höflich  verkehren  kann: 
empfindlich  bin  ich  gar  nicht;  auf  mich  macht  es  nicht  den  ge- 
ringsten Eindruck,  was  Sie  über  mich  sagen,  ich  habe  gegen  derlei 
eine  wahre  Rhinozeroshaut.  Aber  Sie  haben  zu  wählen:  Ich  bin 
von  Natur  aus  h  ö  f  1  i  c  h,  w  ollen  Sie  aber  g  r  o  b  sei  n, 
s  o  kann  ich  das  a  u  c  h.  Ich  bitte  mich  also  künftig  mit  hypo- 
thetischen Klassifikationen  zu  verschonen*). 

Die  Spitalnot  in  Wien. 

Landtag,  9.  Juli  190  1**). 

Es  ist  in  dieser  Frage  gewiß  möglich,  ohne  jede  Leidenschaft  zu 
sprechen,  alle  Unterschiede  der  Partei  beiseite  zu  lassen  und  rein 

*)  Bei  der  Abstimmung  wird  der  Antrag  des  Abgeordneten  Dr.  Adler 
a  b  g  e  1  e  h  n  t.  Die  Anträge  des  Schulaussehusses  werden  angenommen. 

'*)  Der  Landtag  hatte  sich  am  9.  Juli  mit  dem  Vertrag  zu  beschäftigen, 
durch  den  die  Landesirrenanstalt  an  den  Staat  verkamt  wurde,  der  auf 
dem  dadurch  gewonnenen  Grundstück  sowie  auf  der  Area  des  der  Kom- 
mune abgekauften  Versorgungshauses  das  neue  klinische  Spital  errichten 
wollte.  Es  war  selbstverständlich,  daß  aus  diesem  Anlaß  die  Wiener  Spital- 
frage aufgerollt  werden  mußte.  Der  liberale  Abgeordnete  der  Handels- 
kammer, v.  Lindheim,  knüpfte  daran  den  Wunsch,  daß  Vorkehrungen 
für  die  isolierte  Behandlung  der  Tuberkulosen  getroffen  würden.  Doktor 
Adler  stellte  den  durchaus  nicht  beruhigenden  gegenwärtigen  Stand  der 
Krankenhausfrage  fest.  L  u  e  g  e  r  ging  nicht  mit  einem  Worte  auf  die  Spital- 
frage ein.  Dagegen  wendete  er  sich  mit  Wut  gegen  die  von  Adler  erhobenen 
Forderungen  an  die  Gemeinde.  Dann  wurden  alle  Znsatzanträge  schlankweg 
abgelehnt:  sogar  der  Antrag  Adlers,  die  Regierung  möge  veranlaßt  werden, 
für  eine  genügende  Anzahl  von  Spitalbetten  zu  sorgen,  wurde  nieder- 
gestimmt. 

Ein  Artikel  .,Z  u  r  W  i  e  n  e  r  K  r  a  n  k  e  n  h  a  u  s  f  r  a  g  e".  den  Adler  am 
15.  Oktober  in  der  Frage  des  Neubaues  der  Wiener  Krankenhauskliniken 
schrieb,  ist  im  dritten  Heft  dieser  Schriften  (Seite  79)  abgedruckt. 


Die  Spitalnot   in   Wien.  137 

objektiv  die  Dinge  zu  erwägen.  In  der  Frage  der  Versorgung  der 
Irren  in  Wien  weiß  ieh  ZU  dein  vorliegenden  Antrag  sehr  wenig  ZU 
bemerken.  leb  schließe  mieli  den  Ausführungen  des  Referenten  voll- 
ständig an,  insofern  anerkannt  wird,  daß  durch  den  Verkauf  des 
Irrenhauses  ein  gutes  Geschäft  für  den  niederösterreichischen 
Landesfonds  gemacht  wurde.  Ja,  ich  gehe  noch  weiter  und  sage, 
daß  ein  hohes  Maß  von  Geschicklichkeit  notwendig  gewesen  ist,  um 
dieses  verwickelte  Geschäft  so  glatt  abzuschließen.  Aber  mit  dem 
Verkauf  des  Irrenhauses  ist  leider  nicht  alles  geschehen. 
Wenn  wir  hier  nur  Vertreter  d  e  s  L  a  n  de  s f  i  s  k  u  s  wären. 
dann  wären  wir  alle  einig,  daß  Landesausschuß  Steiner  ein  glänzendes 
Geschäft  gemacht  hat.  (Abgeordneter  Noske  und  Dr.  Krona- 
wetter:  ()  nein!)  Herr  Dr.  Kronawetter*),  Ihnen  ist  es  noch  immer 
nicht  gut  genug.  (Heiterkeit.)  Aber  vom  Standpunkt  des  Bedürf- 
nisses der  Wiener  nach  Spitälern  ist  das  Geschäft  des  Landes- 
ausschusses eher  z  u  gut  als  zu  wenig  gut.  Ich  stehe  nicht  auf  dem 
Standpunkt  des  F  i  s  k  u  s  des  Landes  und  auch  nicht  wie  der  Ab- 
geordnete Kronawetter  auf  dem  des  Fiskus  der  Gemeinde  Wien, 
sondern  auf  dem  Standpunkt  des  Bedürfnisses  nach  Spitälern. 
Dieses  Bedürfnis  soll  so  gut  und  so  billig  befriedigt  werden  als 
nur  möglich. 

Aber,  so  verwickelt  die  Frage  ist,  so  gab  es  doch  eine  Zeit,  wo 
sie  leicht  und  glänzend  zu  lösen  war.  Es  sind  noch  nicht  zwei  Jahre 
her,  daß  sowohl  die  Vertreter  der  Regierung  und  des  Krankenhaus- 
fonds  als  auch  —  wie  ich  mich  durch  Besprechungen  mit  Herrn 
Landesausschuß  Steiner  wiederholt  überzeugt  habe  —  der 
Landesausschuß  alle  auf  dem  Standpunkt  standen,  das  Kran- 
kenhaus nach  üttakring  zu  verlegen,  da  nirgends  ein 
so  gutes,  ein  so  billiges  und  ein  so  allen  Ansprüchen  entsprechendes 
Spital  gebaut  werden  kann  wie  in  Ottakring  auf  den  Gründen  des 
Wilhelminenspitals.  Dort  hätte  man  einen  billigen  Grund,  glänzende 
Luft  gehabt,  und  die  sanitären  Verhältnisse  wären  dort,  wie  die  Er- 
fahrungen des  Wilhelminenspitals  lehren,  weitaus  besser  als  in  der 
inneren  Stadt.  Auf  einmal  ist  aber  in  dieser  Sache  eine  Wendung 
eingetreten.  Warum  der  hohe  Landesausschuß  plötzlich  diese 
Wendung  gemacht  und  sich,  anstatt  wie  bisher  für  das  Ottakringer 
Projekt,  für  die  Verlegung  des  Krankenhauses  auf  die  Irrenanstalts- 
gründe begeistert  hat,  ist  sehr  schwer  zu  erklären.  Ursprünglich 
hat  gegen  das  Ottakringer  Projekt  nur  die  O  p  p  o  s  i  t  i  o  n  der 
Herren  klinischen  Professoren  bestanden,  die  für  ihre 
privatärztliche    Praxis    fürchteten.     Diese    Opposition   wurde   vom 


)  Über  Kronawetter  machte  die  „Arbeiter-Zeitung"  im  Bericht 
über  diese  Landtagssitzung  die  Bemerkung:  Ür.  Kronawetter,  der  sonst  so 
vortreffliche  Mann,  verliert  jede  Besinnung,  sobald  der  Fiskus  der  Ge- 
meinde ins  Spiel  kommt.  Die  Erklärung  der  Menschenrechte  und  die  An- 
schauungen eines  Wiener  Magistratsrates  hausen  schlecht  zusammen  in 
demselben  Kopfe...  Er  verteidigte  heute  leidenschaftlich  die  Kommune 
iCCKen  die  Zumutung,  daß  sie  jene  Spitäler  bauen  solle,  für  die  der  Kranken- 
anstaltenfonds  nicht  ausreicht... 


138  Adler  im  Landtag. 


Hofrat  Nothnagel  geführt,  und  ich  erinnere  mich  sehr  genau,  wie 
damals  alle  dem  Landesausschuß  nahestehenden  Blätter  mit  einer 
wahren  Wut  gegen  diese  Opposition  auftraten.  Und  sie  haben  auch 
damals  recht  gehabt.  Aber  plötzlich  haben  sie  sich  von  Hof  ra  t 
Nothnagel  bekehren  lasse  n.  Das  ist  sonst  nicht  ihr  Mann*), 
aber  gerade  dort,  wo  er  am  allerwenigsten  recht  hat, 
gerade  in  dem  Punkte,  wo  sein  Urteil  durch  das  Vorurteil  seines 
Berufes  getrübt  war,  haben  sie  sich  ihm  gefügt,  und  auf  einmal 
verschwindet  das  Ottakringer  Projekt. 

Zugleich  erscheint  auf  der  Bildfläche  die  Möglichkeit  des  Ver- 
kaufs des  Wiener  Versorgungshauses.  Es  entsteht  damit  die  Mög- 
lichkeit, daß  nicht  nur  das  Land,  sondern  auch  die 
Kommune  ein  Geschäft  mache,  und  jetzt  wird  ab- 
geschlossen. Die  kranken  Wiener  zahlen  nun  13  Millionen  für  das 
Irrenhaus,  statt  daß  sie  sich  für  etwas  mehr  als  eine 
Million  Kronen  den  Grund  in  Ottakring  gekauft 
hätten.  Dazu  kommt  noch  —  ich  erlaube  mir,  das  jetzt  schon  zu 
prophezeien  — ,  daß  der  jetzt  projektierte  Grund  nicht  einmal  für  die 
klinischen  Anstalten  genügen  wird.  Wenn  die  Unterrichtsverwaltung 
und  der  Krankenhausfonds  nicht  allzu  schäbig  sein  werden,  so 
werden  sie  von  dem  heutigen  Grund  des  Allgemeinen 
Krankenhauses  noch  etwa  s  dazuschlagen 
müsse  n,  um  das  herauszubringen,  was  sie  an  Kliniken,  Hörsälen 
und  Unterrichtsanstaiten  auf  diesem  Grund  unterbringen  wollen.  In 
dem  Plan  oder,  besser  gesagt,  in  dem  Kommunique  wird  von  allen 
möglichen  Anstalten  erzählt,  die  gebaut  werden  sollen,  aber  von 
einer  Kinderklinik  steht  kein  Wort  darin;  es  scheint,  daß  eine  solche 
auch  nicht  beabsichtigt  ist.  Es  soll  mich  freuen,  wenn 
der  Herr  Statthalter  mich  widerlegt  und  damit  mich  und  die  ganze 
Bevölkerung  beruhigt. 

Der  ganze  Plan  der  Sanierung  unserer  Spitalzustände  beruht  auf 
folgender  Erwägung :  Wir  benützen  die  hochange- 
wachsene Grundrente  des  Bodens,  auf  dem  das 
Allgemeine  Krankenhaus  heute  steht,  um  damit 
nicht  nur  billigen  Boden  anderwärts  zu  kaufen, 
sondern  auch,  um  den  größten  Teil  des  Instituts 
neu  aufzubauen.  Für  den  Verkauf  des  Allgemeinen  Kranken- 
hauses sind  sieben  Millionen  herausgekommen.  Damit  wäre  schon 
etwas  zu  leisten.  Heute  genügt  der  Verkauf  des 
Krankenhauses  nicht  einmal,  u  m  den  Boden  zu 
kaufen,  auf  dem  die  neue  Anstalt  stehen  soll,  und 
für  den  Bau  bleibt  nichts. 

Nun  werden  Sie  sagen:  Was  zerbrechen  wir  uns  den  Kopf 
darüber.  Es  wurde  doch  von  hoher  Stelle  verkündet,  daß  alles 
gemacht  wird.  Aber,  meine  Herren,  es  müßte  Sie  doch  vor  allem 


*)  Nothnagel,  der  berühmte  Internist,  war  zugleich  Obmann  des  „Ver- 
eines zur  Abwehr  des  Amisemitismus"  und  daher  bei  den  Christlichsozialen 
verhaßt. 


Die  SpHalnol  In   Wfen.  '    ' 


das  beunruhigen,  daß  nicht  ein  strich  eines  Finatizplans  vorhanden 
ist,  und  dann,  daß  bis  jetzt  absolut  keine  bestimmte  n 
Z  i  I  f  e  r  n  a  n  g  e  g  eben  wurden,  w  i  e  v  i  e  I  die  Unterricht -,- 
Verwaltung  im  Verein  mit  dein  Krankenhaiistonds  ausgeben 
will  und  wieviel  Betten  aufgestellt  werden  sollen.  Und  das 
ist  das  Entscheidende. 

Aber  das  „ausgezeichnete  Geschäft"  des  Herrn  Landes- 
ausschusses  Steiner  hat  noch  einen  Fehler:  Wenn  man  das 
Spital  in  Ottakring  gebaut  hätte,  so  hätte  man  draußen  sofort 
zu  bauen  anfangen  können,  und  man  hätte  das  Krankenhaus  in  d  e  r- 
s  e  1  b  e  n  Zeit  neu  herstellen  und  das  andere  niederreißen 
können,  als  man  jetzt  warten  muß,  bis  die  neue  Irrenanstalt 
gebaut  ist.  Ich  gestehe,  daß  auch  die  Landesirrenanstalt  nicht  voll- 
ständig den  modernen  Anforderungen  entspricht  und  darum  eines 
Ersatzes  bedarf.  Aber  eine  Sorge  nach  der  anderen.  Von 
allen  sanitätswidrigen  Krankenanstalten,  die  wir  in  Wien  haben,  ist 
die  Irrenanstalt  die  am  wenigsten  sanitätswidrige,  die  hätte  noch 
ein  paar  Jahre  warten  können.  Jede  Stunde  aber,  die  das 
Krankenhaus  weiterbesteht,  ist  ein  Verbrechen 
an  den  Kranken  Wiens.  Das  ist  auch  etwas,  was  mir  die 
Freude  an  dem  „ausgezeichneten"  Geschäft  des  Herrn  Steiner  ver- 
gällt. 

Sie  werden  nun  sagen:  Da  ist  nichts  zu  machen,  freuen  wir  uns 
also  darüber,  daß  der  Landesausschuß  ein  so  gutes  Geschäft 
gemacht  hat!  Aber  ich  glaube,  es  obliegt  uns  denn  doch  noch  etwas 
anderes.  WTien  hat  eine  Ausnahmsstellung  vor  allen  anderen  Städten. 
Wir  haben  einen  Krankenhausfonds,  der  die  Spitäler  bauen 
und  erhalten  soll;  aber  dieser  Fonds  ist  längst  bankrott.  Wenn 
er  ein  Präsent  kriegt,  ist  das  ein  Unglück  für  ihn. 

Im  Jahre  1891  hat  er  die  Vorstadtspitäler  bekommen,  das  hat  ihn 
ein  schönes  Stück  Geld  gekostet,  und  vor  ein  paar  Jahren  hat  er 
durch  die  Großmut  der  Stadt  Wien  wieder  eine  Million  gekriegt,  und 
dieses  Präsent  kostete  ihn  wieder  ein  schönes  Geld.  Denn  wenn 
die  Herren  splendid  sind,  sind  sie  schon  gar  nicht 
splendid.  Sie  haben  eine  Summe  votiert,  die  nicht  einmal  für  den 
Bau  ausreicht,  und  sie  zahlen  natürlich  keinen  Kreuzer  für 
die  Erhaltung  des  S  p  i  t  a  ls,  und  der  Fonds  muß  aus  Anlaß 
des  Geschenkes  sehr  viel  daraufzahlen.  Es  ist  also  ein  Danaer- 
geschenk, das  sie  ihm  gemacht  haben.  An  diesen  bankrotten 
Krankenhausfonds  sollen  wir  nun  die  Ansprüche  stellen,  daß  er  Wien 
mit  der  genügenden  Anzahl  Krankenbetten  versorgt.  Der  unmittel- 
bare Herr  Vorredner  hat  die  notwendige  Vermehrung 
der  Bettenanzahl  mit  1500  beziffert.  Aber  ich  bin  ein  be- 
scheidener Mensch.  Ich  wäre  mit  einer  Vermehrung  von 
1  0  0  0  B  e  1 1  e  n  schon  sehr  froh,  und  ich  bin  neugierig,  ob  der  Herr 
Statthalter  in  der  Lage  sein  wird,  zu  erklären:  „Ja,  wir  bekommen 
um  1000  Betten  mehr."  Aber  wie  die  Dinge  heute  stehen,  bekommen 
wir  auch  nicht  ein  Bett  mehr.  Ja,  es  ist  zweifelhaft,  ob  wir 
auch  nur  so  viel  Betten  in  dem  neuen  Spital  haben 


140  Adler  im  Landtag. 


werde  n,  a  1  s  \v  i  r  heute  h  a  b  e  n.  Im  Abgeordnetenhaus  haben 
meine  Parteigenossen  deshalb  eine  Interpellation  gestellt,  aber  der 
Ministerpräsident  hüllte  sich   in   Stillschweigen. 

Aber  das  ist  gerade  die  Lebensfrage.  Was  hat  denn  die  Be- 
völkerung Wiens  von  dem,  was  Sie  heute  machen,  wenn  die  Anzahl 
der  Krankenbetten  nicht  vermehrt  wird?  Meine  Herren!  Gerade 
Sie,  die  Sie  außerhalb  Wiens  w  ohne  n,  Sie  haben  an  der 
Sache  ein  hervorragendes  Interesse,  dasselbe  Interesse  wie  wir 
Wiener.  Es  sind  nicht  nur  W  iener  Kranke,  die  heute 
in  Massen  von  den  Spitälern  zurückgewiesen 
werden,  weil  kein  Platz  ist,  sondern  auch  Kranke  aus  der 
Provinz,  die  nach  Wien  kommen  und  hier  Hilfe  suchen  müssen,  weil 
die  Art  ihrer  Krankheit  eine  Behandlung  auf  der  Klinik  erfordert. 
Also  auch  Sie  aus  der  Provinz  müssen  mit  mir 
einig  sein  und  wenigstens  meinen  Antrag  unterstützen,  der 
folgendermaßen  lautet: 

Der  Landtag  spricht  die  Überzeugung  aus,  daß  die  Spitalnot  in 
Wien  nur  behoben  werden  kann,  wenn  nicht  nur  die  Kliniken 
und  Abteilungen  nach  modernen,  hygienischen  Grundsätzen 
neu  errichtet,  sondern  auch  über  ihren  heutigen  Umfang 
hinaus  die  Zahl  der  Betten  in  einem  entsprechenden 
Maße  vermehrt  wird,  und  fordert  den  Landesausschuß  auf,  mit  allem 
Nachdruck  auf  den  k.  k.  Landesfouds  respektive  die  Regierung  in  diesem 
Sinne  einzuwirken. 

Ich  glaube  Ihnen  ja,  daß  die  Regierung  splendid  sein  wird;  aber 
wissen  Sie,  daß  das  so  vorhalten  wird,  wenn  der  Druck  aufhört? 
Die  Herren,  die  dann  die  Spitäler  zu  bauen  haben  werden,  werden 
sich  um  jeden  Kreuzer  herumraufen  müssen. 

Es  gibt  ja  noch  einen  Faktor,  in  dessen  Kompetenz  es  liegt,  sich 
mit  der  Errichtung  und  Erhaltung  von  Spitälern  zu  befassen.  Das  ist 
die  G  e  m  e  i  n  d  e  W  i  e  n.  Ich  weiß,  daß  ich  damit  in  ein  Wespennest 
hineinsteche  und  bei  den  Vertretern  der  Gemeinde  Wien  Wider- 
spruch finden  werde.  Aber  ich  erkläre,  daß  es  nach  der  Lage  des 
Gesetzes  —  des  Sanitäts-  und  des  Heimatsgesetzes  —  un- 
bedingt die  Pflicht  der  Gemeinde  Wien  ist,  für  die 
Unterbringung  und  Verpflegung  der  Kranken  zu 
sorgen. 

Herr  Dr.  K  r  o  n  a  w  e  1 1  e  r  entrüstet  sich  schon.  Er  wird  mir 
Urteile  des  Verwaltungsgerichtshofes  vorlesen.  Aber  es 
gibt  auch  andere  Urteile,  die  für  mich  sprechen. 

Abgeordneter  Dr.  Kronawetter:  Nur  Epidemiespitäler. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Bauen  Sie  wenigstens  Epidemiespitäler. 
Ich  bin  schon  damit  zufrieden.  So  wird  dann  Platz  für  andere.  Herr 
Dr.  Kronawelter  wird  mich  dann  widerlegen,  ich  weiß, 
juristisch  gewiß.  Aber  die  Bevölkerung  lebt  ja 
nicht  am  P  a  p  i  e  r,  und  sie  kann  auch  mit  diesen  bürokratischen 
Anschauungen,  die  der  Herr  Bürgermeister  von  Wien  zu  meiner 
Freude  so  festgenagelt  hat,  ihre  Kranken  nicht  verpflegen.  Wissen 
Sie    nicht,    daß    Zehn  tausende    von    Menschen    unter 


Die  Snitalnol   in   Wie».  141 

d  c  m      e  w  i  g  e  n      K  0  m  p  e  t  e  11  z  streit      z  w  i  s  c  li  e  n      (j  e- 

meinde,  Land  und  Staat  leid  c  d?  Sie  wissen  es  alle,  die 
der  kommunalen  Verwaltung  näher  stehen,  wie  Sie  es  mit 
Ihren  Pfrtindnem  treiben  und  wie  die  hin-  und  her- 
geschoben  werden.  Der  Kompetenzstreit  wird  ausgetragen  auf  dem 
Rücken  der  Bevölkerung.  Sonst  heißt  es:  Wenn  zwei  sich  streiten, 
freut  sich  der  dritte.  Das  ist  hier  nicht  der  Kall.  Über  diesen 
Streit  geht  die  B e  v  ö  1  k  e  r  11  n  g  tat  s  ä c h  1  i c h  zu- 
grunde. Und  es  ist  eine  Schande  v  0  r  kr  a  n  z  E  u  r  0  ])  a, 
weil  es  keine  zweite  Stadt  gibt,  die  mit  Spitälern  so  schlecht  ver- 
sehen ist  wie  Wien5*). 

Natürlich  werden  Sie  mir  darauf  zur  Antwort  geben:  Woher 
sollen  wir  das  ( i  e  1  d  nehme  n?  Ich  könnte  Urnen  darauf  die 
Antwort  geben,  aber  das  würde  mich  zu  weit  führen,  und  Sie 
wissen  es  auch  genau :  Sie  finden  für  andere  Dinge  (ield. 
und  zwar  sehr  viel  (ield,  und  Sie  würden  es  auch  für  die 
Spitäler  finden,  wenn  Sie  wollten.  Aber  mir  genügt  hier  das 
eine:  Sie  müssen  es  finden,  wie  es  andere  Gemeinden  auch 
finden  müssen!  Sagen  Sie  mir,  was  geschieht  in  Wiener- 
Neustadt,  St.  Polten,  Krems?  Werden  etwa  die 
Krankenhäuser  vom  Landesfonds  gebaut?  Ich 
glaube  nicht,  wahrscheinlich  haben  sie  dort  städtische  Spitäler. 
Woher  haben  die  das  Geld? 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Schulden  machen  sie. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Sie  machen  auch  Schulden  genug,  und 
Sie  machen  mitunter  Schulden  für  weniger  wichtige 
Dinge.  Ich  wiederhole:  Es  ist  eine  Schande,  in  welchem  Zustand 
heute  die  Spitäler  sind,  es  ist  eine  Schande  für  die  Gemeinde  Wien, 
und  damit  meinen  Vorwürfen  jeder  parteimäßige  Charakter  be- 
nommen werde,  füge  ich  hinzu :  Fiskalisch  und  büro- 
kratisch bis  in  die  Knochen,  bis  zur  Borniertheit 
war  die  Gemeindeverwaltung  früher  ebenso  wie 
heute.  Das  Übereinkommen  von  1891  ist  ein  sprechender  Beweis 
dafür.  Erinnern  Sie  sich  nur  daran.  Es  mußte  damals  wegen  der 
Einbeziehung  der  Vororte  ein  neues  Übereinkommen  mit 
dem  Krankenhausfonds  getroffen  werden.  Der  Fonds  sagte:  Nehmet 
euch  die  Spitäler  und  verwaltet  sie.  Die  Gemeinde  wieder  sagte: 
Nein,  nehmet  ihr  sie  euch.  Der  Fonds  verlangte  darauf  Geld,  um  die 
Vorortespitäler  zu  erhalten.  Aber  die  Gemeinde  sagte:  Nein:  wenn 


*)  Im  Gegensatz  dazu  sei  aus  dem  letzten  Bericht  von  Dr.  Robert 
\)  a  n  n  e  b  e  r  g  über  die  sozialdemokratische  Q  e  m  e  i  n  d  c- 
v  er  waltung  in  Wien  unter  anderem  angeführt,  daß  die  Gemeinde 
neben  den  Bundesanstalten  ein  mustergültiges  städtisches  Krankenhaus  mit 
1000  Betten  betreiht  und  die  Wiener  Kinderspitäler,  die  bisher  von  Stif- 
tungen erhalten  wurden,  der  Reihe  nach  übernimmt,  wenn  sie  notleidend 
werden.  Sie  führt  ein  städtisches  Entbindungsheim  und  zwei  große  An- 
stalten für  Geistes-  und  Nervenkranke,  daneben  einen  schulärztlichen 
Dienst,  11  Schulzahnkliniken,  12  Kinderfreibäder,  unterstützt  sechs  Lehr- 
lingsheime, betreibt  ^  Tuberkulösefürsorgestellen  usw. 


142  Adler  Im  Landtag. 


ihr  sie  nicht  übernehmet,  sperren  wir  die  ganzen 
Vorortespitäler  zu.  Der  Spitalfonds  wurde  mit  dem 
Revolver  gezwungen,  die  Spitäler  zu  über- 
nehmen, und  das  ist  eine  der  Ursachen,  aus  denen  die  Krankheit 
des  Spitalfonds  stammt.  Meine  Herren!  Ich  bin  der  Ansicht,  daß 
sich  die  Gemeinde  Wien  dieser  Verpflichtung 
nicht  entziehen  darf  und  daß  der  Landtag  —  wer  sollte  es 
denn  sonst  tun?  —  die  Gemeinde  Wien  dazu  zwingen  muß.  Im 
Gemeinderat  hat  einmal  Dr.  Zemann*)  darüber  sprechen  wollen, 
da  wurde  sofort  eine  geheime  Sitzung  anberaumt,  weil  das 
den  Interessen  der  Kommune  abträglich  sein  könnte.  Ich  bin  auch 
ein  Wiener,  ein  Niederösterreicher,  halte  es  aber  durchaus  nicht  für 
Landesverrat,  wenn  ich  die  Pflicht  der  Kommune,  Spitäler  zu  bauem 
betone. 

Es  tut  mir  leid,  ich  erscheine  heute  in  einer  neuen  Rolle,  ich 
spreche  hier  für  die  Regierung  gegen  die  Stadt  Wien. 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Das  ist  sehr  interessant;  Sie  wollen, 
daß  der  Staat  nichts  zu  zahlen  hat  und  wir  alles. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Die  Verpflichtung  des 
Staates  und  des  Landes  soll  eingehalten  werden, 
aber  die  Gemeinde  wird  dadurch  ihrer  Ver- 
pflichtung nicht  ledig. 

Eine  solche  Pflicht  ist  die  Schaffung  von  Ambulatorien,, 
die  gerade  für  die  arbeitende  Bevölkerung  von  kolossalem  Interesse 
sind.  Die  Ambulatorien  ermöglichen  dem  Arbeiter,  sich  mit  geringem 
Zeitverlust  kurieren  zu  lassen;  insbesondere  wird  es  dadurch  der 
arbeitenden  Frau  möglich,  den  Haushalt  weiterzuführen.  Wenn  man 
an  die  Kommune  herantritt,  erklärt  sie  oder  wird  sie  erklären: 
. . .  Ich  weiß  nicht,  in  welchem  Stadium  sich  die  Sache  jetzt  befindet. 
Die  Antwort  hängt  davon  ab,  ob  man  vor  oder  nach  den 
Wahlen  ist.  Es  spielen  auch  da  kleinliche  politische  Rücksichten 
mit. 

Heute  steht  es  so,  daß  in  das  Spital  niemand  aufgenommen  wird, 
der  nicht  akut  erkrankt  ist.  Jeder  andere  wird  abgewiesen  und  muß 
abgewiesen  werden,  weil  für  die  unabweislichen,  dringenden  Fälle 
Raum  geschafft  werden  muß.  Glauben  Sie,  daß  die  Leute,  die  da 
auf  die  Straße  hinausgestellt  werden,  sich  fragen,  in  wessen  Kom- 
petenz die  Schuld  fällt?  Glauben  Sie,  daß  Ihre  prozessualisch- 
juristischen  Tüfteleien  diese  Leute  beruhigen?  Es  geht 
nicht  an,  daß  die  Gemeinde  auf  dem  ablehnenden 
Standpunkt  verharrt.  Diese  Fragen  müssen  durch  das  Zu- 
sammenwirken aller  dieser  Faktoren  gelöst  werden.  Ich  stelle  daher 
folgenden  Antrag: 

Der  Landtag  spricht  seine  Überzeugung  aus.  daß  die  Kommune  Wien 
ihrer  in  dem  Reichssanitätsgesetz  und  dem  fieimatsgesetz  begründeten 
Verpflichtung,  Spitäler  zu  errichten  und  zu  erhalten,  durch  das  Bestehen 

*)  Ein  Mitglied  der  Partei  der  „Sozialpolitiker*'  und  Arzt  am  Wiedner 
Krankenhaus. 


Dk    Spitalnol   in    Wien.  •  13 

des  k,  k.   Krankenhausfonds  nicht   enthoben  ist,    und    forderl    den 
niederösterreichischen  Landesausschuß  auf,  mit  all  e  r  E  n  e  r sie  a  u  i 

die  K  o  m  in  u  !i  e  W  I  e  n  e  i  n  /.  u  w  i  r  k  e  n,  d  aß  sie  diese  Pf  1  i  c  li  t 
e  r  i  ii  1 1  e. 

Es  wird  sich  zeigen,  inwieweit  für  Sic  das  Interesse  der  Bevölke- 
rung maßgebend  ist  und  inwieweit  Ihr  politisches  Interesse.  Ich  will 
Übrigens  noch  das  eine  feststellen:  Alles,  w  a  s  ich  hier  ü  b  e  r 
die  h  e  ii  (  i  g  c  M  a  j  o  r  i  t  ä  t  g  e  s  a  g  t  habe,  gilt  ebens  o 
für  die  alte  liberale  M  a  j  o  r  i  t  ä  t,  und  falls  im  Gemeinde- 
rat, was  allerdings  nicht  sehr  wahrscheinlich  ist,  wieder  eine  libe- 
rale Majorität  kommt,  SO  wird  diese  -  -  da  kenne  ich  die  Herren 
zu  gut  —  wieder  so  vorgehen  wie  früher.  Aber  hier  sind  doch 
Leute,  die  nicht  die  Scheuklappen  des  Wiener  kommunalen  Fis- 
kalismus tragen,  und  ich  hoffe  darum,  daß  der  Landtag 
seine  Pflicht  tun  w  i  r  d. 

Der  Redner  spricht  hierauf  über  die  Verpflegsgebühren 
und  warnt  davor,  daß  man  etwa  die  Zinsen  der  kostspieligen  Trans- 
aktion auf  Kosten  der  Kranken  hereinbringen  wolle.  Die  Kranken  in 
den  Wiener  Spitälern  sind  zu  66  Prozent  oder  noch  mehr  L  o  h  n- 
a  r  b  e  i  t  e  r,  und  wir  wären  sehr  beruhigt,  wenn  uns  die  Regierung 
darüber  Aufschluß  geben  könnte,  was  da  beabsichtigt  wird.  Wir 
sind  natürlich  vom  Krankenhausfonds  auf  Verschiedenes  gefaßt.  Die 
Verpflegskosten,  die  früher  60  Kreuzer  betrugen,  sind  dann  auf  1  fl.*) 
gestiegen.  Im  Jahre  1895  wurde  plötzlich  ein  Attentat  auf 
die  Krankenkassen  unternommen.  Die  Verpflegskosten  wür- 
den auf  1  fl.  20  kr.  erhöht,  aber  infolge  des  Sturmes,  der  sich  in  der 
Arbeiterschaft  erhob,  wurde  am  1.  April  diese  Erhöhung  wieder 
rückgängig  gemacht. 

Nachdem  der  Spitalfonds  diesmal  so  schöne  Gründe,  aber  um 
soviel  Geld  angekauft  hat,  ist  die  Verlockung  für  ihn  sehr  groß, 
die  Kosten  wieder  auf  die  Konsumenten  und  speziell  auf  die  Arbeiter 
abzuwälzen.  Ich  gebe  Ihnen  die  Versicherung,  daß  sich,  wenn  Sie 
einen  solchen  Versuch  unternehmen  würden,  die  Arbeiter- 
schaft wieder  in  so  energischer  Weise  dagegen 
wehren  wü  r  d  e  wie  das  vorigemal. 

Ich  fasse  zusammen:  Wir  —  der  Landtag  —  sind  im  Begriff, 
ein  sehr  gutes  Geschäft  zu  machen,  wir  —  die  Wiener,  die  das 
Spital  benützen  sollen  —  sind  im  Begriff,  ein  sehr  schlechtes  Ge- 
schäft zu  machen.  Wir  bauen  ganz  überflüssigerweise  ein  Kranken- 
haus mitten  in  Wien,  verwüsten  dabei  einen  der  schönsten  Gärten 
Wiens,  den  Irrenhauspark,  und  wir  bringen  aus  dem  Verkauf  des 
alten  Krankenhauses  nicht  einmal  so  viel  auf,  um  auch  nur  den 
Grund  für  das  neue  Krankenhaus  zu  bezahlen.  Wir  haben  heute 
keine  Ahnung,  was  eigentlich  jetzt  geschehen  soll,  wir  wissen  nicht 
wieviel  Betten  das  neue  Spital  haben  soll . . . 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Das  weiß  ich  auch  nicht. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Herr  Bürgermeister!  Ich  bin  sehr  neu- 
gierig, und  es  würde  nicht  schaden,    wenn  Sie    auch    etwas  neu- 

l   fl,  (1  Gulden)  =  100  kr.  (Kreuzer)  =  2  Kronen  =  etwa  3  Schilling. 


144  Adler  im  Landtag. 


gieriger  wären.  (Heiterkeit.)  Ich  meine,  wir  haben  ein  Interesse, 
daß  alles  das  festgelegt  werde,  bevor  wir  mit  der  Regierung  das 
Geschäft  abschließen.  Die  Kommune  Wien  hat  es  verstanden,  in  der 
Frage  des  Versorgungshauses  und  des  Polizeigefangenhauses  ein 
famoses  Junktim  abzuschließen... 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Das  ist  auch  mein  Stolz. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Nun  ja,  Sie  haben  da  doch  ein  ganz 
gutes  Geschäft  gemacht. 

Abgeordneter  Dr.  Kronawetter:  0  nein,  das  war  nicht  gar  so 
gut,  den  Prozeß  hätten  wir  gewonnen.  (Heiterkeit.) 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Mein  lieber  Dr.  Kronawetter,  ich  bin 
nicht  so  verliebt  in  die  Prozesse  wie  Sie.  (Heiterkeit.)  Ich  meine 
nur,  man  hätte  auch  hier,  bevor  man  die  Sache  abschließt,  den  Um- 
fang der  Spitalreform  festlegen  müssen.  Heute  sind  wir  einfach 
dem  guten  Willen  der  jeweiligen  Regierung  ausgeliefert.  Ich  ent- 
nehme aus  allen  Äußerungen  der  Herren,  die  mit  der  Regierung 
verhandelten,  daß  die  Regierung  für  die  Kommune  und  für  das 
Land  alles  mögliche  tun  will.  Es  soll  mich  freuen,  wenn  das  \vrahr 
ist.  Aber  ich  glaube  nicht,  daß  Sie  die  Garantie  haben,  daß  das 
andauern  wird.  Vorläufig  wissen  wir  ja  noch  nicht  einmal,  was 
gebaut  werden  soll. 

Und  dann  müssen  wir  verlangen,  daß  in  der  einen  Kranken- 
anstalt für  zwei  Dinge  vorgesorgt  werde:  für  ein  K  i  n  d  e  r  s  p  i  t  a  1 
und  für  ein  S  y  p  h  i  1  i  s  s  p  i  t  a  1,  das  Wien  sehr  notwendig  braucht. 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Das  ist  sehr  traurig. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Alle  Krankheiten  sind  sehr  traurig. 
Aber  noch  trauriger  ist  es,  wenn  man  keine  Mög- 
lichkeit hat,  sie  zu  heilen.  Wir  müssen  also  auch  für 
diese  traurigen  Krankheiten  Vorsorgen. 

Ich  hoffe,  daß  der  Landtag  seine  eigene  Kompetenz  wahren 
wird.  Hier  ist  für  diese  Frage  der  einzige  Boden,  hier  können  und 
sollen  Sie  für  die  Interessen  nicht  nur  der  Wiener, 
sondern  der  kranken  Bevölkerung  von  ganz 
Niederösterreich  energisch  eintreten,  und  ich  bitte 
Sie  deshalb,  für  meine  Anträge  zu  stimmen. 

Kommunalsozialismus     und     Kommunal- 
kapitalismus. 

Landtag,  7.  Jänner  190  2*). 

Es  ist  an  und  für  sich  nicht  sehr  verlockend,  am  Ende  einer  so 
ausführlichen  Diskussion  über  einen  so  wichtigen  Gegenstand  noch 
zu  sprechen.  Aber  auch  die  Sache  selbst  ist  eine  solche,  daß  ich 
mich   da   in   einer   sehr   eigentümlichen   Lage   befinde.   Insofern   es 


*)  Der  Landtag  hatte  am  7.  Jänner  1902  über  das  Ansuchen  der  Ge- 
meinde Wien  um  Bewilligung  zur  Aufnahme  eines  Anlehens  von  285  Mil- 
lionen Kronen   zu   entscheiden.  Da  Wien   bis   nach   dem   Umsturz   eine   ge- 


Kommunalsozialismus  und    Kommunalkapitalismus  14  > 

sich  iiin  den  städtischen  Betrieb  der  Straßenbahnen,  um  die 
Wasserleitung  handelt,  so  will  ich  sowohl  wie  meine  gesamte 
Partei  selbstverständlich  mit  beiden  Händen  dafür  stimmen.  Es  ist 
ganz  selbstverständlich,  daß  wir  Sozialdemokraten  durchaus 
wünschen,  daß  alle  monopolistischen  Betriebe  in  den  Händen  der 
Kommune  konzentriert  werden.  I  c  h  m  ö  C  h  t  e  g  e  r  n  d  a  f  ii  r 
s  t  i  m  m  e  n,  und  es  i  s  t  m  i  r  s  e  h  r  u  n  a  n  g  e  n  e  h  m,  d  a  ß  i  c  h 
t  r  o  t  z  d  e  in  nicht  d  a  i  ü  r  s  t  i  m  m  e  u  k  a  n  n. 

Wir  wollen  das  Votum  im  Landtag  nicht  zu  sehr  überschätzen. 
Das  Wiener  (ienieiudestatut  und  unsere  ^anze  Landesverfassung 
beruhen  eigentlich  auf  einem  Zustand,  der  längst  nicht  mehr  vor- 
handen ist,  auf  dem  Zustand,  wo  wir  etwa  500.000  Einwohner 
hatten,  etwa  ein  Viertel  der  Einwohnerschaft  Niederösterreichs, 
also  nur  die  größte  Gemeinde  von  Niederösterreicli  waren.  Heute 
ist  es  anders,  und  ich  habe  die  Empfindung,  daß  ich  als  Landtags- 
abgeordneter eigentlich  gar  kein  Recht  habe,  über  die  Gemeinde 
Wien  eine  Kuratel  auszuüben.  Es  ist  ein  Widersinn,  daß  über  die 
wichtigsten  Lebensfragen  der  Gemeinde  Wien  von  ein  paar  Groß- 
grundbesitzern entschieden  wird.  Es  könnte  sich  also  der  Landtag 
ohne  weiteres  auf  den  Standpunkt  stellen:  das  ist  eure  Sache;  ihr 
macht  es,  ihr  zahlt  es,  wir  haben  euch  nichts  dreinzureden.  Aber 
leider  hat  die  Kommune  Wien  nicht  die  Autonomie,  die  wir  ihr 
wünschen,  und  so  sind  wir  gezwungen,  auch  ein  Urteil  hier  ab- 
zugeben. 

Sie  müssen  aber  zugeben,  trotz  dem  Plädoyer  des  Dr.  P  a  1 1  a  i*). 
daß  die  Vorlage  durchaus  nicht  einwandfrei  ist.  Es  ist  ganz  recht, 
daß  die  Straßenbahn  verstadtlicht  wird,  und  es  ist  sehr  erfreulich, 
daß  wir  heute  —  was  noch  vor  zwanzig,  ja  vor  zehn  Jahren  nicht 
möglich  gewesen  wäre  ohne  den  größten  Widerstand  prinzipieller 
Gegner  jedes  kommunalen  Betriebes  —  das  tun  konnten,  ohne  daß 
sich  irgend  jemand  getraut,  prinzipielle  Bedenken  dagegen  anzu- 
führen. Das  Prinzip  des  kommunalen  Betriebes  ist  unbestrittenes 
Eigentum  der  gesamten  öffentlichen  Meinung  geworden.  Aber  wenn 
es  recht  und  gut  ist,  daß  die  Gemeinde  die  Straßenbahn  kauft,  so 
ist  damit  noch  nicht  gesagt,  daß  sie  sie  gerade  unter  diesen  Um- 
ständen kaufen  muß. 


wohnliche  Gemeinde  war,  deren  Finanzverwaltung  vom  Lande  überprüft 
werden  mußte,  konnte  sie  auch  selbst  keine  Anleihe  aufnehmen,  sondern 
mußte  dazu  die  Bewilligung  des  Landtages  haben.  Das  ist  bekanntlich  erst 
seit  der  Trennung  Wiens  von  Niederösterreich  anders.  Die  Anleihe  brauchte 
die  Gemeinde,  weil  sie  von  der  Firma  Siemens  u.  Halske  die  elektrische 
Straßenbahn  kaufen  wollte,  oder  richtiger  —  wie  es  Adler  sagte  — ,  sie 
kaufte  die  Straßenbahn  gerade  jetzt,  weil  die  Christlichsozialen  die  An- 
leihe brauchten.  Adler  benützte  die  Gelegenheit,  um  die  ganze  Frage  der 
Auto  n  o  m  i  e  W  icns,  aber  auch  die  Frage  des  (i  emeindesoziali  s- 
m  u  s  aufzurollen. 

)  Dr.  Robert  Pattai,  einer  der  ersten  Antisemiten  in  Wien,  Abgeord- 
neter des  Wiener  Bezirkes  Mariahilf  im  Reichsrat  und  im  Landtag,  ur- 
sprünglich Deutschnationaler,  der  sich  aber  bald  den  Christlichsozialen 
anschloß.    Von     1909    bis     191!    Präsident    des   Abgeordnetenhauses,    später 

Adler,  Briefe.    XI.  1kl.  10 


14G  Adler  im  Landtag. 

Abgeordneter  Dr.  Pattai  hat  zwar  gemeint,  wir  hätten  kein 
Recht,  uns  hier  in  Details  einzulassen,  wir  könnten  uns  auch  auf 
die  Berechnungen  der  städtischen  Buchhaltung  verlassen.  Alle 
Achtung  vor  den  Kenntnissen  dieser,  aber  wenn  wir  ihr  blind  ver- 
trauen müssen,  so  braucht  man  uns  nicht  zu  fragen.  Dann  sage 
man  einfach:  Herr  Bürgermeister,  fragen  Sie  die  Buchhaltung,  wie 
wir  es  machen  sollen,  und  wir  machen  es.  Faktisch  ist  es  ja  beinahe 
so.  (Heiterkeit.) 

Die  Gemeinde  kauft  die  Tramway  gerade  jetzt,  nicht  weil  sie 
sie  gerade  jetzt  sehr  billig  erwerben  kann,  sondern  weil  sie  ein 
größeres  Anlehen  aufzunehmen  gezwungen  ist.  Es  ist  kein  Zweifel, 
daß  der  Bürgermeister,  wenn  er  in  der  Lage  gewesen  wäre,  sich 
den  Zeitpunkt  auszusuchen,  wann  er  die  Tramway  kaufen  soll. 
gewartet  hätte,  bis  alle  Linien  ausgebaut  sind,  auch  jene,  die  jetzt 
auf  unbestimmte  Zeit  verschoben  worden  sind.  Nun  bin  ich  weit 
davon  entfernt,  vor  großen  Anlehen  zu  erschrecken.  Es  ist  gewiß 
paradox,  zu  sagen:  „Je  mehr  Schulden  wir  haben,  um  so  reicher 
ist  die  Gemeinde."  Aber  Tatsache  ist  es,  daß  eine  Gemeinde  um  so 
reicher  ist  und  um  so  reicher  werden  kann,  je  mehr  sie  die  inneren 
Hilfsquellen  der  Gemeinde  aufzuschließen  versteht,  und  das  kann 
sie  nur,  indem  sie  große  Kapitalien  investiert.  Ich  verweise  Sie  auf 
die  Entwicklung  Englands.  Dort  haben  sich  von  1875  bis  1897  die 
Schulden  der  Gemeinden  von  106  Millionen  Pfund  auf  250  Millionen 
Pfund  erhöht,  und.  Sie  sehen  im  Anschluß  daran,  daß  heute  bereits 
222  Städte  ihr  eigenes  Gaswerk  haben  und  206  Städte  ihre 
Elektrizitätswerke,  und  daß  es  in  England  keine  einzige  größere 
Stadt  mehr  gibt,  die  nicht  ihre  Straßenbahn  bereits  verstadtlicht 
hat  oder  im  Begriff  ist,  es  zu  tun.  Man  braucht  also  vor  großen 
Kapitalsanlagen  nicht  zu  erschrecken,  dies  ist  eben  die  natürliche 
Entwicklung  der  Städteverwraltung.  Aber  wenn  man  das,  was  für 
jeden,  der  kein  Analphabet  ist,  zum  Abc  geworden  ist,  durchführt, 
wenn  man  das  tut,  was  selbstverständlich  ist,  so  soll  man  nicht 
so  tun,  als  ob  man  dafür  unsterblichen  Ruhm  und  kolossale  Kränze 
verdienen  würde. 

Die  heutigen  Beherrscher  von  Wien  haben  das  Glück  zweier 
Umstände:   erstens   die  Unfähigkeit  ihrer  Vorgänger  (Beifall)  und 

Herrönhausmitglied.  Im  Landesausschuß  hatte  er  das  Eisenbahnreferat,  bis 
ihn  eine  Revolte  in  seiner  Partei  stürzte,  als  der  wiederholt  genannte 
Professor  Sturm  im  Jänner  1912  das  Eisenbahnamt  einen  „A  u  g  i  a  s  s  t  a  1 1" 
nannte.  Von  Pattai  stammt  noch  aus  der  Zeit  des  tiefsten  Friedens  die  Be- 
zeichnung des  Krieges  als  eines  „S  t  a  h  1  b  a  d  e  s"\  die  in  Österreich  zum 
geflügelten  Wort  wurde.  Im  Kriege  hat  er  sich  als  eifriger  Siegfriedler  ge- 
bärdet und  war  im  Herrenhaus  der  Anführer  der  Meute,  die  am  28.  Fe- 
bruar 1918  den  Professor  Lammasch  beschimpfte,  als  er  für  einen  Yer- 
ständigungsfrieden  eintrat.  Pattai  rief  damals  unter  dem  Jubel  der  Herren- 
häusler: Unser  der  Sieg,  unser  die  Palme!  —  Er  ist  schließlich 
sogar  der  deutschradikalen  Partei  beigetreten.  —  Im  Jahre  1911  ist  er  bei 
den  Juniwahlen  in  seinem  Stammbezirk  Mariahilf  (Wien  VI)  von  dem 
sozialdemokratischen  Kandidaten  Leuthner  besiegt  worden.  Als  Ent- 
schädigung erhielt  er  dann  den  Sitz  im  Herrenhaus. 


Kommunalsozialismus   und    Koinmunalkapitalismus.  147 

zweitens  haben  sie  den  Zufall  für  sieh,  daß  eine  ganze  Anzahl  von 
Aufgaben  gerade  in  diesem  Augenblick  reif  geworden  ist.  So 
wenig  ich  von  der  alten  liberalen  Kommunalverwaltung  halte,  so 
sehr  wir  sie  jederzeit  bekämpft  haben  und  noch  bekämpfen  würden, 
wenn  sie  am  Ruder  wäre,  für  so  unfähig  und  so  impotent  könnte 
ieh  sie  doeli  nicht  halten,  dal.)  sie  nieht  in  ähnlicher  Weise,  wenn 
auch  nicht  mit  ähnlichen  Mitteln,  diesen  städtischen  Betrieb  auf- 
richten  würde. 

Abgeordneter  Sturm:  Die  müssen   immer  30  Jahre  studieren. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Das  ist  gewiß  sehr  lang.  Aber  gar 
nicht  studieren,  ist  auch  nicht  ganz  in  Ordnung.  (Heiterkeit.) 

Die  heutige  Gemeindeverwaltung  soll  also  den  Mund  nicht  gar 
zu  voll  nehmen,  und  die  Herren  sollen  vor  allem  und  das  ist 
der  größte  Vorwurf,  den  ich  dem  Abgeordneten  Pattäi  machen 
muß  —  nicht  jeden  Einwand  gegen  die  Art  ihres  Vorgehens  als 
unpatriotisch  stigmatisieren.  Ich  spreche  hier  als  Wiener  und  als 
Vertreter  jener  großen  Massen,  die  das  allergrößte  Interesse  an 
der  Entwicklung  von  Wien  und  an  einer  gesunden  Finanz- 
verwaltung  in  Wien  haben.  Ich  glaube,  Sie  werden  wohl  nicht  der 
alten  Anschauung  sein,  daß  das  Interesse  an  der  Gemeinde  nach 
der  Anzahl  der  Stockwerke  zu  bemessen  ist,  die  man  besitzt.  Die 
Arbeiter  haben  ein  größeres  Interesse  an  Wien  als  die  reichen 
Leute,  die  sich  ja  ihre  Bedürfnisse  auch  anders  verschaffen  können, 
die  nicht  durch  den  Kot  waten  müssen,  wenn  die  Straßen  schlecht 
gepflastert  sind,  die  auch  nicht  mit  der  Tramway  fahren  müssen, 
die  ihre  Fiaker  haben.  Aber  weil  wir  ein  großes  Interesse  an  guten 
Zuständen  in  der  Gemeinde  haben,  so  lassen  wir  es  uns  nicht 
nehmen,  als  gute  Wiener  Patrioten  offene  und 
strenge  Kritik  an  der  Verwaltung  dieser  Ge- 
meinde zu  üben.  Diese  Kritik  wird  Ihrem  Geschäft  nicht  viel 
schaden.  Fürchten  Sie  sich  nicht. 

Abgeordneter  IV.  Lueger:  Wir  fürchten  uns  nicht. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Weil  wir  schon  vom  Geschäft  reden: 
Ich  weiß  nicht,  ob  es  gut  ist,  immer  wieder  zu  sagen:  Wir  haben 
gar  so  ein  gutes  Geschäft  gemacht.  Der  Herr  Bürgermeister,  der 
sich  auf  Geschäfte  auch  versteht,  hört  das  gar  nicht  gern,  wenn 
man  ihm  sagt,  daß  wir  gute  Geschäfte  gemacht  haben.  (Heiterkeit.) 

Bei  der  Verstadtlichung  ist  etwas  sehr  merkwürdig,  Sie  ist  von 
Ihren  größten  Gegnern,  von  den  Sozialdemokraten,  eigentlich  besser 
aufgenommen  worden  als  von  der  Presse  Ihrer  allerbesten  Freunde. 
Es  ist  ganz  eigentümlich,  und  es  war  psychologisch  sehr  interessant 
und  hat  Aufschluß  über  manche  Unterströmungen  gegeben,  daß,  als 
die  Sache  bekannt  wurde,  man  in  beiden  antisemitischen  Blättern*) 
eine  verdrossene  Stimmung  hat  merken  können,  als  ob  sie  sagen 
wollten:  „Viel  Schererei,  und  was  haben  wir  davon!  Jetzt  kriegen 
wir  wieder  8000  neue  Arbeiter,  und  diese  niederträchtigen  Leute 
werden  selbstverständlich  mit  Forderungen  an  uns  herantreten,  und 

/  Die  beiden  antisemitischen  Blätter  waren  die  „Deutsche  Zeitung"  und 
die  „Reichspost" 

10* 


148  Adler  im  Landtag. 


die  Gemeinde  wird  jetzt  diese  Forderungen  entweder  erfüllen  oder 
ablehnen  müssen.  Das  paßt  uns  nicht."  Die  Herren  hätten  sehr  gern 
die  Anleihe  gehabt,  aber  —  nicht  die  Verstadtlichung.  Wir  aber 
hätten  gern  die  Verstadtlichung,  würden  uns  aber  auch  mit  einer 
kleineren  Anleihe  begnügen. 

Nun  möchte  ich  Sie  auf  folgenden  wichtigen  Punkt  aufmerksam 
machen:  Es  wird  uns  erzählt,  daß  die  Straßenbahnen,  die  wir  um 
107V2  Millionen  kaufen,  auf  110  Millionen  geschätzt  wurden.  Das 
wäre  nun  sehr  schön,  aber  nur  so  ganz  nebenbei  wird  dann  gesagt, 
daß  diese  110  Millionen  sich  auf  ausgebaute  Linien  beziehen,  so  daß 
wir  also  diese  2 VI»  Millionen,  die  wir  unter  dem  Schätzungswert 
kaufen,  mit  dem  Verzicht  auf  eine  ganze  Reihe  wichtiger  Linien 
bezahlen  müssen.  Ich  meine,  daß  die  Gesellschaft  Siemens  u.  Halske 
ebensoviel  verdient  und  noch  mehr,  indem  sie  die  auswärtigen 
Linien  nicht  baut,  als  indem  sie  die  anderen  baut.  Aber  gerade  diese 
Linien  sind  auch  wichtig  für  die  Wohnungspolitik  der  Kommune, 
deren  Pflicht  es  ist,  gerade  den  äußeren  Verkehr  zu  regeln.  Unter 
diesen  Linien  ist  eine  sehr  wichtige:  die  Favoriten  und 
S  i  m  m  e  r  i  n  g  miteinander  verbinden  soll.  Warum  gibt  man  diese 
auf? 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Die  wird  gebaut. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Obwohl  wir  verzichtet  haben? 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Ja,  später. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Das  ist  sehr  schön,  aber  hier  steht 
nichts  davon.  Nun  möchte  ich  auch  noch  wissen,  ob  die  Kosten 
dieses  Baues  eingeschlossen  sind  in  den  ganzen  Betrag,  oder  ob 
sie  extra  bezahlt  werden  sollen. 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Extra! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Diese  Erklärung  ist  mir  sehr  wertvoll 
und  es  wäre  sehr  gut,  wenn  Sie  auch  im  Gemeinderat  sich  daran 
gewöhnen  wollten,  sachliche  Erklärungen  abzugeben,  statt  sich  ein- 
fach mit  Jubelmarsch  die  Sachen  bewilligen  zu  lassen.  Ihre  Er- 
klärung ist  sehr  wertvoll,  weil  sie  alles  bestätigt,  was  ich  gesagt 
habe.  Es  wurde  weder  im  Gemeinderat  noch  hier  mit  einem  Worte 
gesagt,  in  welchem  Verhältnis  die  Linien,  auf  die  wir  verzichten, 
zu  dem  geringen  Preis  stehen,  den  wir  zahlen. 

Was  isfs  mit  den  Bediensteten? 

Die  Stadtbuchhaltung  hat  uns  eine  Reihe  von  Ziffern  geliefert, 
worin  sie  die  Verkehrsdichtigkeit  in  Wien  mit  der  anderer  Städte 
vergleicht.  Ich  habe  nichts  dagegen,  daß  sie  sich  da  gerade  die 
günstigsten  Städte  ausgesucht  hat,  und  daß  sie  daraus  Schlüsse  über 
die  Rentabilität  ziehen  will.  Davon  will  ich  nicht  reden.  Ich 
bin  überzeugt,  daß  sich  diese  Bahnen  sehr  gut  rentieren  werden, 
ja  ich  fürchte,  daß  sie  sich  zu  gut  rentieren  werden,  und  daß 
die  Gemeinde  mehr  daraus  herausschlagen  wird,  als 
das  Verkehrsinteresse  des  Unternehmens  und 
das  sozialpolitische  Interesse  der  Arbeiter  ver- 
trägt. Ich  fürchte,  es  wird  dieses  Geschäft  allzu  kapitalistisch  be- 
trieben werden,  und  daß  man  die  Erträgnisse  zu  steigern  versuchen 


Kommunalsozialismus  und   Kommunalkapitalismus.  M(> 

wird,  um  die  Löcher  zuzustopfen,  die  wir  einer  falschen  Verwaltung 
zu  verdanken  haben.  Das  ist  durchaus  keine  leere  Befürchtung, 
denn  der  Bericht  s c  li  w  e ig t  sich  s e  Ii  r  vorsieh ti  ;c  d  a  r- 
ii  1)  e  r  a  n  s,  w  i  e  de  r  T  a  r  if  sein  wir  d,  u  nd  noch  g  r  ü  n  d- 
1  ich  e  r  d  a  r  ü  I)  e  r,  W  L  e  das  V  e  r  h  ä  1 1  n  is  Z  n  d  e  n  I  >  e  d  i  e  n- 
Steten  sein  wird.  Ich  weiß,  es  wird  der  Bürgermeister  nach 
mir  sprechen,  und  ich  bin  gefaßt  darauf,  daß  er  mich  genau  so  ab- 
fertigt wie  meinen  Genossen  Reumann  im  Qemeinderat.  (Bravo! 
bei  den  Christlichsozialen.)  Gewiß,  der  Herr  Bürgermeister  wird 
es  zustande  bringen,  zu  reden,  ohne  zu  sagen,  wie  er  es 
mit  den  Bediensteten   halten  will. 

Sie  wissen,  es  sind  zwei  Fragen,  die  die  Bediensteten  beschäf- 
tigen: die  Frage  der  Dienstordnung  und  der  Arbeits- 
zeit und  die  des  P  ensionsfonds.  Die  erste  Frage  ist  Gegen- 
stand eines  Zivilprozesses  geworden,  der  sogar  unter  den  Motiven 
angeführt  ist,  warum  das  Verhältnis  mit  der  Tramway  unhaltbar 
geworden  ist.  Wenn  man  wirklich  den  Ansprüchen  der  Be- 
diensteten Rechnung  tragen  will,  sowie  es  der 
Bürgermeister  feierlich  versprochen  hat,  dann 
müßte  man  schon  aus  rechnerischen  Gründen,  aber  auch  aus  sozial- 
politischen Gründen  und  zur  Beruhigung  der  Bedien- 
steten in  Rechnung  stellen,  wie  die  Rentabilität 
sich  durch  die  Bewilligung  dieser  Forderungen 
ändert. 

Es  ist  aber  nicht  nur  das  nicht  geschehen,  sondern  gerade  das 
Entgegengesetzte  ist  geschehen.  Ich  will  da  absehen  von  jener  Ver- 
tragsklausel, die  sagt,  daß  Änderungen  nur  im  Einvernehmen  mit 
Siemens  gemacht  werden  können.  Da  braucht  man  nichts  zu 
fürchten;  da  ja  die  Veränderungen  von  der  Gemeinde  bezahlt 
werden  müssen,  wird  sich  die  Firma  Siemens  u.  Halske  wohl  fügen. 
Die  Herren  haben  doch  nichts  gegen  eine  Sozialpolitik,  die  sie  nichts 
kostet.  Aber  Sie  haben  in  Sachen  des  Pensionsfonds 
positiv  dieselbe  Ziffer  in  Rechnung  gestellt,  die 
bisher  darin  war,  nicht  um  einen  Heller  mehr. 

Gemeindesozialismus  und  Gemeindekapitalismus. 

Das  sind  die  Gründe,  warum  ich  fürchte,  daß  die  Tramway  für 
Sie  allzu  profitabel  sein  wird.  Man  bezeichnet  das  Prinzip,  daß 
solche  Unternehmungen  von  der  Gemeinde  betriebe«  werden,  auch 
als  Gemeindesozialismus.  Es  ist  weit  davon  entfernt,  wirklicher 
Sozialismus  zu  sein,  wenn  einfach  die  Gemeinde  wie  der 
gewöhnliche  Kapitalist  ein  auf  Ausbeutung  bis 
zum  Äußersten  gegründetes  Unternehmen  be- 
treibt. Die  Gemeinde  kann  beim  Gemeindesozialismus  noch  immer 
ihren  Profit  machen,  aber  so  weit  darf  sie  nicht  gehen,  daß  sie 
das  Interesse  des  Publikums  wie  das  der  Bedien- 
steten ignoriert.  Es  wäre  mir  außerordentlich  erwünscht, 
wenn  wir  auch  hierüber  beruhigende  Aufklärungen  bekommen 
würden. 


150  Adler  im  Landtag. 


Wir  wünschen,  daß  die  Gemeinde  blüht,  wir  wünschen,  daß  die 

Gemeinde  diese  Unternehmungen  in  ihre  Hände  bekomme.  Aber 
Sie  können  von  uns  nicht  erwarten,  daß  wir  zu  Ihnen  und  zu  Ihrer 
Amtsführung  das  blinde  Vertrauen  haben,  Ihnen  einen  Dispositions- 
fonds von  168  Millionen  zu  bewilligen.  W  i  r  h  a  b  e  n  diesesVer- 
trauen  zu  Ihnen  nicht,  und  wir  haben  auch  unsere  guten 
Gründe  dazu.  Der  Abgeordnete  Pattai  hat  gesagt:  Was  braucht  der 
Landtag  alles  so  genau  prüfen,  das  ist  nicht  so  wie  bei  einem 
Minister;  hier  handelt  es  sich  um  die  Kommune,  der  man  das  Ver- 
trauen schenkt.  —  Gewiß  ein  großer  Unterschied.  Aber  wer  ist 
denn  diese  Kommune?  Wer  beherrscht  sie  denn? 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Gott  sei  Dank,  Sie  nicht.  (Heiterkeit.) 
Abgeordneter  Dr.  Adler:  Nun,  wenn  wir  alt  werden,  werden  Sie 
noch  so  manche  Dinge  erleben.  Es  hat  eine  Zeit  gegeben,  wo  man 
auch  Ihnen  zugerufen  hat:  Gott  sei  Dank,  Sie  nicht!  (Heiterkeit.) 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Ja,  das  wechselt  halt  mit  der  Zeit. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Vorläufig  stehen  die  Dinge  so,  daß  ein 
sehr  großer  Teil  der  Bevölkerung  sagt:  Leider  Gottes,  Sie! 
(Heiterkeit.)  Ich  wollte  übrigens  nicht  gerade  von  Ihrer  Partei 
sprechen.  Aber  ich  sage,  daß  wir  einen  Gemeinderat  haben,  von 
dem  die  Masse  der  Bevölkerung  fast  vollständig  ausgeschlossen  ist. 
Diese  Wahlordnung,  die  Sie  gemacht  haben,  mit  dem  vierten  Wahl- 
körper . . .  Sie  wissen  genau,  wie  schlecht  sie  ist.  Und  deshalb  ge- 
trauen Sie  sich  alles,  und  Sie  treiben  es  so  arg,  daß  Sie  nicht 
einmal  dieFormenwahren.  Es  ist  eine  unwürdige  Methode, 
mit  der  Sie  die  wichtigsten  Dinge  durch  den  Gemeinderat  durch- 
peitschen, und  ich  getraue  mich  zu  sagen,  daß  der  größte  Teil  Ihrer 
eigenen  Partei  im  einzelnen  gar  nicht  weiß,  was  er  beschlossen  hat, 
und  es  ist  das  auch  gar  nicht  möglich  bei  dieser  Art  der  Behandlung, 
die  in  geradezu  raffinierter  Weise  alles  tut,  um  das  Bild  zu  ver- 
hüllen. (Ohorufe.)  Das  ist  so,  Sie  wissen  das  ja  selbst. 

Es  ist  nicht  immer  nützlich,  es  so  zu  tun.  Unfehlbar  sind  ja  auch 
Sie  nicht.  Damals  hat  es  an  einem  Haar  gehängt,  daß  der  heutige 
Vertrag  gar  nicht  möglich  wäre.  Wenn  Sie  die  Klausel  mit  dem 
Elektrizitätswerk  so  beschlossen  hätten,  wie  sie  im  ersten  Entwurf 
stand,  wenn  Sie  nicht  rechtzeitig  gewarnt  wrorden  wären  durch  die 
so  scharfe,  aber  so  patriotische  Opposition  in  der  „Arbeiter-Zeitung", 
die  Stimme  Otto  W  i  1 1  e  1  s  h  ö  f  e  r  s*),  so  wären  Sie  heute  gar  nicht 
in  der  Lage,  diesen  Vertrag  zu  machen,  weil  Sie  das  Elektrizitätswerk 

"")  Otto  Witteishöfe  r,  ursprünglich  Vizedirektor  der  Eskompte- 
gcsellschaft,  ist  aber  zeitlich  in  Pension  gegangen  und  hat  dann  volkswirt- 
schaftlichen Studien  gelebt.  Mitte  der  neunziger  Jahre  war  er  einer  der 
Gründer  des  nach  dem  Muster  der  englischen  Fabiergesellschaften  ge- 
schaffenen Vortragsgesellschaft,  die  sogenannte  „Fabierabende"  mit  Vor- 
trägen veranstaltete.  Aus  dieser  Gesellschaft  hat  sich  dann  die  Partei  der 
„Sozialpolitiker"  entwickelt.  Wittelshöfer  selbst  ist  der  Sozialdemokratie 
beigetreten  und  hat  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  namentlich  über  Bankfragen 
und  über  Fragen  der  Kommunalpolitik  interessante  Artikel  geschrieben,  so 
auch  bei  der  Feststellung  des  Tramwaytarifs  und  bei  der  Elektrifizierung 
der  Tramwav. 


Die  Landtagswahlen.  151 

gar  nicht  in  der  Hand  hätten.  (Gelächter  bei  den  Christlichsozialen.) 
Sic  können  nur  lachen,  weil  Sic  die  Sache  gar  nicht  kennen.  Ich 
mache  Ihnen  ja  keinen  Vorwurf  daraus,  daß  Sie  einmal  Argumenten 
zugänglich  waren,  weil  Sie  einen  Fehler  nicht  begangen  haben,  den 
Sie  begehen  wollten.  Glauben  Sie,  daß  wir  so  töricht  sind,  daß  wir 
die  ganze  Gemeinde  verwüsten  wollen,  Ihnen  zum  Trotz?  Wir 
k  ä  in  pfen  n  u  r  g  e  g  e  n  Sie,  nicht  gegen  die  ( i  e  m  e  i  n  d  e. 
Und  wenn  Sie  uns  noch  zehnmal  verhaßter  wären  als  Sie  sind:  ich 
versichere  Sie,  daß  jeder  v  o  n  u  n  s  sei  n  g  a  n  z  e  s  W  i  s  s  e  n 
und  K  ö  u  n  e  n  z  u  g  u  n  s  t  e  u  der  ( i  e  m  e  i  n  d  e  z  u  r  V  e  r- 
f  ü  g  u  n  g  stellt. 

Ich  glaube,  dal.»  es  niemand  verantworten  kann,  gegen  die  An- 
träge zu  stimmen,  denn  die  (i  e  m  e  i  n  d  e  i  s  t  h  c  u  t  e  i  n  e  i  n  e  r 
Notlage,  die  z  u  in  großen  Teile  v  o  n  Ihnen  v  e  r- 
schuldet  ist,  aber  sie  ist  einmal  in  Not,  sie  braucht  das  Geld, 
und  ich  k  a  n  n  m  ich  nicht  entschließ  e  n,  ebensowenig 
wie  meine  Parteigenossen  im  (lemeinderat,  der  Gemeinde  die 
Mittel  zu  versagen,  um  aus  dieser  Notlage  heraus- 
z  u  k  o  m  m  e  n.  Aber  wir  können  auch  nicht  dafür  stimmen.  Wir 
können  nicht  einen  Teil  der  Verantwortung  übernehmen. 

Wir  wünschen  und  hoffen,  daß  dieses  große  Unternehmen  der 
Kommune  möglichst  zugunsten  der  Kommune  ausfalle,  und  ich  kann 
Ihnen  sagen:  Ganze  Säcke  von  Lorbeer  lassen  wir  Sie  ruhig  ver- 
zehren. Es  geniert  uns  nicht,  wenn  Sie  sich  dick  und  breit  machen 
aus  Ruhm  über  diese  Sachen,  wenn  wir  nur  durch  genaues  Auf- 
merken auf  jede  Einzelheit  und  durch  unsere  Kritik  eine  Verbesse- 
rung möglich  machen. 

Erlauben  Sie,  daß  ich  zum  Schluß  auf  den  Gegenstand  zurück- 
komme, der  mir  am  meisten  am  Herzen  liegt.  Vergessen  Sie  nicht, 
daß  die  Gemeinde  es  mit  8  00  0  Bediensteten  zu  tun  haben 
wird,  denen  sie  sich  verpflichtet  hat,  gewiß  sehr  be- 
scheidene K  o  n  z  e  s  s  i  o  n  e  n  z  u  m  a  c  h  e  n,  I  c  h  würde  es 
bedauern,  nicht  für  Sie  persönlich,  aber  im  Inter- 
esse des  Ansehens  und  der  Ehre  der  Kommune 
Wien,  wenn  dieses  feierliche  Versprechen  nicht 
gehalten  werden  würde! 

Die  Landtagswahlen. 

V  e  r  t  r  a  u  e  n  s  m  ä  nnervers  a  m  m  1  u  n  g  a  m  3  1.  Mär  z 

1902*). 

Sie  sind,  heute  zusammenberufen  worden,  um  sich  mit  der  Vor- 
bereitung einer  Aktion  zu  beschäftigen,  die  Sie  für  die  nächsten 
Monate  vollauf  in  Anspruch  nehmen  wird.  Wir  wissen  noch  nicht, 
wann    die   Landtagswahlen    stattfinden  werden,    aber    es    ist    sehr 

)  Die  Lebensdauer  des  niederösterreichischen  Landtages  lief  im 
Sommer  1(>02  ah  und  mit  sieben  anderen  Landtagen  wurde  er  am  S.  Sep- 
tember 1902  aufgelöst.  Aber  schon  lange  vorher  hatten  alle  Parteien  ihre 
Vorbereitungen   getroffen.    Bereits    am   31.   März    traten    die    sozialdemo- 


152  Adler  im  Landtag. 


wahrscheinlich,  daß  das  in  der  zweiten  Hälfte  des  Monats  September*) 
sein  wird.  Wir  haben  uns  auch  schon  früher  an  Landtasswahlen  be- 
teiligt. Aber  unser  Eingreifen  hatte  in  früheren  Jahren  mehr  einen 
agitatorischen,  einen  demonstrativen  Zweck.  Diesmal  ist  es  anders. 

Sie  wissen,  daß  unser  Ruf  nach  Erweiterung  des  Wahlrechtes 
für  den  Landtag  erfolglos  geblieben  ist,  obwohl  der  Landtag  von 
einer  Partei  beherrscht  wird,  die  sich  immer  rühmt,  das  gleiche 
Wahlrecht  anzustreben.  Das  erklärt  Dr.  Lueger  überall,  wo  er  es 
erklären  kann,  aber  wo  er  es  ins  Werk  setzen  könnte,  verhindert 
er  es  mit  allen  Mitteln  der  List  und  der  jesuitischen  Schlauheit  und, 
wenn  es  sein  muß,  der  Brutalität.  Jetzt  hat  er  sich  übrigens  dahin 
entschieden,  nur  für  eine  kastrierte  Form  des  allgemeinen  Wahl- 
rechtes zu  schwärmen,  nämlich  mit  der  fünfjährigen  Seßhaftigkeit, 
aber  auch  nur  dann,  wenn  er  keine  Aussicht  hat,  es  durchsetzen  zu 
können.  Nun  aber  hat  sich  trotzdem  der  Kreis  der  Wahlberechtigten 
erweitert.  Durch  die  Einführung  der  Personaleinkommensteuer  sind 
die  bessergestellten  Schichten  der  Arbeiter  wahlberechtigt  ge- 
worden, und  durch  die  Wiener  Gemeindewahlreform**)  —  die  die 
Arbeiter  in  der  Gemeinde  nahezu  rechtlos  macht,  in  der  Gemeinde 
also  wirklich  ein  W  a  h  1  r  e  c  h  t  s  r  a  u  b  ist  —  ist  in  Wien  das 
Landtagswahlrecht  einigermaßen  ausgedehnt  worden.  Da  wir  nun 
ein  Wahlrecht  haben,  werden  wir  es  auch  überall  ausüben,  und  wir 
werden  —  darüber  besteht  kein  Zweifel  —  das  politische  Haupt- 
gewicht darauf  legen,  diejenigen  zu  besiegen,  die  politisch,  kulturell 
und  sittlich  unsere  größten  Feinde  sind.  Wir  werden  den  Kampf 
in  allererster  Linie  gegen  die  Christlichsozialen  führen.  (Lebhafter 
Beifall.) 

Aber  wir  wollen  den  Kampf  nicht  nur  gegen  die  Chi  istlich- 
sozialen  führen,  sondern  auch  für  die  Sozialdemokratie, 
nicht  nur  gegen  das  Uurecht,  sondern  auch  für  das  Recht  des 
Volkes.  Aber  wir  wollen  diesen  Kampf  nicht  führen  als 
einen  Teil  irgendeines  freisinnigen  Breies  von 
Parteien,  nicht  als  verschwindender  Teil  einer  Koalition,  deren 
Bestandteile  durchaus  nicht  alle  sehr  appetitlich  sind.  (Beifall.)  Wir 
wollen  als  Sozialdemokraten  für  die  Arbeiterklasse  kämpfen,  und 
sofern  wir  dabei  genötigt  sein  werden,  in  einer  Linie  mit  anderen 
Leuten  zu  kämpfen,  dann  werden  wir  niemals  das  Bewußtsein  ver- 
lieren, daß  diese  Leute  mit  uns  nichts  anderes  ge- 
mein haben  als  den  Wunsch,  die  Luegerei  zu 
stürzen,  mit  uns  aber  nicht  mehr  das  Ziel  gemeinsam  haben, 
an  die  Stelle  dieser  Luegerei  ein  wirklich  volkstümliches  Regiment 
zu  setzen.  Wir  können  nichts  anderes  sein,  als  der  Dritte,  der  sich 
freut,  wenn  eine  Clique  durch  die  andere  gesprengt  wird,  der  aber 


kratischen  Vertrauensmänner  aus  ganz  Niederösterreich  im  Hotel  Wim- 
berger  zu  einer  Beratung  über  die  Vorbereitung  des  Wahlkampfes  zu- 
sammen. Adler,  der  einzige  Landtagsabgeordnete,  hielt  das  einleitende 
Referat. 

*)  In  Wirklichkeit  haben  die  Wahlen  erst  im  November  stattgefunden. 
**)  Siehe  Adlers  Rede  am  14.  Mai  1901  zur  damaligen  Landtagswahl  in 
Favoriten  in  diesem  Kapitel. 


I  >ie   l  andtagswahlen.  I  ' 

durchaus  nicht  geneigt  Ist,  die  andere  Clique  auf  den  Schild  /u  er- 
heben. (Lebhafter  Beifall.) 

Wir  haben  jetzl  schon  mehrere  Wahlschlachten  geschlagen,  und 
wir  haben  dabei  gelernt,  daß  man  mit  der  Begeisterung  allein  ein« 

Schlacht  nicht  gewinnen  kann,  wir  haben  gelernt,  daß  die  großen 
Versammlungen  allein  agitatorisch  vielleicht  sehr  mit/lieh  aber 
für  den  Ausfall  der  Wahl  nicht  entscheidend  sind,  und  wir  wissen 
jetzt,  daß  bei  den  Wahlen  nicht  so  sehr  die  Agitation  in  Frage 
kommt  als  die  ()  r  g  a  n  is  atio  n,  nicht  so  sehr  die  große  Auf- 
klärungsarbeit in  Massenversammlungen  wenn  wir  diese  auch 
nicht  einen  Augenblick  vernachlässigen  dürfen  ,  sondern  d  i  e 
Kleinarbeit  von  Mann  zu  Mann.  Darum  fordere  ich  Sie 
auf,  schon  heute  ohne  Hast,  aber  ohne  Rast  an  die  Arbeit  zu  gehen. 
Alle  Achtung  vor  unserem  Vertrauensmännersystem,  aber  es  wird 
doch  so  mancher  Ergänzung  bedürfen.  Es  wird  wohl  nicht  wenig 
Vertrauensmänner  geben,  die  nicht  im  Besitze  einer  geschlossenen 
numerierten  Liste  der  wahlfähigen  Leute  stehen.  Wir  können  uns 
nicht  darauf  verlassen,  daß  uns  unsere  Gegner  anständige  Wähler- 
listen zusammenstellen,  darum  ist  es  unsere  Sache,  diese  Arbeit  selbst 
zu  besorgen  und  selbst  eine  vollständige  Liste  aller 
Arbeiterwähler  anzulegen.  Das  ist  ein  sehr  langweiliges 
Geschäft,  aber  ich  halte  es  doch  für  das  Wichtigste,  und  ich  mache 
jeden  einzelnen  von  Ihnen  dafür  verantwortlich,  daß  das  auch 
genau  durchgeführt  werde.  In  den  Händen  der  Ver- 
trauensmänner liegt  das  Wahlrecht  der  Arbeiter, 
und  wenn  einzelne  Arbeiter  ihr  Wahlrecht  ohne  Not  verlieren,  so 
ist  daran  der  Vertrauensmann  vor  allem  schuld. 

Was  die  Aufstellung  von  Kandidaten  betrifft,  so 
werden  wir  in  allen  Bezirken,  wo  wir  Aussicht  haben,  unser  Ge- 
wicht bei  der  ersten  oder  bei  der  engeren  Wahl  geltend  zu  machen, 
Kandidaten  aufstellen  müssen*).  Aber  bei  unseren  nicht  allzu  großen 
Mitteln  ist  es  selbstverständlich,  daß  wir  unsere  Kräfte  nicht  zer- 
splittern und  nicht  vergeuden  dürfen  für  aussichtslose  Bezirke.  Ich 
meine  damit  nicht  etwa,  daß  wir  nur  in  sicheren  Bezirken  Kandi- 
daten aufstellen  dürfen.  Wir  haben  schon  oft  kandidiert  und  sind 
schon  oft  durchgefallen.  (Heiterkeit.)  Aber  wir  dürfen  nicht  in  Be- 
zirken, wo  man  erst  durch  die  Wahlagitation  die  Organisation 
schaffen  will,  Kandidaten  aufstellen.  Das  ist  nicht  möglich,  daß  der 
Kandidat  das  Karnikel  ist,  das  man  ausnützt,  um  Versammlungen 
abzuhalten,  die  man  seit  Jahren  nicht  hatte.  Wir  müssen  unsere 
Kampfmittel  genau  abschätzen,  und  es  wird  Sache  der  Vertrauens- 
männer sein,  im  Einvernehmen  mit  dem  Landesausschuß  in  jedem 
einzelnen  Falle  zu  entscheiden. 


*)  Man  darf  nicht  vergessen,  daß  es  sich  bei  diesen  Wahlen  im  Wesen 
um  Zensuswähler  handelte,  da  nur  in  Wien  das  Wahlrecht  eine  etwas 
breitere  Basis  hatte.  In  Wien  wurden  dann  in  allen  Bezirken,  mit  Ausnahme 
der  Inneren  Stadt,  Kandidaten  aufgestellt,  in  der  Provinz  nur  in  den  drei 
Städtewahlkreisen  Floridsdorf,  Wiener-Neustadt  und  Korneuburg  sowie  in 
dem  Landkreis  Waidhofen  an  der  Thaya.  Über  das  Ergebnis  wird  späte; 
beriehtet. 


154  Adler  im  Landtag. 


Wir  wissen  im  vorhinein,  daß  die  Christlichsozialen  von  unseren 
Beschlüssen  nicht  allzu  sehr  entzückt  sein  werden,  und  Sie  werden 
morsen  in  den  christlichsozialen  Blättern  lesen  können,  daß  wir 
eine  Abteilung  der  großen  vereinigten  Judenarmee  sind.  (Heiter- 
keit.) Ein  Jud  ist  nämlich  jeder,  der  den  Lueger  nicht  für  den  größten 
Mann  dieses  Jahrhunderts  hält.  Diesem  Schicksal  entgehen  wir  also 
nicht,  und  jene  Genossen,  die  etwa  in  dieser  Beziehung  noch  emp- 
findlich sind,  die  noch  nicht  so  gewöhnt  sind,  beschimpft  zu  werden, 
die  sollen  zu  Hause  bleiben.  (Heiterkeit  und  Beifall.)  Denn  „Jud". 
das  ist  das  einzige  Schlagwort,  das  die  Christlichsozialen  zur  Ver- 
fügung haben.  Ihr  politisches  Programm  haben  sie,  insofern  es  ein 
demokratisches  war,  offenkundig  verraten,  ihr  wirtschaftliches  Pro- 
gramm haben  sie  sich  unfähig  erwiesen,  durchzuführen,  und  sie 
haben  damit  bitterste  Enttäuschung  in  den  Massen  des  Kleinbürger- 
tums geschaffen.  Was  bleibt  ihnen  also  übrig,  wenn  sie  in  den 
Kampf  gehen,  als  das  alte  Wort:  Jud!  (Beifall.) 

In  diesem  Wahlkampf  haben  wir  zwei  Ziele :  Wir  wollen  so  viele 
Sozialdemokraten  in  den  Landtag  bringen,  als  wir  können,  und  wir 
wollen  so  wenig  Christlichsoziale  hinein  bringen,  als  nur  möglich 
ist.  Wir  werden  keine  Alliance  und  keine  Vereinbarung  mit  einer 
anderen  Partei  eingehen,  aber  in  allen  jenen  Bezirken,  wo  wir  bei 
einer  engeren  Wahl  zu  entscheiden  haben  zwischen  einem  Christ- 
lichsozialen und  wem  immer,  mag  er  heißen  wie  er  will,  mag  er  sein 
wer  er  will,  werden  wir  unseren  Einfluß  aufbieten,  um  gegen  die 
Christlichsozialen  zu  entscheiden.  (Lebhafter  Beifall.)  Das  ist  kein 
Bündnis.  Wir  lassen  uns  von  den  anderen  dafür  gar  nichts  ver- 
sprechen, und  wir  wissen  genau,  daß  in  einzelnen  Bezirken,  w  o  e  s 
zwischen  einem  Sozialdemokraten  und  einem 
Christlich  sozialen  zu  einer  engeren  Wahl 
k  o  m  m  e  n  wird,  dieselben  Leute,  die  sich  heute  als 
Freisinnige  und  als  die  größten  Feinde  Luegers 
gebärden,  für  die  Christlich  sozialen  stimmen 
w  erde  n.  Im  entscheidenden  Moment  werden  sie  sich  finden,  die 
doch  nichts  anderes  sind  als  zusammengehörige  Leute  derselben 
herrschenden  Klasse.  Wir  wissen  ganz  genau,  daß  auf  diese  Leute 
gar  kein  Verlaß  ist,  und  daß  wir  bei  jeder  Gelegenheit  von  ihnen 
werden  verraten  werden.  Aber  wir  stimmen  ja  nicht  für 
die  „Freisinnige  n",  um  ihnen  zu  nützen,  sondern 
nur  um  uns  zu  nützen.  Wir  tun  es  mit  Haß  und  Verachtung 
für  diejenigen,  die  wir  hineinwählen  (lebhafter  Beifall),  und  wir 
machen  nirgends  ein  Hehl  daraus.  Die  Masse  der  Arbeiterschaft  soll 
nicht  verlernen,  die  zu  kennen,  denen  sie  helfen  muß,  und  es  soll 
kein  Mißverständnis  bestehen  darüber,  wer  ihre  Freunde  und  wer 
ihre  Feinde  sind.  Es  handelt  sich  bei  den  Wahlen  nicht  allein  darum, 
in  den  Landtag  einzudringen,  sondern  es  handelt  sich  vor  allem  um 
einen  politischen  Vorstoß.  Es  handelt  sich  darum,  die  Kon- 
sequenzen aus  dem  zu  ziehen,  was  sich  in  den  letzten  Jahren  in 
Niederösterreich  ereignet  hat.  Wir  wollen  sehen,  wie  stark  wir  ge- 
worden sind,  und  wir  wollen  auch  sehen,  wie  groß  die  Enttäuschung 


I  He  Eingemeindung  s  on  Ploi  idsdoi  f.  155 


geworden  isl  bei  den  von  den  Christlichsozialen  betrogenen 
Schichten. 

Die  Christlichsozialen  sind  das  nach  links  detachierte  Korps  der 
Klerikalen.  Aher  es  ist  nicht  das  ärgste,  daß  sie  klerikal  sind;  man 
kann  klerikal  sein  und  dabei  doch  ein  anständiger  Mensch,  ja  es 
gibt    sogar    klerikale  Parteien,    die    anständig    sind  in    anderen 

Ländern  wenigstens,  hier  in  Österreich  kenne  ich  keine  solche. 
(Heiterkeit.)  Klerikal  sein  muß  nicht  einmal  den  äußersten  Qrad  der 
Reaktion  bedeuten.  Aher  unsere  Linksklerikalen,  die  Christlich- 
sozialen,  die  vereinigen  in  sich  nicht  nur  den  Klerikalismus  in  seiner 
borniertesten  Form,  sondern  auch  in  seiner  perfidesten  Form.  Ihr 
Kampf  ist  der  nie  d  e  r  t  r  ä  c  h  t  i  g  s  t  e  K  a  m  p  f  g  e  g  e  n  d  a  s 
Werdende,  den  das  Absterbende  führt.  Das  Wort 
„Reaktion"  klingt  heute  etwas  abgebraucht,  aber  wer  gesehen  hat, 
wie  sich  diese  angebliche  Volkspartei  gegen  die  Arbeiter  von  Triest*) 
gestellt  hat.  wer  Ohren  hat  dafür,  welche  Töne  dabei  laut  geworden 
sind,  der  weiß,  daß  die  Christlichsozialen  nicht  nur  Klerikale  sind, 
sondern  daß  sie  die  infamste  reaktionäre  Kanaille  sind,  die  es  gibt. 
Und  gegen  diese  geht  unser  Kampf  bei  diesen  Wahlen.  (Stürmischer 
Beifall.) 

Die  Eingemeindung  von  Floridsdorf.**) 

Landtag,    16.  Juli    1902. 

Wir  stellen  in  einer  sehr  langen  Debatte,  aber  ich  glaube,  daß 
diese  Debatte  eigentlich  nicht  mehr  so  notwendig  ist,  als  sie  uns 
noch  vor  einer  Woche  erschien.  Heute  sind  wir  eben  alle,  mit 
wenigen  Ausnahmen,  über  den  Plan,  das  linke  Donauufer  ein- 
zuverleiben, im  allgemeinen  einer  Meinung,  über  die  Art  der 
Durchführung  braucht  aber  heute  nicht  mehr  viel  gesprochen  zu 
werden,  weil  die  Überrumpeln  n  g,  die  der  Bürgermeister 
Dr.  Lueger  versucht  hat,  heute  schon  vereitelt  ist.  Ich  bin  im 
Gegensatz    zu    meinem    verehrten    Freunde    Dr.  Kr  on  a  w  e  1 1  e  r 


*)  Über  die  Schüsse  von  Triest,  durch  die  am  14.  und  15.  Februar  1902 
zehn  Arbeiter  getötet  und  fünfzehn  schwer  verletzt  wurden,  siehe  die 
Bemerkungen  zu  Adlers  Rede  auf  dem  Parteitag  1902  über  das  System 
Körber,  Bd.  VIII,  Seite  225,  aber  auch  die  Rede  zur  Märzfeier  am  12.  März 
190?  im  Kapitel  von  der  Pa  r  t  e  i  ge.s  c  nicht  e  in  diesem  Hand. 

"')  Die  Wiener  Christlichsozialen  halten  angeblich,  um  bei  dem  bevor- 
stehenden Hau  des  Donau-Oder-Kanals,  der  bei  Floridsdorf  beginnen  sollte, 
die  Mündung  des  Kanals  in  Wien  zu  haben  und  an  dem  erhofften  Auf- 
schwung des  linken  Donauufers  Anteil  zu  haben,  die  Eingemeindung  von 
zwölf  Gemeinden,  darunter  auch  Floridsdorf,  zu  Wien  beantragt.  In  Wirk- 
lichkeit planten  sie  einen  großen  W.ahlschwindel.  Die  Wahlen  in  die  Ge- 
meindevertretung von  Floridsdorf,  die  im  Herbst  stattfinden  sollten. 
sollten  verschoben  werden.  Außerdem  sollte  die  Eingemeindung  erfolgen, 
um  durch  die  bäuerlichen  Stimmen  der  neuen  Wähler  den  Sozialdemokraten 
Eintrag  zu  tun.  Da  aber  die  Regierung  sich,  weigerte,  die  materiellen 
Wirkungen   des   Proiekts   auf  sich   zu   nehmen,   müßten   sich   die   Christlich- 

iilen    schließlich    damit    begnügen,    für    einen   Antrag    des  Großgrund- 


156  \6\er  im  Landtag. 


der  Ansicht,  daß  es  wirklich  im  Sinne  einer  voraussehenden 
Gemeindepolitik  liegt,  beizeiten  eine  Vereinigung  von  Floridsdorf 
mit  Wien  vorzubereiten.  Aber  das  Unglück  der  gegenwärtigen 
Verwaltung  von  Wien  und  der  Majorität  des  Landtages  ist,  daß  sie 
ganz  vernünftige  Dinge  mit  so  viel 

Parteiegoismus  und  kleinlicher  Fraktionspoütik 

versetzt,  daß  die  Sache,  um  die  es  sich  handelt,  dabei  zu  Schaden 
kommt.  Als  ich  zum  erstenmal  die  Anträge  las,  die  Dr.  Lueger  im 
(iemeinderat  vertreten  hat,  bin  ich  auf  die  Idee  gekommen,  daß 
der  Dr.  Lueger  die  Einverleibung  gar  nicht  will.  Der  ärgste 
Feind  der  ganzen  Aktion  hätte  nicht  anders 
handeln  können  als  Dr.  Lueger,  indem  er  alle  möglichen 
anderen,  damit  gar  nicht  zusammenhängenden  Dinge  verknüpft 
hat.  Dr.  Lueger  hat  damit  nicht  nur  eine  ungeheuerliche  Aus- 
dehnung von  Wien  verknüpft,  die  mit  dem  wirtschaftlichen  Be- 
dürfnis der  Stadt  gar  nichts  zu  tun  hat,  er  hat  damit  aber  auch 
eine  Änderung  des  Wiener  Gemeindestatuts  vereinigt,  die  ein 
großes  Hindernis  für  die  Aktion  bedeuten  mußte.  Dr.  Lueger  weiß 
so  gut  wie  ich,  daß,  wenn  er  einfach  die  Eingemeindung  von 
Floridsdorf-Stadlau,  den  paar  Gemeinden  an  der  Donau,  in  Angriff 
genommen  hätte,  weder  die  Regierung  noch  die  Bevölkerung  da- 
gegen einen  solchen  Widerstand  hätte  leisten  können,  und  er  mußte 
vorhersehen,  daß  er  dadurch  gewisse  Schichten  des  Bürgertums, 
deren  Einfluß  einmal  besteht  und  leider  nicht  aus  der  Welt  zu 
schaffen  ist,  zwingt,  gegen  das  ganze  Projekt  zu  sein.  U  n  d  s  o 
stark,  so  hinreißend  ist  diese  Idee  der  Ein- 
verleibung nicht,  daß  sie  die  Belastung  mit  allen  diesen 
Dingen  vertragen  könnte. 

Ich  verstehe  es  psychologisch  sehr  gut,  wie  man  dazu  ge- 
kommen ist.  Dr.  Lueger  hat  leider  einen  Zustand  von 

Allmachtsbewußtsein 

erlangt,  daß  er  meint,  es  gäbe  nichts,  was  ihm  nicht 
möglich  ist,  und  dieser  Übermut  verschafft  ihm  hier  eine 
Niederlage,  wo  er  leicht  einen  großen  Sieg  hätte  erringen  müssen, 
wenn  er  ein  bißchen  vernünftig  gewesen  wäre,  und  wTenn  er  nicht 

besitzerabgeordneten  Fürsten  Schwarzenberg  zu  stimmen,  der 
neuerliche  Verhandlungen  mit  allen  Beteiligten  verlangte.  Außerdem  aber 
beschlossen  sie  die  Verschiebung  der  Gemeindewahlen  in  Floridsdorf.  Es 
nützte  ihnen  allerdings  nichts,  bei  den  Gemeindewahlen  erlangten  die 
Sozialdemokraten  die  Mehrheit  in  Floridsdorf.  Bei  den  Landtagswahlen  im 
Herbst  1902  wurde  in  Floridsdorf  der  Sozialdemokrat  Karl  S  e  i  t  z  mit  1549 
Stimmen  gegen  den  christlichsozial-deutschnationalen  Kandidaten  Doktor 
Richter,  der  nur  1170  Stimmen  erhielt,  gewählt.  Obwohl  Adler  sein  Mandat 
in  Favoriten  verlor,  war  die  Sozialdemokratie  also  im  Landtag  doch  durch 
einen  Abgeordneten  vertreten. 

Am  10.  Jänner  1905  kam  die  Vereinigung  Floridsdorf  mit  Wien  doch 
zustande,  allerdings  auf  einer  vernünftigeren  Grundlage.  Floridsdorf  war 
fortan  der  21.  Wiener  Gemeindebezirk  und  ein  Bollwerk  der  Sozialdemo- 
kratie. 


I  He  Eingemeindung  \  on  Ploridsdorf.  '  " 

als  Häuptling  seiner  Partei  gehandelt  hätte,  sondern  als  pflicht- 
bewußter Anwalt  der  Interessen  von  Wien  Wir  haben  heute  die 
Antwort  der  Regierung  gehört,  und  ich  muß  gestehen,  sie  hat  mir 
wenig  Freude  gemacht,  weil  ich  daraus  ersehe,  dal.;  die  R  e  g  i  e- 

r  U  n  g  gegen  dieses  Projekt  eine  weit  st  ä  r  k  e  r  e 
Abneigung  empfindet,  als  ich  es  im  Interesse 
der  Bevölkerung  wünschen  würde.  Aber  wer  hat 
es  der  Regierung  leicht  gemacht,  sich  so  ablehnend  zu  verhalten? 
Nur  die  ganz  verfehlte  T  a  k  t  i  k  d  e  s  B  ii  r  g  e  r  m  e  i  s  t  e  r  s ! 
Die  materiellen  Anforderungen  sind  der  Regierung  (Jas  wichtigste 
Bedenken.  Sie  will  nichts  hergeben. 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  So  ist  es! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Sie  können  aber,  vereintester  Herr 
Bürgermeister,  Ihren  Angriff  nicht  gegen  diese  unberechtigte 
Zurückhaltung  der  Regierung  richten,  weil  die  Regierung  neben 
dieser  unberechtigten  Verweigerung  eine  ganze  Menge  Punkte 
anführen  kann,  wo  sie  recht  hat;  Sie  haben  es  ihr  leicht 
gemacht,  Nein  zu  sagen.  Wir  haben  jetzt  eine  Reihe  von 
Rednern  gehört,  aber  keiner  hat  erklärt,  daß  er  überhaupt  nicht 
mit  der  Einverleibung  des  linken  Donauufers  einverstanden  wäre, 
mit  Ausnahme  des  Dr.  Kronawetter,  dessen  Interesse  für  die 
Menschen  und  für  die  Dinge,  wie  es  scheint,  dort  aufhöre,  wo  die 
Gemeindegrenzen  von  Wien  liegen.  Ich  muß  offen  sagen,  daß  ich 
diese  engherzige  Auffassung  nicht  teile.  Die  Vereinigung  von 
Floridsdorf  mit  Wien  wird  heute  beschlossen  werden,  genau  so, 
wie  Sie  es  wünschen,  nämlich  im  Prinzip. 

Wir  haben  einen  Referentenentwurf,  wo  uns  gesagt  wird:  „Wir 
wissen  gar  nichts  über  die  Sache,  es  liegt  alles  noch  im  unklaren. 
Der  Landesausschuß  war  noch  nicht  in  der  Lage,  sich  zu  in- 
formieren, der  Landtag  ebensowenig;  aber  gerade  darum,  weil  wir 
nichts  über  die  Sache  wissen,  muß  sofort  und  unzweideutig  die. An- 
schauung der  Landesvertretung  zum  Ausdruck  gebracht  wer- 
den." —  Soweit  das  richtig  ist,  können  wir  gehen,  soweit  man 
nämlich  eine  Meinung  haben  kann  ohne  Kenntnis  der  Einzelheiten 
und  ohne  nähere  Prüfung,  das  heißt,  wir  können  den 

platonischen  Beschluß  lassen: 

Wir  wünschen,  daß  die  Vereinigung  studiert 
werde,  und  daß  uns  der  L  a  n  d  e  s  a  u  s  s  c  h  u  ß  seiner- 
zeit Vorschläge  mache.  Aber  wir  können  keine  Frist 
setzen,  und  wir  können  auch  nicht  das  (iebiet  bezeichnen,  das 
einverleibt  werden  soll. 

Wenn  man  die  Rede  des  Dr.  Lueger  im  Gemeinderat  liest,  so 
müßte  man  auf  die  Meinung  kommen,  daß  Dr.  Lueger  mehr  oder 
weniger  zufällig  die  Gemeinden  bestimmt  hat,  die  einverleibt  wer- 
den sollen:  Wir  haben  Strebersdorf  genommen,  und  weil  wir  zu- 
fällig dabei  waren,  haben  wir  auch  die  Stammersdorfer  dazu- 
genommen,  die  das  gewollt  haben.  Er  hat  selbst  erzählt,  wie  ver- 
wundert er  war,  als  die  Stammersdorfer  zu  ihm  kamen.  Aber  wenn 


158  Adler  im  Landtag. 


die  es  wollen,  warum  sollen  wir  nicht  wollen?  (Heiterkeit.)  So  ist 
auf  die  gemütlichste  Weise  das  Ganze  zusammengekommen.  Es 
sieht  beinahe  so  aus,  als  ob  es  sich  um  die  Zusammenstellung  einer 
Kegelpartie  handle  und  nicht  um  die  Zusammensetzung  eines  so 
großen  Verwaltungsgebietes.  Aber  man  muß  sich  nicht  gar  zu  sehr 
an  das  halten,  was  Dr.  Lueger  im  Gemeinderat  gesagt  hat.  Über 
die  Politik  des  Christlichsozialen  erfahren  wir  weniger  aus  den 
offiziellen  Reden  als  aus  den  Vcrsammlungsredcn.  Da  haben  wir 
nun  aus  dem  Munde  des  Herrn  Bürgermeisters  erfahren:  Stammers- 
dorf,  Strebersdorf  und  die  anderen  Gemeinden  müssen  zu  Wien 
kommen,  um 

die  paar  tausend  Sozialdemokraten  umzubringen. 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Ja,  natürlich. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Wenn  Sie  sich  nur  als  Führer  Ihrer 
Partei  betrachten,  der  sich  gar  kein  Gewissen  daraus  macht,  wie 
die  Dinge  in  Wirklichkeit  aussehen,  dann  ist  es  natürlich,  daß  Sie 
sagen:  Hier  haben  wir  zu  wenig  Wähler,  nehmen  wir  sie  also  von 
anderswo  dazu.  Das  ist  ganz  einfach.  Aber  ich  muß  Ihnen  schon 
sagen:  Wir  Sozialdemokraten,  die  die  Geschichte  etwas  näher 
angeht,  können  uns  auf  diesen  einseitigen  Standpunkt  nicht  stellen. 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Sie  stellen  sich  auf  Ihren  ein- 
seitigen Standpunkt! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Wenn  wir  bloß  von  unserem  Partei- 
standpunkt ausgehen  würden,  so  würden  wir  sagen:  Lassen  wir 
den  Dr.  Lueger  nur  machen,  das  ist  ganz  gesund  für  uns.  Es  würde 
jetzt  in  Floridsdorf  nicht  gewählt  werden.  Dafür  aber  würden  wir 
eine  Gelegenheit  bekommen  zur  Landagitation,  wie  sie  Sozial- 
demokraten überhaupt  noch  nie  innerhalb  der  Grenzen  einer  Groß- 
stadt hatten,  mit  allen  Behelfen,  die  die  Großstadt  bietet.  An  diesem 
Beispiel  und  an  Ihren  eigenen  Werken  würden  wir  den  Leuten 
zeigen,  welche  Grundsatzlosigkeit  Sie  leitet,  wir  würden  zeigen, 
wie  wenig  es  Ihnen  um  die  wirklichen  Bedürfnisse  der  Bevölkerung 
zu  tun  ist  und  wie  wenig  Sie  imstande  sind,  eines  der  großen 
Worte  wahr  zu  machen,  die  Sie  immer  vorgebracht  haben.  Das 
allen  Wienern  zu  zeigen,  die  unter  Ihrer  Herrschaft  sind,  das  wäre 
sehr  verlockend  für  uns,  und  von  unserem  Parteistandpunkt  könnte 
uns  gar  nichts  Besseres  passieren,  als  wenn  Sie,  Herr  Dr.  Lueger, 
unbeschränkter  Herrscher  über  ganz  Niederösterreich  wären. 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Das  wäre  sehr  gesund. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Aber  viel  mehr  gesund  für  uns  als 
für  Sie.  Denn  dann  würde  die  Bevölkerung  erst  erkennen,  welcher 
Widerspruch  zwischen  Ihren  Worten  besteht  und  —  nicht  Ihren 
Taten  — ,  sondern  Ihrer  Fähigkeit,  die  Worte  zu  Taten  zu  machen. 
Aber  die  Sache  ist  heute  erledigt.  So  groß  wird  der  21.  Bezirk 
kaum  werden,  und  Sie  werden  die  paar  Sozialdemokraten  da 
drüben  auch  noch  schlucken  müssen,  so  unangenehm  Ihnen  das 
auch  sein  mag. 


Die  Eingemeindung   von  Floridsdorf. 


Abgeordneter  Dr.  Lueger:  So  werden  wir  sie  halt  hinunter- 
würgen. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ich  gestehe  Ihnen  allerdings,  daß  ich 
mich  hier  in  einem  kleinen  Gegensatz  zu  meinen  Parteigenossen  in 
Floridsdorf  befinde.  Ich  und  unser  Parteiorgan  sind  verpflichtet,  die 
Angelegenheit  rein  sachlich  von  das  Ganze  fassenden  Gesichts- 
punkten zu  betrachten,  unsere  Parteigenossen  in  Floridsdorf  sind 
aber,  mehr  als  ich  wünsche,  beherrscht  von  der  negativen  Sehn- 
sucht, mit  Ihrer  Verwaltung  in  nähere  Berührung  zu  kommen. 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Das  glaube  ich  sehr  gern,  weil  ich 
ihnen  zeigen  werde,  wo  der  Zimmermann  das  Loch  gelassen  hat, 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Sie  haben  noch  niemand  etwas  ge- 
zeigt; und  wenn  Sie  etwas  zeigen,  kommt  es  noch  auf  den  anderen 
an,  was  er  mit  Ihrem  Kommando  macht.  Unter  Ihrer  Herrschaft 
hat  die  Zahl  der  Sozialdemokraten  nicht  abgenommen,  regieren  Sie 
also  ruhig  weiter.  Ich  bin  überzeugt,  daß  die  Sozialdemokraten 
noch  weiter  zunehmen  werden.  Also  Sie  können  uns  gar  nichts 
zeigen.  Aber  ich  begreife,  daß  die  Floridsdorfer  Arbeiter  keine 
Sehnsucht  danach  haben  und  sagen:  Was  geht  das  uns  an,  das  ist 
eine  Sache  der  Zukunft.  Heute  aber  haben  wir  von  der  Vereinigung- 
gar  nichts  weiter,  als  daß  wir  höhere  Steuern  zahlen 
müssen  und  daß  die  Zinskreuzer  erhöht  werden,  wie  es 
tatsächlich  jetzt  schon  geschieht  mit  Rücksicht  auf  die  kommende 
Vereinigung.  Wir  haben  nichts  davon,  als  daß  man  uns  unser 
Wahlrecht  konfisziert  im  Luegerschen  Sinne. 
Es  gehört  tatsächlich  eine  große  Überwindung  dazu,  und 
man  muß  wirklich  das  üesamtinteresse  ins  Auge  fassen,  um  trotz- 
dem für  die  Vereinigung  zu  sein.  Ich  antworte  meinen  Floridsdorfer 
Genossen :  Ich  bin  trotzdem  für  die  Vereinigung, 
allerdings 

nicht  in  dieser  unvernünftigen,  unwürdigen,  überstürzten  Weise, 

wie  Sie  sie  machen  wollen  . . . 

Abgeordneter  Sturm:  Das  ist  echt  jüdisch! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  ...nicht  in  dieser  unsinnigen  W'eise. 
Ich  bin  dafür,  daß  man  die  Verhältnisse  jeder 
einzelnen  Gemeinde  prüft  und  zu  Wien  nur  die  Ge- 
meinden dazuschlägt,  bei  denen  es  für  beide  von  Vorteil  ist.  Frei- 
lich, da  drüben  bei  Ihnen  wird  gesagt:  Ah  was,  studieren! 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Ihr  seids  ja  lauter  durchgefallene 
Studenten. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ich  will  nicht  prunken,  ich  habe  es 
nicht  notwendig,  gerade  ich  bin  nicht  durchgefallen.  Vielleicht 
haben  Sie  drüben  mehr  Durchgefallene.  (Heiterkeit.)  Sie  werden 
damit  kein  Glück  haben.  Die  Zeiten  sind  vorbei,  wo  Sie  das 
Studieren  verächtlich  machen  konnten.  Es  hat  eine  Zeit  gegeben, 
wo  einer   von   Ihren   Freunden   gesagt  hat:   „Wenn  ich  ein  Büchel 


160  Adler  im  Landtag. 


sei)',  hab'  ich  schon  g'fressen*)!"  Damals  hat  das  Ilinen  gefallen. 
Aber  ich  glaube,  das  ist  vorbei,  und  Sie  wären  sehr  froh,  wenn  Sie 
nur  ein  paar  Leute  mehr  hätten,  die  verstehen  zu  studieren.  Der 
Überfluß  an  tüchtigen  Leuten,  die  etwas  gelernt  haben  und  die 
imstande  wären,  die  große  Gemeinde,  die  Sie  in  die  Hand  be- 
kommen haben,  zu  verwalten,  ist  bei  Ihnen  nicht  so  groß,  und  es 
steht  Ihnen  gar  nicht  gut,  das  Studieren  so  zu  verachten.  Freilich, 
Sie  haben  recht,  wenn  Sie  sagen:  Wir  studieren  nicht,  wir  haben 
es  nicht  notwendig,  der  Lueger  hat  es  gesagt,  und  jetzt  wird  es 
gefressen,  und  damit  basta!  Damit  haben  Sie  recht  im  Gemeinderat, 
den  Sie  sich  zusammengesetzt  haben,  wie  Sie  ihn  brauchen;  das 
können  Sie  aber  nicht  sagen  in  einer  Versammlung,  wo  so  viele 
Leute  sitzen,  die  Würde  haben  und  die  auch  für  das,  was  sie  tun, 
eine  Verantwortung  tragen  wollen. 

Ich  bin  also  dafür,  es  werde  studiert  und  es  werde  von  diesem 
Plan  ausgeführt,  was  einem  ausreichenden  Studium  standhält.  Aber 
ich  wende  mich  mit  aller  Entschiedenheit 

gegen  die  Regierung, 

die  uns  hier  anzukündigen  scheint,  daß  sie  nicht  nur  den  Plänen 
in  dem  heutigen  Stadium  ablehnend  gegenübersteht,  sondern  die 
auch  durchblicken  läßt,  als  ob  sie  überhaupt  die  Sache  auf  un- 
bestimmte Zeit  verschieben  möchte.  Ich  fühle  mich  hier  an  dieser 
Stelle  als  ein  Verteidiger  der  Vereinigungsidee 
Ihnen    gegenüber.    Ich    bin    gegen    Ihre    Anträge, 


*)  Hermann  B  i  e  1  o  h  1  a  w  e  k,  der  Abgeordnete  des  ersten  Wiener 
Wahlkreises  der  fünften  Kurie,  unter  dem  allgemeinen  Wahlrecht  des 
Parkviertels  der  Inneren  Stadt,  der  aber  auch  hier  bei  den  Juniwahlen  des 
Jahres  1911  durchgefallen  ist,  Sanitätsreferent  des  niederösterreichischen 
Landesausschusses,  gestorben  am  30.  Juni  1918;  bekannt  durch  seine  ur- 
wüchsigen Roheiten.  Am  6.  Mai  1898  hat  er,  als  in  der  Debatte  über  den 
sozialdemokratischen  Antrag  auf  Aufhebung  des  Getreidezolls  der  sozial- 
demokratische Redner  Dr.  Verkauf  aus  einem  Buch  etwas  vorlas,  ge- 
rufen: „Schon  wieder  ein  Buch!  Da  hab'  ich  g'fr  essen!"  Und 
als  dieser  Satz  schallende  Heiterkeit  erregte,  sagte  er:  „Ja  freilich,  diese 
dummen  Theorien  werde  ich  lesen!"  Und  dann:  „Man  soll  nicht  nur  aus 
Büchern  lernen!  Die  schreibt  ein  Jud  vom  anderen  ab!"  Von 
ihm  sind  aber  auch  noch  andere  geflügelte  Worte.  So  schloß  er  auf  dem 
Züricher  Internationalen  Arbeiterschutzkongreß  im  September  1S97  in  der 
Debatte  über  die  Sonntagsruhe  seine  Rede  mit  den  Worten:  „W  i  r 
stehen  nicht  auf  dem  Standpunkt  der  Affentheorie, 
sondern  auf  dem  der  biblischen  Schöpfungsgeschichte."  Den  Gipfelpunkt 
erreichte  er  aber,  als  er  am  3.  April  1908,  als  er  im  Legitimationsausschuß 
des  Abgeordnetenhauses  dem  Abgeordneten  Pernerstorfer,  der  ein  Wort 
von  Tolstoi  zitierte,  zurief:   „Tolstoi  ist  ein  alter  Tepp!" 

Übrigens  hat  auch  Lueger  ähnliche  Geistesblüten  von  sich  gegeben.  So 
sagte  er  einmal:  „Es  gibt  so  viele  alte  Weiber,  die  gescheiter  sind  als  die 
Doktoren!"  Ein  andermal:  „Solange  ein  Gelehrter  keinen  Grashalm  kon- 
struieren kann,  ist  er  ein  Pfuscher!"  Gegen  die  Schulärzte  brachte  er  das 
Argument  vor,  sie  „könnten  die  Maderln  zu  genau  untersuchen**. 


Die  Eingemeindung  von  Floridsdorf.  Ml 


weil    ich    für    die    Vereinigung    bin,    weil    Sie    die 
ganze  Angelegenheit  verpatzt  haben. 

Abgeordneter  Sturm*):  Da  sieht  man,  daß  in  Ihnen  der  Jud  steckt. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Sagen  Sie  mir  einmal  aufrichtig:  Ist 
Ihnen  das  nicht  schon  zu  fad  mit  den  Juden?  Mir  ist  es  schon  lange 
zu  fad.  (Heiterkeit.) 

Abgeordneter  Sturm:  Er  hat  sich  ja  taufen  lassen. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ich  habe  die  Absicht  gehabt,  einen 
selbständigen  Antrag  einzubringen.  Nachdem  aber  der  Antrag  dos 
Fürsten  Auersperg  ungefähr  das  sagt,  was  ich  will . . . 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Sie  haben  ihn  ausgearbeitet  und  dem 
Fürsten  Auersperg  gegeben. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Sie  sind  viel  länger  mit  ihm  bekannt 
als  ich  und  müssen  deshalb  genauer  wissen,  ob  er  nicht  selbst  in 
der  Lage  ist,  einen  solchen  Antrag  auszuarbeiten. 

Sie  können  es  nicht  erwarten,  daß  Sie  die  Sozialdemokraten  in 
Floridsdorf  mit  Hilfe  der  Bauern  bessern.  Nebenbei  gesagt,  glaube 
ich,  daß  die  Bauern  mehr  von  uns  lernen  werden  als  wir  von  ihnen. 
(Heiterkeit.)  Sie  können  das  aber  nicht  erwarten,  sondern  Sie 
wollen  schon  jetzt  die  arbeitende  Bevölkerung  von  Floridsdorf  mit 
der  Methode  bekannt  machen,  die  Sie  anwenden,  wenn  es  sich  um 
politische  Rechte  der  Arbeiter  handelt.  Das  Mandat  des  jetzigen 
Gemeinderates  von  Floridsdorf  wird  am  1.  September  ablaufen, 
und  es  müßten  schon  jetzt  die  Wahlen  ausgeschrieben  sein.  So 
schreibt  es  das  Gesetz  vor.  Das  Gesetz !  Das  wäre  doch 
zum   Lachen,   wenn 

Lueger  nicht  so  stark  wäre  wie  das  Gesetz! 

Da  ist  es  selbstverständlich,  daß  die  Wahlen  am  12.  Juli  nicht 
ausgeschrieben  wurden  und  bis  heute  noch  nicht  ausgeschrieben 
sind.  Man  wartet,  wie  stark  Sie  hier  sind,  man  wartet,  ob  es  Ihnen 
wirklich  gelingen  wird,  hier  im  Landtag  ein  Gesetz  zu  erzwingen, 
das  die  Bevölkerung  aller  Gemeinden,  die  wir  einverleiben  wollen, 
auf  ein  halbes  Jahr  ihres  Verfügungsrechtes  beraubt.  Ich  halte  auch 
diesen  Antrag  nur  dem  Übermut  entsprungen,  der  Sie  erfaßt  hat. 
Denn  verständig  ist  er  nicht!  Wenn  die  Bevölkerung  wirklich  den 
Wunsch  hat,  zu  Wien  zu  kommen,  dann  wird  ja  wieder  eine 
Majorität  gewählt,  die  dafür  ist.  Ist  die  Bevölkerung  aber  nicht 
einverstanden,  dann  frage  ich  Sie: 

Mit  welchem  Rechte  vergewaltigen  Sie  die  Bevölkerung? 

Wie  können  Sie  mit  dieser  Gemeindeverwal- 
tung einen  solchen  Vertrag  abschließen  gegen 
den  Willen  der  Bevölkerung?  Ihr  Antrag,  die  Wahlen 
aufzuschieben,  ist 

entweder  überflüssig  oder  die  unerhörteste  Vergewaltigung, 

die  man  sich  vorstellen  kann. 


*>  Abgeordneter  von  Margareten;  ein  Zeichenlehrer. 

Adler,  Briefe.   XI.  Bd.  11 


162  Adler  im  Landtag. 


Also  nicht,  weil  dies  noch  verfrüht  ist,  wie  der  Statthalter 
gesagt  hat,  sind  wir  gegen  diesen  Antrag,  sondern  weil  wir  wollen, 
daß  in  dieser  hochwichtigen  Angelegenheit  entschieden  werde 
nach  d  e  in  Willen,  den  die  Bevölkerung  dieser 
Gemeinden  heute  hat,  und  nicht  nach  dem  Willen 
von  Leuten,  die  vor  sechs  Jahren  unter  ganz 
anderen   Verhältnissen   gewählt  worden   sind. 

Es  wäre  sehr  verlockend,  auf  einige  der  früheren  Redner  ein- 
zugehen. Ich  will  mich  nur  mit  einigen  wenigen  befassen.  Arn 
meisten  überrascht  hat  mich,  daß  Dr.  Knotz  von  der  Achtung 
vor  dem  Selbstbestimmungsrecht  der  Gemein- 
den gesprochen  hat.  Die  Autonomie  der  Gemeinde,  die  für  mich 
ein  sehr  wünschenswertes  Ideal  ist,  ist  nicht  identisch  mit  der 
Autonomie  einer  Handvoll  Hausherren,  die  die 
Gemeinde  tyrannisieren.  Es  darf  nicht  eine  Autonomie 
einer  kleinen  Schicht  von  Besitzenden  sein  wie  in  Wien.  Wien  wird 
heute  beherrscht  von  den  Grundbesitzern,  während  der  kleine 
Mittelstand  nur  den 

Stanczyken*)  von  Wien 

die  Kastanien  aus  dem  Feuer  holt.  Für  diese  Autonomie  bedanke 
ich  mich.  Bevor  die  Gemeinden  eine  Autonomie  haben,  müssen  sie 
erst  eine  Vertretung  haben,  in  der  jedes  Gemeindemitglied  dasselbe 
Recht  hat. 

Wie  kann  Herr  Dr.  Knotz**)  überhaupt  von  Gemeindeautonomie 
reden,  wo  er  in  demselben  Moment  den  Gemeinden  ihr  Selbst- 
bestimmungsrecht nehmen  will?  Er  sagt:  Ich  habe  eine  solche 
Achtung  vor  deinem  Selbstbestimmungsrecht,  daß  ich  dich  nicht 
mehr  eine  neue  Gemeindevertretung  wählen  lasse,  damit  diese 
nicht  so  handle,  wie  du  willst.  Diesen  Widerspruch  versteht  Doktor 
Knotz  sehr  gut,  und  weil  er  ihn  versteht  und  weil  er  hofft,  daß  ihn 
die  anderen  nicht  verstehen  werden,  darum  macht  er  so  schöne 
Phrasen. 

Abgeordneter  Auersperg  hat  einige  Worte  auch  der  Sozial- 
demokratie gewidmet,  und  er  hat  uns  die  Partei  genannt,  die  das 
Böse  will  und  oft  das  Gute  schafft.  Über  das  „das  Böse  wollen" 
werden  wir  schwer  einig  werden,  denn  ich  fürchte  selbst,  daß 
einiges  von  dem,  was  ich  will,  ihm  recht  bös  erscheinen  wird.  Das 
ist  nun  einmal  so,  aber  ich  finde  es  immerhin  nett  vom  Herrn  Ab- 
geordneten Auersperg,  zuzugeben,  daß  wir  vielfach  das  Gute 
schaffen.  Unter  das  Gute,  was  wir  bereits  geschaffen  haben,  gehört 
unter  anderem,  daß  die  Anschauungen,  die  die  Sozialdemokraten 
als  eine  wilde  Rotte  von  kulturwidrigen  Elementen  ansehen  oder 


*)  Stanczyken  hieß  der  ultrakonservative  Teil  der  polnischen  Groß- 
grundbesitzer. 

;  '.)  Dr.  Alfred  Knotz  war  einmal  ein  sehr  radikaler  Deutschnationaler, 
der  im  Parlament  arge  Schimpfreden  über  die  Tschechen  hielt  und  für 
Bismarck  schwärmte,  als  er  aber  nach  Floridsdorf  übersiedelte,  christlich- 
sozial wurde. 


Die  Eingemeindung  von  Floridsdorf.  163 

als  blinde  Menschen,  die  sich  führen  hissen  zu  irgendwelchem  von 
ihnen  nieht  gewollten  Ziel . . . 

Abgeordneter  Dr.  Lueger:  Ganz  richtig! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  ...daß  diese  Anschauungen,  die  Sie, 
Herr  Bürgermeister,  vertreten,  nur  von  den  unwissendsten  und  un- 
gebildetsten Leuten  geteilt  werden.  (Heiterkeit.)  Es  hat  mich  ja 
auch  gewundert  oder  vielmehr  nicht  gewundert,  denn  ich  habe 
Ähnliches  in  der  letzten  Zeit  wiederholt  hören  müssen  ,  daß  Ab- 
geordneter Scheiche  r*)  eine  so  heftige  \{cl\c  gegen  uns  geheilten 
hat.  Es  ist  sehr  interessant  für  denjenigen,  der  die  klerikale  und 
christlichsoziale  Bewegung  verfolgt,  von  Ihrer  Seite  und  von  einem 
Priester  eine  antisemitische  Rede  zu  hören,  die  auf  dem  reinsten 
Rassenstandpunkt  steht. 

Abgeordneter  Sturm:  Jud'  bleibt  Jud',  auch  wenn  er  getauft  ist. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ich  habe  nichts  dagegen  einzuwenden, 
denn  ich  freue  mich  immer,  wenn  ich  meine  Gegner  in  Wider- 
sprüche verstrickt  sehe,  denen  sie  nicht  entrinnen  können.  Sie 
haben  sich  über  die  unbefugte  Einmischung  eines  Juden  Sie 
beehren  mich  mit  diesem  Namen  —  in  religiöse  Angelegenheiten 
beklagt.  Ich  mische  mich  nie  in  religiöse  Angelegenheiten  (Oho- 
rufe),  niemals.  Aber,  meine  Herren,  es  gibt  andere  Juden  —  da  Sie 
nun  schon  auf  dem  Rassenstandpunkt  stehen  — ,  Juden,  die  Ihnen 
näherstehen  und  die  sich  sehr  in  Ihre  religiösen  Angelegenheiten 
hineinmischen.  Wenden  Sie  sich,  Herr  Dr.  Scheicher,  mit  Ihren 
Vorwürfen  gefälligst  an  den 

Erzbischof  Kohn**), 

der  vom  Rassenstandpunkt  aus  doch  ein  Jude  ist  und  sich  den- 
noch —  also  unbefugt,  aber  sehr  intensiv  —  mit  der  katho- 
lischen Religion  beschäftigt.  (Heiterkeit.) 

Ich  komme  zum  Schluß . . .  (Beifall  bei  den  Christlichsozialen.) 
Ich  glaube  es  Ihnen,  daß  Sie  mich  nicht  gern  hören.  Ich  rede  doch 
nicht,  um  Ihnen  ein  Vergnügen  zu  machen,  dazu  hätten  mich  die 
Wiener  Arbeiter  nicht  gewählt.  (Heiterkeit.)  Ich  komme  zum 
Schluß.  Sie  haben  sich  einmal 

in  Ihrer  eigenen  Schlinge  gefangen. 

Abgeordneter  Mayer***):  Lassen  Sie  uns  hängen! 


*)  Prälat  Josef  Scheicher,  der  als  wirklicher  christlicher  Sozialist 
angefangen  hatte,  jetzt  rüde  antisemitische  und  antisozialistische  Hetzreden 
hielt.  Näheres  über  ihn  in  Adlers  Rede  im  Landtag  vorn  11.  Juli  1901  über 
die  „Marodeure  des  Klerikalismus",  insbesondere  in  der  Fußnote.  (Bd.  VIII, 
Seite  4M.) 

)  Der  Erzbischof  von  Olmütz  Dr.  Theodor  Kolin.  (Näheres  über  ihn 
siehe  in  Dr.  (iustav  Pollatschek:  „Das  unfehlbare  Rom",  das  Kapitel 
„Kohn  der  E  r  z  b  i  s  c  li  o  f",  Seite  113.) 

**)  Ein  christlichsozialer  Bauernführer.  Mayer  aus  Bockfließ,  wie  er 
nach  seinem  Wohnort  gelegentlich  genannt  wurde.  Er  wurde  später  auch 
Mitglied  des  niederösterreichischen  Landesausschusses. 

11* 


164  Adler  im  Landtag. 


Abgeordneter  Dr.  Adler:  Es  handelt  sich  nicht  um  das  Hängen, 
sondern  um  das  Fangen.  Sie  haben  bei  der  Gelegenheit,  daß 
Sie  die  vernünftige  Idee  haben,  das  linke  Üonauufer  einzuverleiben, 
einen  großen  Fischzug  machen  wollen.  Sie  haben,  um  Ihre  Macht 
zu  befestigen,  auch  zu  ganz  kleinlichen  Mitteln  greifen  wollen,  wie 
die  Verschiebung  der  Floridsdorfer  Wahlen.  Um  vor  den  Landtags- 
wahlen keine  Niederlage  zu  erleiden,  haben  Sie  die  große  Sache 
direkt  gefährdet.  Und  wenn  diese  Angelegenheit  verschleppt  wird, 
was  ich  nicht  hoffe,  so  sind  S  i  e  selbst  am  allermeisten  schuld 
daran.  Gerade  weil  ich  für  die  Vereinigung  bin, 
bin  ich  gegen  die  Anträge,  die  Sie  gestellt  haben, 
und  ich  bin  deshalb  selbstverständlich  auch 
gegen  die  Entrechtung  der  Floridsdorfer  Ge- 
meindewähler. Ich  werde  für  den  Antrag  Auersperg  stimmen. 

Dienstbotenordnung  auf  dem  Lande. 

Landtag,  2  4.  Juli  19  02*). 

Ich  hatte  ursprünglich  nicht  die  Absicht,  über  dieses  Referat  zu 
sprechen.  Aber  die  Ausführungen  des  Abgeordneten  Scheicher 
machen  es  mir  unmöglich,  zu  schweigen.  Über  die  Sache  selbst  ist 
ja  nicht  viel  zu  sagen.  Die  Prämien,  die  Sie  an  alte  und  junge 
Leute  geben  wollen,  um  die  Lust  und  Liebe  zum  Dienstbotenberuf 
zu  heben,  haben  nicht  viel  Bedeutung,  und  ich  habe  den  Eindruck, 
daß  auch  der  Landesausschuß  selbst  von  der  Geschichte  nicht  zu 
viel  hält,  zumindest  aber,  daß  er  sich  keinen  Illusionen 
über  die  Wirkung  hingibt.  Der  Referent  weiß,  wie  gering 
die  Zahl  der  Prämiierten  im  Verhältnis  zur  Zahl  der  Beschäftigten 
ist,  und  er  muß  bekennen,  daß  eine  sozialpolitisch  konstatierbare 
Wirkung  nicht  zu  erwarten  ist.  Aber  ich  begreife,  daß  Sie  derlei 
Dinge  machen.  Das  gehört  heute  zum  Geschäft.  Wenn  man  eine 
Frage  nicht  lösen  kann  —  und  die  Gesellschaft  ist  heute  ganz  un- 
fähig, diese  Frage  zu  lösen  — ,  so  sucht  man  wenigstens  durch 

Aufsetzung  eines  Flecks 

die   Geschichte   ein   bißchen   reputierlicher   zu   machen. 
Man  will  den  guten  Willen  zeigen,  das  ist  alles.  Es  ist,  um  mich 


*)  Am  24.  Juli  standen  im  Landtag  die  Anträge  zur  Bekämpfung 
der  Leutenot  auf  dem  flachen  Lande  zur  Verhandlung.  Danach  sollten 
jährlich  hundert  junge  Arbeiter  mit  Prämien  von  20  Kronen,  einem  „Kapi- 
tal" zur  Altersversorgung  von  10  Kronen  und  Anerkennungsdiplomen  be- 
teilt und  zwanzig  Altersrenten  errichtet  werden.  Referent  des  Ausschusses 
war  Monsignore  Scheicher,  der  auch  auf  einen  Bericht  verwies,  den  er 
als  Referent  des  Landesausschusses  der  Landesregierung  erstattet  hatte. 
Scheicher  hat  übrigens  nicht  nur  in  diesem  Bericht  den  Ausdruck  von 
den  entlaufenen  Dienstboten  gebraucht,  sondern  sogar  auch  in 
einer  Dienstbotenordnung,  die  er  am  1.  September  1903  dem  Landtag  vor- 
legte, diesen  Ausdruck  gebraucht  und  Strafen  für  sie  und  Gendarmerie- 
assistenz für  ihre  Zurückstellung  verlangt. 


Dienstbotenordnung  auf  dem  Lande.  165 

eines  agrarischen  Ausdrucks  zu  bedienen,  ein  Pflanz.  (Heiter- 
keit.) 

Abgeordneter  Sehnabi*):  Jüdische  Frechheit. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  In  Punkt  2  und  .3  des  Antrags  wird 
dem  Kernpunkt  der  Frage  nähergetreten,  nämlich  dem  Mangel 
an  Arbeitskräften  auf  dem  flachen  Lande.  Ich 
lege  kein  Gewicht  darauf,  daß  im  letzten  Absatz  von  Studien 
gesprochen  wird,  um  gesunde  Besiedelungsverhältnisse  zu  schaffen, 
da  ja  der  Herr  Referent  selbst  sehr  skeptisch  über  die  Sache  ge- 
sprochen hat.  Er  weiß  so  gut  wie  wir,  daß  durch  gesetzgeberische 
oder  durch  Verwaltungsmaßregeln  diese  Verhältnisse  nicht  ge- 
ändert werden  können.  Man  kann  es  bedauern,  aber  man  muß  es 
als  gegebene  Tatsache  hinnehmen,  daß  die  Entwicklung  der 
Industrie  den  Zuzug  zu  den  Städten  bewirkt.  Man  kann  es  bedauern, 
daß  auf  dem  Lande  die  patriarchalische  Wirtschaftsmethode  nicht 
mehr  möglich  ist  —  aber  sie  ist  nicht  mehr  möglich.  Man  kann  es 
bedauern,  daß  sich  heute  die  sogenannten  „Dienstboten",  die  länd- 
lichen Arbeiter,  mit  Verhältnissen,  wie  sie  vor  fünfzig  oder  hundert 
Jahren  bestanden,  nicht  mehr  zufrieden  geben.  Ich  begreife,  daß 
das  vom  Standpunkt  der  ländlichen  Unternehmer  —  der  großen 
wie  der  kleinen  Unternehmer  —  bedauerlich  sein  mag,  aber  es  ist 
ein  Kulturfortschritt.  Jeder  Fortschritt  der 
Kultur  ist  zunächst  ein  Fortschritt  an  Bedürf- 
nissen. Wir  haben  genau  soviel  Kultur,  als  die  breiten  Massen 
Bedürfnisse  haben,  und  jedes  Ansteigen  der  Bedürfnisse  der  Massen 
ist  ein  Kulturfortschritt.  Ob  Sie  das  nun  bedauern  oder  nicht,  es 
ist  so.  Was  soll  man  nun  sagen,  wenn  Sie  gegenüber  dieser  Tat- 
sache, daß  die  Landarbeiter  mit  den  Arbeitsbedingungen  nicht  mehr 
zufrieden  sind  und  nicht  sein  können,  mit  Moralpredigten 
kommen? 

Es  liegt  ein  Bericht  des  Abgeordneten  P  i  r  k  o  vor,  der  außer- 
ordentlich sachkundig  abgefaßt  ist  und  aus  dem  man  etwas  lernen 
kann.  Aber  Abgeordneter  Pirko  sagt  selbst,  daß  dieser  Bericht  erst 
eine  angefangene  Arbeit  ist,  die  noch  in  den  ersten  Anfangsstadien 
steht,  daß  es  sich  da  eigentlich  mehr  um  Studien  handelt  ■—>  wie 
ich  hinzufüge,  um  ernste  Studien.  Ich  bin  nicht  mit  allem  ein- 
verstanden, was  Abgeordneter  Pirko  sagt,  aber  ich  gestehe,  daß 
er  in  einer  der  wichtigsten  Fragen  eine  verhältnismäßig  fortschritt- 
liche Stellung  eingenommen  hat,  nämlich  in  der  Frage  der 

*)  Von  den  Rednern,  die  hier  Zwischenrufe  machten  oder  von  Adler 
genannt  wurden,  ist  SchnabI  ein  ehristlichsozialer  Geistlicher,  der  sonst 
wenig  von  sich  reden  machte.  Hauchinger  ein  Pfarrer,  der  als  Referent 
oft  sprach,  immer  sehr  salbungsvoll  und  immer  sehr  arbeiterfeindlich, 
Sengstbratl  ist  ein  wenig  gekannter  christlichsozialer  Hauer. 
Skrbcnsky  und  Pirko  sind  Großgrundbesitzer,  jener  ein  konserva- 
tiver, dieser  ein  sogenannter  freiheitlicher.  Sturm  und  Scheich  er 
ind  schon  bekannt. 


166  Adler  Im  Landtag. 


Dienstbotenordnungen. 

Wir  verlangen,  daß  die  Dienstbotenord nungen  über- 
haupt beseitigt  werden  wie  ja  der  Ausdruck  „Dienst- 
bote" überhaupt  heute  nicht  mehr  anzuwenden  ist  — ,  und  daß  d  i  e 
ländlichen  Arbeiter  unter  demselben  Gesetz 
stehen  wie  die  Arbeiter  in  der  Stadt.  Ich  erwarte 
nicht,  daß  Sie  sich  auf  diesen  Standpunkt  stellen,  und  ich  erkenne 
es  an,  daß  in  dem  Bericht  einige  Symptome  einer  freieren  Auf- 
fassung vorkommen.  Die  Bauern  . . . 

Abgeordneter  Sengstbratl:  Wenn  der  Ausdruck  „Dienstboten" 
nicht  anwendbar  ist,  so  gibt  es  auch  den  Namen  „Bauern"  nicht. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Der  Ausdruck  „Bauer"  ist 
und  war  immer  ein  Ehrentitel,  denn  er  bezieht  sich  auf 
die  Arbeit,  die  der  Bauer  leistet;  Dienstbote  aber 
bezieht  sich  auf  die  Botmäßigkeit,  auf  die  Unterwerfung, 
auf  das  Verhältnis  der  Abhängigkeit,  das  heute  nicht  mehr 
zu  halten  ist . . .  In  dem  Bericht  wird  ausgesprochen,  daß  die  länd- 
lichen Unternehmer  auf  gewisse  Dinge  verzichten  müssen,  die  sie 
bisher  hatten.  Sie  wünschen  nicht,  daß  er  auf  die  Ungleichheit  in 
der  Behandlung  verzichte  zwischen  den  beiden  vertragschließenden 
Teilen.  Wenn  der  Unternehmer  einen  Dienstboten  engagiert  und 
ihn  nicht  nimmt,  so  hat  er  ihm  nur  den  Schaden  zu  ersetzen.  Wenn 
aber  der  Arbeiter  den  Kontrakt  bricht,  so  hat  er  auch  ein  Delikt 
begangen.  Er  wird  bestraft.  Er  ist  -  -  und  das  ist  für  mich  ein 
Ausdruck,  der  mich  jedesmal  so  fürchterlich  berührt  —  ein  „en  t- 
laufener  Dienstbot  e".  Entlaufener  Dienstbote,  das  erinnert 
mich  so  an  den 

entlaufenen  Sklaven. 

Abgeordneter  Skrbensky:  Das  steht  ja  nur  im  Büchel,  das  wird 
doch  nie  praktiziert. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ob  Sie  geneigt  sind,  das  wenigstens 
abzuschwächen,  und  ob  Sie  darauf  verzichten  wollen,  daß  dieser 
entlaufene  Sklave  ihnen  wieder  mittels  Gendarmerie  zugestellt 
werde,  weiß  ich  nicht. 

Abgeordneter  Bauchinger:  Jeder  ist  froh,  wenn  er  ihn  nicht 
mehr  bekommt. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Das  sollte  man  meinen.  Aber  das 
Gesetz  lautet  doch  anders.  Wenn  aber  auch  die  Praxis  etwas 
weniger  hart  ist  als  das  Gesetz  —  in  Ihrem  eigenen  Interesse  — . 
so  wirken  doch  die  Empfindung  der  Abhängigkeit  und  die  Furcht 
vor  der  Strafe  schwer  genug,  und  Sie  dürfen  sich  nicht  wundern, 
daß  der  Landarbeiter  lieber  in  die  Stadt  geht,  selbst  unter  wesent- 
lich unsichereren  Verhältnissen,  um  sich  als  freier,  unabhängiger 
Mensch  zu  fühlen.  Einer  der  Hauptgründe,  warum  Arbeiter  und 
Arbeiterinnen  vom  Lande  in  die  Stadt  gehen,  ist,  daß  sie  auf  dem 
Lande  viel  schwerer  Aussicht  haben  zu  heiraten, 
(Widerspruch.)  Erinnern  Sie  sich  nur,  welche  Schwierigkeiten  sie 
da  haben,  wenn  beide  Dienstboten  sind.  Im  Zusammenhang  damit 


Dienstbotenordnung  auf  dem  Lande.  W 

will  ich  Sic  aufmerksam  machen  auf  die  Aufsätze  eines  sehr  sach- 
kundigen Mannes,  des  Dr.  Michael  Hainisch*),  die  in  der  „Grazer 

Tagespost"  erschienen  sind.  Dr.  Hainisch  weist  auf  den  Wider- 
spruch Ihn,  in  dem  Sie  sich  befinden.  Einerseits  wünschen  Sie  ein 
Proletariat  nicht,  andererseits  aber  brauchen  Sie  ländliche  Arbeiter. 
Dr.  Hainisch  weist  auch  auf  die  von  mir  eben  besprochene  Ursache 
der  Entvölkerung  des  Landes  hin.  Die  Zahl  der  auf  dem  Lande  ab- 
geschlossenen Ehen,  insbesondere  in  den  deutschen  Alpenländern, 
ist  nicht  nur  absolut  kleiner  als  in  den  Städten,  sie  ist  auch  im  Ab- 
nehmen begriffen. 

Nachdem  ich  über  den  ernsthaften  Teil  dieser  Frage  gesprochen, 
möchte  ich  zu  dem  minder  ernsthaften  übergehen:  zum  Bericht  des 
Abgeordneten  S  c  h  e  i  c  h  e  r.  Ich  hätte  darüber  nicht  gesprochen, 
weil  dieser  Bericht  nicht  auf  der  Tagesordnung  steht.  Nachdem 
aber  Abgeordneter  Scheicher  selbst  das  Bedürfnis  gefühlt  hat, 
ihn  auf  die  Tagesordnung  zu  stellen,  kann  ich  nicht  umhin,  doch 
einige  Worte  über  die  Tendenz  dieses  Berichtes  zu  sagen.  Ab- 
geordneter Scheich  er  hat  in  seinem  Referat  nur  ein  paar 
Hauptsachen  herausgegriffen.  Er  sagt:  Die  Regierung  muß  un- 
bedingt gegen  die  Landflucht  etwas  tun.  Einverstanden;  wenn 
die  Regierung  etwas  dagegen  tun  kann,  werden  wir  ja  darüber 
reden  können.  Abgeordneter  Scheicher  verlangt  vor  allem  die 

Einschränkung  der  Freizügigkeit. 

Ich  erschrecke  vor  gar  keinem  Wort  und  falle  auch  nicht  um, 
wenn  ich  von  Einschränkung  der  Freizügigkeit  höre.  Aber  ich  ver- 
lange, daß,  wenn  man  davon  spricht,  man  sich  dabei  irgend 
etwas  vorstelle.  Daran  scheint  es  nun  beim  Vorschlag  des 
Herrn  Scheicher  bedenklich  zu  fehlen.  Denn  er  hat  uns  glaubhaft 
machen  wollen,  daß  sich  Einschränkung  der  Freizügigkeit  mit  der 
Freiheit  vortrefflich  vertrage,  und  er  hat,  um  uns  das  zu  beweisen, 
auf  Nordamerika  hingewiesen.  Ich  war  wirklich  sehr  neu- 
gierig, denn  ich  habe  über  die  Wirtschaften  in  Amerika  auch 
manches  gelesen.  Herr  Scheicher  führt  als  Beweis  an,  daß  die 
Amerikaner  Ausländer  nicht  in  das  Land  lassen,  außer  unter 
gewissen  Bedingungen:  daß  sie  keine  Analphabeten  seien,  daß  sie 
für  die  erste  Zeit  zum  Leben  haben  usw.  Handelt  es  sich 
bei  der  Bekämpfung  der  Landflucht  darum,  nie- 
mand auf  das  Land  hinauszulassen  oder  nicht 
vielmehr  darum,  niemand  von  dort  wegzulassen? 
Sie  wissen,  daß  in  Deutschland  die  Bekämpfung  der  Dienstboten- 
not nicht  auf  diese  amerikanische  Weise  vonstatten  geht,  sondern 
direkt  in  antiamerikanischer  Weise.  Es  werden  von 
einem  Landstrich  in  den  anderen  große  Transporte  von  Arbeitern 
geführt,  sogar  aus  dem  Auslande  führt  man  Arbeiter  zu,  um  der 
Dienstbotennot  abzuhelfen,  und  Sie  müssen  auch  wissen,  daß  dort 

)  Der  nachmalige  Bundespräsident,  der  bekanntlich  ein  Großgrund- 
besitzer, aber  auch  ein  Atfrarthcoretikcr  ist  und  ein  Buch  über  die  Land- 
flucht geschrieben  hat. 


168  Adler  im  Landtag. 


unter  den  ländlichen  Großunternehmern  sogar  ernstlich  die  Ein- 
führung chinesischer  Kulis  erwogen  wird.  Es  scheint  also  bei  Ihnen 
eine  klare  Vorstellung  über  die  Beschränkung  der 
Freizügigkeit  nicht  vorhanden  zu  sein,  und  ich  sehe 
darum  die  Gefahr,  daß  diese  Angelegenheit  aus 
dieser  nebulosen  Gestalt  in  die  Form  eines  Ge- 
setzes gelange,  noch  in  so  weiter  Ferne,  daß  ich  dar- 
über nicht  viel  zu  reden  brauche. 

Die  zweite  Maßregel,  die  Abgeordneter  Scheicher  vorschlägt,  be- 
trifft eine  sehr  wichtige  Angelegenheit:  die  Militärbefreiung. 
Auch  ich  bin 

für  die  Befreiung  vom  Militärdienst 

in  seiner  heutigen  Form,  aber  nicht  nur  für  das  flache 
Land,  sondern  für  uns  alle.  Auch  das  sozialdemokratische 
Programm  verlangt :  Abschaffung  des  heutigen  Milita- 
rismus und  Ersetzung  der  stehenden  Armee 
durch  die  Volkswehr. 

Abgeordneter  Mayer:  Also  doch  Soldaten. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Ich  weiß  nicht,  wer  diesen  Zwischen- 
ruf gemacht  hat,  aber  wer  ihn  gemacht  hat,  der  versteht  schon  gar 
nichts.  (Heiterkeit.) 

Abgeordneter  Bauchinger:  Das  muß  international  gemacht 
werden ! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Wenn  einer  sagt:  „Das  muß  inter- 
national sein",  so  kleidet  er  die  Lust,  eine  Sache  zu 
verschieben,  in  ein  modernes  Gewand.  Darum  ist  Ihre  Partei 
auch  für  den  Achtstundentag  usw.,  aber  er  muß  „international" 
sein.  Sie  haben  das  Wort  nicht  erfunden.  Sie  haben  übrigens  auch 
den  Witz  nicht  selbst  erfunden.  Ich  gebe  der  Wahrheit  die  Ehre: 
das  haben  die  liberalen  Professoren  erfunden 
(Heiterkeit),  aber  gelehrig,  wie  Sie  sind,  haben  Sie  sich  doch  das 
Schlechte,  das  die  anderen  erfunden  haben,  sofort  angeeignet. 
(Heiterkeit.) 

Durch  den  Militarismus  wird  ein  ganz  bedeutender  Teil  der 
produktiven  Kraft  des  Volkes  zu  ganz  unproduktiven,  überflüssigen 
Zwecken  verwendet  —  zum  moralischen  und  physischen  Schaden 
des  Volkes,  zum  dauernden  Schaden  der  Produktionsfähigkeit  des 
Volkes.  Darum  bin  ich  für  die  Beseitigung  des  Militarismus.  Aber 
verlangen  Sie  das  nicht  als  Privileg.  Schließen  Sie  sich  der  Sozial- 
demokratie an  in  der  Bekämpfung  des  Militarismus . . . 

Abgeordneter  Scheicher:  Das  tun  wir  selbst! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Aber  sehr  schwach! 

Abgeordneter  Bauchinger:  Schließen  Sie  sich  uns  an! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Das  geht  nicht,  wir  sind  zu  weit  vor, 
als  daß  wir  wieder  zu  Ihnen  zurücklaufen  könnten.  Also  diese  For- 
derung des  Abgeordneten  Scheicher  ist  innerhalb  dieser  Grenzen 
ernst  zu  nehmen  —  wird  wenigstens  von  uns  ernst  genommen.  Ob 
sie  von  Ihnen  ernst  genommen  wurde,  traue  ich  mich  nicht  zu  ent- 


Dienstbotenordnung  auf  dem  Lande.  IÖ9 


scheiden.  Abgeordneter  Scheiclier  hat  sich  bitter  beklagt,  daß  er 
wegen  seines  Berichtes  gar  so  sehr  angegriffen  wurde. 

Abgeordneter  Scheicher:  Im  Gegenteil  Ich  habe  Witze  darüber 
gemacht. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Es  waren  aber  sehr  bittere  Witze. 
(Heiterkeit.)  Ich  bekenne  mich  schuldig,  daß  sich  auch  unser  Blatt 
gegen  seinen  Bericht  gewendet  hat,  weil  in  dem  ganzen  Bericht 
keine  sachliche  Begründung  und  keine  sachliche  Würdigung  der 
tatsächlichen  Verhältnisse  zu  finden  waren.  Wenn  Herr  Scheicher 
auch  nur  den  Bericht  gelesen  hätte,  der  von  seinem  Amtskollegen 
gemacht  wurde,  so  hätte  er  unmöglich  so  allgemeine  Redensarten 
machen  können,  wie  er  sie  gemacht  hat. 

Ich  bin  fertig.  (Bravo!)  Da  rufen  Sie  immer  „Bravo".  (Heiter- 
keit.) Das  kenne  ich.  Aber  das  nützt  Ihnen  nichts.  Sie  sind  so  viele 
und  Sie  können  es  sich  einteilen.  Ich  aber  bin  hier  allein  und  muß 
für  eine  ganze  Partei  allein  reden.  Darum  werde  ich  Ihnen  so  oft 
so  unangenehm.  Ich  kann  Ihnen  nicht  helfen. 

Ich  wiederhole:  Ich  habe  nichts  dagegen,  daß  Sie  die  paar 
tausend  Kronen  bewilligen.  Der  Landesfonds  hält  es  aus,  und  ihnen 
und  den  paar  Dienstboten,  die  die  zehn  Gulden  bekommen,  macht 
es  eine  Freude.  Ernst  zu  nehmen  ist  es  nicht.  Im  übrigen  haben  Sie 
ja  selbst  versprochen,  in  Zukunft  den  Ursachen  der  Landflucht 
nachzuforschen.  Ich  bin  immer  für  die  Forschung.  Darum  gratuliere 
ich  Ihnen  zu  dem  Entschluß  und  wünsche  Ihnen  viel  Glück  dabei. 
Aber  daß  Sie  etwas  Positives  damit  zuwege  bringen,  glaube  ich 
nicht,  solange  Sie  sich  nicht  entschließen,  den  Arbeiter  auf 
dem  Lande  unter  dieselben  Gesetze  zu  stellen 
wie  den  industriellen  Arbeiter. 

Abgeordneter  Sengstbratl:  Achtstundentag! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Den  haben  wir  ja  auch  in  der  Industrie 
noch  nicht.  Fürchten  Sie  sich  also  nicht.  Das  geht  alles.  Man  kann 
sich  den  ländlichen  Verhältnissen  anpassen,  wie  man  sich  den  indu- 
striellen anpaßt.  Wenn  diese  Frage  zur  Diskussion  kommt,  v/erden 
Sie  uns  bereit  finden,  über  diese  Frage  wie  über  jede 
Frage  sachlich  zu  verhandeln. 

Abgeordneter  Sturm:  So,  das  habe  ich  noch  nicht  gesehen.  Auch 
Ihre  Presse  ist  nicht  sehr  sachlich. 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Das  Urteil  über  unsere  Presse,  Herr 
Abgeordneter  Sturm,  müssen  Sie  schon  uns  überlassen . . . 

Abgeordneter  Sturm:  Dann  müssen  Sie  sie  auch  selbst  lesen! 

Abgeordneter  Dr.  Adler:  Unsere  Partei  ist  mit  ihr  zufrieden,  und 
für  Sie  schreiben  wir  nicht . . .  Wenn  es  also  nötig  sein  wird,  werden 
wir  über  die  Frage  der  Arbeitszeit  sachlich  verhandeln.  Aber  hier 
handelt  es  sich  um  die  prinzipielle  Frage,  ob  Arbeiterschutz 
oder  nicht,  um  die  Frage  der  Aufhebung  des  entwürdi- 
genden Dienstbotenverhältnisses  und  Schaffung 
eines  modernen  Arbeitsverhältnisses  auch  für 
die  ländlichen  Arbeiter.  Das  ist  die  wichtigste  Bedingung, 
wenn  Sie  Arbeiter  auf  das  Land  hinausbekommen  wollen.  Unter 


170  Adler  im  Landtag. 


anderen  Bedingungen  sind  Arbeiter  auf  dem 
Lande  heute  —  zum  Glück,  daß  ist  ein  Fortschritt 
der  Kultur,  den  jeder  begrüßen  muß  — ,  heute  nicht 
m  ehr  zu  haben. 

Kandidatenrede  für  den  Landtag. 

Zwei  Versammlungen  im  Arbeiterheim, 
1.  Oktober  1  902*). 

Der  Wahlrechtsraub,  den  die  Christlichsozialen  geplant  haben, 
ist  nur  zur  Hälfte  gelungen,  nämlich  in  der  Gemeinde,  aber  die 
Christlichsozialen  vermochten  es  nicht,  die  guten  Folgen  dieser 
schlechten  Wahlreform  für  die  Landtagswahlen  zu  beseitigen**). 
Wenn  Dr.  Lueger  seinen  Plan  hätte  ganz  durchführen  können,  so 
hätte  er  eine  Wahlreform  gemacht,  die  auch  für  den  Landtag  eine 
fünfte  Kurie  einführt  und  die  der  großen  Masse  des  Volkes  wohl  das 
Recht  gibt,  den  Stimmzettel  abzugeben,  aber  dieser  Masse  nicht 
die  Möglichkeit  gibt,  ihre  Vertreter  in  den  Landtag  hineinzubringen. 
Durch  die  Vereitelung  dieses  Planes  hat  es  sich  ergeben,  daß  das 
alte  schlechte  Landtagswahlrecht  ziemlich  erweitert  wurde,  so  daß 
wir  in  einigen  Bezirken  in  Wien  und  auf  dem  flachen  Lande  mit 
Aussicht  auf  Erfolg  in  den  Wahlkampf  treten  können.  Wir  werden 
gewiß  schwer  zu  kämpfen  haben,  und  auch  in  diesem  Bezirk,  wo 
noch  bei  keiner  Wahl  die  Sozialdemokraten  in  der  Minderheit  ge- 
wesen waren,  werden  wir  harte  Arbeit  leisten  müssen,  um  durch- 
zudringen; aber  wenn  jeder  seine  Pflicht  tut,  so  müssen  wir  siegen, 

Um  den  Landtag  haben  sich  früher  die  Massen  der  Wähler  nicht 
viel  gekümmert,  und  sie  konnten  das  auch  nicht,  da  das  Wahlrecht 
so  eingeschränkt  war,  daß  in  ein  paar  Gast-  und  Kaffeehäusern  die 
Entscheidung  über  die  Landtagsmajorität  getroffen  wurde.  Der 
Landtag  war  übrigens  eine  reine  Verwraltungskörperschaft,  die  nicht 
viel  von  sich  reden  machte.  Das  wurde  in  den  letzten  sechs  Jahren 
anders.  Mit  der  christlichsozialen  Majorität  ist  eine  neue  Politik 
eingezogen,  die  in  der  unbedingten,  rücksichtslosen 
Ausnützung  der  Majorität  für  Parteizwecke  be- 
steht. Wir  haben  gesehen,  daß  von  diesem  Landtag  aus  die  Herr- 
schaft der  Christlichsozialen  in  der  Gemeinde  eine  Unterstützung 
und  Festigung  gefunden  hat,  die  diese  Herrschaft  zu  einer  uner- 
träglichen Tyrannei  machte.  Durch  den  Landtag  sind 
Lueger  und  seine  Leute  die  unumschränkten  Herren  von  Wien  ge- 


*)  Am  1.  Oktober  wurden  die  Wählerlisten  aufgelegt  und  nun  begann 
die  Hauptarbeit  der  Partei:  die  Wählerlisten  zu  prüfen,  die  christlich- 
sozialen Schwindelwähler  herauszureklamieren  und  die  nichtaufge- 
uommenen  Arbeiterwähler  hineinzureklamieren.  An  diesem  Tage  hielt 
auch  Adler  seine  Kandidatenrede  im  Favoritner  Arbeiterheim,  das  be- 
kanntlich am  7.  September  eröffnet  worden  war.  (Siehe  darüber  die 
damals  von  Adler  gehaltene  Rede.) 

**)   Siehe  Adlers  Rede   bei  der  Landtagswahl  im   Jahre   1901. 


Kandidatenrede  für  den  Landtag.  '71 

worden.  Es  wurde  ihnen  ermöglicht,  nicht  nur  die  Gemeindewahl- 
ordnung durchzudrücken,  die  die  arbeitende  Bevölkerung  von  Wien 
nullifiziert,  sondern  auch  die  ganze  Verwaltung  des  Landes  SO  mit 
christlichsozialen  Elementen  durchsetzt,  daß  man  heute  sagen  muß: 
Wir  li  a  b  e  n  keine  p  o  1  i  t  i  s  c  h  e  V  e  r  w  a  1  t  u  n  g  d  u  r  e  li 
Landesbehörden,  sondern  durch  Luegersche 
Ämter,  und  w  i  r  haben  nicht  Landes-  und  Q  e  m  e  i  n  d  e- 
beamte,  sondern  Beamte  des  Lueger!  (Lebhafte  Zu- 
stimmung.) 

Im  Dienste  der  Klerikalen. 

Aber  Dr.  Lueger  hat  diese  Ausnützung  seiner  Macht  nicht  allein 
mit  seinen  Kleinbürgern  durchsetzen  können,  sondern  er  hat,  u  m 
zu  herrschen,  in  die  Dienste  einer  anderen  Macht 
treten  müssen,  in  die  Dienste  der  klerikalen  Par- 
tei. Er  wurde,  um  seine  Herrschbegierde  zu  befriedigen,  abhängig 
von  dem  Todfeind  jedes  Fortschrittes,  von  dem  Todfeind  jeder  ver- 
nünftigen kulturellen  Entwicklung.  Es  ist  kein  Zweifel  man  muß 
auch  dem  Feinde  gegenüber  gerecht  sein  — ,  daß  Dr.  Lueger  sehr 
oft  unter  dieser  Knechtschaft  ächzt,  es  ist  nicht  sehr  angenehm,  den 
Herren  Bischöfen  untergeordnet  zu  sein  und  ihre  Winke  gehorsam 
befolgen  zu  müssen;  aber  er  mußte,  wenn  er  auf  das  hohe  Roß 
kommen  wollte,  sich  von  den  Klerikalen  den  Steigbügel  halten 
lassen,  und  zum  Dank  dafür  muß  er  nun  gestatten,  daß  sie  sein 
Pferd  am  Zügel  führen.  (Heiterkeit.)  Unter  diesem  Einfluß  ist  es 
zustande  gekommen,  daß  dem  Herrn  Geßmann  die  Schule  und  die 
Lehrerschaft  ausgeliefert  wurden.  Das  ist  der  Zoll,  den  Lueger  den 
Klerikalen  zahlen  mußte.  Freilich  zahlt  das  nicht  er,  nicht  er  leidet 
ja  darunter,  sondern  es  leidet  die  Schule  und  es  leiden  unsere 
Kinder,  die  Zukunft  des  arbeitenden  Volkes.  (Zustimmung.) 

Das  belogene  Kleingewerbe. 

Wenn  Dr.  Lueger  in  die  Höhe  gekommen  ist,  infolge  der  miß- 
lichen Lage  des  Kleinbürgertums,  so  konnte  er  sich  am  Ruder  nur 
erhalten  dadurch,  daß  er  dieses  Kleinbürgertum  belog  und  betrog. 
Einer  der  größten  Vorwürfe,  die  uns  von  den  Christiichsozialen  ge- 
macht werden,  ist  der,  daß  wir  Sozialdemokraten  das  Kleingewerbe 
vernichten  wollen.  Sie  wissen  alle  sehr  wohl,  wie  unberechtigt 
dieser  Vorwurf  ist.  Wahr  ist  allerdings,  daß  wir  den  Kleingewerbe- 
treibenden nicht  die  Lüge  erzählen,  daß  sie,  wenn  nur  ein  paar 
Maßregeln  vom  Landtag  oder  Reichsrat  beschlossen  werden,  sich 
ewig  fortfretten  werden.  Wir  wollen  sie  nicht  anlügen,  wie  die 
Christlichsozialen.  Wir  sind  nicht  Feinde  der  Klein- 
gewerbetreibenden, wir  sind  aber  Feinde  der 
Lüge  und  wir  sind  dagege  n,  daß  die  Kleingewerbe- 
treibenden belogen  und  über  ihre  Zukunft  ge- 
täuscht werden.  Wir  erzählen  den  Kleingewerbetreibenden 
nicht,  daß  der  Landesausschuß  ihnen  nur  etwas  zu  versprechen 
braucht,  damit  sie  über  ihr  Elend  wegkommen,  wir  erzählen  ihnen 


172  Adler  im  Landtag. 


nicht,  daß  ihnen  geholfen  werden  kann,  wenn  man  sie  nur  unge- 
hindert die  Lehrlinge  ausbeuten  läßt,  wir  erzählen  ihnen  nicht,  daß 
man  nur  einige  Juden  totzuschlagen  braucht,  damit  wieder  alles  in 
Ordnung  sei,  wie  es  vor  fünfzig  oder  hundert  Jahren  war.  (Heiter- 
keit.) Das  erzählen  wir  nicht,  weil  wir  sie  nicht  anlügen  wollen. 
Das  aber  sind  die  Mittel,  mit  denen  die  Christlichsozialen  heute 
ihre  Herrschaft  über  die  Kleingewerbetreibenden  aufrechterhalten. 
Von  Schritt  zu  Schritt  werden  sie  als  Lügner  entlarvt,  aber  immer 
neue  Lügen  müssen  sie  auftürmen,  immer  neue  demagogische  Phra- 
sen müssen  sie  machen,  um  diesen  Schwindel  weiterzuführen.  Wir 
lügen  den  Kleingewerbetreibenden  nichts  vor,  und  wenn  die 
anderen  siegen,  weil  sie  lügen,  dann  brauchen  wir  das  nicht  zu  be- 
dauern. Das  ist  kein  Unglück  für  uns,  sondern  für  die  anderen,  für 
die  Betrogenen  und  für  die  Betrüger.  Denn  Lügen  haben  kurze 
Beine,  und  wir  mit  unserer  trockenen,  bitteren,  nackten  Wahrheit, 
wir  werden  siegen  trotz  alledem.  (Lebhafter  Beifall.) 

Der  Judenpunkt. 

Einer  der  wichtigsten  Punkte  im  christlichsozialen  Programm 
war  früher  einmal  der  sogenannte  Judenpunkt,  nämlich  die  Auf- 
fassung, daß  das  Elend  in  der  heutigen  Gesellschaft  wesentlich 
daher  komme,  daß  es  so  viele  Juden  gibt,  die  ausbeuten.  Nun  ist  es 
kein  Zweifel,  daß  es  Juden  gibt,  die  ausbeuten,  und  zwar  sehr  viele, 
aben  ebensowenig  ist  es  zweifelhaft,  daß,  wenn  alle  diese  Juden 
plötzlich  verschwinden  würden,  wenn  man  den  Antrag  Schneider 
annehmen  würde  (Heiterkeit)  oder  wenn  sonst  die  göttliche  Barm- 
herzigkeit ein  Einsehen  hätte  und  die  Judenplage,  die  schon  soviel 
tausend  Jahre  auf  uns  lastet,  beseitigen,  das  heißt,  wenn  die  Welt 
durch  ein  Wunder  von  den  Juden  erlöst  würde,  so  würde  das  natür- 
lich am  ersten  Abend  verschiedene  Leute  gar  sehr  freuen,  aber  die 
Freude  würde  nicht  lange  dauern.  Denn  schon  am  nächsten  Tag 
würde  sich  zeigen,  daß,  abgesehen  davon,  daß  nicht  nur  die  jüdi- 
schen Ausbeuter,  sondern  auch  die  jüdischen  Ausgebeuteten  ver- 
schwunden wären,  noch  verdammt  viele  Ausbeuter  da  wären. 
(Heiterkeit  und  Beifall.)  Ich  erinnere  mich  da  an  ein  Gespräch,  das 
ich  einmal  mit  Herrn  Lueger  hatte,  zu  der  Zeit,  wo  er  noch  ein 
kleinerer  Herr  war  und  wo  er  noch  glaubte,  daß  er  uns  alle  einmal 
unter  seine  Fittige  kriegen  werde.  Da  hat  er  immer  nur  gesagt: 
„Dr.  Adler,  wir  müssen  miteinander  gehen.  Wir  mit  unseren  Ge- 
werbetreibenden und  ihr  mit  euren  Arbeitern,  wir  werden  schon 
Ordnung  machen."  (Heiterkeit.)  Ich  habe  ihm  niemals  klarmachen 
können,  daß  zwischen  uns  eine  Kluft  ist,  das  versteht  er  überhaupt 
nicht,  für  Prinzipien  und  Programme  hat  er  keinen  Sinn.  So  hat  er 
wieder  einmal  im  Parlament  zu  mir  gesagt:  „Wir  müssen  zu- 
sammengehen. Wenn  es  dann  einmal  dazu  kommt,  hängt  ihr  die 
arischen  Ausbeuter  auf  und  wir  die  jüdischen  Ausbeuter!"  (Heiter- 
keit.) Das  war  ja  ein  Vorschlag  zu  einem  Kompromiß;  ich  habe  ihm 
darauf  geantwortet,  daß  ich  nicht  in  der  Lage  bin,  dieses  Kom- 
promiß anzunehmen.  Ich  sagte  ihm:  „So  dumm  sind  wir  nicht,  daß 


Kandidatenrede  für  den  Landtag.  173 


wir  uns  von  Ihnen  betakeln  lassen.  Denn  wenn  es  dazu  käme, 
würdet  ihr  mit  den  paar  jüdischen  Ausbeutern  bald  fertig  sein  und 
wir  hätten  lebenslänglich  nichts  zu  tun,  als  Ausbeuter  aufzuhängen, 
und  das  ist  uns  zu  langweilig."  (Lebhafte  Heiterkeit.)  Das  hat  er 
aueh  eingesehen  und  ist  nicht  weiter  mit  seinem  Vorschlag  ge- 
kommen. 

Es  ist  charakteristisch,  daß  die  Antisemiten  diesen  Judenpunkt 
jetzt  nur  mehr  bei  feierlichen  Gelegenheiten  hervorheben.  Die 
Christlichsozialen  haben  von  ihrem  ganzen  Programm  nichts  ge- 
halten, nicht  einmal  das  Versprechen,  daß  sie  die  Juden  bekämpfen 
wollen.  Wenn  man  dem  Lueger  sagt:  „Du  willst  die  Juden  be- 
kämpfen und  hast  deine  Gasrohren  vom  Juden  Rothschild  in  Wit- 
kowitz  machen  lassen!",  dann  sagt  der  Lueger:  „Wo  soll  ich  denn 
die  Gasröhren  hernehmen?  '  Soll  ich  sie  beim  Klempner  machen 
lassen?"  (Heiterkeit.)  Er  hat  ganz  recht,  er  kann  sie  wirklich  nur 
beim  Großkapitalisten  machen  lassen,  aber  wenn  ein  anständiger 
und  ehrlicher  Mensch  das  weiß,  dann  sagt  er  nicht,  daß  man  mit 
den  Juden  keine  Geschäfte  machen  darf,  und  er  verspricht  nicht 
etwas,  wovon  er  weiß,  daß  er  es  nicht  wird  halten  können.  Nicht, 
daß  er  die  Gasröhren  dort  bezieht,  wo  er  sie  kriegt,  ist  die  Nieder- 
trächtigkeit, sondern,  daß  er  seinen  Wählern  Sand  in  die  Augen 
gestreut  und  ihnen  vorgeschwindelt  hat,  daß  er  anders  wirtschaften 
werde  als  die  anderen  vor  ihm.  Der  ganze  Antisemitismus  der 
Christlichsozialen  besteht  darin,  daß  ab  und  zu,  wenn  es  niemand 
geniert,  dem  Schneider  oder  sonst  einem  dieser  Herren  erlaubt 
wird,  auf  die  Juden  loszuknurren.  Der  Lueger  hat  es  selbst  einmal 
gesagt:  „Der  Schneider  ist  zwar  etwas  bissig,  aber  manchmal  muß 
man  ihn  doch  loslassen."  (Heiterkeit.)  So  hat  sich  auch  dieses 
Schlagwort  als  Schwindel  erwiesen. 

Ordnung  im  Lande  oder  Bankrott? 

Nun  kommt  ein  drittes  Schlagwort,  das  ist  die  Ordnung  im 
Lande  Niederösterreich,  die  die  Christlichsozialen  angeblich  ge- 
schaffen haben.  Vorige  Woche  habe  ich  ein  Blatt  in  die  Hand  be- 
kommen, das  von  unserem  verehrten  Gemeinderat  und  Stadtrat 
Bielohlawek  geschrieben  ist,  ein  Blatt,  das  sich  dadurch  aus- 
zeichnet, daß  es  so  gedruckt  ist,  daß  man  die  Aufschneidereien 
gleich  als  Plakat  verwenden  kann.  Auf  der  rückwärtigen  Seite,  wo 
die  Börsengeschäfte  besprochen  werden,  sind  allerdings  kleinere 
Lettern  angewendet,  das  brauchen  nicht  alle  Leute  zu  verstehen, 
welche  Beziehungen  zwischen  dem  Blatt  und  den  Wechselstuben 
bestehen.  Auf  der  ersten  Seite  wird  nun  in  solchen  Riesenlettern 
erzählt,  daß  die  Liberalen  vier  Millionen  Schulden  hinterlassen 
haben,  während  die  Christlichsozialen  in  den  sechs  Jahren  durch 
ihre  Weisheit  und  durch  ihre  ausgezeichnete  Finanzwirtschaft  nicht 
nur  dieses  Defizit  beseitigt  haben,  sondern  noch  drei  oder  vier 
Millionen  bar  in  den  Kassen  liegen  haben.  Über  dieses  Kapitel  habe 
ich  schon  im  Landtag  gesprochen,  und  es  hat  auch  der  Finanz- 
minister des  Landes,  der  Landesausschuß  Schöffel,  drastisch  die 


174  Adler  im  Landtag. 


Lüge  von  der  Ordnung  im  Lande  widerlegt.  Die  Umlagen 
sind  um  die  Hälfte  erhöht  worden,  der  Steuer- 
exekutor muß  die  Steuerschraube  bis  auf  das 
Mark  der  Knochen  der  Steuerträger  anziehen. 
Aber  das  ist  leider  noch  nicht  alles,  sondern  mit  allen  diesen  Kün- 
sten ist  die  Finanzlage  des  Landes  so  schlimm  geblieben,  daß 
Landesausschuß  Seh  ö  fiel  sagen  mußte:  „Jubilieren  Sie  nicht, 
i  m  Jahre  1911  sind  w  i  r  fertig  mit  dem,  was  wir  bis 
heute  dem  Volke  abgepreßt  haben,  und  Sie  werden 
dann  vielleicht  das  Jubiläum  des  S  t  a  a  t  s  b  a  n- 
krotts  vom  Jahre  1811  mit  einem  allgemeinen 
Staats-,  Landes-  und  Qemeindebankrott  feiern 
können!"  So  ist  es,  und  wenn  die  Christlichsozialen  auf  die  er- 
sparten Millionen  hinweisen,  so  antworten  wir  ihnen:  Die  Be- 
völkerung hat  diese  Millionen  erspart,  die  Spar- 
büchse war  aber  der  Sack  des  Fiskus,  das  Steuer- 
amt war  die  Sparkasse,  wo  das  Geld  angelegt 
wurde.  (Lebhafter  Beifall.) 

Die  nationale  Frage. 

In  der  letzten  Zeit  wurde  von  meiner  Stellung  zur  nationalen 
Frage  gesprochen,  und  da  wurde  von  der  einen  Seite  behauptet, 
ich  hätte  die  Deutschen  verraten  und  von  der  anderen  Seite,  ich 
hätte  die  Tschechen  verraten.  (Heiterkeit )  Ich  traue  mir  viel  zu. 
Aber  so  viel  Geschicklichkeit,  um  zu  gleicher  Zeit  Deutsche  und 
Tschechen  zu  verraten,  geht  doch  über  meine  Kräfte.  (Heiterkeit.) 
Es  wurde  auch  behauptet,  ich  hätte  vor  der  letzten  Landtagswahl 
den  Tschechischnationalen  irgendwelche  Zugeständnisse  gemacht, 
um  gewählt  zu  werden,  das  ist  selbstverständlich  eine  Lüge.  Ich 
habe  vor  meiner  Wahl  auch  über  die  nationale  Frage  gesprochen 
und  habe  da  dasselbe  gesagt,  was  ich  immer  gesagt  habe.  Wir 
Sozialdemokraten  stehen  auf  der  festen  prinzipiellen  Grundlage 
unseres  Programms.  Wir  haben  überall  in  erster  Linie  die  Inter- 
essen der  Arbeiterklasse  und  die  Interessen  der  einzelnen  Arbeiter 
zu  wahren,  und  zwar  alle  ihre  Interessen,  auch  ihre  nationalen  und 
kulturellen  Interessen.  Es  ist  ganz  selbstverständlich,  daß  wir  für 
die  tschechischen  Arbeiter  in  Wien  wünschen,  daß  sie  den  wirt- 
schaftlichen Kampf  hier  führen  können,  wozu  eines  der  Hauptmittel 
ist,  daß  sie  die  deutsche  Sprache  vollständig  in  ihrer  Gewalt  haben, 
und  dann,  daß  auch  ihr  nationales  Interesse  gewahrt  werde,  daß 
ihnen  die  Möglichkeit  gegeben  wrerde,  Tschechen  zu  bleiben,  wenn 
sie  Tschechen  bleiben  wollen.  Das  ist  unsere  Ansicht;  aber  chauvi- 
nistischen Schwindel  —  ob  deutschen  oder  tschechischen  —  unter- 
stützen wir  nicht!  Das  ist  unsere  Ansicht,  und  wenn  die 
Tschechischnationalen  daraus  den  Schluß  ziehen,  daß  sie  für  mich 
stimmen  werden,  dann  wrerde  ich  sie  nicht  hindern;  wenn  sie  aber 
nicht  für  mich  stimmen  wollen,  dann  sollen  sie  es  bleiben  lassen. 
Für  uns  ist  die  Wahl  nicht  ein  Geschäft  mit  unseren  Prinzipien. 
(Beifall.)  Hinzufügen  möchte  ich  noch,  daß  der  Landtag  mit  allen 


Am  Vorabend  der  Wahl.  I7r> 


diesen  Dingen  nichts  zu  tun  hat,  und  daß  zum  Beispiel  der  Antrag 
Kolisko*)  nur  ein  demagogischer  Antrag  ist,  von  dem  der  Antrag- 
steller selbst  sehr  wohl  weiß,  daß  er  nicht  in  die  Kompetenz  de; 
Landtages  fällt   und   daher   niemals   sanktioniert   werden   kann. 

Weg  mit  der  christliehsozialen  Majorität! 

Der  Redner  bespricht  sodann  noch  die  Schulfrage  und  die  Frage 
des  Kompromisses  mit  anderen  Parteien.  Unsere  Politik  ist  einfach: 
Wo  wir  Sozialdemokraten  stark  genug  sind,  daß  wir  Aussicht 
haben,  einen  Sozialdemokraten  in  den  Landtag  zu  bringen,  werden 
wir  selbstverständlich  gegen  alle  Parteien  allein  auf- 
treten. Wir  kennen  die  Liberalen  und  setzen  nicht  unsere  Hoff- 
nung auf  sie.  Wenn  die  Liberalen  heute  so  stark  wären,  wie  es  die 
Christlichsozialen  sind,  so  würden  wir  ihre  Majorität  zu  sprengen 
trachten;  da  aber  die  Christlichsozialen  heute  in  der  Majorität  sind. 
so  haben  wir  die  Pflicht,  ihre  Majorität  zu  brechen.  In  den  Be- 
zirken, wo  wir  nicht  allein  die  Christlichsozialen  beseitigen  können, 
werden  wir,  unbekümmert  um  alles  Geschrei,  den  Gegnern 
der  Christlichsozialen  unsere  Stimme  geben. 
(Lebhafter  Beifall.) 

Am  Vorabend  der  Wahl. 

Versammlung  am  4.  November  1902**). 

Ich  habe  das  Vertrauen,  daß  es  uns  morgen  gelingen  wird,  mit 
unserer  ehrlichen  Arbeit,  mit  unserer  Begeisterung  den  Wahl- 
schwindel der  Christlichsozialen  wettzumachen.  Ich  habe  das  Ver- 
trauen zu  unserem  Siege,  wie  ich  das  Vertrauen  habe  zum  Siege 
unserer  Sache  überhaupt.  Nicht  um  meine  Person  handelt  es  sich 
heute,  sondern  es  geht  darum,  zu  beweisen,  daß  nicht  alles  in 
Österreich  bis  in  das  Zentrum  der  Arbeiterschaft  hinein  in  den 
Klauen  der  Luegerei  ist,  daß  nicht  alles  der  Lüge  und  Gemeinheit 
und  Niederträchtigkeit  verfallen  ist.  (Stürmische  Zwischenrufe,  leb- 
hafter Beifall.)  Ehemals  dachte  ich,  Dr.  Lueger  glaube  alles,  was 
er  sagt.  Aber  ich  habe  jetzt  die  Überzeugung  gewonnen,  daß  er  mit 
Bewußtsein  Infamien  begeht,  und  daß  es  nichts  gibt,  was  ihm  zu 
schlecht  und  zu  gemein  ist,  wenn  es  ihm  nur  augenblicklich  nützt. 


*)  Der  deutschnationale  Landtagsabgeordnete  Dr.  Kolisko  stellte 
immer  wieder  den  Antrag,  daß  an  allen  Schulen  Niederösterreichs,  aueh  den 
privaten,  nur  die  deutsehe  Unterrichtssprache  zulässig  sein  solle.  Das  sollte 
sieh  gegen  den  „Komensky-Verein"  richten,  der  in  Wien  eine  tschechische 
Privatsehule  erriehtet  hatte.  Aber  obwohl  der  Antrag  von  den  Deutseh- 
nationalen, später  aueh  von  den  Christlichsozialen,  als  Antrag  Axmann, 
immer  wieder  eingebracht  wurde,  war  er  nicht  ernst  gemeint  und  wurde 
von  den  Antragstellern  selbst  immer  wieder  zurückgestellt,  wenn  es  die 
.Taktik"  erforderte.  Auf  die  Tschechen  mußte  er  natürlich  als  Provokation 
wirken  und  das  war  ja  wohl  auch  sein  Hauptzweck. 

*■*)   Am    Vorahend  der   Wahl   hielten   die   Favoritner   noch   eine   Massen- 
versammlung ah,  in  der  als  Hauptredner  Daszynski  sprach.  Nach  ihm 
prach  auch  Adler. 


176  Adler  im  Landtag. 


(Laute  Pfui-Lueger-Rufe!)  Diese  Überzeugung  habe  ich  seitdem, 
wo  ich  gesehen  habe,  daß  er  mit  Bewußtsein  seinen  Lohnschreibern 
diktiert  hat,  sie  mögen  die  Frauen  von  Favoriten  beschimpfen. 
(Große  Erregung  in  der  Versammlung,  daß  der  Redner  mehrere 
Minuten  lang  nicht  weitersprechen  kann.  Immer  wieder  ertönt  der 
Ruf:  Pfui  Lueger!) 

Dr.  Adler  kommt  nun  auf  den  Wahlaufruf  Prochazkas*)  zu 
sprechen,  in  dem  es  heißt:  Was  hat  Dr.  Adler  im  Landtag  geleistet? 
Nichts  und  wieder  nichts.  (Lautes  Gelächter.)  Das  ist  wahr.  Ich 
habe  einen  Antrag  gestellt,  daß  den  Schulkindern  zu  essen  gegeben 
werde,  und  daß  man  20.000  Kronen  dafür  verwende.  Der  Antrag 
wurde  abgelehnt.  Ich  habe  den  Antrag  gestellt,  daß  man  50.000  K 
für  die  Arbeitslosen  verwende.  Dr.  Lueger  ist  aufgestanden  und  hat 
erklärt:  Es  gibt  keine  Arbeitslosen.  Der  Prochazka  hat  ihm  das 
bewiesen.  Mein  Antrag  wurde  abgelehnt.  Ebenso  mein  Antrag,  daß 
300.000  K  für  tuberkulöse  Kinder  verwendet  werden.  Alle  meine 
Anträge  wurden  abgelehnt.  Ich  habe  also  nichts  geleistet,  nichts 
durchgesetzt.  Das  ist  wahr,  und  es  ist  nur  meine  Schuld.  Hätte  ich 
beantragt,  daß  ein  paar  neue  Kirchen  gebaut  oder  dem  Dr.  Lueger 
ein  Denkmal  errichtet  werde,  so  hätte  ich  das  durchgesetzt,  so 
hätte  ich  etwas  geleistet  (Heiterkeit)  und  Prochazka  hätte  nicht 
sagen  können,  ich  sei  für  gar  nichts  in  den  Landtag  gewählt  worden. 
Aber  ich  glaube,  dazu  haben  Sie  mich  nicht  in  den  Landtag  gewählt. 
(Lebhafte  Heiterkeit  und  Beifall.)  Wenn  Sie  wollen,  daß  einer 
hineinkomme,  der  etwas  durchsetzt,  das  heißt,  der  so  ist  wie  die 
anderen,  so  wählen  Sie  den  Prochazka,  wenn  Sie  aber  wollen,  daß 
dort  einer  die  Wahrheit  sage,  wenn  Sie  wollen,  daß  das,  was  die 
Arbeiter  über  die  Luegerei  denken,  ausgesprochen  werde,  so 
werden  Sie  mich  wählen.  (Stürmischer  Beifall.)  Wenn  Sie  morgen 
alle  Ihre  Pflicht  tun,  so  ist  mir  nicht  bange  um  den  Ausgang  der 
Wahl.  Dann  wird  Favoriten  seine  Ehre  wahren  und  wird  rot 
bleiben,  wie  es  bisher  war.  (Stürmischer  Beifall  und  Hoch- 
rufe.) 

Nach  der  Stichwahl. 

Versammlung  am  7.   November   19  02**). 

Wir  sind  mit  ein  paar  Stimmen  durchgefallen.  (Pfuirufe.)  Be- 
ruhigen Sie  sich!  Politisch  ist  das  nicht  von  so  großer  Bedeutung. 

*)  Julius  Prochazka  war  auch  1897  gegen  Adler  gewählt  worden. 
Jetzt  war  er  derjenige,  unter  dessen  Namen,  da  er  ja  als  Reichsratsabge- 
ordneter immun  war,  die  Flugblätter  der  christlichsozialen  Partei  heraus- 
gegeben wurden.  So  konnte  man  straflos  die  schamlosesten  Verleumdungen 
gegen  die  Gegner  vorbringen.  Später  gaben  die  Christlichsozialen  sogar 
unter  der  verantwortlichen  Redaktion  des  unverantwortlichen  Prochazka 
eine  eigene  Lügenzeitung  „Der  Reichsratswähler"  heraus.  Diesmal  kandi- 
dierte er  auch  für  den  Landtag  gegen  Adler. 

**)  Bei  der  Landtagswahl  in  Favoriten  am  7.  November  1902  war  in  der 
Stichwahl  Adler  mit  6223  Stimmen  gegen  den  Christlichsozialen 
Prochazka  (6262  Stimmen)  unterlegen.  Der  schamlose  Wahlschwindel  der 
Christlichsozialen   hatte   gesiegt.   Im   ersten   Wahlgang   hatte   Adler   5730, 


Nach  der  Stichwahl.  177 


Aber  es  ist  eine  k  r  o  li  c  Sache,  daü  dieser  Bezirk  trotz  der  u  n- 
geheuren  Dinge,  die  heute  hier  vorgegangen  sind,  den 
Christlichsozialen  die  W;ikrc  halten  konnte.  Wir  sind  einer 
Koalition  von  Amtsmißbrauch  und  Bestechung  gegenübergestanden, 
wie  sie  nicht  ärger  aufzutreiben  war.  Mit  Stolz  können  wir  sagen: 
An  ehrlicher,  gründlicher,  begeisterungsvoHer 
Arbeit  ist  von  uns  (iroßes  geleistet  worden.  Das  Mandat? 
Die  Sozialdemokraten  waren  bisher  durch  einen  Mann  im  Land- 
tag vertreten,  sie  sind  es  auch  jetzt.  Früher  hieß  er  Adler,  jetzt 
Seit  z*).  Was  mir  leid  und  weh  tut,  das  ist  nur  dies,  daß  eure  Hin- 
gebung, eure  rührende  Arbeit,  eure  liebevolle,  unermüdliche  Arbeit 
nicht  gelohnt  wurde.  Ich  danke  jedem  einzelnen  und  jeder  einzelnen 
aufs  herzlichste,  nicht  in  meinem  Namen,  sondern  im  Namen  der 
Partei,  der  Sozialdemokratie.  Sie  werden,  wenn  es  wieder 
dazu  kommt,  wieder  auf  dem  Platze  sein.  (Jubelnde  Zustimmung.) 
Nicht  in  einem  einzigen  ist  das  Bewußtsein  erschüttert  worden,  daß 
wir  schließlich  doch  siegen  werden  und  siegen 
müssen!  (Brausender  Beifall.)  Wenn  es  keine  Gemeinheit, 
keinen  G  e  1  d  s  a  c  k,  keinen  Aberglauben  gäbe,  was  hätten 
wir  denn  zu  tun?  Wir  haben  500  Stimmen  mehr  wie  vorgestern. 
Das  will  was  bedeuten,  denn  wir  müssen  ja  unsere  Leute  nicht  bei 
allen  vieren  zur  Wahl  zerren  wie  unsere  Gegner.  Wenn  es  möglich 
war,  daß  tausende  Arbeiter  wieder  einen  Arbeitstag  geopfert  haben, 
so  ist  das  ein  großer  Beweis  von  Opferfreudigkeit.  Nach  dieser 
glänzenden  — -  Niederlage  rufen  Sie  mit  mir:  Hoch  die  Sozial- 
demokratie! (Stürmische,  begeisterte  Hochrufe.)  Nieder 
mit  den  Volksbetrügern!  Nieder  mit  der  Gemein- 
heit! (Nichtendenwollende  Entrüstungsrufe.) 

Noch  eines.  Dieser  Tag  soll  Sie  nicht  noch  mehr  Opfer  kosten 
als  notwendig  ist!  Sie  haben  ihre  Nächte,  Ihren  Verdienst, 
Ihre  Arbeit  geopfert.  Opfern  Sie  nicht  noch  Ihre 
geraden  Gliedern  den  Hunderten  von  berittenen 
und.  un  berittenen  Polizisten!  Unsere  Schädel  sind  zwar 
stark,  aber  die  Polizistensäbel  sind  noch  stärker!  Lueger  hat 
veranlaßt,  daß  sechshundert  Polizisten  nach  Favoriten 
dirigiert  wurden.  (Pfuirufe.)  Tun  Sie  es  mir  zuliebe  und  gehen  Sie 
ruhig  und  langsam  nach  Hause!  Singen  wir  das  Lied 
der  Arbeit  und   gehen  wir  dann  nach  Hause**)! 


Prochazka  5638  Stimmen.  Dr.  Adler  hielt  sofort  im  Arbeiterheim  in  Favo- 
riten eine  Versammlung  ab,  um  die  über  die  christlichsozialen  Wahl- 
schwindeleien und  die  Niederlage  furchtbar  erregte  Masse  zu  beruhigen. 
Die  Situation  war  um  so  bedrohlicher,  als  auf  Verlangen  Lueger.^ 
6  00  Wachleute  Favoriten  besetzt  hatten  und  dadurch  die 
Gefahr   von    Zusammenstößen   vergrößert   war. 

*)  In  Floridsdorf  hatte  Karl  S  e  i  t  z,  der  Organisator  und  Führer  der 
Wiener  jungen  Lehrerschaft,  von  2723  abgegebenen  Stimmen  1549,  der 
christlichsoziale  Landesausschuß  Richter  1170  Stimmen  erhalten.  Seitz 
war  also  mit  Kroßer  Mehrheit  gewählt. 

>  Die  Massen  setzten  sich   in   Bewegung.  Hochrufe  auf  Adler,  Pfuirufe 
auf  Prochazka  ertönten.  Noch  einmal  sprach  Adler:  „Entladen  Sie  hier  ihre 

Adler,  Briefe.    XI.  hd.  12 


178  Adler  im  Landtag. 


Das  Denkmal  des  Polizeieinbruchs, 

E  n  t  li  ü  1 1  u  n  g  a  in  1  2.  F  e  b  r  u  a  r  1  9  0  5*). 

Genossen  und  Genossinnen!  Wir  feiern  heute  einen  echt  öster- 
reichischen Gedenktag,  einen  Gedenktag  österreiehiseher  Sicher- 
heit, österreichischer  Freiheit,  österreichischer  Gerechtigkeit.  (So 
ist  es!)  Wir  feiern  heute  die  Erinnerung  an  einen  Tag  unseres 
Kampfes  und  unserer  „Niederlage"  und  einen  Tag  des  Rechts- 
bruches  und  der  Niedertracht  unserer  Gegner.  Parteigenossen! 
Wer  von  Ihnen,  der  in  diesem  Saale  war,  als  wir  am  7.  November 
1902  hier  erfuhren,  wie  die  Stichwahl  für  den  Landtag  ausgefallen 
ist,  der  die  Empfindungen  der  Freude  und  der  Genugtuung  über  die 
von  der  Arbeiterschaft  Favoritens  geleistete  Arbeit  und  der  die 
Empörung  über  den  uns  durch  niederträchtige  Mittel  der  List  ent- 
wundenen Sieg  hier  miterlebt  hat,  erinnert  sich,  daß  trotz  der 
größten  Erregung,  daß,  trotzdem  eine  Woche  des  erbittertsten 
Kampfes  hinter  uns  war  und  alle  Nerven  gespannt  waren,  die  hier 
versammelten  Arbeiter  gehobenen  Hauptes  ruhig  wie  immer  den 
Saal  verließen.  Draußen  auf  der  Straße  waren  die  „Sieger".  Nicht 
in  eigener  Person,  aber  ihre  Protektoren  und  ihre  Werkzeuge.  Wir 
haben  immer  gewußt,  daß  uns  in  diesem  Staate  gegenüberstehen 
nicht  nur  eine  andere  Meinung  und  ein  arideres  Interesse.  Das  ist 


Entrüstung!   Ruten   Sic  draußen  nicht  Pfui!   Ich  ergreife  jetzt  den  Vorsitz 
und   schließe   die   Versammlung.   Gehen   wir   ruhig   nach   Hause!" 

Diese  von  dem  Verantwortlichkeitsgefühl  Adlers  zeugenden  Worte  taten 
ihre  Wirkung:  die  Arbeiter  zogen  langsam  ab.  Um  auch  auf  die  vor  dem 
Arbeiterheim  stehenden  Massen  beruhigend  zu  wirken,  trat  Adler  an  ein 
Gassenfenster  im  Mezzanin  und  forderte  auch  von  dort  aus  die  Arbeiter 
auf,  ruhig  nach  Hause  zu  ziehen.  Langsam  setzte  sich  der  Zu:*i 
in  Bewegun  g. 

In  der  Eugengasse  war  es  inzwischen  zu  einer  Säbelattacke  der  Wach- 
leute gekommen  und,  ohne  daß  bis  heute  ermittelt  werden  konnte,  wie 
das  gekommen  war,  marschierten  die  Wachleute  zum  Arbeiterheim  zurück 
und  drangen  in  das  Haus  über  die  Freitreppe,  zerschlugen  die  Fenster  und 
hieben  mit  den  Säbeln  auf  die  weggehenden  Arbeiter  ein.  15  Schwer- 
verletzte und  eine  große  Anzahl  Leichtverletzter  blieben  auf  der  Strecke. 
Ärger  als  Kosaken  haben  damals  die  zum  Teil  betrunkenen  Wachleute 
gehaust. 

Eine  ausführliche  Schilderung  dieses  Polizisteneinbruches  ist  in  der 
Gedenkschrift  zum  25jährigen  Bestehen  des  Arbeiterheims  enthalten.  Eine 
Sühne  für  den  Einbruch  ist  nie  erfolgt. 

*)  Schon  am  Tage  nach  dem  Polizeieinbruch  in  das  Arbeiterheim  am 
7.  November  1902  wurde  die  Anregung  zur  Errichtung  einer  Gedenktafel 
gegeben.  Diese  ist  vom  Architekten  G  e  ß  n  e  r  entworfen. 

Die  Enthüllung  fand  am  12.  Februar  1905  statt.  Adler  hielt  die  Gedenk- 
rede. 

Siehe  die  Schilderung  des  Polizisteneinbruchs  oben  bei  der  Rede  Adlers 
nach  der  Stichwahl. 


Das  Denkmal  des  Polizeieinbruchs.  17'* 

überall,  und  nirgends  hat  die  Sozialdemokratie  eine  freie  breite 
Straße  zum  Siege.  Wir  haben  liier  immer  gewußt,  dalj  uns  außer 
anderen  Anschauungen  und  Interessen  gegenübersteht  eine  Rotte 
von  Menschen  ohne  Gesinnung,  ohne  Schani,  ohne  Ehrgefühl,  eine 
Rotte,  die   zu  allem   fällig  ist. 

Diese  Leute  haben  den  Sieg  vorweggenommen.  Sie  haben  ihre 
Soldateska,  ihre  Polizisten,  besoffen  gemacht,  SO  wie 
man  drüben  in  Polen  und  Rußland  die  Polizisten  in  die  Branntwein- 
schenken bringt  und  sie  zu  wilden  Tieren  macht.  Wir  haben  die 
Alkoholquantitäten  «eschen,  mit  welchen  die  Luegerei  den  Poli- 
zisten die  Begeisterung  eingehaucht  hat.  (Sehr  richtig!)  Nachdem 
sie  besoffen  waren,  wurde  verübt,  was  ein  Verbrechen  nach  jeder 
Richtung  war:  gegen  das  Gesetz,  gegen  die  Menschlichkeit  und 
gegen  die  eigene  Autorität,  die  so  hochstehen  soll.  Sie  sind  hier  ein- 
gedrungen mit  geschwungenem  Säbel  und  haben  auf  das  Häufchen. 
das  noch  hier  war,  losgedroschen,  auf  Männer,  Frauen  und  Kinder. 
(Pfui!)  Damit  man  wisse,  wer  uns  hier  besucht  hat,  haben  sie  wie 
echte  Besoffene  in  dummer,  teuflischer  Lust  auch  auf  die  Gläser 
losgedroschen. 

Man  vergißt  leicht.  Es  liegt  in  der  Natur  jedes  Menschen,  daß 
er  den  gerechtesten  Zorn  zurücktreten  läßt,  und  es  ist  gut  so.  Denn 
wie  könnten  wir  leben,  unsere  tägliche  Arbeit  tun,  wenn  vor  uns 
fortwährend  stünde  das  Bild  des  Rechtszustandes  dieses  Staates 
in  seiner  vollen  Wucht,  wenn  wir  in  fortwährender  Empörung 
wären?  Aber  so  gut  es  ist,  daß  man  sich  beruhigt,  so  nötig  ist  es. 
daß  man  sich  erinnert.  Weil  wir  immer  hören  von  Recht 
und  Sicherheit  und  Gesetz,  ist  es  gut,  daß  wir  nicht  vergessen, 
welche  Barbarei  auf  dem  Boden  dieses  Rechtsstaates  liegt.  Die 
Genossen,  die  hier  eine  Erinnerung  geschaffen  haben,  haben  ein 
gutes  Werk  getan.  Es  war  ein  guter  Gedanke,  der  österreichischen 
Justiz  nicht  zu  trauen  und  die  Missetäter  selbst  zu  bestrafen.  Die 
Schande  der  österreichischen  Behörden,  der  österreichischen  Justiz, 
der  gesamten  Bürokratie  von  unten  bis  hinauf  zu  dem  Minister- 
präsidenten, jenem  hochmodernen,  aufgeklärten  Körber,  hat  man 
zugedeckt  mit  einer  schönen  Untersuchung,  die  ein  neuerliches 
Vergehen  am  Recht  und  an  der  Gerechtigkeit  war.  Man  hat  sehr 
aufgeregt  getan,  es  gab  Untersuchungen  durch  den  Polizeipräsi- 
denten und  den  Minister  des  Innern.  (Heiterkeit.)  Man  hat  aber 
die  Polizisten  nicht  herausfinden  können,  die  das 
hier  verübt  haben.  (Erneuerte  Heiterkeit.)  Wenn  einer  von  Ihnen 
auf  dem  Rückweg  von  einer  Versammlung  mit  einem  Wachmann 
in  Konflikt  käme  und  an  ihn  anstreifen  würde,  um  ihn  aufmerksam 
zu  machen,  daß  sein  Rock  nicht  ganz  sauber  ist:  das  Verbrechen 
der  öffentlichen  Gewalttätigkeit,  bestraft  mit  vielen  Monaten 
Kerker,  wäre  ihm  sicher  und  man  hätte  den  Verbrecher.  Aber  hier. 
wo  es  sich  um  bewaffnete,  numerierte  Einbrecher  gehandelt 
hat,  wo  es  sich  herausgestellt  hat,  daß  niemand  den  Auftrag  ge- 
geben hat,  einzubrechen,  wo  die  Reputation  der  Polizei 
auf   dem   Spiele   gestanden,   hat   man   die   Verbrecher  nicht  finden 

12* 


180  Adler  im  Landtag*. 


können.  Man  hat  gesucht,  aber  nicht  die  Schuldigen,  sondern 
( iründe  zur  V  e  r  t  u  s  c  h  u  n  g,  zum  Schutze  der  Schul- 
digen. Das  ist  gelungen,  trotz  unserer  Bemühungen,  und  nicht 
einmal  ein  Disziplinarvergehen  hat  man  gefunden. 
Alle  diejenigen,  die  für  die  Ehre  und  Würde,  für  die  Autorität  des 
Staates,  für  die  Achtung  vor  dem  Gesetz  zu  sorgen  haben,  alle 
diese  Instanzen  sind  solidarisch  für  das  von  den  Polizisten  be- 
gangene Verbrechen  eingetreten.  Sie  haben  sich  selbst  befleckt  mit 
diesem  Verbrechen.  (So  ist  es!) 

Es  gibt  allerdings  noch  Leute,  die  gemeiner  sind,  die  noch 
niederträchtiger  sind,  die  moralisch  und  geistig  noch  tiefer  stehen. 
Die  ganze  Bevölkerung,  auch  Gegner,  hat  aufgeschrien  vor  Zorn. 
Aber  Leute  haben  aufgeschrien  nicht  vor  Empörung,  sondern  vor 
Schadenfreude,  aus  Gemeinheit.  Das  waren  die  christlichsozialen 
Politiker,  das  war  der  Herr  L  u  e  g  e  r.  Die  Tafel  unten  soll  uns 
nicht  nur  mahnen,  daß  der  Rechtsbruch  das  tägliche  Brot  in  diesem 
Lande  ist,  sondern  auch,  daß  wir  Gegner  haben,  die  so  niedrig, 
geinein  und  schurkisch  sind  wie  nirgends,  daß  der  Dr.  Karl 
L  u  e  g  e  r  im  offenen  Parlament  die  Untat  uns  aber  wegen  eines 
politisch  harmlosen  Wirtshausstreites  „Meuchelmörder"  ge- 
nannt hat.  (Stürmische  Pfuirufe!)  Ich  verstehe  die  Leidenschaft  des 
Gegners,  wie  ich  meine  verstehe,  und  nehme  es  niemand  übel,  daß 
er  mich  so  behandelt  wie  ich  ihn.  Aber  wenn  der  erste  Würden- 
träger der  Stadt  die  gröbste,  infamste  Verleumdung  gegen  unsere 
Partei  geschleudert  hat,  so  lag  das  nicht  auf  politischem  Gebiet. 
Ein  Mensch,  der  das  tut,  ist  entweder  ein  unheilbarer  Narr  oder  ein 
niederträchtiger  Schurke.  (Laute  Ausrufe  der  Entrüstung.)  Erinnern 
Sie  sich,  wie  man  nach  der  vorletzten  Landtagswahl  die  Frauen, 
die  sich  mit  einem  Opfermut  sondergleichen  an  dem  Kampfe  be- 
teiligten, Prostituierte  genannt  hat*).  Das  Monument,  das  hier  gesetzt 
worden  ist,  soll  uns  auch  erinnern  an  die  Kultur  der  Anständigkeit 
der  Kerle,  die  uns  hier  beherrschen.  (Lebhafter  Beifall.) 

Ich  danke  den  Genossen,  die  die  Errichtung  des  Steines  an- 
regten, im  Namen  der  Arbeiter  von  Favoriten,  im  Namen  der 
Arbeiter  von  ganz  Wien,  im  Namen  aller  derer,  die  an  dieser  Tafel 
neuen  Entschluß,  neue  Kraft  suchen  werden  und  die  dafür  sorgen 
werden,  daß  sie  ein  Denkmal  bleibe  für  jene  Zeit,  wo  wir  befreit 
sein  werden  von  Gerneinheit  und  Unrecht.  Sie  ist  ein  Pranger  für 
die  Träger  der  Justiz  und  Sicherheit  in  Österreich,  ein  Erinnerungs- 
zeichen für  uns,  die  nur  eine  Wohlfahrt,  Recht,  Freiheit  und  Sicher- 
heit in  diesem  Österreich  schaffen  wollen.  Wir  werden  nun  das 
Denkmal  ansehen  und  es  in  unsere  Hut  nehmen.  Eines  haben  wir 
zu  antworten,  das,  was  uns  den  Sieg  bringen  wird:  Hoch  die  inter- 
nationale Sozialdemokratie! 


*)  Siehe  Adlers  Rede  im  Landtag  über  die  „M  arodeure  des 
Klerikalismus"  vom  11.  Juli  1901  (Bd.  VIII,  Seite  430)  und  seine 
Rede  vom  5.  Juli  1901  über  die  „Z  e  i  t  u  n  g  s  s  t  r  o  1  c  h  e"  (in  diesem  Bande). 


Die  Antwort  der  Favoritner.  INI 

Die  Antwort  der  Favoritner. 

F  ii  n  f  V  c  r  s  a  m  m  I  u  n  g  e  n  a  m    I  2.   Novo  m  I)  er    L  902*  I. 

So  ist  es  immer.  Wenn  Arbeiter  irgendwo  zusammenkommen, 
müssen  die  Polizeihäuptlinge  ihre  Notwendigkeit  demonstrieren. 
Aber  an  diesem  Abend  hat  sieli  gezeigt,  was  in  solchen  Fällen  noch 
nicht  da.  war.  Hier  war  es  nicht  gewöhnliche  Streberei  der  Poli- 
zisten, sondern  es  war  Parteihaß  am  Werke:  die  spezielle  Partei- 
leidenschaft der  Christlichsozialen,  die  nichts  anderes  ist  als  Roheit, 
Gemeinheit  und  Brutalität.  (Stürmische  Zustimmung.)  Wenn  es 
möglich  ist,  dal]  der  Bürgermeister  von  Wien,  das  Haupt  der 
christlichsozialen  Partei,  im  Parlament  die  infame  Verleumdung 
wagt,  die  sozialistische  Partei  als  Meuchelmörder  zu  bezeichnen. 
weil  bei  einer  Rauferei  ein  Mann  gestochen  wurde,  was  soll  man 
dann  von  den  Polizisten  erwarten?  Lueger-Horde  u  n  d  P  o  1  i- 
z  i  s  t  e  n,  sie  gehören  zusammen.  Ihre  innerste  Natur  ist  ja 
dieselbe,  Lueger  hat,  als  er  in  der  Gemeinde  zur  Macht  kam,  damit 
angefangen,  daß  er  einem  geständigen  und  bekannten  Naderer  bloß 
deshalb,  weil  er  ein  Naderer  war,  die  Salvator-Medaille**)  verlieh, 
und  er  hat  seine  Partei  damit  für  alle  Zeiten  gekennzeichnet.  (Rufe: 
Spitzelpartei!) 

Am  Freitag  wurde  auf  der  Straße  eine  ganze  Reihe  harmloser 
Leute  von  Polizisten  schwer  verletzt,  gestoßen,  beschimpft,  ge- 
hauen, geprügelt.  Aber  daran  sind  wir  schon  gewöhnt,  und  das  ist 
es  gar  nicht,  was  diese  Aufregung  hervorgerufen  hat.  Am  Freitag 
ist  es  aber  zum  erstenmal  geschehen,  daß  Polizisten  ein  Verbrechen 
begingen,  das  nicht,  wie  sonst  die  Verbrechen,  abgeleugnet  werden 
kann.  Hier  in  unser  Haus  ist  eine  Horde  von  Polizisten  eingebrochen, 
ohne  jeden  Grund,  ohne  Auftrag,  wie  es  heißt.  Warum?  Aus  Haß 
gegen  die  Arbeiter,  aus  Haß  gegen  die  Gegner 
Lueger  s,  aus  blinder  Wut  gegen  die  sozialdemo- 
kratische Arbeiterschaft.  Sie  sind  herein- 
gestürmt in  dieses  Haus,  weil  es  den  Christlich- 
sozialen ein  Dorn  im  Auge  ist!  (Stürmische  Pfuirufe.)  Sie 
fluchen  und  beschimpfen  uns,  dieses  schöne  Haus,  sie  wollen  es  uns 
verekeln  durch  Anwürfe  aller  Art,  und  die  Wut,  daß  sie  uns  nicht 
ankönnen,  hat  diese  zwanzig  besoffenen  Kerle  hereingebracht. 
(Laute  Zustimmung.)  Wie  diese  Leute  da  hereinstürmten,  wie  sie 
in  blinder  Wut  auf  Menschen   und  Biergläser  losgingen,  da  hatte 

*)  In  fünf  großen  Versammlungen  gaben  die  Favoritner  Arbeiter  Ant- 
wort nicht  nur  auf  den  Polizisteneinbruch,  sondern  auch  auf  die  Infamie, 
mit  der  die  christlichsoziale  Presse  einen  Raufhandel  in  einem  Favorjtner 
Wirtshaus,  bei  dem  ein  in  Zivil  gekleideter  Wachmann  verwundet  wurde, 
in  einen  sozialdemokratischen  Mordversuch  auf  einen  Wachmann  hatte 
umlügen   wollen,  obwohl  schon  die   volle  Wahrheit  festgestellt  war. 

**)  Lueger  hatte  einem  Friseur,  Pfister,  der  einen  seiner  Kunden 
we^en  Majestätsbeleidigung  denunziert  hatte,  die  Salvator-Medaille,  das 
Ehrenzeichen  der  Gemeinde,  verliehen,  die  seither  von  allen  anständigen 
Menschen   als  „P  f  i  s  t  e  r  -  M  e  d  a  i  I  1  e"   in    Acht   getan    war. 


182    .  Adler  Im  Landtag. 


man  den  Eindruck  einer  Morde  von  Wahnsinnigen,  den  Kin- 
druck, daß  das  eine  plündernde  Schar  von  Feinden 
ist,  die  da  komme  n. 

Aber  so  gemein,  so  niederträchtig  und  roh  dies  ist,  was  da  ge- 
schehen ist,  das  ist  noch  nicht  das  Ärgste.  Die  Polizei  in  Wien  ver- 
fügt über  2000  bis  3000  Wachleute,  und  es  wäre  kein  Wunder,  wenn 
sich  unter  dieser  Armee  von  Leuten  eine  Anzahl  roher  Rüpel,  eine 
Anzahl  von  Verbrechern  befindet.  Aber  wenn  diese  Leute  dann 
Verbrechen  begehen,  so  haben  diejenigen,  die  dieses  Korps  leiten, 
vor  allem  die  Verbrecher  herauszugreifen,  sie  zu  verhaften  und 
dem  Gericht  einzuliefern.  Wenn  sie  es  aber  nicht  tun  —  und  sie 
haben  es  nicht  getan  — ,  so  machen  sie  sich  mitschuldig  an 
diesem  Verbrechen.  (Stürmischer  Beifall.)  Der  Polizei- 
präsident hat  uns  erklärt,  daß  er  die  Untersuchung  führt,  und  der 
Ministerpräsident  hat  erklärt,  daß  er  die  Untersuchung  kontrolliere. 
(Gelächter.)  Wir  sagen  aber:  Wir  pfeifen  auf  diese  Unter- 
suchung; denn  wir  glauben  nicht,  daß  sie  objektiv  geführt  wird. 
Denn  der  Polizeipräsident  hat  das  allergrößte  Interesse  daran 
-  leider,  weil  er  so  unverständig  ist  — ,  seine  Leute  zu  ent- 
lasten, anstatt  sie  zu  strafen!  Hätte  der  Mann  einen  Be- 
griff von  der  Würde  seines  Amtes,  so  muß  er  sein  Korps  reinigen 
von  allen  Elementen,  die  so  sind  wie  die  zwanzig,  die  hier  ein- 
brachen. (Stürmischer  Beifall.)  Aber  den  Begriff  hat  er  wohl  nicht. 
Diese  Polizisten  sind  ja  systematisch  dazu  erzogen,  syste- 
matisch auf  den  Mann  dressiert.  Man  will  die 
Bluthunde  als  Bluthunde  haben.  Man  fürchtet,  man 
könnte  es  ihnen  abgewöhnen,  wenn  man  sie  der  verdienten  Strafe 
zuführte.  Sie  könnten  zu  einer  anderen  Auffassung  kommen,  a  1  s 
daß  der  Arbeiter  nur  dazu  da  ist,  um  für  ihre  Säbel 
als  Objekt  zu  dienen.  Manwill  die  Neigung  zur 
Gewalttätigkeit,  das  Machtbewußtsein  in  ihnen 
nicht  beseitigen,  manwill  es  eher  festigen,  weil 
auf  Unrecht  und  Gewalttat  ihre  Macht  ruht  —  nach  ihrer  törichten 
Anschauung.  (Stürmischer  Beifall.) 

Wenn  wir  in  einem  Lande  leben  würden,  wo  man  Respekt  hat 
vor  dem  Bürger  und  seinem  Recht,  in  einem  Lande,  wo  die  Ab- 
geordneten sich  als  Vertreter  des  Volkes  fühlen,  so  würde  gestern, 
als  diese  Sache  im  Parlament  zur  Sprache  kam*),  das  ganze  Haus 
aufgestanden  sein  und  sich  gegen  den  Minister  gestellt  haben.  Der 
größte  Feind  unserer  Partei  —  wenn  er  nur  ein  ehrlicher  Mensch 
ist  —  hätte  mit  uns  dagegen  protestieren  müssen,  daß 
der   Arbeiter    ein   Freiwild   ist   für    die    Säbel   der 


)  Pernerstorfcr  hatte  wegen  des  Polizisteneinbruches  interpelliert. 
Körber  antwortete  mit  einer  Verteidigung  der  Polizei,  die  von  den  Sozial- 
demokraten angegriffen  worden  sei,  und  erklärte,  daß  vom  Polizeidirektor 
bereits  eine  Untersuchung  im  Zuge  sei.  Ein  Antrag  Pernerstorfers,  über 
diese  Debatte  die  Debatte  zu  eröffnen,  wurde  abgelehnt,  ja  als  Perner- 
storfer  von  den  christlichsozialen  Fanghunden  in  der  Uniform 
der  Sicherheitswache  sprach,  drohte  ihm  der  Präsident  das  Wort  zu  ent- 
ziehen. 


I  >ie  Aniuoi  t  der  Favoi  Itnei .  183 

Polizisten,  und  daß  eine  solche  Gewalttat  ungestraft  begangen 

werden  dürfe.  Was  heute  uns  geschieht,  kann  morgen  den  anderen 
geschehen,  und  es  wird  ihnen  geschehen.  Die  Flutwelle 
des    Klerikalismus,    die    heute    den    Lueger    in    die    Hohe    und    in    SO 

nahe  Gevatterschaft    und  Bundesgenossenschaft    mit    dem  Körber 

bringt,  die  wird  auch  bewirken,  dal.»  diese  Gewalttätigkeit  nicht  halt- 
macht bei  den  Arbeitern,  sie  wird  z  u  d  e  n  B  ü  r  g  e  r  n  a  n  cli  vor- 
dringen,  sobald  sie  rebellisch   werden,   und   ich   gestehe,   ich 

könne  es  ihnen  vom  Herzen,  ich  gönne  es  ihnen,  weil  sie 
sitzen  blieben,  als  Körber  mit  ein  paar  elenden,  verlegenen  Aus- 
flüchten sich  über  den  Skandal  hinweghalf,  weil  sie  da  sitzen 
blieben,  wo  man  erwarten  mußte,  daß  das  ganze  Haas,  vielleicht 
mit  Ausnahme  der  sittlich  verkommenen  Leute  auf  den  Lueger- 
Bänken,  sich  für  die  Eröffnung  der  Debatte  erheben  werde.  (Leb- 
hafter Beifall.) 

Und  nun,  was  können  wir  tun?  Wir  können  und  das  werden 
unsere  Abgeordneten  tun  —  darauf  bestehen,  daß  die  Schuldigen 
verfolgt  werden,  und  wenn  das  gelingt,  daß  wir  ihre  verantwort- 
lichen Führer,  daß  wir  den  Polizeipräsidenten  und  den 
Ministerpräsidenten  an  den  Pranger  der  Ge- 
schichte nageln  für  die  Untat,  die  da  begangen 
w  urde.  (Stürmischer  Beifall.)  Und  noch  eines  können  wir,  das  ist. 
daß  wir  dafür  sorgen,  daß  die  Zahl  der  Sozialdemokraten  größer 
werde  und  die  Zahl  der  Knechte  kleiner.  In  diesem  Lande  ist  es 
ein  Fluch,  zu  arbeiten  und  zu  leben,  solange  nicht  die  arbeitenden 
Menschen  zu  einer  großen,  imponierenden  Macht  geworden  sind, 
solange  es  nicht  möglich  ist,  mit  solcher  Macht  aufzutreten,  daß 
jede  solche  Schandtat  verhindert  werde. 

Wir  haben  dem  Herrn  Justizminister  und  Ministerpräsidenten 
fünf  Tage  Zeit  gegeben,  zu  tun,  was  seines  Amtes  ist.  Da  er  es  nicht 
getan  hat,  werden  wir  morgen  die  Anzeige  an  die 
Staatsanwaltschaft  erstatte  n*),  und  wir  werden  sehen, 
was  sie  zu  verfügen  geruhen  wird!  In  Österreich  wäre  es  ja  schließ- 
lich auch  nicht  unmöglich,  daß  man  uns  auch  die  Rechnung  für 
verdorbene  Säbel  vorlegt.  (Heiterkeit.) 

Unterdessen  aber  ist  etwas  anderes  notwendig.  Der  Zustand. 
wie  er  heute  besteht,  kann  nicht  so  bleiben.  Es  muß  eine  gewisse 
Beruhigung  unter  Ihnen  eintreten.  Sie  müssen  er- 
kennen, daß  die  ganz  berechtigte  Wut,  die  Sie  in  sich  haben,  die 
Entrüstung,  die  jeder  anständige  Mensch  mit  Ihnen  teilt,  sich  nicht 
erschöpfen  kann  in  Flüchen  und  Beschimpfungen,  nicht  erschöpfen 
kann  darin,  daß  wir  den  verächtlichen  Gegner  beurteilen  wie 
er  es  verdient,  sondern  daß  diese  Kraft  der  Entrüstung  um- 
gewandelt werden  muß  in  eine  Kraft,  die  unsere  Mühlen  treibt,  jene 
Mühlen,  die  langsam  mahlen,  aber  gründlich  mahlen,  in  eine  Kraft. 
die  unsere  Organisationen  groß  macht,  die  neuen  Geist,  neuen 
Eifer,   neue   heilige   Begeisterung   für   unsere   große   Sache   in   alle 

)   I)ie  Staatsanwaltschaft   hat  auf  diese   Anzeige   geantwortet,  daß  sie 
die  Schuldigen  nicht  feststellen  könne. 


184  Adler  im  Landtag. 


Herzen  bringt.  (Stürmischer,  andauernder  Beifall.)  Denn  in  all 
diesem  österreichischen  Elend  gibt  es  nur  einen  Trost:  Österreich 
ist  ein  elendiger,  schmutziger,  korrupter  Sumpf,  aber  eines  gibt  es 
da,  was  groß  ist,  was  siegen  wird  und  dem  die  Zukunft  gehört,  das 
ist  die  österreichische  Sozialdemokratie.  Daß  es  Arbeiter 
hier  gibt,  die  sich  in  den  Dienst  der  Freiheit 
stellen,  das  sei  unser  Trost! 

Und  nun  bitte  ich  Sie  um  etwas.  Lassen  Sie  nicht  noch  mehr 
Opfer  fallen,  als  bisher  schon  gefallen  sind.  47  Leute  haben  sich 
schon  als  verwundet  gemeldet  und  viele  scheuen  sich,  ihre  Namen 
zu  nennen,  um  sich  Scherereien  zu  ersparen.  Genug  Opfer  sind  also 
gefallen.  Überlassen  Sie  den  Kampf  mit  der  Polizei  und  den  Gegnern 
jetzt  den  Abgeordneten.  Vor  allem  aber  bitte  ich  Sie,  gehen  Sie 
nach  der  Versammlung  ruhig  nach  Hause.  Ihre  Schädel  sind  zu  gut 
dafür,  als  daß  die  Polizisten  an  ihnen  sich  Rache  holen.  Denn  wie 
die  auch  toben  in  ihren  Blättern,  so  fühlen  sie  doch  sehr  genau,  daß 
sie  diesmal  im  Nachteil  sind,  daß  wir  im  Recht  und  sie  im  Unrecht 
sind  vor  der  ganzen  öffentlichen  Meinung,  und  sie  möchten  gern 
eine  Gelegenheit  haben,  die  Geschichte  umzudrehen.  Was  wir  zu 
sagen  haben,  haben  wir  gesagt,  und  das  übrige  werden  morgen 
unsere  Abgeordneten  sagen.  Wir  aber  gehen  wieder  an  unsere 
tägliche  Arbeit.  (Stürmischer  Beifall  und  Händeklatschen.) 

In  der  Frauenversammlun  g*). 

Ich  freue  mich,  daß  Sie  mit  mir  zufrieden  sind,  auch  wenn  ich 
kein  Landtagsabgeordneter  bin.  (Heiterkeit.)  Mir  hat's  nicht  ge- 
schadet, wenn's  dem  Landtag  nicht  schad't!  (Heiterkeit.)  Das  Land- 
tagsabgeordnetenwählen  ist  nicht  das  Wichtigste,  das  wir  zu  tun 
haben.  Wir  haben  mehr  Kämpfe.  Sie  sollen  mir  nicht  —  aus- 
kühlen! (Heiterkeit.)  Lueger  hat  uns  gestern  im  Parlament 
Meuchelmörder  genannt.  Es  war  eine  Rauferei  in  einem  Wirtshaus. 
Der  Bürgermeister  von  Wien  ist  ein  so  infamer  Schurke, 
diese  dumme  Hochzeitsrauferei  als  „Meuchelmord"  im  Parlament 
auszugeben.  (Pfuirufe.)  Arbeiten  Sie  auch  während  der  Zeit,  wo 
keine  Wahlzeit  ist  so,  als  ob  Wahlen  wären.  Versprechen  Sie  mir 
das!  (Rufe  von  allen  Seiten:  Wir  schwören  es!  Wir  ver- 
sprechen es!) 


*)  In  der  Frauenversammlung,  die  im  kleinen  Saale  des  Arbeiterheims 
stattfand,  referierte  Therese  Schlesinger.  Nach  ihr  sprach  Adler 
einige  Sätze. 


Reichenberi  1H-' 


Das  System  Bienerth. 

Reichenberg. 

„A  r  3b  e  i  t  e  r  -  Z  e  i  t  u  n  g",  19.  S  e  p  t  e  m  her   I  909*). 

Auf   klassischem   Boden   der   Sozialdemokratie   werden   morgen 
die  Vertrauensmänner    des    deutschen    Proletariats    in    Österreich 


*)  Am  6.  November  1908  war  Beck  von  der  Thronfolgerkamarilla  mit 
Hilfe  der  Christlichsozialen  gestürzt  worden,  weil  er  nicht  genügend 
energisch  gegen  den  Professor  Wahrmund  vorging  (siehe  Adlers  Rede 
zum  Fall  Wahrmund  in  der  Budgetdebatte  am  3.  Juni  1908)  und  weil  er 
wiederholt  im  nationalen  Wirrwarr  an  die  Hilfe  der  Sozialdemokraten 
appelliert  hatte.  (Siehe  darüber  namentlich  die  Fußnote  zu  Adlers  Rede 
vom  3.  Dezember  1908:  „Für  die  Nationen!  Wider  die  nationalistischen 
Hetzen!"  im  Bd.  VIII,  Seite  144  f.)  Mitten  im  ärgsten  nationalen  Chaos,  da 
es  in  ganz  Böhmen  nationale  Exzesse  gab,  ließ  man  Beck  fallen  und  am 
7.  November  wurde  der  bisherige  Innenminister  Richard  Freiherr  v.  B  i  e- 
nerth  zum  Ministerpräsidenten  ernannt,  der  nach  Geßmanns  Plan  alle 
bürgerlichen  Parteien  gegen  die  Sozialdemokratie  einigen  sollte.  Aber  statt 
eines  parlamentarischen  Kabinetts  konnte  er  dem  Parlament  doch  nur 
ein   Beamtenkabinett  vorstellen. 

Der  Parteitag  in  Reichenberg,  der  vom  19.  bis  24.  September  tagte, 
trat  in  einer  Zeit  völliger  Verwirrung  des  Staates  zusammen.  Bienerth 
hatte  das  Parlament  wieder  einmal  auseinandergejagt,  indem  er  die 
Obstruktion  der  Slawischen  Union  als  Ausrede  benutzte.  Vergebens  hatte 
Adler  in  der  Obmännerkonferenz  am  9.  Juli  die  Parteien  dazu  gebracht, 
die  Bekämpfung  der  Obstruktion  selbst  in  die  Hand  zu  nehmen  und  so 
lange  zu  tagen,  bis  die  Obstruktion  niedergerungen  sei.  Die  Obstruktio- 
nisten  hatten  sich  darauf  bereit  erklärt,  auf  ihre  Dringlichkeitsanträge  zu 
verzichten.  Aber  die  Regierung  schloß  kurzerhand  die  Session.  Darauf 
erließ  der  sozialdemokratische  Verband  ein  Manifest  „An  das  arbei- 
tende Volk  aller  Nationen  Österreichs!",  worin  er  die 
Schuld  der  Regierung  und  der  bürgerlichen  Parteien  an  der  Sprengung 
des  Parlaments  feststellte.  (Siehe  über  die  ersten  Phasen  des  Systems 
Bienerth  Adlers  Reden  im  achten  Band  dieser  Schriften,  und  zwar  „Das 
Standrecht  in  Prag"  vom  15.  Dezember  1908,  die  „Schließung  des  Parla- 
ments" vom  8.  Februar  1909,  „Die  Sprengung  des  Parlaments"  vom 
14.    Juli    1909  Bd.    VIII,    Seite    294   bis    327   —  und    die    dazugehörigen 

Fußnoten   zu   der   Situation   beim   Reichenberger   Parteitag,   namentlich   die 
Fußnote  auf  Seite  315.) 

Zum  Reichenberger  Parteitag,  auf  dem  Adler  überdies  auch  ein  Referat 
über  „Äußere  Politik  und  R  ü  s  t  u  n  g  e  n"  hielt  (Bd.  IX,  Seite  29  f.), 
hat  Adler  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  diesen   Begrüßungsartikel   geschrieben. 


186  Das  System  Bienerth. 


zusammentreten.  Nordböhmen  ist  eine  der  Geburtsstätten  der 
österreichischen  Arbeiterbewegung  und  der  Bezirk  Reichenberg 
zumal  eines  der  ruhmvollsten  Schlachtfelder  proletarischer  Kämpfe, 
in  der  Geschichte  der  nordböhmischen  Arbeiterschaft  spiegelt  sich 
mit  handgreiflicher  Deutlichkeit  der  Gang  der  kapitalistischen  Ent- 
wicklung, aber  auch  damit  parallel  der  bewundernswerte  Aufstieg 
des  Proletariats  zum  klaren  Klassenbewußtsein  und  zur  politischen 
Wehrhaftigkeit.  In  einer  Atmosphäre  der  besten  sozialdemokra- 
tischen Tradition  wird  unsere  Parteiversammlung  tagen,  in  einer 
Luft,  die  getränkt  ist  von  Kampfesmut  und  Kampfesfreudigkeit. 

Der  Parteitag  wird  reichliche  Arbeit  zu  verrichten  haben.  Die 
Vertrauensmänner  der  Partei  werden  Rechenschaft  legen  über  das, 
was  in  den  letzten  zwei  Jahren  geleistet  wurde.  Mit  ruhigem  Ge- 
wissen und  bescheidenem  Bewußtsein  der  redlich  erfüllten  Pflicht 
können  sie  dieser  Selbstprüfung  entgegensehen.  Die  deutsche 
Sozialdemokratie  ist  größer  und  stärker  geworden  in  dieser  Zeit. 
Nach  der  ungeheuren  Kraftanspannung  der  Reichsratswahlen  gab 
es  kaum  eine  Pause  der  Ermüdung  und  Ruhe,  sondern  mit  neuem 
Eifer  wurde  sofort  das  Werk  der  Propaganda  und  der  Organisation 
wieder  aufgenommen.  Gerade  in  Deutschböhmen  sind  die  Fort- 
schritte, die  wir  gemacht  haben,  deutlich,  und  wenn  die  Neugestal- 
tung unserer  Organisation  an  der  Spitze  der  Aufgaben  steht,  die 
der  Parteitag  zu  erfüllen  hat,  so  vor  allem  darum,  weil  dem 
Wachstum  der  Partei,  ihrem  intensiver  und  mannigfaltiger  gewor- 
denen Leben  der  alte  Rahmen  nicht  mehr  genügt.  Auf  den 
schwierigsten  Posten  waren  unsere  Vertreter  im  Parlament  ge- 
stellt. In  engster  Solidarität  und  Kampfgemeinschaft  mit  unseren 
Genossen  anderer  Nationalität  haben  sie  in  unserem  Verband  der 
sozialdemokratischen  Abgeordneten  in  schwerster  politischer  Zeit 
ein  Stück  schwerster  politischer  Arbeit  geleistet.  Während  die 
bürgerlichen  Parteien  sich  selbst  und  das  Parlament  zerfleischten, 
während  eine  rat-  und  tatlose  Regierung  das  Wirrsal  sich  bis  zum 
Gipfel  steigern  ließ,  tat  der  Sozialdemokratische  Verband  furchtlos 
und  treu,  besonnen  und  mutig  seine  Pflicht.  Und  die  reaktionären 
Parteien,  deren  Traum  es  war,  die  Sozialdemokraten  einzukreisen, 
zu  demütigen,  zu  vernichten,  mußten  mehr  als  einmal  von  ihrem 
eigenen  Wahnsinn  an  die  sozialdemokratische  Vernunft,  von  ihrer 
eigenen  Schwäche  an  die  selbstsichere  Kraft  der  Sozialdemokratie 
appellieren.  Zum  zweitenmal  ist  nun  die  parlamentarische  Arbeit 
unterbrochen  dank  der  verbrecherischen  Frivolität  der  Obstruktion 
und  der  feigen  Schwäche  derer,  die  die  Obstruktion  mit  lautem 
Lamento  verfluchen,  aber  zu  kraftlos  und  zu  faul  sind,  sie  zu  über- 
winden, dank  vor  allem  einer  Regierung,  die  die  Impotenz  zur 
obersten  staatsmännischen  Maxime  erhoben  hat.  Aber  der  Boden 
des  Parlaments  wird  wieder  betreten  werden  müssen  und  die 
Sozialdemokratie  wird  von  neuem  mit  Energie  und  Zähigkeit  ihre 
Arbeit  wieder  aufnehmen,  wird  sein,  was  sie  war:  der  feste  Pol 
in  der  Flucht  der  Erscheinungen  selbstmörderischen  Wahnwitzes. 
Die  sozialdemokratischen  Abgeordneten  können  mit  stolzer  Ruhe 


Reichenben  187 


vor  ihre  Wähler  treten,  sie  sind  es  nicht-,  die  die  Hoffnungen  ent- 
täuscht haben,  die  die  Völker  an  das  Hans  des  allgemeinen  Wahl- 
rechtes knüpfen.  Nichts  wäre  erwünschter,  als  daß  recht  bald  die 
Probe  auf  das  Exempel  gemacht  würde.  Wenn  Herr  v.  Bienerth 
nicht  seinen  Bankrott  erklären  und  abtreten  will,  dann  ist  es  seine 
Pflicht,  an  die  Wähler  zu  appellieren,  und  die  Neuwahlen  werden 
beweisen,  wie  die  Massen  über  die  breitmäuligen  Demagogen  und 
die  unfähigen  Staatsmänner  urteilen. 

Der  Parteitag  wird  sich  selbstverständlich  über  die  politische 
Taktik  der  Partei  aussprechen  und  er  wird  ihre  Stellung  zu  dem 
neuesten  Wirbelsturm  chauvinistischer  Aufgeregtheit  deutlich  um- 
schreiben. Vermutlich  wird  die  Erörterung  der  nationalistischen 
Ausschreitungen  nicht  einen  besonderen  Punkt  der  Tagesordnung 
bilden,  wie  einige  Genossen  vorschlagen,  denn  die  Erscheinungen 
des  nationalistischen  Deliriums  lassen  sich  von  der  Behandlung  der 
Gesamtpolitik  in  Österreich  leider  nicht  trennen.  Soweit  es  sich 
aber  um  die  Erörterung  und  Vertiefung  des  nationalen  Programms 
der  Sozialdemokratie  selbst  handelt,  ist  das  eine  ebenso  not- 
wendige wie  schwierige  Aufgabe,  die  aber  klarerweise  nur  ge- 
meinsam mit  unseren  Genossen  anderer  Zunge  gelöst  werden  kann. 
Das  hat  in.  einer  Debatte,  deren  sachlicher  Ernst  und  von  Ver- 
antwortungsgefühl getragene  Besonnenheit  wohl  anerkannt  werden 
darf,  der  Prager  Parteitag  unserer  tschechischen  Genossen  auch 
seinerseits  als  einzig  zweckentsprechend  festgestellt.  Die  deutschen 
Sozialdemokraten  waren  sich  der  Notwendigkeit,  die  Grundlinien 
für  ein  gemeinsames  nationales  Programm  gemeinsam  zu  er- 
arbeiten, stets  bewußt  und  haben  bei  aller  pflichtmäßigen  Wahrung 
der  Bedingungen  des  nationalen  Lebens  des  deutschen  Volkes  auch 
in  den  schwierigsten  Lagen  trotz  mancher  Meinungsverschieden- 
heit die  engste  Kampfessolidarität  mit  den  Bruderparteien  zu 
wahren  gewußt.  Gemeinsam  trotzen  wir  dem  Ansturm  der  Natio- 
nalisten von  allen  Seiten,  getragen  von  Liebe  zum  eigenen  Volke, 
gestärkt  durch  das  unzerreißbare  Band  der  internationalen  Solida- 
rität des  Proletariats. 

In  dieser  Zeit,  wo  alles  wieder  einmal  wankt  in  diesem  Lande, 
wo  alles  problematisch  geworden  ist,  Reich,  Staat  und  Länder, 
Verfassung  und  Verwaltung,  in  dieser  Zeit,  wo  eine  schwere  wirt- 
schaftliche Krise  die  Lebenshaltung  der  arbeitenden  Massen 
heruntergedrückt  hat,  finden  es  unsere  Regierenden  für  gut,  mit 
neuen,  geradezu  wahnwitzigen  Forderungen  für  den  Militarismus 
hervorzutreten,  sofort  auch  die  Rechnung  zu  präsentieren  in  ebenso 
dreisten  wie  unreifen  Finanzplänen,  in  denen  nur  eines  deutlich  ist: 
daß  sie  auf  die  Ausplünderung  der  breiten  Massen  hinauslaufen, 
derselben  Massen,  deren  notwendigste  Lebensbedingungen  man 
dem  Zugriff  der  Agrarier  preisgibt.  Die  Sozialdemokratie  wird 
darauf  die  Antwort  nicht  schuldig  bleiben  und  der  Parteitag  wird 
sie  unmißverständlich  formulieren.  Schon  hat  die  Furcht  vor  der 
Sozialdemokratie  die  bürgerlichen  Parteien  eingestandenermaßen 
genötigt,  den  staatlichen  Biersteuerplänen    einen    ungewohnt    ein- 


188  Das  System  Bienerth. 

mutigen  Widerstand  zu  leisten,  und  wir  werden  es  verstehen,  den 
Herren  auch  fernerhin  den  Rücken  zu  steifen.  Die  Bewilligung 
neuer  Steuern  im  Galoppschritt,  aber  die  Verschleppung  der  Alters- 
und Invalidenversorgung,  das  ist  das  sozialpolitische  Programm 
der  Regierung  und  ihrer  bürgerlichen  Stützen.  Die  sozialdemo- 
kratische Arbeiterschaft  wird  ihre  Antwort  darauf  finden. 

Schwere  Arbeit  und  harter  Kampf  steht  vor  uns.  Aber  zu 
arbeiten  ist  das  klassenbewußte  Proletariat  gewohnt,  in  bitterem 
Kampf  ist  die  Sozialdemokratie  erwachsen  und  groß  gediehen  und 
in  diesem  Lande,  wo  alles  fraglich,  ist  es  allein  die  sozialdemo- 
kratische Arbeiterschaft,  die  ohne  Zagen  und  sicher  ihrer  Zukunft 
ihren  Weg  geht. 

So  wünschen  wir  denn  guten  Erfolg  und  reichliche  Frucht  der 
Arbeit  unseres  Reichenberger  Parteitages! 

Die  neue  Regierung  Bienerth. 

Erste  Lesung  des  Budgets,  2  4.  Jänner  1911*). 

Diejenigen,  welche  gemeint  haben  —  und  die  Sozialdemokraten 
gehörten  dazu  — ,  es  lohne  sich  nicht,  außer  der  Budgetdebatte  eine 
besondere  politische  Debatte  über  die  Regierungserklärung  abzu- 

*)  Mehr  als  zwei  Jahre  lang  regierte  Bienerth  bereits  mit  dem 
einzigen  Programm :  „Gegen  die  Sozialdemokratie!"  Dabei 
ließ  er  immer  die  Obstruktionen  gewähren,  ohne  den  Versuch  zu  machen, 
sie  durch  Verhandlungen  beizulegen  oder  durch  Energie  niederzuringen. 
Als  durch  seine  Unfähigkeit  die  Obstruktion  am  5.  Februar  1909  das 
Parlament  durch  Lärm  störte,  schloß  er  die  Session  und  nahm  in  den 
Ferien  einige  neue  Minister  auf:  Stürgkh  als  Unterrichtsminister, 
Hochen  burger  als  Justizminister,  Weiskirchner  als  Handels- 
minister  und,  obwohl  er  sich  als  deutschen  Minister  feiern  ließ,  auch  den 
Polen  B  i  1  i  n  s  k  i  und  den  Tschechen  B  r  a  f .  (Siehe  Bd.  VIII,  Seite  307. 
Note.)  Im  Juli  1909  gelang  es  Dr.  Adler,  die  Obmänner  der  Parteien 
für  den  Plan  zu  gewinnen,  die  Obstruktion  der  „Slawischen  Union"  nieder- 
zuringen. Als  aber  die  Obstruktionisten  kapitulieren  wollten,  schloß 
Bienerth  am  11.  Juli  die  Session.  (Siehe  Band  VIII,  Seite  316,  Note.)  Die 
Thronfolgerkamarilla  wollte  kein  Parlament;  so  mußte  Bienerth  die  Ge- 
sundung  des  Parlaments   verhindern,   um   dann   mit  dem   §   14  zu   regieren. 

In  Wirklichkeit  hatte  Bienerth  auch  nie  eine  teste  Mehrheit  im 
Parlament.  Von  den  516  Abgeordneten  gehörten  den  Regierungsparteien  nur 
243  an:  96  Christlichsoziale,  77  Deutschfreiheitliche  und  70  Polen.  Die 
fehlenden  16  Abgeordneten  mußten,  wenn  es  bei  einer  Abstimmung  not- 
wendig wurde,  aus  der  Gruppe  der  Unio  latina  (Italiener  und  Rumänen) 
oder  von  den  fünf  Bukowinaer  Ruthenen  (die  zum  Unterschied  von  den 
radikalen  Ruthenen  aus  Galizien  regierungsfreundlich  waren)  verschafft 
werden.  So  war  die  Mehrheit  der  Regierung  immer  sehr  schwankend  und 
oft  nur  mit  den  Stimmen  der  vier  Minister,  die  auch  Abgeordnete  waren, 
zu  halten.  Auch  in  der  Majorität  gab  es  immer  irgendeine  unzufriedene 
Gruppe,  die  mit  Opposition  drohte.  So  namentlich  im  Polenklub,  der  ehe- 
mals die  festeste  Stütze  jeder  Regierung,  seit  der  Einführung  des  allge- 
meinen  Wahlrechtes  aber  innerlich  so  zersetzt  war,  daß  die  bäuerlichen 


Die  neue  Regierung  Bienerth.  189 

führen,  dürften   wohl   nach  dein  allgemeinen  Urteil   heute   reeht  be- 
halten haben.  Was  der  Ministerpräsident  vorgebracht   hat,  verlohnt 


und  die  städtischen  Elemente  nicht  mehr  der  Parole  der  „Schlachzizen" 
(des  Adels)  folgten.  Ursprünglich  drohte  der  Regierung  Bienerth  die  Ge- 
falir  von  der  bäuerlichen  (iruppe,  der  „Volkspartei",  die  Anlehnung  an  die 
oppositionelle  „Slavische  Union"  suchte  und  sich  wiederholt  bei  Ab- 
stimmungen absentierte.  Mit  dieser  kam  eine  Vereinbarung  zustande,  als 
die   Regierung   Bienerth   eine   dieser   Partei   nahestehende   Bank   sanierte. 

Aber  im  Dezember  1910  kam  es  plötzlich  zu  einem  Bruch  mit  der 
Majorität  des  Polenklubs,  die  auf  das  Drängen  ihrer  Wähler  hin  die 
endliche  Ausführung  des  im  Jahre  1901  beschlossenen  Gesetzes  über  den 
Bau  von  Wasserstra  B  e  n  verlangte.  Das  (iesetz,  das  Koerber  durch- 
gesetzt hatte,  um  die  nationale  Obstruktion  mit  einem  wirtschaftlichen 
Programm  zu  besiegen,  war  nämlich  nicht  durchgeführt  worden,  weil 
man  die  halbe  Milliarde,  die  die  Kanäle  kosten  sollten,  dem  Militarismus 
und  Marinismus  nicht  entziehen  wollte.  Aber  gerade  in  Galizien  hatte 
man  sich  von  den  Kanälen  eine  gewaltige  Entwicklung  der  Produktions- 
kraft des  Landes  versprochen  und  deshalb  verlangte  der  Polenklub  immer 
wieder  die  Durchführung  des  Gesetzes. 

Aber  Bienerth  war  in  seine  Politik  der  Passivität  so  eingeschworen 
und  dabei  so  ungeschickt,  daß  er  schon  im  Sommer  1910  einer  Abordnung 
des  Polenklubs  statt  der  üblichen  allgemeinen  Vertröstungen  rundheraus 
erklärte,  die  Regierung  denke  gar  nicht  daran,  die  Wasserstraßen  zu 
bauen.  Das  war  der  Grund,  warum  schon  im  Sommer  sich  die  Polen 
zurückhaltend  verhielten  und  warum  damals  das  Parlament  plötz- 
lich geschlossen   wurde. 

Lange  wurde  verhandelt,  und  da  der  Polenklub,  wenn  er  sich  im  Lande 
nicht  unmöglich  machen  wollte,  nicht  nachgeben  konnte,  mußte  Bienerth 
am  12.  Dezember  zurücktreten.  Aber  bald  zeigte  sich,  daß  es  der 
Krone,  aber  auch  dem  Polenklub  mit  der  Krise  nicht  Ernst  war. 
Der  Polenklub  verzichtete  auf  seine  sachlichen  Forderungen  und  begnügte 
sich  damit,  daß  sein  Obmann  Minister  wurde.  Professor  G  1  o  m  b  i  n  s  k  i 
wurde  Eisenbahrimiriister  und  außerdem  noch  der  polnische  Sektionschef 
v.  Zaleski  polnischer  Landsmannminister.  Bienerth  hatte  auch  mit  den 
Tschechen  verhandelt  und  ihnen  für  den  Eintritt  in  die  Regierungskoalition 
zwei  Ministerien  angeboten.  Als  die  deutschbürgerlichen  Parteien  davon 
erfuhren,  protestierten  sie  dagegen,  worauf  ihnen  wieder  Bienerth  die 
endgültige  Demission  androhte.  Schließlich  einigte  man  sich  dahin,  daß 
die  Tschechen  nur  einen  Minister  erhielten,  den  Sektionschef  Marek 
als   Minister  für  öffentliche  Arbeiten. 

Dafür  wurden  noch  zwei  deutsche  Beamte  aufgenommen,  und  zwar  als 
Minister  des  Innern  Graf  Wickenburg,  der  bisher  Sektionschef  im 
Ackerbauministerium  gewesen  war,  und  als  Ackerbauminister  ein  Hof- 
rat v.  W  i  d  m  a  ii  n.  Außerdem  blieben  von  den  alten  Ministern  Weis- 
kirchner, Hochenburger,  Stürgkh  und  der  Landes- 
verteidigungsminister Georgi.  Um  den  Kurs  der  neuen  Regierung  noch 
deutlicher  zu  unterstreichen,  wurde  Graf  Thun  zum  Statthalter 
v  o  n    B  Ö  h  m  e  n   ernannt. 

Am  17.  Jänner  1911  stellte  sich  die  neue  Regierung  dem  Parlament 
mit  einer  inhaltlosen  Erklärung  vor.  In  der  Budgetdebatte,  die  sofort 
begann,  wurde  natürlich  vornehmlich  über  die  Regierungserklärung  ge- 
sprochen. Für  die  Sozialdemokraten  sprachen  Adler,  Daszynski 
und    Dr.   Leo   Winter   (Prag). 


190  Das  S\  stein  Bienerth. 


wahrhaftig  nicht,  einer  besonderen  Erörterung  unterzogen  zu  wer- 
den; es  war  nichts  als  eine  Wiederholung  alter  bewährter  Redens- 
arten. Nicht  ein  Wort  hat  man  über  die  Absichten,  die  Pläne,  die 
Politik  der  neuen  ins  Amt  getretenen  Regierung  vernommen.  Die 
Regierung  versichert,  ihr  Leitstern  werde  die  gewissenhafteste 
Objektivität  in  der  Verwaltung  sein.  Hat  man  je  eine  Regierung 
gesehen,  die  etwas  anderes  versichert  hätte?  Wir  kennen  diese 
Objektivität  zur  Genüge,  insbesondere  wenn  sie  in  der  Bienerth- 
schen  Inkarnation  auftritt,  die  einfach  die 

Objektivität  des  Nichtstuns, 

die  Objektivität  des  Nichteingreifens,  des  Zusehens  ist,  die  für  die 
Unfähigkeit,  einzugreifen,  die  Formel  eines  tiefen  politischen  Ge- 
dankens, des  Geschehenlassens,  wählt.  Wir  haben  von  den  staats- 
männischen Ideen  des  Ministeriums  Bienerth  auch  in  seiner  dritten 
Erscheinung  nichts  zu  erwarten.  Wir  haben  nicht  den  geringsten 
Anhaltspunkt  dafür,  daß  jetzt  ein  neuer  Weg,  daß  überhaupt  ein 
Weg  beschritten  wird,  sondern  wir  haben  es  mit  nicht  mehr  zu  tun 
als  mit  dem  Wunsche,  zu  bleiben. 

Allerdings  haben  wir  einige  Personalveränderungen  auf  der 
Regierungsbank.  Wenn  man  sieht,  wie  großaussehende  politische 
Aktionen,  wie  die  des  Polenklubs,  zuletzt  in  kleine  Personal- 
verschiebungen ausmünden,  muß  man  sagen:  Ein  Tor  ist,  der  sich 
davon  täuschen  läßt.  Wahr  ist,  was  Baron  Bienerth  sagte:  Der 
Kurs  bleibt  der  alte,  das  heißt  kein  Steuermann  und  kein 
K  u  r  s.  (Zustimmung  und  Beifall  bei  den  Sozialdemokraten.) 

Der  nationale  Streit  in  Böhmen  soll  eine  neue  Behandlung  er- 
fahren, indem  man  den  Grafen  Thun  zum  Statthalter  gemacht  hat. 
Gewiß  ist  eines:  Von  allen  Personalnachrichten  der  „Wiener  Zei- 
tung" ist  diese  Ernennung  eine,  die  auf  die  innere  Politik  den 
größten  Einfluß  übt.  Gewiß  ist  Graf  Thun  nicht  ein  Statthalter  wie 
ein  anderer.  Und  wie  lange  der  Ministerpräsident  unter  ihm  dienen 
wird  (Heiterkeit),  ist  eine  Frage,  die  er  wohl  selbst  noch  nicht  zu 
beantworten  weiß.  Für  uns  bedeutet 

der  Name  Thun  vor  allem  ein  Stück  Geschichte, 

und  zwar  ein  Stück  der  traurigsten  Leidensgeschichte  der  Arbeiter- 
schaft Böhmens,  aber  auch  des  Bürgertums.  Für  uns  bedeutet  der 
Name  Thun  die  Erinnerung  an  den  Ausnahmszustand,  an  willkür- 
liche Prozesse,  an  schmählichste  Verfolgung,  an  die  furchtbarsten 
Exzesse  des  Feudalismus.  Graf  Thun  kommt  heute  in  anderem  Ge- 
wände. Er  behauptet,  er  habe  etwas  gelernt,  und  er  erwartet  von 
uns,  daß  wir  vergessen  sollen.  Ob  das  möglich  ist,  wird  von 
ihm  abhängen.  Wenn  er  aber  mit  der  Ambition  und  der  Aufgabe 
kommt,  in  dem  nationalen  Streit  der  Vermittler  zu  sein,  so  ist  es 
ein  trauriges  Armutszeugnis  für  das  Bürgertum 
(lebhafter  Beifall  bei  den  Sozialdemokraten),  sowohl  für  das 
deutsche  wie  für  das  tschechische,  daß  ein  Appell  an  den  feudalen 
Herrn  überhaupt  möglich  ist.  Die  Unfähigkeit,  selbst  Ordnung  zu 


Die  neue  Regierung  Bienerth.  »"' 

machen  und  Frieden  zu  stiften,  ermöglicht  die  Wiedergeburt  dieses 
allen  Feudalen,  der  durch  Jahrzehnte  die  Verkörperung  von  allem 
war,  was  die  Völker  gedrückt  hat  und  was  die  Völker  gehaßt  haben. 
Mi  schließe  mich  den  Worten  meines  tschechischen  Parteigenossen 
Dr.  Winter*)  durchaus  an,  die  Schlichtung  des  Streites  in  Prag,  wenn 
sie  auch  mit  Ausschließung  der  Volksmassen  erfolgen  soll,  würde 
auch  von  uns  allen,  Tschechen  wie  Deutschen,  auf  das  wärmste 
begrüßt  werden,  und  ieli  stehe  nicht  an,  Klage  zu  führen,  daß  das 
Proletariat  auch  auf  diesem  (iebiet  an  dem  leiden  muß,  was  das 
Bürgertum  verbroehen  hat.  (Zustimmung  bei  den  Sozialdemo- 
kraten») Her  Brand  um  uns  herum  hat  auch  in  unser  eigenes 
Haus  Feuer  herüber  geworfen.  Aber  wir  alle,  seien  Sie 
überzeugt,  werden  es  uns  zur  Warnung  und  zum  Exempel  dienen 
lassen.  Den  Proletariern  in  Österreich,  den  deutschen  und  den 
slawischen,  wird  es  nicht  so  gehen  wie  dem  Bürgertum.  Das  ein- 
zige, was  Sie  uns  bieten  können,  ist 

das  abschreckende  Beispiel, 

Wir  werden  es  uns  zur  Warnung  dienen  lassen  und  nicht  die- 
selbe Unfähigkeit  beweisen,  die  Sie  bewiesen  haben. 

Wir  haben  keinen  Einfluß  darauf,  wie  die  Dinge  in  Böhmen 
gehen.  Sicher  ist,  daß  man  sie  schlichten  will  ohne  jene  Voraus- 
setzung, die  eine  Schlichtung  überhaupt  möglich  macht.  Der  natio- 
nale Streit  in  Böhmen  kann  nur  auf  der  breitesten,  ehrlichsten  und 
ernsthaftesten  demokratischen  Grundlage  geschlichtet 
werden.  (Lebhafte  Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten.)  Wer  die 
Demokratie  nicht  will,  kann  den  nationalen  Frieden  nicht  her- 
stellen. Die  Rolle,  welche  die  Feudalen  jetzt  als  Retter  des  Vater- 
landes spielen  sollen,  deutet  darauf  hin,  daß  wir  von  diesen  Voraus- 
setzungen heute  weiter  entfernt  sind  als  je.  Sie  läßt  uns  wieder 
erkennen,  daß  das  Bürgertum  in  dieser  Frage  wie  in  unzähligen 
freiheitlichen  und  politischen  Fragen  aus  Furcht  vor  der  Demo- 
kratie seine  eigenen  Interessen  und  seine  eigene  Aufgabe  im  Stiche 
gelassen  hat.  Ich  bin  von  der  Regierungserklärung  abgekommen. 
Aber  wie  soll  ich  mich  denn,  wenn  ich  von  ernsten  Dingen  rede, 
mit  dieser  Regierungserklärung  befassen?  (Heiterkeit.)  Die  tragische 
Frage,  welche  die  Völker  Österreichs  belastet,  daß  uns  ein  Boden 
eingeräumt  ist,  auf  dem  wir  alle  zusammenleben  und  uns  entwickein 
müssen,  ohne  daß  ein  Volk  das  andere  behindern  oder  von  einem 
anderen  behindert  werde,  muß  von  uns  beantwortet  werden,  sonst 
gehen  die  Völker  an  dieser  Tragik  zugrunde.  Daß  der  Minister- 
präsident die  Frage  nicht  so  tief  zu  fassen  beabsichtigt,  geht  aus 
der  ganzen  Art  hervor,  wie  sie  behandelt  wird.  Man  sagt,  solange 
die  Leute  in  Böhmen  sich  nicht  vertragen,  werden  sie  dann  die 
Schwierigkeiten  bei  ihren  Finanzen  haben.  Es  ist  das  jene  Taktik, 
wie  sie  das  gegenwärtige  Ministerium  an  allen  Fragen  übt.  Es 
übernimmt  keine  Verantwortung,  sondern  sieht  z  u. 

*)  I)r.  Leo  Winter,  der  Abgeordnete  von  Prag  um\  Smichow,  der 
nachmalige    Sozialminister    der    tschechoslowakischen    Republik. 


192  Das  System  Bienerth. 

Die  böhmische  Frage  ist,  so  furchtbar  sie  ist,  nicht  allein  zu  lösen, 
wir  haben  diese  tiefgehenden  Fragen  an  allen  Funkten.  Wenn  sie 
im  Süden  zwischen  Südslawen  und  Deutschen,  zwischen  Süd- 
slawen und  Italienern  nicht  so  in  die  Augen  springen,  so  liegt  der 
(irund  darin,  daß  der  Streit  dort  nicht  so  alt  ist,  daß  die  Nationen 
unten  doch  im  ganzen  jünger  sind,  daß  die  Frage  sich  dort  noch 
nicht  so  zugespitzt  hat. 

Aber  die  Weltgeschichte  steht  nicht  still,  von  Tag  zu  Tag  wird 
diese  Frage  brennender.  Und  welche  Sorte  Weisheit  bringt  die 
Regierung  diesen  Fragen  entgegen?  Die  bosnische  Affäre  bleibt 
eine  Frage  der  Delegationen  und  des  Ministeriums  des  Äußern,  die 
uns  nichts  angeht.  Und  wir  haben  hier  nichts  zu  tun,  als  nach  zwei 
Jahren  hinterher  diese  Erstreckung  der  Souveränitätsrechte*)  auch 
zu  unterschreiben.  In  das  ganze  Verhältnis  zu  den  südslawischen 
Völkern,  zu  Italien  haben  wir  gar  nichts  dreinzureden.  Die  Regie- 
rung hat  in  diesen  Dingen  Sünden  auf  sich  gehäuft,  die  sich  rächen 
werden,  für  die  wir  blutig  büßen  werden.  Glauben  Sie,  daß  Tat- 
sachen wie  der  Agramer**)  und  der  ebenso  lächerliche  wie  verruchte 
Graz  er    liochverratsprozeß***)    nicht    politische    Dinge 


*)  Die  Annexion  Bosniens  und   der  Herzegowina  am  8.  Oktober  1908. 

**)  Über  den   Agramer  liochverratsprozeß  siehe   Bd.  IX,  Seite  34  f. 

Der  Agramer  liochverratsprozeß  hatte  am  5.  Oktober  1909  mit  der 
Verurteilung  von  31  Angeklagten  zu  fünf  bis  zwölf  Jahren  geendet;  ins- 
gesamt mit  der  Verurteilung  zu  184  Jahren  Kerker.  Und  im  Dezember 
1909  mußten  der  Geschichtsschreiber  Dr.  Heinrich  Friedjung  und  der 
Chefredakteur  der  christlichsozialen  „Reichspost"  Dr.  Fun  der  in  dem 
Prozeß,  den  die  50  Mitglieder  der  kroatisch-serbischen  Koalition  des 
kroatischen  Landtages  vor  den  Wiener  Geschwornen  gegen  sie  ange- 
strengt hatten,  zugeben,  daß  die  von  ihnen  produzierten  Dokumente  ge- 
fälscht waren.  Jetzt  wurde  die  Sache  durch  den  Professor  M  a  s  a  r  y  k 
in  den  Delegationen  wieder  zur  Sprache  gebracht,  indem  er  nachwies,  daß 
die  Fälschungen  zumindest  unter  Mithilfe  der  österreichischen  Gesandt- 
schaft in  Belgrad  fabriziert  wurden.  Überdies  wurde  dies  gerade  Anfang 
Jänner  in  einem  Prozeß  in  Belgrad  dargetan.  Der  Fälscher  der  Doku- 
mente, ein  gewisser  W  a  s  s  i  t  s  c  h,  war  wegen  Landesverrat  und 
Spionage  geklagt  und  es  wurde  bei  einer  Hausdurchsuchung  ein  ge- 
fälschtes Telegramm  aufgefunden,  von  dem  festgestellt  wurde,  daß  es 
von  dem  Beamten  der  Gesandtschaft  Swientochowski  geschrieben 
war.  Daß  die  Fälschungen  aber  nicht  von  einem  untergeordneten  Organ 
ausgingen,  geht  daraus  hervor,  daß  sie  sich  nicht  damit  begnügten,  die 
angeblichen  serbischen  Insurrektionspläne  zu  beweisen,  sondern  darauf 
ausgingen,  die  dem  Außenminister  Aehrenthal  unbequemen  Politiker  zu 
kompromittieren.  Das  Urteil  sprach  auch  mit  großer  Vorsicht  davon,  daß 
zwischen  dem  Angeklagten  und  den  Organen  einer  fremden  Mission  eine 
engere  Bekanntschaft  bestand,  derzufolge  es  dem  Angeklagten  möglich 
war,  bei  der  erfolgten  Verfertigung  der  Dokumente  Dienste  zu  leisten. 
Graf  Aehrenthal  suchte  sich  gegenüber  diesen  Feststellungen  mit  leeren 
Redensarten  hinwegzuhelfen. 

***)  Wie  Adler  später  selbst  mitteilt,  ein  Hochverratsprozeß  gegen 
Triestiner,  für  den  das  Grazer  Gericht  delegiert  wurde.  Er  hat  weniger 
Aufsehen  erregt  als  der  Agramer  Prozeß. 


I  He  iu  ue  Rcgiei  unx  l  liencrth.  I  ' ' 

ersten  Ranges  sind?  Es  wurde  von  dem  Agramer  Prozeß  schon 
wiederholt  gesagt,  daß  wir  ihn  bezahlen  werden  müssen,  nicht  nur 
politisch,  sondern  auch  handelspolitisch  und  ökonomisch  (lebhafte 
Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten),  daß  wir  und  unsere  Kinder 
es  noch  spüren  werden.  Man  hat  dann  den  Triestcr  Prozeß  in  Graz 
gemacht,  eine  lächerliche  Farce,  die  an  die  zwanziger  und  dreißiger 
Jahre  erinnert.  Wo  ist  unser  Justizminister?  Fragen  Sie  ihn.  ob  er 
dafür  verantwortlich  ist,  daß  wir  eine  ganz  neue  Sorte  von  juri- 
stischen Sachverständigen  haben: 

Sachverständige  in  Hoehverratssachen! 

(Heiterkeit  und  Sehr  gut!  bei  den  Sozialdemokraten.)  Offiziere,  die 
darüber  einvernommen  werden,  ob  ein  Lied  oder  eine  Sportuniform 
eine  Gefahr  ist!  (Heiterkeit.)  Sie  lachen;  aber  was  schlimmer  ist, 
d  i  e  g  a  n  z  e  W  eltlachtun  s  a  u  s.  (Zustimmung  bei  den  Sozial- 
demokraten.) Aber  diese  Dinge  müssen  wir  bezahlen,  und  die  ganzen 
absurden  Rüstungen  gegen  Italien  sind  durch  diese  Politik  mit  ver- 
schuldet. Es  ist  nicht  wahr,  daß  wir  Angriffe  von  Italien  zu  gewär- 
tigen haben.  Wenn  es  aber  Stimmungen  drüben  gibt,  so  sind  sie 
in  erster  Linie  durch  diese  verbrecherische, 
provozierende  Politik  verschuldet.  (Beifall  bei  den 
Sozialdemokraten.)  Mit  der  Politik  einer  Regierung,  die  in  diesen 
wichtigsten  Lebensfragen  kein  Wort  zu  sagen  hat,  in  eine  Erörte- 
rung sich  einzulassen,  ist  wahrhaft  eine  Kunst. 

Wie  haben  die  Parteien  diese  Regierung  begrüßt?  Die  Radikalen 
rechts  und  links  wissen  heute  noch  nicht,  ob  sie  Mandeln  oder 
Weibeln  sind.  (Heiterkeit.)  Wenn  man  einer  Regierung  so  lange 

treu  und  mit  Pathos  gedient  hat 

wie  die  Deutschradikalen  und  ihr  Sprecher  Wolf  in  Momenten,  wo 
jede  ehrliche  Volkspartei  dem  Ministerium  entgegentreten  mußte, 
durch  dick  und  dünn  für  das  Ministerium  Bienerth  gegangen  ist  und 
nun  sagt,  es  sei  etwas  Furchtbares  geschehen,  die  Herren  wissen 
noch  nicht,  wie  sie  sich  einrichten  werden,  man  habe  das  Eisen- 
bahnministerium einem  Polen  und  das  Arbeitenministerium  einem 
Tschechen  ausgeliefert,  so  muß  man  doch  sagen,  das  sind 
kindische  Redensarten.  Das  Finanzministerium  ist  nicht 
weniger  wichtig  als  das  Arbeitenministerium  und  es  ist  seit  vielen 
Jahren  von  einem  Polen  nicht  zu  unserem  Vergnügen,  aber  sehr 
zum  Vergnügen  des  Herrn  Wolf  (Heiterkeit  bei  den  Sozialdemo- 
kraten) verwaltet  worden.  Ein  Pole  kann  wohl  im  Eisenbahn- 
ministerium nicht  mehr  Unheil  stiften  als  im  Finanzministerium 
Wie  stellen  sich  die  Herren  eigentlich  eine  österreichische  Regie- 
rung und  Verwaltung  vor? 

Dr.  Kramarsch:  Mit  Herrn  Malik  als  Minister! 

Dr.  Adler:  (ierade  Sie,  Herr  Dr.  Kramarsch,  muß  ich  zitieren. 
(Lebhafte  Heiterkeit.)  Ich  halte  es  für  einen  törichten  Einfall  eines 
sehr  gescheiten  Mannes, 

Adler.  Briefe.   XI.  Bd.  1:5 


194  Das  System  Btenerth. 

die  Verwaltung  national  zu  parzellieren, 

nach  den  Prozenten  der  Bevölkerung  zu  rayonieren,  wie  Herr 
Dr.  Kramarsch  uns  wiederholt  vorgeschlagen  hat. 

Dr.  Kramarsch:  Das  ist  keine  Rayonierung,  oder  es  ist  ganz 
Osterreich  rayoniert! 

Dr.  Adler:  Das  ist  etwas  wesentlich  anderes! 

Dr.  Kramarsch:  Ist  es  praktisch  unmöglich,  daß  fünf  slawische 
Minister  sind? 

Dr.  Adler:  Man  kann  ja  auch  nach  der  Volkszählung  alle  fünf 
Jahre  die  Ministerstellen  anders  austeilen. 

Dr.  Kramarsch:  Das  wäre  auch  das  Richtige! 

Dr.  Adler:  Na,  ich  danke!  Lassen  Sie  irgendeinen  Verein,  der 
eine  ernste  Verwaltung  hat,  irgendeine  Beamtenkasse  nach  diesem 
Rayonierungsprinzip  verwalten. 

Dr.  Kramarsch:  Sie  haben  im  Vorstand  der  sozialdemokratischen 
Partei  auch  eine  Vertretung  nach  der  Zahl. 

Dr.  Adler:  Vertretung  und  Verwaltung  sind  sehr  verschiedene 
Dinge.  Minister  und  Verwalter  müssen  daher  genommen  werden, 
wo  man  den  gescheitesten  und  brauchbarsten  findet. 

Dr.  Kramarsch:  Ist  er  bei  uns  nicht  zu  finden? 

Dr.  Adler:  Ich  zweifle  nicht  daran  und  habe  gar  nichts  dagegen, 
wenn  man  zehn  gescheite  slawische  Minister  findet,  alle  zehn  hin- 
zusetzen. 

Dr.  Kramarsch:  Ich  habe  auch  nichts  dagegen.  (Heiterkeit.) 

Dr.  Adler:  Das  sieht  Ihnen  ganz  gleich!  (Heiterkeit.)  Aber  ich 
halte  es  für  unmöglich  . . . 

Dr.  Kramarsch:  ...  zehn  gescheite  Tschechen  zu  finden? 

Dr.  Adler:  Nein,  ich  kenne  selbst  viel  mehr.  Aber  ich  halte  es 
für  verwaltungstechnisch  unmöglich  und  mit  einer  vernünftigen 
Verwaltung  unvereinbar,  daß  man  die  Ministerien  nach  der  Be- 
völkerungsziffer einteilt.  Von  der  anderen  Seite  aber  wird  ein 
mindestens  ebenso  absurder  Maßstab  angelegt.  Glauben  Sie,  daß  es 
wirklich  möglich  ist,  die  Tschechen,  die  Polen,  irgendeine  Nation 
prinzipiell  von  der  Verwaltung  auszuschließen?  Ist  es  nicht  eine 
Torheit,  das  zu  verlangen?  Die  Herren  meinen  aber  ihre  Opposition 
gar  nicht  ernst;  denn  sie  denken  gar  nicht  an  die  Minister,  sondern 

viel  wichtiger  ist  ihnen  die  Beamtenunterbringung, 

die  Verschiebungen  in  den  Beamtenkörpern.  Das  gilt  für  die  Herren 
links  und  rechts.  Sie  haben  gemeinsam  beide  die  Erklärungsdebatte 
verlangt,  weil  sie  beide  gemeinsam  noch  nicht  wissen,  wie  sich  das 
mit  den  Beamtenverschiebungen  stellen  wird.  Das  andere  ist  nur 
dekorativ.  Die  Hauptsache  ist:  Wen  bringen  wir  unter?  (Heiterkeit.) 

Die  Partei  des  Herrn  Wolf  braucht  zwei  Gattungen  von  Politik: 
eine  für  das  Parlament  und  eine  für  die  Geltendmachung  des  Ein- 
flusses in  den  Ministerien.  Dafür  ist  die  oppositionelle  Haltung  nicht 
ganz  nützlich.  Den  Wählern  gegenüber  aber  ist  es  viel 
besser,  in  der  oppositionellen  Pose    zu    erscheinen.    Und 


DU   neue  Reglei  ung  Bh  nei  th. 

nachdem  man  nichts  Gewisses  weiß,  ob  nicht  in  absehbarer  Zeit 
Neuwahlen  sein  werden,  ist  es  nützlich,  sieh  für  alle  Fälle  für  die 

neue  Rolle  vorzubereiten.  Auch  bei  den  Tschechen  dürfte  sich  der 
ziemlich  starke  Aufwand  von  Pathos  durch  die  Ernennung  des 
Grafen  Thun  und  die  Strömungen,  die  damit  zusammenhängen,  für 
die  Zukunft  wesentlich  beruhigen. 

Für  uns  existieren  diese  Dinge  nicht.  Wir  haben  keine  Beamten 
unterzubringen,  wir  haben  ganz  andere  Sorgen  Für  uns  bleibt  das 
Ministerium  Bienerth  auch  in  seiner  neuen  Gestalt  das  alte,  in  jeder 
Beziehung  unfruchtbare  (iebilde,  allerdings  mit  einigen  Ver- 
schlimmerungen. 

Das  Bleibende  im  Wechsel 

ist  Graf  Stürgkh*).  Gegen  verschiedene  Herren  ist  der  Ansturm, 
von  allen  Seiten  gekommen.  Die  Polen  haben  es  vermocht,  Herrn 
v.  Bilinski,  der  sehr  fest  gesessen  ist,  zu  entwurzeln.  Graf  Stürgkh, 
der  von  denjenigen  selbst  befeindet  wurde,  für  die  er  ursprünglich 
ernannt  wurde,  von  den  Deutschen,  bleibt.  Man  wird  doch  nicht 
einen  Mann  fallen  lassen,  weil  er  aus  einem  Liberalen  ein  Klerikaler 
geworden  ist.  Man  wird  es  sich  oben  doch  nicht  gefallen  lassen, 
daß  man  den  getreuesten  Diener  der  neuesten  Poli- 
tik den  Herren  opfert,  man  nützt  sie  aus,  durch  Jahre  haben 
sie  redlich  gedient,  aber  der  Dank  ist,  daß  Graf  Stürgkh 
bleibt.  Und  er  hat  großen  Einfluß  in  allen  Kulturfragen,  nicht  nur 
in  Fragen  der  Schulen  und  der  Universitäten,  sondern  das  Schlimme 
ist,  daß  wir  auch  in  manchen  anderen  Fragen  hier  einen  Mann  vor 
uns  haben,  der  völlig  unverläßlich  ist,  von  dem  wir  nie  wissen,  was 
wir  von  ihm  zu  erwarten  haben.  Ich  verweise  da  auf  die  nieder- 
österreichische Spitalfrage,  eine  der  wichtigsten  Fragen,  die  nicht 
nur  Wien,  sondern  auch  alle  Kronländer  und  Nationen  angeht. 

Wir  haben  das  allergrößte  Interesse  daran,  daß  dieser  wider- 
wärtige Skandal,  der  sich  in  Niederösterreich  abspielt,  dieser  nega- 

■  *)  Graf  Karl  Stürgkh,  der  seinerzeitige  „verfassungstreue",  liberale 
Großgrundbesitzer,  der  den  fanatischen  Kampf  gegen  die  Wahlreform  ge- 
führt hatte,  war  nach  der  Wahlreform  zwar  nicht  Abgeordneter,  aber  in 
der  Regierung  Bienerth  Unterrichtsminister.  Am  3.  November  1911  wurde 
er  nach  Gautsch  Ministerpräsident.  Am  21.  Oktober  1916  wurde  er  be- 
kanntlich   von    Friedrich   Adler   erschossen. 

Er  hatte  sich  als  Abgeordneter  immer  für  einen  Liberalen  ausgegeben, 
als  Minister  aber  suchte  er  sich  die  Gunst  der  Klerikalen  zu  erwerben. 
Im  November  1910  ließ  er  zwei  Privatschulen  des  Vereines  „Freie 
Schule"  sperren,  weil  sich  der  Verein  weigerte,  nur  die  vom  bischöflichen 
Ordinariat  ausgewählten  Religionslehrer  den  Religionsunterricht  erteilen, 
zu  lassen,  und  bald  danach  bestätigte  er  die  Maßregelung  von  Lehrern, 
die  nichts  getan  hatten,  als  daß  sie  in  Versammlungen  der  „Freien  Schule" 
gegen  die  Auslieferung  der  Schule  an  die  Klerikalen  protestierten.  Darauf 
veröffentlichte  der  Verein  „Freie  Schule"  ein  Denkschrift,  in  der  er  den 
Nachweis  führte,  daß  die  Schulverwaltung  unter  dejn  Grafen  Stürgkh 
mehr  als  je  ein  Instrument  der  Klerikalisierung  war,  was 
schon  die  Verfolgung  der  nichtklerikalen  Volksschullehrer  und  die  des 
Professors    Wahrmund    bewies. 

13* 


196  Das  System  Bienerth. 


tive  Kompetenzkonflikt  zwischen  Staat.  Gemeinde  und  Land,  der 
sich  darin  ausdrückt,  daß  wir 

zu  wenig  Spitäler*) 

haben  und  diejenigen,  die  wir  haben,  nicht  erhalten  können,  daß  d\c 
Lasten  dafür  auf  denjenigen  ruhen,  die  sie  am  allerwenigsten  tragen 
können,  ein  Ende  nimmt,  und  wir  sind  gewiß  dafür  zu  haben,  daß 
endlich  in  dem  Einvernehmen  zwischen  den  drei  Instanzen  Ordnung 
geschafft  werde.  Aber  der  Plan,  der  vom  niederösterreichischen 
Landesausschuß  ausgegangen  ist  und  manches  Vernünftige  für  sich 
hat,  ist  mit  den  Lastern,  mit  den  bösen  Eigentümlic  h- 
k  e  i  t  e  n  der  c  h  r  i  s  1 1  i  c  h  s  o  z  i  a  1  e  n  Partei  überhaupt 
behaftet,  ist  mit  dem  Versuch  verquickt,  die  ganze  Verwaltung 
in  ihre  eigenen  Hände  zu  bekommen,  eine  Verwaltung,  die  niemals 
eine  Parteiverwaltung  werden  darf.  Mit  Recht  haben  alle  die- 
jenigen, die  an  der  Volksgesundheit  und  an  den  Fortschritten  der 
Medizin  ein  Interesse  haben,  aufgeschrien,  als  man  davon  sprach, 
man  wolle  die  Spitäler  und  Kliniken  bürokratisieren,  die  Lehrer  und 
Forscher  denjenigen  ausliefern,  die  weder  für  die  medizinische, 
noch  für  eine  andere  Lehre  und  Forschung  ein  ernstes  Interesse 
haben.  Es  wäre  nun  vor  allem  Pflicht  des  Unterrichtsministers  ge- 
wesen, Farbe  zu  bekennen.  Graf  Stürgkh  hat  jedoch  die  einge- 
brachte Interpellation  nicht  beantwortet  und  den  Professoren  nur 
unverbindliche  Redensarten  gesagt,  ohne  eine  Verpflichtung  dafür 
zu  übernehmen,  daß  er  dieses  Projekt  nicht  zustande  kommen 
lassen  werde  ohne  ernste  Garantien  für  die  Möglichkeit  und  Un- 
versehrtheit des  medizinischen  Unterrichtes  und  der  freien  medizi- 
nischen Forschung. 

Schuhmeier:  Wie  steht  denn  Stürgkh  zur  Professorenernennung? 
Eine  Erzherzogin  nimmt  Einfluß  auf  die  Erne  n- 
nung  von  Professoren! 

Dr.  Adler:  Das  ist  ein  Kapitel,  über  das  wir  beim  Unterrichts- 
budget noch  reden  können . . .  Wir  haben  dann  noch  einen  anderen 
Herrn,  der  bleibt.  Der  Handelsminister  Dr.  We  i  s  k  i  r  ch  n  e  r**) 
wird  auf  seinem  Platze  von  seiner  Partei  gestützt,  welche  nebenbei 
bemerkt,  die  einzige  ist,  die  voll  und  ganz  mit  dem  gegenwärtigen 
Ministerium  einverstanden  ist.  Dr.  Weiskirchner,  der  die  Interessen 
der  städtischen  Bevölkerung,  der  Industrie  und  der  industriellen 
Arbeiterschaft  zu  vertreten  hätte,  hat  sich 

*).  Siehe  zur  Spitalfrage  die  Rede,  die  Adler  ein  Jahrzehnt  vorher,  am 
9.  Juli  1901,  im  niederösterreichischen  Landtag  gehalten  hat.  Noch  immer 
war  die  Spitalschande  aktuell. 

**)  Dr.  Richard  Weiskirchner,  früher  Magistratsdirektor  in  Wien, 
der  erste  Präsident  des  Abgeordnetenhauses  nach  der  Einführung  des 
allgemeinen  Wahlrechtes,  dann  Handelsminister,  nach  Neumayers  Rück- 
tritt, März  1913,  Bürgermeister  von  Wien,  hat  den  Agrariern  zuliebe  den 
Geheim  vertrag  mit  Ungarn  geschlossen,  durch  den  die  Einfuhr 
argentinischen  Fleisches  verboten  wurde.  (Siehe  Adlers  Reden  über  die 
Teuerung  vom  4.  Oktober  1911  [Bd.  VIII,  Seite  447  ff.]  und  vom  5.  Oktober 
)Bd.  VIII,  Seite  452,  besonders  462  f.].) 


I  >ic  neue  l\ i'Kiri  iniv   l  Mein  i  ili.  1^7 

als  das  Werkzeug  agrarischer  Eingriffe 

in  einem  Maße  bloßgestellt,  das  ihm  in  jedem  anderen  Lande  ein 
weiteres  Amtieren  unmöglich  gemacht  hatte.  Die  christlichsoziale 
Partei  hat  ja  immer  den  Kampf  gegen  das  Übergewicht  der  Ungarn 
an  die  Spitze  ihres  Programms  gestellt,  u\k\  die  Militärforderungen 
der  Ungarn  abzuwehren,  war  für  sie  immer  das  Wichtigste.  Mit 
diesem  dekorativ  wirkenden  Pathos  gegen  die  Ungarn  schmücken 
die  Christlichsozialen  ihre  Reden  ja  noch  immer.  Die  Wahrheit  ist 
aber,  daß  sie  die  IVLilitärforderungen  der  Ungarn  wohl  abweisen, 
dagegen  den  M  il  i  t  ä  r  f  o  r  d  e  r  u  n  g  e  n  gegenüber,  die  das  Volk 
wirklich  drücken,  d  i  e  g  e  h  o  r  s  amsten  Z  u  t  r  ä  gerdienste 
leisten,  daß  sie  den  Forderungen  der  n  n  g  a  r  i  s  c  h  e  n  A  g  r  a- 
rier  Knechtesdienste  leisten  und  mithelfen,  daß  die  ganze 
städtische  Bevölkerung  Österreichs  nach  dem  Befehl  der  unga- 
rischen Agrarier  regiert  werde.  (Lebhafter  Beifall  und  Hände- 
klatschen bei  den  Sozialdemokraten.)  Das  Werkzeug  dieser  Politik, 
nicht  offen,  sondern  in  geheimen  W7  i  n  k  e  1  z  ü  g  e  n,  ist  Doktor 
Weiskirchner.  Er  ist  ein  ausgezeichnet  geschickter  Mann,  seiner 
Versatilität  gleicht  nicht  bald  die  eines  anderen.  Er  weiß  m  i  t 
hundert  Zungen  zu  reden,  um  jedem  etwas  anderes 
zu  sagen;  das  Wort  „Doppelzüngigkeit"  wäre,  auf  ihn  ange- 
wendet, ein  Euphemismus.  (Lebhafte  Heiterkeit.)  Dr.  Weiskirchner 
vermag  es  sehr  gut,  vor  seiner  Wählerschaft  in  Wien  zu  erscheinen 
und  ihr  zu  versprechen:  Fleisch,  Fleisch,  argentinisches  Fleisch; 
und  darauf  wieder  anderswohin  zu  gehen  und  die  „Interessen  der 
Landwirtschaft  zu  sichern,  daß  die  Herren  ganz  beruhigt  sein 
können".  Er  versteht  es,  förmliche  Agitations  reisen  von 
einer  Unternehmervereinigung  zur  anderen  zu 
veranstalten  und  dort  Reden  zu  führen,  die  geradezu  schon  an 
Aufreizung  gegen  den  sozialpolitischen  Fort- 
schritt streifen,  sich  solidarisch  mit  ihnen  zu  erklären;  aber  ich 
zweifle  gar  nicht,  wenn  unsere  Gewerkschaften  einmal  den  Einfall 
hätten,  Herrn  Weiskirchner  zu  einem  Kongreß  einzuladen  (Heiter- 
keit), so  würde  er  ihnen  eine  sozialpolitische  Rede  halten.  Weis- 
kirchner ist  ein  Mann  für  alles  und  darum  ein  Mann 
für  gar  nichts.  (Lebhafter  Beifall  und  Händeklatschen  bei  den 
Sozialdemokraten.) 

Heute  will  man  die  Sünde  des  gewiß  verfassungswidrigen 

Geheimvertrages 

bezüglich  der  Fleischeinfuhr  auf  das  Ministerium  Beck  abschieben. 
Das  Ministerium  Beck  möge  verantworten,  was  es  zu  verant- 
worten hat,  die  heutige  Regierung  wird  dadurch  nicht  entlastet. 
Die  Klausel,  die  seinerzeit  gemacht  wurde,  hat  den  gefährlichen 
Charakter,  den  sie  heute  bekommen  hat,  damals  gar  nicht  an  sich 
getragen.  Sachlich  war  eine  Klausel,  daß  man  bei  Meinungs- 
verschiedenheiten Veterinärbestimmungen  im  strengeren  Sinne 
auslegen  werde,  nicht  so  gefährlich  und  sie  hatte  jedenfalls  keinen 


198  Das  System  Bienerth. 


Bezug  auf  die  Einführung  von  Fleisch  in  einem  Moment,     wo  die 
Bevölkerung  kein  Fleisch  hat. 

Dr.  v.  Korytowski:    Die  Klausel  besteht  seit  1886! 

Dr.  Adler:  Die  Anwendung  dieses  Abkommens  auf  die  Frage 
der  Fleischversorgung  ist  ein  neuer  Verrat,  ist  erst  recht  ein 
Verfassungsbruch  und  eine  Preisgebung  der  wichtigsten 
Interessen  der  städtischen  Bevölkerung.  (Lebhafter  Beifall  bei  den 
Sozialdemokraten.)  Weiskirchner  hat  das  Haus  in  der 
ganzen  Frage  der  Handelsverträge  zum  Narren 
gehalten.  (Lebhafter  Beifall  und  Händeklatschen  bei  den  Sozial- 
demokraten.) Im  Volkswirtschaftlichen  Ausschuß  hat  er  eine  flam- 
mende Rede  für  die  Handelsverträge  gehalten  und  zwei  Stunden 
darauf  hat  er  mit  Dr.  Licht  und  Konsorten  die  Verschwörung  gegen 
die  städtische  Bevölkerung  angezettelt.  Solchen  Herren  gegenüber 
muß  man  mindestens  vorsichtig  sein  und  sich  die  Taschen  zuhalten. 
Das  ist  das  Bild,  das  wir  heute  von  Dr.  Weiskirchner  haben.  Diese 
Preisgebung  der  städtischen  Bevölkerung  ist  ein  Verrat  an 
seinem  Amte,  an  seinen  Wählern  und  an  seiner 
Vergangenheit. 

Dr.  Weiskirchner  ist 

auch  für  die  Sozialpolitik  in  Österreich  verantwortlich. 

Er  ist  ja  hervorgegangen  aus  der  christlichsozialen  Partei,  die 
einen  Teil  ihres  Ansehens  in  der  Öffentlichkeit  auf  ihre  sozial- 
politischen Tendenzen  gebaut  hat.  Die  ganze  Sozialpolitik 
ist  aber,  seitdem  sie  in  den  Händen  Dr.  Weiskirch- 
ners liegt,  zum  Stillstand  verdammt,  und  zwar  so 
absolut,  wie  das  seit  Jahren  nicht  der  Fall  war.  Gewiß,  die  Zeiten 
sind  vorbei,  wo  man  sich  einbilden  konnte,  man  könne  die  Arbeiter- 
schaft durch  wohlwollende  Phrasen  gewinnen.  Die  Arbeiterschaft 
ist  kräftig  geworden  und  heute  sind  die  Klassengegensätze  so  stark 
geworden,  daß  wirkliches  Wohlwollen  auf  der  anderen  Seite,  weil 
es  sich  reell  betätigen  müßte  —  und  nicht  bloß  in  öligen  Redens- 
arten — ,  so  ziemlich  verschwunden  ist.  Die  Zeiten  sind  vorüber, 
wo  der  Adel  auf  seinen  Schlössern,  weil  er  nicht  gewußt  hat,  wie 
es  in  einer  Fabrik  aussieht,  nicht  wußte,  wie  man  Profit  macht, 
wenigstens  unparteiisch  der  Sozialpolitik  gegenübergestanden  ist. 
Heute  sind  die  Adeligen  selbst  Industrielle,  sie  sind  vor  allem 
Zuckerfabrikanten,  Holzindustrielle,  haben  Mühlenwerke,  Säge- 
werke, Eisenindustrie  und  alles  mögliche,  kurz,  sie  sind  nicht  mehr 
unparteiisch.  Die  schönen  Zeiten,  wo  wir  hier  und  im  Herrenhaus 
die  Reden  des  B  e  1  c  r  e  d  i,  des  eifernden  Mannes  der  christlichen 
Sozialpolitik,  wo  wir  die  Zöglinge  des  Vogelsang*)  gehört  haben, 
wo  Fürst  Liechtenstein  seine  schöbe  Reden  gehalten  hat, 
sind  vorüber.  Heute  hat  die  Politik  des  hohen  Adels  für  die  Ar- 
beiterschaft, die  nie  viel  Wert  gehabt  hat,  jeden  Anschein  verloren. 
Heute  sieht  man  im  Gegenteil,  daß  sich  zwar  in  diesem  Hause  des 


*)  Siehe  unter  anderem  Bd.  VIII,  Seite  342,  352  ff. 


Die  neue  Regierung  Bienerth,  199 

allgemeinen  Wahlrechtes  gewisse  volks-  und  arbciler-  und  darum 
kulturfeindliche  Tendenzen,  die  sich  gegen  die  Sozialpolitik  und 
den  Arbeiterschutz  richten,  nicht  hervortrauen,  daß  sich  aber 

Im  Herrenhaus  der  Kauze  Ausbeuterklüngel  etabliert 

hat;  im  Herrenhaus  ist  heute  die  Klassenvertretung  der 
g  anzcii  Ausbeuterschaft  ö  s  t  e  r  r  e  i  c  h  s.  Wozu  ist  denn 
dieses  Herrenhaus?  Die  Befürworter  der  ersten  Kammer  haben 
dem  Herrenhaus  die  Objektivität  zugesprochen  und  erklärt,  dalj 
dort  nur  die  großen  Interessen  des  Staates  gewahrt  werden.  Heute 
sieht  man  aber,  daß  ein  Zuckerfabrikant  und  Präsident  einer 
Handelskammer  das  Gesetz  über  die  Nachtarbeit  der  Frauen  im 
Herrenhaus  zu  verderben  sucht,  heute  sehen  wir,  daß  die  Herren 
Grafen,  die  beinahe  anonym  sind  (Heiterkeit)  —  so  wenig  kennt 
man  sie,  man  muß  nachschauen,  wer  sie  sind,  allerdings  nicht  mehr 
im  Gothaschen  Kalender,  sondern  im  „Kompaß*)",  wo 
man  sie  komplett  findet  (lebhafte  Heiterkeit  und  Beifall)  — ,  das 
verderben,  was  hier  halbwegs  gerettet  wurde.  Objektivität,  Wohl- 
wollen ist  beim  Herrenhaus  nicht.  Aber  vielleicht  das  Wissen?  Die 
sozialpolitische  Unwissenheit,  wie  sie  sich  bei  allen 
diesen  Gesetzen  im  Herrenhaus  zeigt,  ist  so  unerhört,  daß  man  sich 
schämen  muß.  Das  hat  die  letzte  Debatte  in  geradezu  kläglicher 
Weise  gezeigt. 

Die  Arbeiterschaft  und  ihre  Vertreter  hier  im  Hause  werden 
sich  aber  diese  Angriffe  des  Herrenhauses  nicht  ge- 
fallen lassen.  (Lebhafte  Zustimmung  bei  den  Sozialdemo- 
kraten.) Die  Herren  mögen  sich  darüber  nicht  täuschen.  Sie  haben 
den  Sturm  erlebt,  als  es  sich  um  die  Nachtarbeit  der  Frauen  han- 
delte ;  sie  werden  einen  ähnlichen  Sturm  noch  in 
verstärktem  Maße  erleben,  wenn  das  Herrenhaus 
es  wagt,  das  Gesetz  über  den  Kontraktbruch  zu 
hindern.  (Lebhafter  Beifall  und  Händeklatschen  bei  den  Sozial- 
demokraten.) Die  Herren  dort  sollen  nur  nicht  glauben,  daß  sich 
die  Arbeiterschaft  das  allgemeine  Wahlrecht  und  eine  Vertretung 
im  Parlament  erobert  hat,  um  sich  vom  Herrenhaus  die  Früchte 
dieses  Wahlrechtes  konfiszieren  zu  lassen.  (Lebhafter  Beifall  und 
Händeklatschen  bei  den  Sozialdemokraten.)  Die  Herren  im  Abge- 
ordnetenhaus aber  sollen  nicht  glauben,  daß  es  ihnen  gelingen 
werde,  die  Welt  über  ihren  wahren  Charakter,  ihre  wahren  sozial- 
politischen Absichten  zu  täuschen,  indem  sie  hier  Wohl- 
wollenheucheln und  dieHenkersarbeitdemHerren- 
haus  überlassen.  An  dem  Verhalten  des  Herrenhauses  zum 
Kontraktbruchgesetz  können  Sie  sehen,  welche  niederträchtigen 
Flausenmacher  das  sind.  Das  Gesetz  soll  nicht  gemacht  werden, 
weil  es  nur  im  Zusammenhang  mit  dem  ganzen  sechsten  Haupt- 
stück der  Gewerbeordnung  gemacht  werden  muß.  Wenn  wir  aber 

*)  Der  „Gotliasche  Kalender"  (richtiger  Gothasclie  „Almanach")  das 
Verzeichnis  des  Adels,  der  „Kompaß"  das  Verzeichnis  der  Akticngesel!- 
s ehalten  und  großen  Unternehmungen!. 


200  I  );is  S3  stem  Bicnerth. 


mit  diesem  Vorschlag  kommen,  dann  heißt  es:  Das  geht  nicht,  die 
Geschichte  der  englischen  und  der  deutschen  Arbeiterschutzgesetz- 
gebung  hat  gezeigt,  daß  man  nur  stückweise  vorgehen  kann.  Wir 
haben  diese  Litanei  hundertemal  gehört.  Nun  kommt  man  mit 
Finzelforderungen,  wir  bemühen  uns,  einzelnes  zu  bessern,  da 
kommt  man  nun  und  sagt:  Nur  im  Zusammenhang  kann  man  das 
machen.  Ja,  glauben  denn  die  Herren,  daß  sie  es  mit  Grafen  und 
Fürsten  zu  tun  haben,  die,  köpf-  und  hirnlos,  nicht  wissen,  was 
man  ihnen  erzählt?  Die  Arbeiterschaft  versteht  die 
Komödie  und  wird  sie  sich  nicht  gefallen  lassen 
(lebhafter  Beifall  und  Händeklatschen  bei  den  Sozialdemokraten) 
und  wir  als  ihre  Vertreter  hier  werden  die  Träger  dieser  Abwehr- 
bewegung sein. 

Der  Handelsminister  selbst  hat  seit  Monaten  den  Entwurf  einer 
Verordnung  fertig  liegen,  durch  welche  der  sogenannte  sanitäre 
Maximalarbeitstag  festgelegt  werden  soll,  eine  ganz 
schwächliche  Maßnahme,  die  in  Deutschland  schon  seit  zwanzig 
Jahren  durchgesetzt  ist,  die  überdies  bereits  alle  möglichen  Beiräte, 
nicht  zum  Vorteil  der  Sache,  passiert  hat,  Beiräte,  die  heute  mehr 
Verschleppungs-  als  Förderungsinstrumente  sind;  aber 

der  christlichsoziale  Sozialpolitiker 

versperrt  auch  diese  Verordnung  in  seinem  Pult.  Ist  er  denn  so 
fruchtbar  an  sozialpolitischen  Großtaten,  daß  er  für  seinen  Eifer 
keinen  Platz  mehr  hat?  Nein,  er  will  es  sich  eben  mit 
den  Industriellen  nicht  verderben,  deren  Gast  auf 
Kongressen  er  fortwährend  ist.  Was  die  Beiräte  betrifft,  möchte 
ich  übrigens  nur  nebenbei  bemerken,  daß  es  nicht  so  weitergehen 
wird,  daß  die  Arbeiterschaft  aus  allen  Beiräten  ausgeschlossen  ist 
und  daß  in  dem  einzigen  Beirat,  in  dem  Arbeiter  sitzen,  im  Arbeits- 
beirat, in  den  Industriellen,  Fachmännern  und  Regierungsvertretem 
ein  Gegengewicht  gegen  die  Forderungen  der  Arbeiterschaft  be- 
steht. Entweder  wird  man  die  Industriellen  aus  dem  Arbeitsbeirat 
in  den  Industrierat  zurücksenden  oder  den  Arbeitern  auch  in  den 
anderen  Beiräten  eine  Vertretung  gewähren  müssen. 

Alle  diese  Sorgen  werden  aber  durch  die  große  Frage  der 
Finanzen  überwogen,  durch  die  ungeheure  Frage,  wie  die  Be- 
völkerung die  ungeheuren  Lasten,  die  ihr  zugemutet  werden,  tragen 
soll.  Wrir  kommen  dem  neuen  Finanzminister  mit  all  dem  Respekt 
entgegen,  der  einem  Manne  von  wissenschaftlicher  Tüchtigkeit  und 
erprobter  Arbeitskraft  gebührt.  Aber  man  hat  es  hier  nicht  mit 
einer  Person,  sondern  mit  einem  Minister  zu  tun.  Da  ist  nun  sehr 
zu  fürchten,  daß  Dr.  Meyer  trotz  seiner  Tüchtigkeit  das  Los  aller 
Finanzminister  teilen  wird.  Vorläufig  hat  er  bereits  ein  höchst  ge- 
fährliches Wort  gesprochen,  er  hat  von  der  Sparsamkeit  ge- 
sprochen. Wenn 

ein  Finanzminister  von  Sparsamkeit  redet, 

so  liegt  das  an  sich  ja  durchaus  in  seiner  Rolle;  aber  an  dieser 
Stelle  und  als  das  einzige  Positive  in  einem  Programm  des  Finanz- 


I  lu    neue  Regierung  liicnci  th.  201 

ministers  hat  dieses  Wort  geradezu  Schrecken  hervorrufen  müssen. 

Österreich  ist  ja  der  sparsamste  Staat  der  Welt.  Welcher  Staat 
spart  denn  mehr,  wenn  es  gilt,  Schulen  zu  hauen,  welcher  Staat 
hat  einen  elenderen  Zustand  des  Volksschulwesens?  Sparen  wir 
nicht  an  Spitälern,  sparen  wir  nicht  überhaupt,  wenn  es  sich  um 
etwas  handelt,  was  die  Kultur,  die  Ernährung,  den  Körper  des 
Volkes  angeht?  Da  wird  g  e  s  p  a  r  t  bi  s  z  u  m  ri  u  n  g  e  r.  Mai; 
lese  aber  demgegenüber,  was  heute  den  Delegationen  an  Forde- 
r  u  n  g  e  n  f  ü  r  d  i  e  A  r  m  e  e,  f  ii  r  d  e  n  D  a  u  n  e  u  e  r  S  c  h  i  1 f  e 
und  dergleichen  vorgelegt  wird').  Der  Finanzminister,  der  sparen 
will,  spielt  eine  etwas  kölnische  Figur.  Cr  möge  seine  Rede  doch 
in  den  Delegationen  halten!  Wenn  er  dort  oder  im  Ministerrat  mit 
seiner  Mahnung  zum  Sparen  durchdringt,  dann  soll  er  auch  im 
Abgeordnetenhaus  diese  Mahnung  vorbringen!  Dann  werden  wir 
ihm  sagen,  daß  mau  nicht  an  produktiven  Ausgaben  sparen  darf, 
welche  die  Produktions-  und  Arbeitskräfte  des  Volkes  stärken  und 
heben;  dann  werden  wir  ihm  sagen,  daß  es  Selbstmord  ist,  auf  den 
unproduktiven  Gebieten  des  M  i  1  i  t  a  r  i  s  m  us  Milliarden  zu 
\  erschw  enden  und  die  Sünden  unserer  törichten  auswärtigen 
Politik  durch  eine  Verschwendung  zu  bezahlen,  die  früher 
oder  später  zum  Bankerott  führen  muß.  (Lebhafter 
iteifall  bei  den  Sozialdemokraten.)  Wir  werden  ihm  dies  sagen 
mit  der  Entschlossenheit,  keinen  Groschen  für  diese  Forderungen 
zu  bewilligen,  die  dem  Volke  doppelt  schaden,  nicht  nur  direkt. 
sondern  auch  indirekt,  weil  sie  die  Mittel  für  die  kulturelle  Ent- 
wicklung des  Volkes  wegnehmen.  (Lebhafter  Heifall  und  Hände- 
klatschen bei  den  Sozialdemokraten.) 

Daraus  können  Sie  entnehmen,  welches  Urteil  die  sozialdemo- 
kratische Partei  über  die  Bilanz  dieser  Regierung  hat.  Dabei  sollen 
kleine  dekorative  Erscheinungen  mit  Stillschweigen  übergangen 
werden.  Ich  spreche  hier  nicht  davon,  daß  unter  dem  liberalen 
deutschen  Justizminister  eine  Konfiskationspraxis  besteht  wie  seit 
nahezu  einem  Jahrzehnt  nicht.  Von  der  Preßgesetzgebung  redet 
man  heute  überhaupt  nicht  mehr.  Sie  ist  ganz  in  den  Hintergrund 
gedrängt.  Heute  erlebt  man  auch  wieder  den  artigen  Spaß,  in  den 
Versammlungen  Polizeikommissäre  zu  sehen.  (Lebhafte  Zustim- 
mung bei  den  Sozialdemokraten.)  Wir  haben  sie  lange  nicht  ge- 
sehen. Nun,  uns  schadet  das  nicht,  aber  wir  lachen  darüber.  Aber 
welches  Licht  wirft  das  auf  die  Regierung  und  auf  ihre  Tendenzen! 
Wenn  man  alle  diese  Einzelheiten  summiert,  hat  man  den  Ein- 
druck, daß  wir 

in  eine  Periode  des  Kampfes  eintreten, 

des  Kampfes  nicht  allein  gegen  diese  vergängliche  Regierung,  son- 
dern in  eine  ernste  Periode  des  Kampfes  der  Arbeiter- 
klasse nach  allen  Fronten,  in  den  Dingen  der  Kultur 
gegen  den  Klerikalismus,  in  den   Dingen  der  Sozialpolitik  in  bezug 

)  Siehe  die  Rede  Adlers  vom  .S.  Februar    1911:   ..Die  neuen   Dread- 
n  o  ii  g  h  t  s"    Im    Kapitel    „Militarismus   und    K  r  i  e  g". 


202  Das  System  Bienerth. 


auf  den  Arbeiterschutz  und  in  den  Dingen  der  Politik  und  Ver- 
waltung in  bezug  auf  die  Freiheit,  in  eine  Periode  des  Kampfes,  die 
uns  nicht  schreckt,  die  vielmehr  für  uns  das  Lebenselement  ist 
(lebhafter  Reifali  und  Händeklatschen  bei  den  Sozialdemokraten), 
eines  Kampfes,  den  wir  führen  wollen,  wie  wir  es,  seitdem  wir 
denken,  gewohnt  sind.  Sie  sollen  nur  kommen,  wir  sind  ihnen  ge- 
wachsen! Wir  sind  mit  anderen  Leuten  fertig  geworden  als  mit 
der  Bienertherei,  und  wenn  der  alte  Thun  selbst  wäre,  was  der 
junge  Thun  war,  wir  sind  der  ganzen  Rückwärtserei  gewachsen, 
von  Bienerth  hinüber  zum  Herrenhaus  und  bis  nach  Prag  zur 
Statthalterei.  Wir  werden  mit  ihnen  fertig  werden,  und  Kampf. 
Kampf  und  wieder  Kampf  dieser  Regierung,  diesem  System  und 
diesem  ganzen  Wust  von  Verbindungen,  von  faulen  Beziehungen, 
von  unklaren  Drahtziehereien  und  vor  allem  Kampf  der  Heuchelei, 
der  Zweideutigkeit  und  der  Lüge,  die  sich  ausdrückt  in  den  großen 
Worten,  mit  denen  die  Herren  uns  kommen,  hinter  denen  aber 
nichts  steckt  als  Unfruchtbarkeit  auf  der  einen  und 
der  Polizeigeist  auf  der  anderen  Seite!  (Anhaltender 
lebhafter  Beifall   bei   den  Sozialdemokraten.) 

Ein  Attentat  auf  das  Vereinsrecht 

Parlament,  8.  März  191  1*). 

Wir  sollen  heute  eine  Arbeit  zu  Ende  führen,  die  das  Parlament 
in  den  verschiedensten  Formen  seit  dem  Jahre  1874  beschäftigt. 
Unser  Vereins-  und  Versammlungsgesetz  entstand 


*)  Am  8.  März  1911  sollte  das  Abgeordnetenhaus  eine  Reform  des 
Vereinsgesetzes  verhandeln,  die  das  Verbot  der  Teilnahme  von  Frauen 
an  politischen  Vereinen  und  das  Verbot  der  Verbindung  politischer 
Vereine  beseitigen  wollte.  Eine  Reform,  die  auf  einen  Initiativantrag  des 
Abgeordneten  Pernerstorfer  zurückging  und  gegen  den  offenen  und 
versteckten  Widerstand  der  Regierung  und  der  bürgerlichen  Parteien  im 
Ausschuß  durchgegangen  war. 

Gerade  an  diesem  Tage  aber  brachte  die  Regierung  Bienerth  einen 
Entwurf  ein,  der  sich  anstellte,  als  ob  auch  er  eine  solche  Reform  plane, 
aber  in  Wirklichkeit  ein  Attentat  auf  das  Vereinsrecht  war.  Natürlich 
mußte  sich  die  Debatte  auch  mit  diesem  Entwurf  beschäftigen.  In  der 
Debatte  kam  auch  Adler  zu  Wort.  Um  die  Rede  dem  Verständnis  näher- 
zubringen, sei  ein  Überblick  über  das  damals  geltende  Vereinsrecht  ge- 
geben: 

Das  geltende  österreichische  Vereinsgesetz  stammte  aus  dem  Jahre 
1867.  Es  war  in  seiner  Art  für  die  damalige  Zeit  ein  großer  Fortschritt. 
Aber  bald  hatten  sich  in  der  Praxis  die  großen  Fehler  herausgestellt.  Sie 
bestehen  vornehmlich  in  den  Bestimmungen  über  die  politischen 
Vereine.  „Ausländer,  Frauen  s-personen  und  Minder- 
jährige" (die  Großjährigkeit  begann  nach  österreichischem  Gesetz  erst 
mit  dem  vollendeten  24.  Lebensjahr)  durften  politischen  Vereinen  nicht 
angehören.  Politische  Vereine  mußten  den  Behörden  die  Namen  ihrer 
Mitglieder  bekanntgeben,  sie  durften  keine  Ortsgruppen  bilden  und  mit 
arideren   politischen   Vereinen   nicht  in   Verbindung   treten.   Ob   ein   Verein 


i.ni   Attentat  aui  das  Vereinsrecht.  203 

im  Inihling  unseres  sogenannten  Verfassnngslebens, 

wo  die  alten  Herren  noch  jung  waren.  Heute  sind  die  jungen  Herren 
sehr  alt,  die  mit  der  Verfassung  in  einen  nominellen  Zusammen- 
hang gebracht  waren,  und  ihre  Urheber  stellten  sieh  darunter  ein 
sehr  liberales  Werk  vor.  Sie  setzten  eine  verständige  Durchführung 
des  Gesetzes  voraus.  Es  hat  sieh  aber  gezeigt,  dal.»  die  Paragraphen 
dieses  Gesetzes  in  den  Händen  unserer  Verwaltung  zu  einer 
k  ü  u  t  s  e  h  u  k  a  r  t  i  g  e  n  Materie  geworden  sind,  daß  man  das 
Vereinsgesetz  je  nach  den  politiseh  maßgebenden  Strömungen  mehr 
oder  weniger  schroff  angewendet  hat,  nicht,  um  die  Vereinsbildung 
zu  ermöglichen  und  zu  fördern,  sondern  um  sie  zu  erschweren  und 


ein  politischer  Verein  war,  entschieden  die  Behörden.  Diese  Beschrän- 
kungen wurden  mit  dem  Erstarken  des  politischen  Lebens  fühlbar.  Die 
zahllosen  Anträge  auf  Abänderung  des  Vereinsgesetzes,  die  seit  dem 
Beginn  des  parlamentarischen  Lebens  eingebracht  wurden  —  der  erste 
von  Kronawetter  schon  im  Jahre  1874  — ,  bezogen  sich  vornehmlich 
auf  die  politischen  Vereine.  Alle  diese  Anträge  kamen  aber  höchstens 
in   den  Ausschuß;  aus   dem  Ausschuß  kam  keiner  mehr  heraus. 

Erst  dem  Antrag,  den  Pernerstorfer  namens  des  sozialdemo- 
kratischen Verbandes  am  20.  Oktober  1909  einbrachte,  war  ein  besseres 
Schicksal  beschieden.  Dieser  Antrag  verlangte  einfach  die  Streichung 
der  §§  29  bis  35,  die  die  Sonderbestimmungen  für  die  politischen  Vereine 
enthielten.  Damit  wären  diese  allen  anderen  Vereinen  gleichgestellt 
worden.  Im  Verfassungsausschuß  machten  aber  die  Regierung  und  einzelne 
Parteien  Bedenken  geltend,  von  denen  nur  das  eine  Berücksichtigung 
verdiente,  daß  das  Herrenhaus  eine  solche  radikale  Reform  vereiteln 
oder  zumindest  verschleppen  würde.  Also  kam  dann  im  Ausschuß  ein 
Konpromiß  über  das  unbedingt  notwendige  Minimum  der  Reform  zu- 
stande: das  Verbot  der  Beteiligung  der  „Frauenspersonen"  an 
politischen  Vereinen  wird  aufgehoben,  die  Altersgrenze  auf  21  Jahre 
herabgesetzt  und  den  politischen  Vereinen  das  Recht,  Ortsgruppen 
und   Verbände  zu  bilden,   eingeräumt. 

Aber  kaum  war  der  Beschluß  im  Ausschuß  gefaßt  und  auf  Verlangen 
der  Sozialdemokraten  auf  die  Tagesordnung  gestellt,  als  schon  ein  Kessel- 
treiben dagegen  anfing  — »  offenbar  auf  Veranlassung  der  Regierung.  Im 
„Deutschen  Nationalverband"  gab  es  plötzlich  erregte  Debatten  über 
Frauenemanzipation,  über  Heiligkeit  der  Familie 
und  über  Frauen  würde  und  die  deutschradikalen  Spießer  schämten 
sich  dort  nicht,  allen  Ernstes  von  den  Gefahren  der  Teilnahme 
von  Frauen  am  politischen  Leben  zu  faseln.  Eine  Deputation 
des  National  Verbandes  wurde  zum  Ministerpräsidenten 
geschickt  und  Herr  v.  B  i  e  n  e  r  t  h  erklärte  den  Herren,  daß 
der  Antrag  Pernerstorfer  überflüssig  sei,  da  die  Regierung  ohne- 
dies an  einer  Vorlage  über  eine  Reform  des  ganzen  Vereinsgesetzes 
arbeite.  Aber  die  Sozialdemokraten  bestanden  darauf,  daß  die  lex  Perner- 
storfer auf  der  Tagesordnung  verbleibe.  Noch  im  Februar  wurde  die  Be- 
ratung begonnen  und  nach  dem  Wiederzusammentritt  des  Parlaments 
fortgesetzt. 

Nun  sah  sich  die  Regierung  gezwungen,  mit  ihrer  Vorlage  heraus- 
zurücken. Die  Vorlage  sah  auf  den  ersten  Blick  ganz  modern  aus.  Sie 
kannte  keine  politischen  Vereine  mit  ihren  Beschränkungen  mehr.  Dafür 
enthielt  sie  die   Bestimmung,   daß  „Ausländer  und   Minderjährige"  von  der 


204  Das  System  Bienerth. 


unmöglich  zu  machen.  Insbesondere  kehrte  sich  seine  Anwendung 
durch  Jahrzehnte  selbstverständlich  gegen  die  Arbeiterklasse.  Es 
ist  unnötig,  die  Leidensgeschichte,  die  die  Arbeiterschaft  auf  diesem 
Gebiet  durchzumachen  hatte,  hier  zu  wiederholen.  Aber  alle  diese 
Bemühungen  der  Herrschenden  und  ihrer  Organe  waren  vergeb- 
lich. Trotz  des  Mißbrauches  des  Vereinsgesetzes  durch  die  Büro- 
kratie hat  die  Arbeiterschaft  ihr  Recht  und  ihre  Lebensmöglichkeit 
durchgesetzt.  Wir  waren  die  besten  Lehrer  und  Ausleger  dieser 
Gesetze.  Mit  schwerer  Mühe  ist  es  uns  gelungen,  einen  Bezirks- 
liauptmann  um  den  anderen  zum  Lesen  und  Befolgen  der  Gesetze 
zu  erziehen.  Es  war  eine  opfervolle  Arbeit,  und  wir  sind  es  müde, 
sie  immer  wieder  zu  verrichten.  Nun  sieht  es  so  aus,  als  sollte  ein 


Teilnahme  an  Vereinen,  die  eine  Einwirkung  auf  das  Staats- 
\v  e  s  e  11  oder  dessen  Einrichtungen,  auf  Fragen  der  Gesetzgebung  oder 
der  Verwaltung  bezwecken,  oder  deren  Tätigkeit  eine  solche  Einwirkung 
in  sich  schließt,  durch  die  politische  Landesbehörde  ausgeschlossen  wer- 
den könnten.  Damit  waren  auf  einem  Umweg  die  alten  „politischen 
Vereine"  in  verschlechterter  Form  wieder  eingeführt.  Die  nunmehrige 
Definition  paßte  nämlich  so  ziemlich  auf  alle  Vereine,  vor  allem  natürlich 
auch  auf  die  G  e  w  e  r  k  s  c  h  a  f  t  e  n.  Das  Gefährlichste  an  dieser  Be- 
stimmung war  aber,  daß  die  Beschränkungen  nicht  diesen  Vereinen  an 
sich  anhafteten,  sondern  ihnen  von  den  Behörden  auferlegt  werden 
konnten,  somit  der  Willkür  der  Behörden  und  vor  allem  der  ver- 
schiedenartigen Behandlung  der  Parteien  von  Gesetzes  wegen  schon  Tür 
und  Tor  geöffnet  war.  Dieses  freie  Ermessen  der  Behörden  kehrte  dann 
noch  einmal  wieder:  „Vereine,  die  vermöge  ihres  Zweckes,  ihrer  Ein- 
richtung oder  ihrer  Tätigkeit  gesetzwidrig  sind,  oder  das  Gemeinwohl 
gefährden,  können  durch  die  politische  Landesbehörde  aufgelöst  werden." 
Hier  kam  der  Versuch,  ein  Ausnahmegesetz  gegen  die  Sozial- 
demokraten zu  scharfen,  verblümt  zum  Vorschein,  wenn  auch  die 
Regierung  jede  derartige  Absicht  weit  von  sich  wies  und  Graf  Wicken- 
burg, der  Minister  des  Innern,  meinte,  es  werde  der  Behörde  damit  nur 
die  Möglichkeit  gegeben,  zu  „individualisiere  n". 

Das  waren  so  die  zwei  schönsten  —  es  gab  noch  andere  schöne  — 
Bestimmungen  dieser  Reform.  Es  ist  begreiflich,  daß  die  Sozialdemokraten 
keinen  Zweifel  darüber  ließen,  daß  sie  sich  einem  solchen  Gesetz  mit  allen 
Mitteln  widersetzen  würden. 

Der  Deutschradikale  Dr.  v.  Mühlwert  stellte,  als  die  Regierung 
mit  ihrer  Vorlage  herauskam,  den  Antrag,  die  lex  Pernerstorfer  an  den 
Ausschuß  zurückzuverweisen  —  wo  sie  mit  der  Regierungsvorlage  zu- 
sammen verhandelt  werden  solle  — ,  angesichts  der  klaren  Haltung  der 
Sozialdemokraten  wagte  er  es  aber  doch  nicht,  so  offenkundig  die  Ver- 
antwortung für  die  Verschleppung  der  Reform,  die  im  Programm  aller 
Parteien  dieses  Parlaments  stand,  auf  sich  zu  nehmen  und  zog  daher  un- 
mittelbar vor  der  Schlußrede  des  Ausschußberichterstatters  Pernerstorfer 
seinen  Antrag  auf  Rückverweisung  zurück. 

Die  Pernerstorfersche  Reform  wurde  dann  einstimmig  ange- 
n  o  m  m  e  n. 

Das  Herrenhaus  hat  sie  aber  nicht  mehr  erledigt  und  das  alte  Ge- 
setz blieb  bis  zum  Umsturz  in  Geltung,  ebenso  wie  ja  erst 
nach  dem  Umsturz  das  Alter  der  Großjährigkeit  auf  das  21.  Lebensjahr 
herabgesetzt  wurde. 


Ein   Attentat  aui  das  Vereinsrecht.  205 

Teil  dieser  mühevollen  Arbeit  wieder  vernichtet  werden.  Man  siulii 
Erscheinungen  wieder,  die  man  seit  Jahren  nicht  mehr  zu  beob- 
achten hatte.  Ich  spreche  nicht  von  dem  armen  Poli/eikommissar . 
der  jetzt  wieder  in  den  Versammlungen  erscheint,  der  nicht  ein 
Gegenstand  der  Beängstigung,  sondern  des  Mitleides  ist.  Man  sieh« 
aber  auch  wieder  Behelligungen  von  Versammlungen  und  Vereinen, 
an  die  man  seit  langer  Zeit  nicht  mehr  gewöhnt  war.  Das 
schlimmste  aber  ist,  dal!  sich  die  Regierung  selbst  auf  einem 
falschen  Wege  befindet.  Wie  aus  der  Beilage  zur  Regierungs- 
vorlage selbst  zu  entnehmen  ist.  sind  an  den  seit  dem  Jahre  1S7  4 
sich  immerfort  erhebenden  Anträgen  auf  Reform  des  Vereins- 
gesetzes alle  Parteien  des  Hauses  beteiligt,  die  mit  den  Massen 
irgendwelche  Berührung  haben. 

Die  drückendsten  Bestimmungen  des  Vereinsgesetzes  betreffen 
den  Ausschluß  der  Frauen,  der  Leute  unter  vierundzwanzig  Jahren 
und  das  Verbot  der  Verbindung  von  Vereinen.  Unter  dem  Kindruck 
der  unbedingten  Notwendigkeit,  hier  Wandel  zu  schaffen,  ist  der 
Ausschuß  zusammengetreten  und  nach  vergeblichen  Bemühungen 
von  Dezennien  ist  es  ihm  jetzt  endlich  gelungen,  sich  im  Wege 
eines  Kompromisses  aller  Parteien  über 

ein  Minimum 

zu  einigen.  Die  Regierung  erklärte  nun,  daß  sie  natürlich  jedem 
Bestreben,  das  Vereinsgesetz  zu  reformieren,  sehr  sympathisch 
gegenüberstehe  und  die  Sache  selbst  in  die  Hand  zu  nehmen  be- 
absichtige. Bei  diesem  Satze  des  Regierungsvertreters  sind  wir  alle 
erschrocken.  (Heiterkeit.)  Denn  wir  kennen  die  österreichische 
Regierung.  Die  Regierung  hat  das  Vereinsrecht  in  der  Admini- 
stration vereitelt,  sie  hat  ihm  den  Boden  unter  den  Füßen  weg- 
gezogen; nachdem  wir  diesen  Boden  pilotiert  haben,  hat  sie  gegen 
jede  Verbesserung  des  Vereinsgesetzes  passive  Resistenz  geübt. 
Als  sich  endlich  das  Parlament  aufraffte,  wenigstens  ein  Minimum 
zu  schaffen,  griff  die  Regierung  zum  äußersten  Mittel:  die 
Sache  selbst  in  die  Hand  zu  nehmen,  um  so 

die  Reform  zu  obstruieren. 

(Lebhafte  Zustimmung  und  Beifall  bei  den  Sozialdemokraten.)  Es 
ist  bedauerlich,  daß  aus  der  Mitte  des  Hauses  ein  Vertreter  einer 
Partei  sich  gefunden  hat,  um  diesen  Vereitlungsversuch  der  Regie- 
rung zu  unterstützen.  Man  könnte  einen  Zusammenhang  zwischen 
der  Meinung  Dr.  v.  M  ü  h  1  w  e  r  t  h  s,  daß  den  Frauen  überhaupt 
noch  nicht  das  politische  Vereinsrecht  zu  geben  sei,  und  diesem 
Versuch  herstellen.  Fr  hat  jedoch  heute  von  diesem  Motiv  noch 
nicht  gesprochen.  Doch  waren  die  einzigen,  die  im  Ausschuß  gegen 
die  Ausdehnung  des  Vereinsrechtes  auf  die  Frauen  gesprochen 
haben,  die  Mitglieder  der  Partei  des  Dr.  v,  Mühlwerth.  Das  Haus 
wird  hoffentlich  der  Regierung  nicht  auf  den  Leim  gehen  und  der 
angeblich  großzügigen  Reform  die  im  Ausschuß  einstimmig  be- 
schlossene bescheidene  Reform  opfern.  Uns  ist  ein  kleiner  Ge- 
winn  lieber  als  die  größte  Niederlage.  (Lebhafte  Heiterkeit.) 


206  Das  System  Bienerth. 

Der  Ausschuß  hat  sich  also  darauf  beschränkt,  zunächst  den 

Ausschluß  der  Frauen 

aus  den  politischen  Vereinen  aufzuheben;  eine  Begründung  ist 
überflüssig.  Es  gibt  nur  wenige  ganz  rückständige  Menschen,  die 
daran  zweifeln,  daß  die  Frau  politisch  berechtigt  sein  soll,  so  wie 
sie  politisch  verpflichtet  und  politisch  belastet  wird.  (Zustimmung 
bei  den  Sozialdemokraten.)  Und  es  hängt  ganz  von  der  Umgebung 
ab,  in  der  wir  jeder  leben,  welche  Meinung  wir  uns  über  die  Intelli- 
genz und  die  Befähigung  der  Frau  bilden,  in  die  Politik  drein- 
zureden. (Lebhafte  Heiterkeit  und  Beifall  bei  den  Sozialdemokraten.) 
Ein  zweites  Moment  sind  die  Minderjährigen.  Minderjährig  im 
bürgerlichen  Sinne  ist  eine  breite  Schicht  des  Volkes,  die 

volljährig  und  vollbelastet  ist  im  sozialen  und  realen  Sinne. 

Minderjährig  mögen  die  Herren  Studenten  bis  zum  vierund- 
zwanzigsten Jahre  sein,  die  jungen  Kavaliere,  die  man  für  die 
Obligationen  nicht  verpflichten  will,  die  sie  eingegangen  sind,  voll- 
jährig aber  sind  die  Menschen,  die  man  mit  vierzehn  Jahren  zur 
Arbeit  drängt  und  die  mit  dem  dreißigsten  Jahre  sich  ihrem  Ende 
nähern.  (Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten.)  Die  Zeit  zwischen 
der  bürgerlichen  Volljährigkeit  und  dem  durchschnittlichen  Todes- 
alter des  Arbeiters  ist  kurz.  Und  es  ist  eine  von  allen  Seiten  ver- 
urteilte Torheit,  jene  Schicht  des  Volkes,  die  zu  allermindest  mit 
achtzehn  Jahren  erwerben  muß,  für  sich  verantwortlich  ist,  die 
mit  zwanzig  Jahren  schon  schwere  Lasten  tragen  muß,  heiraten 
darf  und  sogar  heiraten  soll,  bis  zum  vierundzwanzigsten  Jahre  zu 
entrechten. 

Dr.  v.  Mühlwerth  hat  ja  darin  recht,  daß  man  auch  das  Bürger- 
liche Gesetzbuch  hinsichtlich  der  Grenze  der  Minderjährigkeit  ab- 
ändern soll.  Nur  dürfen  wir  nicht  mit  dem  Vereinsgesetz  so  lange 
warten,  bis  das  geschieht. 

Dr.  v.  Mühlwerth:  Um  die  Eherechtsreform*)  kümmern  sich  die 
Herren  Roten  gar  nicht!  (Lebhafte  Gegenrufe  bei  den  Sozialdemo- 
kraten: Jetzt  sind  wird  beim  Vereinsrecht!) 

Dr.  Adler:  Sie  können  uns  beim  Wort  nehmen!  Bringen  Sie  die 
Eherechtsreform  auf  die  Tagesordnung! 

Dr.  v.  Mühlwerth:  Kann  denn  ich  dafür? 

Dr.  Adler:  Wir  haben  aber  den  Grundsatz,  daß  wir  jedesmal 
bei  den  Dingen,  die  gerade  auf  der  Tagesordung  sind,  voll  und  ganz 


*)  Mit  der  Eherechtsreform  haben  die  Deutschnationalen  schon  in 
der  Monarchie  das  gleiche  Spiel  getrieben  wie  in  der  Republik.  Auch  Herr 
Dr.  v.  Mühlwerth  hatte  einen  Antrag  auf  Angleichung  der  Ehen  von 
Katholiken  an  die  von  Nichtkatholiken  (Aufhebung  des  §  111  des  Allge- 
meinen bürgerlichen  Gesetzbuches,  der  Katholiken  auch  nach  der  Schei- 
dung das  Eingehen  einer  neuen  Ehe  verbietet)  eingebracht.  So  oft  es  aber 
zur  Abstimmung  kam,  liefen  die  Deutschnationalen,  namentlich  die  vom 
Nationalverband,  davon,  und  das  Ehehindernis  des  §  111  besteht  bekannt- 
lich auch  heute  noch. 


Ein   Attentat  aul   das  Vereinsrecht.  ^(" 

unseren  Prinzipien  gemäß  handeln.  (Zustimmung  bei  den  Sozial- 
demokraten.) Eines  nach  dem  anderen!  Jetzt  reden  wir  vom 
Vereinsgesetz.  Machen  wir  jetzt  also  das  Vereinsgesetz!  Kommen 
Sie  mit  der  Eherechtsreform,  so  werden  wir  diese  machen.  Die 
Bestimmung,  daß  die  politischen  Vereine  miteinander  nicht  in  Ver- 
bindung treten  sollen,  hat  zu  den  größten  Vexationen  geführt.  Auch 
gewisse  bürgerliche,  namentlich  die  nationalen  Vereine  haben  dar- 
unter zu  leiden  gehabt.  Alle  diese  Dinge  sind  bei  uns  durch  die 
Praxis,  weil  wir 

auf  das  Gesetz,  das  so  schlecht  ist,  gepfiffen  haben, 

heute  momentan  nicht  mehr  so  gefährlich,  aber  sie  können  gefähr- 
lich werden.  Das  beweist  ein  Aktenstück  neuesten  Datums:  die 
heutige  Regierungsvorlage.  Die  Regierungsvorlage  hat  die 
Unterscheidung  zwischen  politischen  und  nichtpolitischen  Vereinen 
nicht  mehr;  aber  sie  hat  eine  eigene  Kategorie  geschaffen,  sie  nennt 
sie  nicht  mehr  politische  Vereine,  sondern  „die  im  §  10  bezeich- 
neten Vereine"  (Heiterkeit),  deren  Tätigkeit  „eine  Einwirkung  auf 
das  Staatswesen  oder  dessen  Einrichtungen,  auf  Fragen  der  Gesetz- 
gebung oder  der  Verwaltung  bezwecken  oder  deren  Tätigkeit  eine 
solche  Einwirkung  in  sich  schließt".  Gegen  solche  Ausdrücke  ist 
der  gewöhnliche  Kautschuk  ein  sehr  starrer  Körper.  (Heiterkeit.) 
Und  als  ob  das  noch  zu  deutlich  wäre,  wird  nicht  gesagt,  die  in 
diese  Kategorie  gehörigen  Vereine  seien  folgendermaßen  zu  behan- 
deln, sondern  es  wird  gesagt,  sie  können  so  behandelt  werden. 
Der  Minister  meint,  das  sei  eben  der  Fortschritt.  Die  Regierung  sei 
nicht  mehr  gezwungen,  Ausländer  oder  Minderjährige  aus  solchen 
Vereinen  auszuschließen.  Uns  haben  aber  Gesetzesparagraphen  nie 
so  behindert  wie  das 

Ermessen  der  Regierung. 

(Zustimmung  und  Beifall  bei  den  Sozialdemokraten.)  Der  Ansicht 
der  Landesbehörden  es  zu  überlassen,  ob  sie  unsere  glänzend  auf- 
blühenden Vereine  der  Jugendlichen  oder  die  mitunter  auch  nicht 
sehr  beliebten  nationalen  Vereine,  welche  denselben  Zweck  ver- 
folgen, schikanieren  wollen,  ob  sie  sie  zwingen  wollen,  die  jungen 
Leute  hinauszuwerfen,  und  dafür  bei  einem  Verein,  der  in  Gunst 
steht,  den  irgendwelche  konservative  Kreise  protegieren,  nach 
ihrem  Ermessen  diese  Ausschließung  nicht  vorzunehmen,  das  ist 
keine  Verbesserung,  sondern  eine  Verschlechterung.  Auf  diesen 
Leim  gehen  wir  Ihnen  nicht! 

Wenn  heute  eine  Gewerkschaft  eine  Resolution  für  den  Acht- 
stundentag beschließt  oder  über  das  Koalitionsrecht  spricht,  hat 
noch  keine  Behörde  — -  so  blöd  sind  sie  schon  lange  nicht  mehr  - 
gesagt,  daß  sie  damit  das  politische  Gebiet  betreten  habe.  Jetzt 
braucht  die  Regierung  nur  zu  sagen,  die  Gewerkschaft  habe  sich 
mit  politischen  Gesetzen  beschäftigt,  sie  habe  eine  Einwirkung  auf 
Fragen  der  Gesetzgebung  oder  Verwaltung  bezweckt,  und  sie  kann 
aus  einem  solchen  Verein  alle  Arbeiter  unter  vierundzwanzig  Jah- 


208  Das  System  Bienerth. 

ren  ausschließen.     Vereine  können  jetzt  aufgelöst  werden  ein 

Verein  ist  ein   Ding,     das  aufgelöst  werden  kann    (Heiterkeit)     — , 
wenn  sie 

„das  Gemeinwohl  gefährden". 

Dagegen  ist  ja  Kautschuk  geradezu  schon  ein  Diamant!  (Heiter- 
keit bei  den  Sozialdemokraten.)  Mit  bezug  auf  die  Bestimmung. 
daß  ein  Verein  sich  nicht  in  einem  Zweig  der  Gesetzgebung  oder 
der  exekutiven  Gewalt  „eine  Autorität  anmaßen"  dürfe,  erinnere 
ich  an  den  Fall  der  Wiener  Bäckergewerkschaft,  die  Anfang  der 
neunziger  Jahre  eine  Enquete  über  die  Verhältnisse  im  Bäcker- 
gewerbe veranstaltete  und  aus  diesem  Titel  von  der  hohen  Statt- 
halterei  -  die  doch  weiß,  nicht  nur  was  Gemeinwohl,  sondern  auch 
was  Anmaßung  ist  (Heiterkeit)  —  aufgelöst  wurde.  Der  Minister 
wird  sagen:  Das  war  früher,  jetzt  sind  wir  gescheiter  geworden. 
Gewiß,  aber  vor  Rückfällen  ist  die  Bürokratie  nicht  sicher  (lebhafte 
Heiterkeit)  und  man  soll  den  Herrschaften  jedenfalls  ein  scharfes 
Messer  nicht  in  die  Hand  geben.  (Neuerliche  Heiterkeit.)  Gerade 
dadurch,  daß  der  Entwurf  dem  Ermessen  der  Regierung  so  viel 
Spielraum  gibt,  ist  er  so  gefährlich.  Wenn  eine  Bestimmung  des 
Entwurfes  die  Schaffung  eines  Verbandsverhältnisses  von  inländi- 
schen Vereinen  mit  ausländischen  verbietet,  so  ist  das  wieder  eine 
Bestimmung,  die  sich  durchaus  nicht  auf  die  Arbeitervereine  allein 
bezieht,  da  es  in  allen  Schichten  Körperschaften  gibt,  die  inter- 
nationale Beziehungen  haben  müssen.  Ich  erinnere  nur  an  die 
internationalen  Juristenvereine,  die  Volkswirtschaftsvereine,  die 
Arbeiterschutzgesetzgebungsvereine  und  auch  an  die  Friedens- 
vereine. Alle  diese  könnten  in  Hinkunft  aufgelöst  werden.  Wenn 
aber  die  Regierung  sagt,  sie  verlange 

nur  die  Möglichkeit  der  Auflösung, 

sie  werde  damit  nicht  vorgehen,  dann  ist  diese  Bestimmung  über- 
flüssig. All  das  zeigt,  daß  in  dem  Moment,  wo  der  Regierungs- 
entwurf  zum  Gegenstand  der  Beratung  gemacht  und  der  Antrag 
des  Verfassungsausschusses  zurückverwiesen  wird,  eine  Reihe  von 
Fragen  ganz  überflüssigerweise  aufgeworfen  wird.  Der  Entwurf 
enthält  ja  auch  eine  Reihe  von  Erleichterungen  gegenüber  dem 
heutigen  bürokratischen  Verfahren.  Allein  darauf  verzichten  wir 
lieber,  weil  wir  das  Kleine  in  Sicherheit  bringen  wollen  vor  den 
Feinden  der  Reform  und  vor  der  allzu  großen  Freundschaft  für  das 
Vereinswesen,  die  die  Regierung  jetzt  entfaltet  und  vor  der  man 
sich  mehr  fürchten  muß  als  vor  allen  Feinden.  (Beifall  bei  den 
Sozialdemokraten.)  Wir  nehmen  das  wenige  an,  was  der  Ausschuß- 
entwurf  bietet.  Hoffentlich  wird  das  Herrenhaus  nicht  wieder  einen 
Strich  durch  die  Rechnung  machen  und  bei  dieser  Reform,  über  die 
alle  Parteien  des  Hauses  dem  Wesen  nach  einig  sind,  sich  nicht 
mit  der  ganzen  Bevölkerung  in  Widerspruch  setzen.  Dann  hat  die 
Regierung  freie  Bahn,  dann  möge  sie  nach  gemachten  neuen  Er- 
fahrungen  einen   anderen  Entwurf    vorlegen.     Wir    sind    jederzeit 


Die  Regierung  im  Bunde  mit  der  Obstruktion.  209 

bereit,  auch  auf  diese  Reform  einzuteilen  .Jetzt  aber  machen  wir, 
was  bereits  fertig  ist.  Die  Parteien  des  Hauses  mögen  sieh  dureli 
die  Taktik  der  Regierung  nicht  kaptivieren  lassen,  die  nicht 
eine  v  e  r  e  i  n  s  f  r  e  u  n  d  I  i  c  h  e  i  s  t,  s  o  n  d  e  r  n  d  i  e  v  e  r  e  i  t  e  1  n 
will,  was  alle  Parteien  des  Hauses  zusammen 
bereits  gemacht  haben.  (Lebhafter  Beifall  und  Hände- 
klatschen bei  den  Sozialdemokraten.) 

Die  Regierung  im  Bunde  mit  der 
Obstruktion. 

Sieben  Versammlungen,  3.  April  1911*). 

Das  gleiche  Wahlrecht  konnte  die  Bedingungen  für  die  Entwick- 
lung Österreichs  scharfen,  aber  es  konnte  nicht  ein  Regierungs- 
system beseitigen,  das  Österreich  seit  Jahrhunderten  zugrunde 
richtet,  ein  System,  das  sich  auf  die  Alleinherrschaft  der  Büro- 
kratie, der  Klerisei  und  des  Säbels  gründet.  Das  Instrument,  um 
den  Volkswillen  zum  Ausdruck  zu  bringen,  ist  besser  geworden, 

*)  Die  Methode  der  Gehässigkeit  gegen  das  Parlament,  die  das  System 
Bienerth  ausmachte,  mußte  zur  Auflösung  des  Parlaments  führen.  Die 
provisorische  Geschäftsordnung,  die  sich  das  Parlament  Ende  1908 
gegeben  hatte,  machte  die  Obstruktion  einiger  Desperados,  wie  sie  im 
Kurienparlament  die  Regel  gebildet  hatte,  so  ziemlich  unmöglich.  Aber 
Bienerth  berief  nun  das  Parhament  immer  so  spät  ein,  daß  es  nicht  zu 
wirklicher  Arbeit  kommen  konnte,  sondern  an  fixe  Termine  gebunden 
war,  so  zum  Beispiel  beim  Budget.  So  war  1910  das  Parlament  nicht  im 
September,  wie  sonst,  sondern  erst  Ende  November  einberufen  worden 
und  hatte  daher  das  Budget  nicht  mehr  erledigen  können.  Durch  die 
Demission  der  Regierung  waren  überdies  noch  einige  Tage  verloren 
worden.  Unter  dem  Vorwand,  daß  es  schwer  sei,  zu  gleicher  Zeit  das 
Parlament  und  die  Delegationen  tagen  zu  lassen,  wurde  das  Parlament 
dann  wieder  erst  für  Ende  Februar  zusammenberufen.  Einige  Tage  ver- 
gingen mit  den  üblichen  Demonstrationsanträgen  der  Parteien,  und  als 
das  Parlament  dazu  kam,  das  Budgetprovisorium  —  das  am  16.  Dezember 
bis  Ende  März  bewilligt  worden  war  —  neuerlich  zu  beraten,  war  die 
Frist  natürlich  zu  kurz.  Nun  hatte  die  Obstruktion  gewonnenes  Spiel.  Sie 
konnte  mit  bloßen  Reden,  ohne  irgendwelche  Gewalttätigkeiten,  die  Er- 
ledigung des  Budgetprovisoriums  bis  zum  31.  März  verhindern.  Und  als 
die  Tschechischradikalen  anfingen,  zwang  Bienerth  förmlich  die  tsche- 
chischen Agrarier  und  die  Jungtschechen,  mitzutun,  indem  er  durch  seine 
offiziöse  Presse  die  Auflösung  des  Hauses  androhen  ließ:  hätten  sich  diese 
Parteien  gegen  ihre  Übernationalen  gestellt,  so  hätten  sie  ihnen  ja  die 
beste  Wahlparole  gegeben.  Trotzdem  wäre  es  doch  möglich  gewesen,  das 
Budgetprovisorium,  wenn  auch  nicht  bis  zum  31.  März,  so  doch  bis  zum 
2.  April  fertigzustellen.  Länger  konnte  die  Obstruktion  die  Erledigung 
nicht  verschleppen.  Da  erwachte  aber  plötzlich  Herrn  v.  Bienerths 
konstitutionelles  Gewissen  und  er  erklärte,  das  bedeute,  daß  er  zwei 
Tage  ohne  verfassungsmäßig  bewilligtes  Budget  regieren  müsse,  und  er 
müsse  das  Parlament  auflösen.  Zwei  Tage  ohne  verfassungsmäßige^ 
Budget  —  man  nannte  das  hierzulande  Ex  lex        konnte  er  nicht  regieren, 

Adler,  Briefe.    XI.  Bd.  14 


210  I  las  System  Bienerth. 


und  selbst  im  Sterben  kann  dieses  Parlament  stolz  sich  erheben 
über  jenes  alte,  verrottete  Kurienparlament.  Aber  dieses  erste 
Parlament  des  allgemeinen  Wahlrechtes  ist  mitten  in  seiner  Arbeit 
weggeschickt  worden,  wie  man  den  unbequemen  Gast  wegschickt. 
Neuwahlen  und  der  Appell  an  die  Bevölkerung  wären  ja  eine  nütz- 
liche Sache.  Aber  hier  handelt  es  sich  nicht  darum,  daß  die  Be- 
völkerung gefragt  wird,  wie  sie  über  dieses  System  denkt,  sondern 
hier  handelt  es  sich  um  die  Tatsache,  daß  die  nationalistischen 
Parteien  in  frivoler  Zügellosigkeit  das  Parlament  ruiniert  haben 
und  daß  eine  Regierung,  die  keinen  Boden  im  Parlament,  die  keine 
Beziehung  zum  Parlament  hat,  die  dem  Parlament  feindselig  gegen- 
übersteht, 

im  Bunde  mit  den  slawischen  Nationalisten 

dem  Parlament  den  Garaus  gemacht  hat. 


aber  mit  dem  §  14,  also  mit  Ausschaltung  des  Parlaments  auf  dem  Wege 
des  Verfassungsbruches,  das  Budget  sich  selbst  bewilligen,  das  hielt 
sein   konstitutionelles   Gewissen   aus. 

Daß  die  Auflösung  jetzt  erfolgte,  hatte  aber  noch  einen  besonderen 
Grund.  Die  bozialversicherung  (Alters-  und  Invaliditäts- 
versicherung der  Arbeiter)  war  endlich  im  Subkomitee  des  Ausschusses 
zu  Ende  beraten  worden  und  auch  im  Ausschuß  war  die  Beratung  bis 
zum  letzten  Hauptstück  gediehen,  so  daß  noch  vor  Ostern  die  zweite 
Lesung  im  Hause  hätte  beginnen  können.  Das  war  der  Regierung  nicht 
sehr  angenehm,  die  das  Gesetz  seinerzeit  vorgelegt  hatte,  um  den  Sozial- 
demokraten den  Wind  aus  den  Segeln  zu  nehmen,  aber  nun  alles  Geld 
des  Staates  für  Dreadnougths  und  Kanonen  haben  wollte,  die 
in  den  Delegationen  bereits  bewilligt  wurden.  Durch  die  Auflösung  fiel 
nun  die  mehrjährige  Arbeit  des  Ausschusses  zusammen.  Ebenso  ging  es 
mit  einer  Reihe  anderer  Gesetze,  die  im  Abgeordnetenhaus  fertiggestellt 
waren,  wie  die  Vereinsgesetzreform,  das  Gesetz  über  die  Unfall- 
versicherung in  den  baugewerblichen  Nebenbetrieben,  über  die  Lohn- 
zahlungen im  Bergbau  und  über  die  Aufhebung  der  Strafe  für  den 
Kontraktbruch  der  Arbeiter,  oder  wie  die  Preßreform  wenigstens  im 
Ausschuß  durchberaten  waren. 

Die  Sozialdemokraten  haben  die  Angelegenheit  vor  allem  von  den 
beiden  Gesichtspunkten  der  Wiederanwendung  des  §  14  und  der  Ver- 
eitlung der  Sozialversicherung  beurteilt,  und  sie  hatten  das  Verhalten 
der  Obstruktion,  die  der  Regierung  den  erwünschten  Anlaß  bot,  und  der 
Regierungsparteien,  die  die  Regierung  in  ihrem  verbrecherischen  Ver- 
halten unterstützten,  gebrandmarkt.  In  einer  Beratung  beim  Minister- 
präsidenten hatten  übrigens  die  Führer  der  Majoritätsparteien  ihre  Be- 
denken gegen  die  Auflösung  ausgesprochen:  Der  Zeitpunkt  sei  jetzt  un- 
günstig, da,  wie  der  Vertreter  der  Deutschnationalen  ausdrücklich  er- 
klärte, die  Majoritätsparteien  der  Bevölkerung  nur  militärische  Lasten 
gebracht  hätten,  aber  nichts  von  dem,  was  sie  von  ihnen  verlangte. 

Am  27.  März  hatte  die  Regierung  das  Parlament  vertagt.  Am  31.  März 
löste  sie  es  auf.  Die  Auflösung  war  schon  im  Dezember  beschlossen. 
Bienerth  wartete  nur  auf  die  Gelegenheit.  Dazu  mußte  er  die  Obstruktion 
förmlich  erzwingen. 

Er  hoffte,  das  neue  Parlament  werde  den  Sozialdemokraten  eine 
Niederlage  bringen  und  die  gestärkte  Koalition  der  Christlichsozialen  und 


Die  Regierung  Im  Bunde  mit  der  Obstruktion.  211 

Erinnern  Sic  sich,  wie  die  Regierung  zum  erstenmal  das  Haus 
geschlossen  hat,  damals,  als  die  Choc-Buben*)  ihre  Musik  aufführten. 
Einige  Monate  darauf  trat  das  Parlament  wieder  zusammen  und 
wieder  brach  die  Obstruktion  ans.  Warum  obstruieren  diese  Leute? 
Warum  hindern  sie  die  Arbeit?  Weil  sie  iiiitessen  wollen  an  dem 
großen  Trog,  an  dem  die  anderen  essen!  Wieder  war  Herr  v.  Bie- 
nerth  froh,  daß  er  durch  die  Obstruktion  der  Verlegenheit  entgeht, 
eine  Abstimmung  im  Parlament  zu  wagen,  wo  sich  zeigen  würde, 
daß  er  keine  Majorität  im  Hause  hat.  In  einer  denkwürdigen 
Sitzung  der  Obmänner  aller  Parteien  gelang  es  uns  Sozialdemo- 
kraten, einen  Ausgleich  zu  treffen,  gelang  es  uns,  alle  Parteien  so 
mit  uns  fortzureißen  und  die  Möglichkeit  zu  schaffen,  daß  die  Ob- 
struktion beseitigt  werde  und  das  Haus  weiter  arbeiten  könne. 
Aber  die  Herren  von  der  Majorität,  die  sich  in  der  Obmänner- 
konferenz uns  angeschlossen  haben,  gehen  nach  der  Sitzung  zu 
Herrn  Bienerth  und  Herr  v.  Bienerth  sagt,  daß  ihm  der  Ausgleich 
nicht  gefalle,  und  schließt  das  Haus.  Das  Haus  tritt  wieder  zu- 
sammen, die  Obstruktion  beginnt  wieder.  Erinnern  Sie  sich  an  jene 
Zeit  vor  Weihnachten  des  Jahres  1909,  wo.  den  Herren  obstruieren- 
den Slawen  mitten  in  der  Obstruktion  einfällt,  daß  sie  die  Ge- 
schäftsordnung ändern  wollen,  um  künftige  Obstruktionen  unmög- 
lich zu  machen.  Ob  der  Antrag  ehrlich  gemeint  war  oder  nicht,  ist 
eine  Frage  für  sich,  aber  sicher  war,  daß,  wenn  man  das  Parlament 

Nationalverbändler  werde  ihm  leichter  die  neuen  Steuern  für  die  erhöhten 
Militärausgaben  bewilligen. 

Die  Sozialdemokraten  setzten  natürlich  sofort  mit  der  Aufklärung  der 
Wähler  über  das  frivole  Spiel  der  Regierung  ein,  die  im  offenen  Bunde 
mit  den  Obstruktionisten  das  Parlament  zerstört  hatte.  Am  3.  April  fanden 
in  Wien  sieben  Versammlungen  statt,  die  alle  massenhaft  besucht  waren 
und  den  Auftakt  zu  der  Wahlbewegüng  bildeten.  Im  Favoritner  Arbeiter- 
heim sprach  Adler. 

Am  31.  März  wurde  das  Abgeordnetenhaus  aufgelöst  und  am  1.  April 
wurde  schon  die  erste  §-14- Verordnung  publiziert,  mit  der  die  Regierung 
ein  neunmonatiges  Budgetprovisorium,  das  laufende  Rekrutenkontingent 
(die  Aushebung  einer  bestimmten  Zahl  von  Rekruten)  und  zugleich  auch 
die  Aufnahme  einer  schwebenden  Schuld  von  76  Millionen  Kronen  für 
die  außerordentlichen  Kosten  der  Ausgestaltung  des  Heeres 
und  der  Marine  sich  selbst  bewilligte.  Der  §  14,  der  der  Regierung 
das  Recht  zu  Notgesetzen  gab,  „wenn  sich  die  dringende  Notwendigkeit 
solcher  Anordnungen  zu  einer  Zeit  herausstellt,  wo  der  Reichsrat  nicht 
versammelt  ist",  wurde  wieder  zum  nackten  Verfassungsbruch 
im  Interesse  des  Militarismus  mißbraucht.  Und  unter  den  Ministem,  die 
diese  §-14- Verordnung  unterschrieben,  war  auch  derselbe  Dr.  flochen- 
burger,  der  im  Jahre  1898  denen,  die  den  §  14  mißbrauchen,  mit  der 
Gefahr  gedroht  hatte,  am  nächsten  Laternenpfahl  aufgeknüpft 
zu   werden.  (Siehe  Bd.  VIII,  Seite  474.) 

)  Wenzel  C  h  o  c,  der  tschechischradikale  Abgeordnete  von  Prag- 
Weinberge,  war  neben  Wenzel  Klofac  Obmann  seines  Klubs;  die 
Obstruktionskrawalle  kommandierte  immer  er;  daher  die  Bezeichnung 
Choc-  Buben.  (Siehe  Bd.  VIII,  Seite  309.) 

14* 


"212  Das  System  Bienerth. 


wollte,  man  sie  beim  Wort  nehmen  mußte.  Das  haben  wir  Sozial- 
demokraten getan  und  wir  haben  diese  Geschäftsordnung  auf  unse- 
ren Rücken  genommen.  Aber  wer  war  es,  der  sich  widersetzt  hat? 
Schwer  beweglich  kamen  endlich  die  Majoritätsparteien  und  dem 
toten  Lueger  will  ich  es  ins  Grab  nachsagen,  daß  er  der  erste  in 
der  ganzen  Runde  war,  der  gesagt  hat:  „Ja,  eigentlich  hat  der 
Adler  recht,  wir  können  nicht  anders*)!"  Aber 

wer  hat  damals  dieser  Reform  der  Geschäftsordnung  den  größten 

Widerstand  entgegengesetzt? 

Die  Regierung  Bienerth!  Geradezu  mit  Gewalt 
mußten  wir  den  Herrn  Baron  Bienerth  dazu  zwin- 
gen, daß  er  darauf  eingehe!  Er  wollte  nicht ;  denn  man 
könne  nicht  mitten  im  Winter  das  Herrenhaus  zusammenberufen 
vor  den  Jagden!  Wir  waren  es,  die  diese  Reform  der  Geschäfts- 
ordnung moralisch  erzwungen  haben,  gegen  die  Regierung  und 
gegen  die  Regierungsparteien! 

Die  Obstruktion  war  aus  dem  Hause  verscheucht  und  zog  sich  in 
die  Ausschüsse  zurück.  Sie  sehen  nun,  welcher  Qualität  diese  Herren 
Schusterschitz  und  Udrzal  waren;  diese  Herren,  die  die  Geschäfts- 
ordnung angeblich  wollten,  um  das  Parlament  von  der  Obstruktion 
zu  befreien,  fangen  nun  wieder  zu  obstruieren  an.  Diese  Obstruktion 
im  Ausschuß  war  nicht  schwer  zu  überwinden.  AberHerrv.  Bie- 
nerthwollte  nicht!  Aus  guten  Gründen.  Er  wollte  nicht,  weil 
sich  damals  zeigte,  daß  seine  Getreuesten,  die  Polen,  Schwierigkeiten 
machen,  und  weil  eine  Abstimmung  im  Hause  offenbart  hätte,  daß 
er  keine  Majorität  habe.  Also  hat  sich  Herr  v.  Bienerth  der  Obstruk- 
tion gefügt  —  oder,  wie  er  sagt,  nicht  gefügt  —  und  das  Haus  wurde 
wieder  geschlossen.  Und  nun  die  letzte  Obstruktion.  Es  wird  förm- 
lich raffiniert  darauf  angelegt,  dem  Parlament  so  wenig  Zeit  als 
möglich  zu  lassen.  Das  Parlament  wird  im  November  einberufen, 
obwohl  ein  einstimmiger  Beschluß  des  Hauses  vorliegt,  daß  das 
Budget  im  September  vorgelegt  werden  muß.  Nun  kann  das  Budget 
normalmäßig  nicht  mehr  beraten  werden.  Dazwischen  drängt  sich  die 
Sorge  der  Delegation.  Sie  wissen,  was  das  ist.  Das  ist  das  Wich- 
tigste, das  Heiligste,  was  wir  in  Österreich  haben;  das  ist  jene 
Maschine,  durch  die  die  Kanonen,  Bajonette  und  vor  allem  die  großen 
Kriegsschiffe  bewilligt  werden.  Millionen  werden  bewilligt  und  es 
bleibt  wenig  Zeit  für  das  Parlament  und  für  das  Budget. 

Aber  nun  wird  die  politische  Situation  eigentümlich.  In  Budapest 
hat  die  Majorität  des  Bienerth,  das  sind  die  Herren  „Deutschen",  die 
Christlichsozialen  und  die  Polen, 

bewilligt  was  das  Herz  des  Kriegsministers  und  des  Marine- 
kommandanten begehrt*'). 

Hunderte  von  Millionen.  Sie  haben  sich  geziert,  aber  sie  haben  be- 
willigt, und  die  Herren  Slawen  von  der  Opposition  haben  nur  einen 

^ 

*)  Siehe  unter  anderem  Bd.  VIII,  Seite  316. 

**)  Siehe    die    Rede    in    der    Versamlung    vom    7.  Februar  1911:    „Die 
neuen  Dreadnoughts"   im  Kapitel   ..M  i  1  i  t  a  r  i  m  u  s  und   Krieg". 


Die  Regierung  im  Bunde  mit  der  Obstruktion.  213 

Schmerz  gehabt:  daß  sie  nicht  mit  dabei  sein  konnten  heim  Be- 
willigen. Dann  kommen  die  Herren  von  Budapest  zurück  und  nun 
handelt  es  sich  darum,  daß  die  Zeche,  die  dort  gemacht  wurde,  hier 
bezahlt  wird.  Denn  was  der  Militarismus  dort  frißt,  das  müssen  wir 
liier  berappen.  Was  man  dort  für  Dreadnoughts  bewilligt  hat,  das 
muß  an  Steuern  aus  der  österreichischen  Bevölkerung  heraus- 
gequetscht werden.  Da  wird  auf  einmal  den  Herren  ein  wenig  bang. 
Denn  sie  wissen  nicht,  wie  bald  sie  wieder  vor  den  Wählern  stehen 
werden.  Als  nun  Bienerth  mit  der  Rechnung  kommt  und  nicht  mit 
der  ganzen,  sondern  nur  für  den  ersten  Bissen  da  wollen  sie  statt 
der  75  Millionen  für  dieses  Jahr  nur  50  bewilligen.  Aber  sie  raffen 
sich  bald  zusammen  und  beschließen  feierlich,  alles  zu  bewilligen 
um  so  mehr,  als  die  Obstruktion  langsam  wieder  anfängt.  Aber  Herr 
v.  Bienerth  sieht,  daß  die  Regierungsmajorität  doch  nicht  mehr  ganz 
verläßlich  ist,  und  darum  nimmt  er,  wie  so  oft  schon  in  diesen  vier 
Jahren,  die  Obstruktion  beim  Wort,  um  auf  bequemere  Weise  zu 
seinem  Budget  und  zu  seinen  75  Millionen  zu  kommen  -  -  auf  dem 
Wege  des  §  14. 

Was  Herr  v.  Bienerth  da  getan  hat,  ist 

nackter,  bewußter  Verfassungsbruch 

und  die  Bedingungen  dafür  sind  von  ihm  bewußt  herbeigeführt 
worden.  Das  Haus  wurde  aufgelöst  und  damit  ist  alle  angefangene 
Arbeit,  an  der  das  Wohl  von  Hunderttausenden  hängt,  ins  Wasser 
gefallen.  Wir  alle,  die  wir  alte  Sozialdemokraten  sind,  wissen  sehr 
wohl,  daß  das  Ziel  der  Arbeiterschaft  nicht  solche  Versicherungen 
sind,  daß  wir  Höheres  und  Größeres  anstreben,  aber  ebenso,  wie 
wir  in  jeder  Stunde  unseres  Kampfes  unser  letztes  Ziel,  die  Be- 
freiung vom  Kapitalismus,  anstreben,  so  kämpfen  wir  mit  Zähigkeit 
für  den  kleinsten  Fortschritt,  der  der  Arbeiterschaft  zugute  kommt 
Darum  haben  wir  im  Parlament  nicht  nur  für  die  Sozialversicherung, 
sondern  auch  für  eine  ganze  große  Zahl  großer  und  kleiner  Gesetze 
das  Äußerste  an  Fleiß  und  Gewissenhaftigkeit  geleistet  und  wir 
können  mit  reinem  Gewissen  vor  unsere  Wähler  treten,  denn  wir 
haben  unsere  Schuldigkeit  voll  und  ganz  getan!  (Stürmischer  Beifall.) 
Wir  fürchten  also  das  Urteil  der  Wähler  nicht,  und  wenn  wir  über 
die  Auflösung  empört  sind,  so  nicht  darum,  weil  wir  die  Neu- 
wahlen fürchten,  sondern  darum,  weil  soviel  Kraft  und  Arbeit 
vergeudet  und  eine  große  Reform  verzettelt  wurde,  auf  die 
Millionen  von  Menschen  warten  (lebhafter  Beifall)  und  das  nur  des- 
halb, weil  Herr  v.  Bienerth  nicht  weiter  regieren  kann  und  weil  er 
mit  Sicherheit  darauf  rechnet,  daß  ein  neues  Parlament,  das  die 
Wahlen  noch  in  weiter  Ferne  sieht, 

die  neuen  Dreadnoughtsteuern  pünktlich  liefern 

wird. 

Bienerth  glaubt,  daß  er  vor  das  neue  Parlament  noch  treten  wird 
mit  seinem  ganzen  Generalstab  von  Leuten,  die  die  Verfassung  mit 
Füßen  getreten  haben;  er  glaubt,  daß  das  neue  Haus  besser  für  ihn 
sein  wird,  und  um  das  zu  bewirken,  hat  er  mitgeholfen,  einen  neuen 


214  Das  System  Bienertb. 


Bund  zu  stiften:  den  Bund  aller  bürgerlichen  Parteien,  den  Bund 
aller  Parteien,  die  nicht  Sozialdemokraten  sind!  Klerikale  und  Libe- 
rale, Agrarier,  Städter,  Kapitalisten  und  Großgrundbesitzer  und 
Zünftler,  alle  zusammen  gegen  uns!  Alle  gegen  die  Sozialdemokraten, 
alle  gegen  das  arbeitende  Volk!  (Stürmische  Pfuirufe;  Rufe:  Die 
Arbeiter  sind  mehr  wert  als  alle  die  Faulenzer!)  Alle  zusammen 
gegen  die  Arbeiter!  Aber  ich  sage  Ihnen:  Dieses  Bündnis 
gegen  uns,  das  ist  unser  Stolz!  Denn  es  ist 

das  Zeugnis,  daß  die  Sozialdemokratie  ihre  Pflicht  erfüllt  hat. 

(Stürmischer,  andauernder  Beifall.)  Dieser  Haß  aller  derer,  die  aus- 
beuten, aller  derer,  die  auf  die  Dummheit  spekulieren,  aller  dieser 
Knechte  des  Militarismus  und  der  Klerisei,  dieser  Haß  gegen  uns  ist 
das  Ehrenzeichen,  das  wir  auf  der  Brust  tragen,  daß  sich  die  Sozial- 
demokratie den  Haß  aller  Reaktionäre  redlich  verdient  hat.  (Neuer- 
licher stürmischer  Beifall.)  Ja,  wir  sind  ihnen  allen  ein  Stein  des  An- 
stoßes. Herr  Bienerth  sucht  Material  für  diesen  Bund  zu  liefern,  und 
dieses  unnatürliche  Bündnis  kann  nicht  besser  eingeweiht  werden  als 
durch  eine  widernatürliche  Lüge  und  niederträchtige  Verleumdung, 
die  man  als  Motto  gesetzt  hat  bei  der  Stiftung  dieses  Bundes:  daß 
die  Sozialdemokraten  der  Obstruktion  stillschweigend,  ja  sogar 
helfend  beigestanden  haben!  Der  Herr  Ministerpräsident  Baron 
Bienerth  muß  sich  bewußt  sein,  und  er  ist  sich  dessen  bewußt,  daß 
er  damit  eine  ganz  bewußte  Unwahrheit  aus- 
gesprochen hat.  Er  weiß  es,  und  niemand  weiß  es  so  gut  wie 
er,  daß  es  Zeiten  gegeben  hat,  wo  die  Sozialdemokraten  allein  dieses 
Haus  gehalten  haben,  wo  es  zusammengebrochen  wäre  unter  der 
Unfähigkeit  der  einen  und  der  Frivolität  der  anderen;  er  weiß  es, 
daß  die  Sozialdemokraten  allein  mit  Hintansetzung  des  bloßen  Partei- 
interesses, weil  sie  das  Parlament,  als  den  gemeinsamen  Boden  aller 
Völker,  erhalten  wollten,  sich  in  die  Bresche  gestellt  und  für  dieses 
Parlament  gekämpft  haben  zu  einer  Zeit,  da  den  anderen  allen  der 
Mut  schon  längst  zum  Teufel  gegangen  war;  er  weiß  es  und  er  weiß 
auch,  daß  ihm  diese  unsere  Arbeit  für  das  Haus  mitunter  recht  wenig 
angenehm  war,  daß  ihm  mitunter  etwas  weniger  Eifer  auf  unserer 
Seite  mehr  Freude  gemacht  hätte. 

Diese  Lüge  ist  dem  Kartell  der  reaktionären  Parteien  gegen  die 
Sozialdemokratie  mit  auf  den  Weg  gegeben  worden.  Die  Regierung 
hat  für  ihre  Parteien  nichts  anderes  als  ein  bißchen  Dispositionsfonds 
und  einen  großen  Sack  von  Lügen.  Politische  Gedanken  kann  sie 
ihnen  nicht  liefern.  Nicht  ein  Gedanke  ist  in  diesem  ganzen  Wust  von 
Phrasen  zu  finden,  die  die  Regierung  von  sich  gegeben  hat,  nicht  ein 
Gedanke  auch  in  dem,  was  wir  bisher  von  Wahlaufrufen  der 
Bürgerlichen  gelesen  haben.  Lesen  Sie  die  Wahlaufrufe  der 
Christlichsozialen,  der  Deutschradikalen,  des  Deutschen  National- 
verbandes! Überall  nur  große  allgemeine  Redensarten.  Und  merken 
Sie  wohl!  Das  Wichtigste  in  diesen  drei  Kundgebungen  ist 

das,  was  nicht  darin  steht 

Kein  Wort  in  allen  diesen  Aufrufen  von  Kanonen,  kein  Wort  von 
Kriegsschiffen,  kein  Wort  von  neuen  Steuern!  Und  doch  dreht  sich 


Die  Regierung  im  Bunde  mil  der  Obstruktion.  21  i 

Jas  ganze  politische  Leben  Österreichs  heute  einzig  und  allein  um 
diese  Dinge.  Aber  darüber  wollen  sie  nicht  befragt  werden  und  wenn 
man  in  dem  jetzt  beginnenden  Wahlkampf  SO  einen  Herrn  recht  in 
Verlegenheil  bringen  will,  so  braucht  man  ihn  nur  zu  Interpellieren, 
ob  er  einverstanden  ist,  daß  man  in  Budapest  alles  bewilligt  hat,  und 
ob  er  als  Abgeordneter  sich  verpflichtet  fühlen  wird,  die  neuen 
Steuern  dafür  zu  bewilligen. 

Das  ist  die  Frage,  um  die  sich  der  ganze  Kampf  dreht.  Uns  will 
man  niederbeugen,  hauptsächlich,  weil  wir  so  unangenehm  gründliche 
Leute  sind.  Daß  wir  bei  der  Beratung  der  Steuern  so  unangenehme, 
kitzliche  Fragen  im  Finanzausschuß  stellten,  daß  wir  die  Bewilligung 
der  Steuern  nicht  beschleunigt  haben,  haben  sie  uns  vorgeworfen. 
Es  ist  ja  wahr,  wenn  wir  für  die  Steuern  gewesen  wären,  so  wären 
sie  schon  lange  fertig  (Heiterkeit);  aber  wir  haben  tatsächlich  keine 
Eile  gehabt  und  haben  wirklich  eine  gründliche  Beratung  herbei- 
geführt. Aber  das  war  nicht  Obstruktion,  um  so  weniger,  weil  ja  die 
Herren  selbst  nicht  wußten,  was  sie  wollten,  weil  weder  der  Kory- 
towski,  noch  der  Bilinski,  noch  der  stille  Gelehrte,  der  arme  Meyer, 
wissen,  wie  man  ein  Finanzprogramm  aufstellt,  auf  Grund  dessen 
man  Gelder  kriegt  und  Steuern  einhebt,  ohne  daß  es  jemand  zahlt 
—  weil  das  die  Wähler  doch  nicht  wollen.  (Heiterkeit  und  Beifall.) 
Sie  wissen  heute  noch  nicht,  nach  welcher  Methode  sie  die  Hunderte 
von  Millionen  aus  der  Bevölkerung  herausziehen  können.  Ja,  wozu 
man  keine  Gesetze  braucht,  das  bringt  man  ganz  leicht  zuwege.  Sie 
werden  vom  1.  Juli  an,  also 

gleich  nach  den  Wahlen, 

Ihre  Zigarren  und  Zigaretten  beträchtlich  teurer  zahlen  müssen.  Dazu 
braucht  man  kein  Gesetz.  Wir  haben  allerdings  den  Antrag  ein- 
gebracht, daß  darüber  das  Parlament  entscheiden  soll,  und  das  wäre 
jetzt  im  Budgetausschuß  zur  Sprache  gekommen . . .  Aber  man  hat 
uns  nach  Hause  geschickt  und  so  ist  man  der  Kritik  ausgewichen. 

Darum  bekämpft  man  uns,  weil  wir  eine  Verlegenheit  sind,  weil 
wir  den  wirklichen  Willen  der  Bevölkerung  darstellen,  und  auch 
darum,  weil  es  unserer  Arbeit  gelungen  ist,  daß  in  diesem  Parlament 
mehr  sozialpolitische  Arbeit  geleistet  wurde  —  trotz  aller  Schwierig- 
keiten —  als  in  einem  Jahrzehnt  des  alten  Kurienparlaments;  weil 
wir  sie  schließlich  gezwungen  haben,  dafür  zu  stimmen,  als  sie  nicht 
mehr  auskonnten.  Allerdings  ist  jetzt  eine  andere  Methode  auf- 
gekommen: sie  verstecken  sich  hinter  das  Herrenhaus;  im  Abgeord- 
netenhaus sind  sie  sozialpolitisch,  im  Herrenhaus  machen  sie  Aus- 
beuterpolitik —  dieselbe  Firma  mit  getrennten  Filialen.  Die  ganze 
Strömung  geht  jetzt  gegendenFortschrittinderSozial- 
p  o  1  i  t  i  k,  g  e  g  e  n  d  i  e  A  r  b  e  i  t  e  r  s  c  h  a  f  t.  Genug  habt  ihr  schon ! 
Immer  mehr  Lohn,  immer  kürzere  Arbeitszeit,  wohin  soll  das  führen? 
Die  Herren  Ausbeuter  fangen  an,  sich  bedroht  zu  fühlen,  und  sie 
glauben,  es  müsse  endlich  wieder  eine  Ära  der  sozialpolitischen  Re- 
aktion kommen. 


216  Das  System  Bienerth. 


Der  Scharfmacher  soll  König  sein! 

Man  hört  auf,  sich  zu  genieren.  Unverschämt  und  ungeniert  wird 
das  Scharfmachertum  zum  politischen  Regenten! 

Darum,  Parteigenossen,  wenden  sich  alle  gegen  uns  und  darum 
werden  wir  bei  diesen  Wahlen  einen  frischen,  fröhlichen  Krieg  führen 
gegen  die  ganze  reaktionäre  Masse.  (Brausender  Beifall.)  Der  Kampf 
ist  unser  Element!  Wir  zweifeln  nicht  daran,  daß  die  Arbeiterschaft 
zeigen  wird,  daß  sie  treu  steht  zu  sich  selbst,  daß  sie  von  sich  und 
von  ihren  heiligsten  Interessen  nicht  abgefallen  ist,  daß  sie  nicht  faul 
und  nicht  verlottert  ist;  wir  zweifeln  nicht,  daß  sie  gegen  das  Bünd- 
nis der  Reaktion  aufstehen  und  Mann  für  Mann  in  emsiger  Arbeit 
bezeugen  wird,  daß  sie  sich  das  bißchen,  was  sie  errungen  hat,  nicht 
nehmen  lassen  wird;  wir  zweifeln  nicht,  daß  die  Arbeiterschaft  diesen 
Knechten  der  Reaktion,  diesem  Klüngel  von  Agenten  der  Hunger- 
politik, von  Agenten  des  Militarismus,  der  uns  aussaugt  und  den 
Frieden  stört,  daß  sie  diesen  Agenten  eines  Klerikalismus,  der  all- 
mächtig wird  in  dem  Moment,  wo  das  sogenannte  liberale  Bürger- 
tum von  Herrn  Geßmann  geführt  werden  wird  —  zeigen  wird,  daß 
sie  der  vereinigten  Reaktion  trotzt  und  daß  sie  vor- 
wärts will,  bis  ihr  ganzes  Recht  erfüllt  ist.  In  diesem 
Sinne,  imKampfegegenalle  gehen  wir  in  die  Wahlbewegung; 
gegen  Bienerth,  gegen  die  Bienertherei,  gegen  die 
reaktionäreMasse,  nennesiesich  liberal,  national 
oder  klerikal!  (Stürmischer,  minutenlang  andauernder  Beifall.) 

Hunde  der  Regierung  Bienerth. 

Wählerversammlung,   16.  Mai   1911*). 

Lassen  Sie  mich  an  das  Wort,  das  unser  Vorsitzender  und  Be- 
zirkshauptmann (Heiterkeit)  gesprochen  hat,  anknüpfen.  Die  Arbeit, 
die  in  allen  Bezirken  —  aber  hier  in  besonderem  Maße  —  geleistet 
wurde,  ist  ein  Ehrenzeugnis  für  die  sozialdemokratische  Arbeiter- 
schaft, aber  keines  für  die  christlichsoziale  behördliche  Verwaltung. 
Es  ist  eine  in  Europa  einzig  dastehende  Sache,  daß,  um  auch  nur 
die  Vorbedingungen  für  eine  Wahl  zu  treffen,  ein  solcher  Aufwand 

*)  Die  Wahlen  in  Niederösterreich  fanden  am  13.,  die  Stichwahlen  am 
20.  Juni  statt.  Bei  diesen  Wahlen,  die  der  Ministerpräsident  ausgeschrieben 
hatte,  um  die  Sozialdemokratie  zu  zerschmettern,  erlitten  die  Christlich- 
sozialen in  Niederösterreich  eine  vernichtende  Niederlage:  B  i  e  1  o- 
hlawek,  Geßmann,  Liechtenstein,  Pattai,  Steiner,  Weis- 
kirchner, Wittek  fielen  in  den  als  sicher  angesehenen  Wahlkreisen 
durch.  In  der  Wählerversammlung  im  Arbeiterheim  vom  16.  Mai  hielt 
Adler  mit  den  bürgerlichen  Parteien  Abrechnung. 

In  seiner  Eröffnungsrede  erzählte  Pölzer,  der  Obmann  der  Bezirks- 
organisation, daß  3378  Reklamationen  durchgeführt  wurden.  Hätte  die 
Reklamationsfrist  noch  acht  Tage  lang  gedauert,  so  hätte  man  noch 
weiteren  tausend  Wählern,  die  vom  Magistrat  ausgelassen  wurden,  das 
Wahlrecht  verschaffen  können. 

Hier  seien  die  in  dieser  Rede  genannten  Personen  vorgestellt:  Doktor 
Robert    Pattai,    christlichsozialer    Präsident    des    Abgeordnetenhauses: 


Munde  der  Regierung  Bienerth.  217 

von  Arbeit  gemacht  worden  muß.  Hunderte  von  Menschen  müssen 
durch  Wochen  und  Wochen,  Tag  und  Nacht  unausgesetzt  arbeiten, 
um  die  Leistung  zu  bewirken,  die  der  Magistrat  mit  seinem  kolos- 
salen Beamtenapparat  liefern  soll.  Es  sind  nicht  nur  Hunderte  von 
Menschen  damit  beschäftigt,  die  die  Schreibarbeiten  machen,  son- 
dern Tausende  in  ganz  Wien  sind  jahraus,  jahrein  tätig,  um  nicht 
etwa  eine  politische  Leistung  hervorzubringen,  sondern  um  die 
politische  Leistung  erst  möglich  zu  machen.  Nur  damit  uns  das 
Wahlrecht  werde,  das  auf  dem  Papier  des  Gesetzes  steht,  muß 
diese  ungeheure  Arbeit  gemacht  werden.  Das  Pflichtbewußtsein, 
der  Fleiß,  die  Energie  und  nicht  zuletzt  die  Klugheit,  die  sich  in 
dieser  ganzen  Arbeit  aussprechen,  sind  allerdings  eine  ganz  gute 
Schulung  für  eine  Menge  anderer  Dinge,  und  so  gereicht  das,  was 
uns  zum  Nachteil  sein  sollte,  in  anderer  Weise 
z  um  V  o  r  t  e  i  1. 

Als  ich  nach  der  Auflösung  des  Hauses  zu  Ihnen  sprach,  hatte 
gerade  der  Ministerpräsident  die  Wahlparole  ausgegeben,  der  sich 
alle  bürgerlichen  Parteien  angeschlossen  haben.  Sie  lautet:  Alle 
bürgerlichen  Parteien  vereinigt  für  das  Ministerium  Bienerth  gegen 
die  Sozialdemokratie!  Eine  Koalition  sollte  geschaffen  werden, 

um  die  Sozialdemokratie  zu  vernichten 

(Heiterkeit),  das  heißt  ja  nur,  ihr  ein  bis  zwei  Dutzend  Mandate 
wegzunehmen  und  der  Regierungsmajorität  soviel  Stimmen  mehr 
zuzuführen.  Der  Sinn  war:  der  große  Bund  aller  Bürgerlichen  gegen 
den  Umsturz.  Uns  hat  das  sehr  gefreut.  Ich  erinnere  mich,  daß  ich 
mit  wahrer  Freude  ausrief:  Endlich  haben  wir  sie  alle  zusammen 
gegen  uns!  Da  freut  einen  das  Leben  wieder!  (Heiterkeit.)  Aber  die 
Freude  hat  nicht  lange  gedauert,  und  der  Bund  schaut  heute  etwas 
struppiert  aus.  Sie  sind  nicht  imstande  gewesen,  sich  miteinander  zu 
vereinigen,  so  gern  sie  das  täten;  ja,  jede  einzelne  dieser  Parteien 
wäre  froh,  wenn  sie  nur  im  eigenen  Lager  eine  Einigkeit  zusammen- 
brächte. So  haben  wir  überall  einen  Luxus  an  Gegenkandidaten. 
Und  wenn  es  mit  der  Zahl  der  Kandidaten  zu  machen  wäre,  hätten 
die  Herren  die  besten  Chancen.  (Lebhafte  Heiterkeit.)  Wenn  aber 
auch  die  Kräfte  fehlen,  um  die  Koalition  zustande  zu  bringen,  die 
Absicht  ist  selbstverständlich  heute  noch  vorhanden,  und  keiner 


Dr.  Richard  Weiskirchner,  der  vor  Pattai  Präsident  war,  Handels- 
minister, Stanislaus  Q  1  o  m  b  i  n  s  k  i,  Allpole,  Eisenbahnminister  in  der  Regie- 
rung Bienerth;  Dr.  Otto  L  e  c  h  e  r,  Sekretär  der  Brünner  Handelskammer, 
deutschliberaler  Abgeordneter  von  Brunn,  der  in  den  Obstruktions- 
kämpfen gegen  Badeni  eine  dreizehnstündige  Rede  gehalten  hat;  Doktor 
Julius  Sylvester,  dcutschnationaler  Abgeordneter  von  Salzburg,  später 
Präsident  des  Abgeordnetenhauses,  nach  dem  Umsturz  in  der  ersten  Regie- 
rung Staatsnotar;  Dr.  Otto  Steinwender,  Gymnasialprofessor,  deutsch- 
nationaler Abgeordneter  aus  Kärnten,  Mitverfasser  des  deutschnationalen 
Linzer  Programms  (mit  Adler,  Pernerstorfer),  nach  dem  Umsturz  Finanz- 
minister  in  der  Regierung  Renner;  Dr.  Albert  G  e  ß  m  a  n  n,  Abgeordneter 
von  Mistelbach,  der  eigentliche  christlichsoziale  Führer,  im  Kabinett  Beck 
Arbeitsminister. 


218  Das  System  Bienerth. 


der  Herren,  die  die  Repräsentanten  der  Regierungspolitik  sind,  kann 
den  Mund  aufmachen,  ohne  aufzurufen  zum  Kampfe  gegen  die 
Sozialdemokratie  und  ohne  gegen  sie  eine  ganze  Reihe  von  Be- 
schuldigungen vorzubringen. 

Vor  allem  dreht  sich  die  Diskussion  um  die  Frage: 

Warum  ist  das  Haus  aufgelöst  worden 

und  wer  ist  schuld?  Da  sagen  alle:  Schuld  sind  die  slawische  Ob- 
struktion und  die  mit  ihr  verbündeten  Sozialdemokraten.  Aber  die 
Herren  sind  auch  in  diesen  Dingen  nicht  miteinander  einig  und  haben 
einzelne,  die  einen  ganz  anderen  Aufschluß  geben.  Der  Herr  Doktor 
P  a  1 1  a  i,  der  sich  nach  und  nach  herauswächst  als  der  verehrte 
Vater  der  christlichsozialen  Partei,  der  aber,  wie  ich  fürchte,-  sehr 
bald  als  ihr  Schreckenskind  gelten  wird,  der  hat  gesagt:  „Warum 
das  Haus  aufgelöst  wurde,  hat  einen  sehr  einfachen  Grund.  Die 
Regierung  muß  vom  Parlament  verlangen,  daß  soundso  viel  Mil- 
lionen für  die  Militärforderungen  bewilligt  werden.  Die  bürger- 
lichen Parteien  möchten  sie  ja  gern  bewilligen,  aber  sie  haben 
sich  nicht  getraut,  weil  die  Mandate  bald  ab- 
laufen. Nun  hat  man  das  Haus  aufgelöst,  und  da  werden  sie  im 
Besitz  der  Mandate  sein,  der  sie  auf  sechs  Jahre  vor  ihren  Wählern 
sicherstellt,  und  sie  werden  bewilligen.  Damit  sie  das 
können,  hat  man  das  Haus  aufgelöst!"  (So  ist  es!) 
Diese  Auskunft  Pattais  ist,  so  wahr  sie  ist,  so  beschämend  für  die 
bürgerlichen  Parteien  und  die  hohe  Regierung.  Es  ist 

der  Sinn  dieser  Wahl 

der:  Sind  die  Wähler  gesonnen,  die  schweren  Lasten  auf  ^ich  zu 
nehmen,  die  unsere  Militärfanatiker,  Qroßmachtspolitiker  und 
imperialistischen  Narren  haben  auflaufen  lassen?  Kein  Zweifel,  daß 
es  an  dem  guten  Willen  der  Bürgerlichen  nicht  gefehlt  hat,  die 
Rechnung  zu  bezahlen.  Die  Aktionäre,  die  Großkapitalisten,  die  alle 
an  dem  Geschäft  profitieren,  das  der  Militarismus  mit  sich  bringt, 
möchten  sehr  gern  bewilligen,  denn  es  geht  aus  dem  Sack  der 
anderen  in  den  eigenen  Sack,  und  die  etwa  zögern  möchten,  wie 
einzelne  Mitglieder  der  deutschliberalen  Partei  und  wie  hie  und  da 
ein  Christlichsozialer,  der  noch  nicht  ganz  und  gar  Regierungs- 
knecht geworden  ist  oder  an  seine  Wähler  denkt,  sagen  sich: 
Schließlich  werde  ich  doch  bewilligen.  Ein  reichsdeutscher  Liberaler, 
Bamberger,  hat  einmal  in  dieser  Lage  gesagt:  „Wir  wehren  uns, 
aber  schließlich  bewilligen  wir, 

Hunde  sind  wir  ja  doch!" 

Weil  sie  aber  wissen,  daß  die  Sozialdemokraten 
keine  Hunde  sind,  sich  nicht  einschüchtern  lassen  mit  der 
Hundspeitsche,  sich  rücksichtslos  wehren  gegen  jede  Belastung  des 
Volkes:  darum  sind  wir  ihnen  ein  Dorn  im  Auge,  darum  die  possier- 
lichsten Vorwürfe  von  Negation,  Staats-  und  Familienfeindschaft 
und  weiß  noch  was  alles  auf  der  einen  Seite,  auf  der  anderen  Seite 
aber  andere  komische  Vorwürfe.  Herr  Dr.  Lech  er  hat  traurig 


Hunde  der   Regierung   Bienerth.  219 

gesagt:  Das  Unglück  sei,  daß  wir  nicht  positive  Politik  machen 
wollen,  und  der  Herr  Dr.  Sylvester  hat  es  getadelt,  daß  wir 
nicht  in  die  Arbeitsmehrheit  eintreten  wollen.  (Lebhafte  Heiterkeit.) 
Eine  so  große  Partei!  sagen  sie.  Was  wäre  das  für  eine  schöne 
Arbeitsmajorität,  wenn  sie  sich  entschlösse,  die  Verantwortung  mit 
ZU  übernehmen.  Natürlich  nieinen  sie  nicht  die  V  e  r  a  n  t  w  o  r- 
t  u  n  g  f  ü  r  d  a  s,  w  a  s  w  i  r  w  olle  n,  sondern  für  das,  was  die 
Regierung  will.  (Lebhafte  Zustimmung.)  Dr.  Lecher,  ein  Mann, 
der  die  Fehler  seiner  eigenen  Partei  und  die  Schwäche  der  Bürger- 
lichen Ranz  Renan  kennt,  sagt:  „Line  wirklich  positive  Politik  wollen 
sie  nicht  machen  und  sie  müssen  sich  damit  begnügen,  nichts  nach 
Hause  zu  bringen  als  ein  halbes  Dutzend  armseliger  sozialpolitischer 
Gesetzchen."  Das  kleinste  sozialpolitische  Gesetz- 
chen ist  mir  aber 

lieber  als  die  schönste  und  größte  Steuervorlage, 

die  den  Völkern  das  Mark  aus  den  Knochen  zieht.  (Lebhafter  Bei- 
fall.) Welche  Merkwürdigkeit,  daß  ein  bürgerlicher  Politiker  der 
Sozialdemokratie  vorwirft,  daß  sie  zu  genügsam  ist,  sich  mit  kleinen 
Gesetzchen  begnügt,  statt  die  allerdings  sehr  großzügige  Politik 
der  Kriegsschiffe  zu  machen.  Wir  hätten  allerdings  mehr 
nach  Hause  gebracht  als  ein  halbes  Dutzend,  wenn  diese  Ge- 
setze nicht  vereitelt  worden  wären,  zum  Teil  vom 
Herrenhaus,  zum  Teil  vom  Abgeordnetenhaus.  (So  ist  es!)  Genossen! 
Sie  werden  mit  uns  einig  sein,  daß  wir  diese  Gesetzchen 
nicht  verachten.  So  sehr  wir  den  vollständigen  Umbau  der 
Gesellschaft  für  notwendig  halten,  so  sehr  wir  Revolutionäre 
sind,  so  sehr  sind  wir  auch  Arbeiter  für  die  Reform 
Schritt  für  Schritt,  weil  wir  wissen,  daß  der  Weg  zum 
großen  Ziele  Schritt  für  Schritt  gemacht  werden  muß.  Wenn  sie  uns 
höhnen,  weil  wir  angeblich  Utopien  nachgehen,  und  uns  dann  höhnen, 
daß  unsere  Schritte  so  klein  sind,  so  zeigen  sie  nur,  daß  sie  hirnlos 
sind  und  den  Charakter  der  Zeit  noch  nicht  begriffen  haben. 

Die  Sozialdemokratie  soll  an  den  verschiedensten  Dingen  schuld 
sein.  Gestern  hat  der 

Redeminister  des  Ministeriums 

gesprochen.  (Heiterkeit.)  Sie  fragen,  wer  das  ist?  Das  ist  Seine 
Exzellenz  Herr  Weiskirchner.  (Heiterkeit.)  Dieses  Ministerium  kann 
nicht  anders  sprechen  als  durch  Dr.  Weiskirchner.  Die  anderen  sind 
keine  Abgeordneten,  außer  dem  Dr.  Glombinski,  aber  der  spricht 
polnisch.  Dr.  Weiskirchner  hat  nun  die  Gründe  untersucht,  warum 
das  Parlament  aufgelöst  ist.  Er  ist  dabei  mit  seinem  intimsten  — 
Freund  trau'  ich  mich  nicht  zu  sagen  -  -  Parteigenossen  P  a  1 1  a  i  in 
d  a  a  größten  Widerspruch  gekommen.  Er  hat  gesagt,  der 
Grund  der  Auflösung  des  Hauses  sei,  daß  man  das  Budgetpro- 
visorium auf  zu  kurze  Zeit  bewilligt  habe.  Im  Dezember  ist  das  große 
Unglück  geschehen.  Die  Regierung  wollte  ein  Budgetprovisorium 
für  sechs  Monate,  man  gab  ihr  aber  nur  eines  für  drei  Monate,  und 


220  Das  S.\  stein  Bienerth 


daran  waren  die  Sozialdemokraten  in  erster  Linie  sehuld,  die  in 
ihrer  „K  u  r  z  s  i  c  h  t  i  g  k  e  i  t'\  wie  Weiskirchner  sagte,  nicht  be- 
rechnen konnten,  was  das  für  Folgen  haben  wird.  Dadurch  ist  aber 
die  Regierung  ins  Gedränge  gekommen  und  hat  auflösen  müssen, 
weil  sie  ohne  Budget  dagestanden  wäre  und  man  ohne  Auflösung 
den  §  14  nicht  hätte  anwenden  können.  Diese  Kurzsichtigkeit  möchte 
ich  nun  beleuchten.  Wie  Dr.  Weiskirchner  die  Situation  schildert, 
war  sie  aber  gar  nicht.  (So  ist  es!)  Im  Dezember  mußte  die  Regie- 
rung um  ein  Budgetprovisorium  einkommen.  Sie  hat  wohl  verlangt, 
man  möge  ihr  für  sechs  Monate  gestatten,  Steuern  einzuheben  und 
Ausgaben  zu  machen.  Darauf  haben  mehrere  Parteien,  vor  allem  die 
Sozialdemokraten,  gesagt:  „Nein,  auf  sechs  Monate  nicht!"  Vor 
allem  aus  einem  sehr  wichtigen  Umstand,  den  aber  der  Herr  Weis- 
kirchner vollständig  übersieht.  Es  hat  nämlich  damals  eine  defini- 
tive Regierung  gar  nicht  gegeben.  Das  Ministerium 
Bienerth  hatte  demissioniert  und  war  nur  mit  der  Fortführung  der 
Geschäfte  betraut.  Weiskirchner  hat  zwar  schon  gewußt,  daß  er 
auch  weiter  Minister  bleiben  wird  (Heiterkeit);  aber  das  Parlament 
kann  doch  nicht  einer  Regierung  Machtvollkommenheiten  geben, 
ohne  zu  wissen,  welche  Regierung  das  ist.  Ein  Parlament  würde  sich 
blamieren,  wenn  es  rein  ins  Blaue  hinein,  wenn  es  einer  Regierung, 
die  es  nicht  kennt,  auf  so  lange  Zeit  Vollmachten  gibt.  So  ist  es 
gekommen,  daß  die  „Kurzsichtigkeit"  der  Sozialdemokraten,  der  wir 
allerdings  kräftig  Ausdruck  gegeben  haben,  auch  von  bürgerlichen 
Parteien,  nicht  nur  von  den  Tschechen,  geteilt  wurde,  und  daß  der 
Antrag  auf  sechs  Monate  im  Budgetausschuß  mit  29  gegen 
11  Stimmen  abgelehnt  wurde.  Wenn  alle  neun  Christlichsozialen 
damals  dagewesen  sind,  so  sind  unter  den  elf  fanatischen  Bienerth- 
Husaren  nur  zwei  Deutschbürgerliche  gewesen.  Den  Antrag,  das 
Budgetprovisorium  nicht  auf  sechs  Monate  zu  bewilligen,  hat 
Dr.  Stein  w  ender  gestellt,  der  kein  Sozialdemokrat  ist  und 
auch  der  slawischen  Opposition  nicht  angehört.  (Heiterkeit.)  Es  ist 
also  das,  was  Dr.  Weiskirchner  über  die  Kurzsichtigkeit  der  Sozial- 
demokraten erzählt  hat,  nur  eine  A  u  s  r  e  d  e,  die  ungeschickt  und  nur 

auf  die  Unwissenheit  der  Wähler  berechnet 

ist.  (Sehr  richtig!)  Weil  ich  mich  mit  Dr.  Weiskirchner  beschäftige,  so 
muß  ich  feststellen,  daß  er  die  Wahlparole  der  Regierung  wieder  in 
den  Vordergrund  gestellt  hat.  Diese  Wahlparole  soll  sein:  das  Fest- 
halten an  dem  Prinzip  einer  festen,  objektiven,  allen  Parteieinflüssen 
entrückten  Verwaltung.  (Schallendes  Gelächter.)  Da  muß  nun  vor 
allem  eines  auffallen.  Wenn  man  für  eine  Regierung  eintreten  soll, 
muß  man  wissen,  was  sie  will.  Spricht  sie  das  da  in  dieser  Wahl- 
parole aus?  Nein,  sie  hat  nur  negative  Eigenschaften. 
(Heiterkeit.)  Unparteiisch,  Parteieinflüssen  unzugänglich:  das  ist, 
auch  wenn  es  wahr  ist,  nur  negativ  und  ist  so,  als  ob  jemand,  der 
gefragt  wird,  was  sein  Beruf  ist,  antworten  würde:  Ich  habe  nichts 
gestohlen  und  wünsche  ferner  nichts  zu  stehlen.  Aber  kein  Ver- 
brechen zu  begehen  ist  keine  Beschäftigung  und  kann  nicht  das 


Hunde  der   Regierung   Bienerth.  221 


Lehen  einer  Regierung  ausfüllen.  (Lebhafte  Zustimmung.)  Eine 
Regierung,  die  behauptet,  sie  werde  keine  Verbrechen  begehen 
ob  es  wahr  Ist,  werden  wir  sehen  ,  gibt  keine  Wahlparole  aus, 
eharakterisiert  sieh  nicht,  sondern  verschweigt,  was  sie 
will.  (So  ist  es!)  Wäre  sie  ehrlich,  so  müßte  sie  sagen,  ihr  Ziel  sei, 
ein  Parlament  zu  bekommen,  das  die  kostspielige  Verstärkung  des 
Heeres  bewilligt,  das  neue  schwere  Steuern  bewilligt  und,  nicht  zu 
vergessen,  das  Veteranengesetz.  (Lebhafte  Heiterkeit.)  Kurz,  ein 
Parlament  zu  bekommen  für  alle  Dinge,  die  die  Regierungsparteien 
wollen  und  die  vor  allem  die  sogenannte  Großmacht,  das  sogenannte 
Reich  möchte.  Das  Programm  dieser  Regierung  ist  in  Wirklichkeit: 
„Alles,  was  für  diese  Großmacht  nötig  ist,  dem  Parlament  abzu- 
trotzen oder  abzulisten,  das  will  ich,  alles  andere  ist  mir  gleich- 
gültig." (Lebhafte  Zustimmung.) 

Ist  es  aber  nicht  kurios,  daß  Weiskirchner,  der  nicht  immer 
Handelsminister  war,  sondern  auch  eine  genaue  Kenntnis  der  Ge- 
schäftsführung des  Magistrats  hat,  es  wagt,  an  dem  Tage,  da 
bekannt  wird,  daß  42.000  Reklamationen  eingebracht  wurden,  von 
einer  objektiven  und  parteilosen  Verwaltung  zu  sprechen?  Man 
sage  nicht,  daß  dafür  nur  der  Magistrat  und  nicht  das  Ministerium 
verantwortlich  ist;  jeder  Mensch  weiß  es  und  Dr.  Weiskirchner  weiß 
es  noch  besser,  daß  diese 

Schandwirtschaft  nur  möglich  ist,  weil  die  Regierung  die  Dinge 

gewähren  läßt. 

(Laute  Zustimmung.)  Von  der  parteilosen  Verwaltung  spricht  Weis- 
kirchner, der  in  einem  Ministerium  sitzt  mit  dem  „liberalen" 
S  t  ü  r  g  k  h,  der  die  Unterrichtsverwaltung  zugunsten  der  Klerikalen 
führt.  (So  ist  es!)  Herr  Weiskirchner  spricht  von  einer  von  Partei- 
einflüssen unabhängigen  Regierung;  aber  ist  der  Handelsminister 
selber  in  seiner  Verwaltung  unabhängig  von  Parteieinflüssen?  (Sehr 
gut !)  Welche  passive  Resistenz,  welchen  hartnäckigen 
Widerstand  findet  man  gegen  jeden  sozialpolitischen  Fortschritt, 
seit  Weiskirchner  Minister  ist?  Das  merkt  man  im  Parlament,  im 
Ausschuß,  im  Arbeitsbeirat,  das  merkt  man,  so  oft  man  mit  einem 
Sektionschef  oder  einem  Hofrat  oder  mit  Seiner  Exzellenz  selbst  zu 
tun  hat.  Immer  steht  er 

unter  dem  Einfluß  der  Großunternehmer  und  der  Scharfmacher. 

Und  es  bedarf  des  größten  Kraftaufwandes,  um  nur  den  kleinsten 
Fortschritt  im  Arbeiterschutz  zu  erzielen.  Aber  Dr.  Weiskirchner  hat 
gestern  für  Konsumentenpolitik  gesprochen  und  sich  den 
Luxus  geleistet,  gegen  den  Reichsritter  v.  Hohenblum*)  einen  Protest 
vorzubringen,  weil  der  sich  die  schnoddrige  und  freche  Redensart 
erlaubt  hat,  daß  die  Frauen  nur  darum  das  Fleisch  billiger  haben 

*)  Dieser  Hohenblum  war  damals  als  Präsident  der  agrafischen 
Zentralstelle  eine  sehr  mächtige  Person,  um  so  mehr,  als  er  an 
agrarischer  Demagogie  alle  arideren  übertraf  und  die  bürgerlichen  Abgeord- 
neten  terrorisierte. 


222  Das  System  Bienerth. 


wollen,  damit  sie  sich  die  Hüte  breiter  machen  können.  Das  ist  eine 
Frechheit  dieses  Herrn,  aber  ich  würde  sehr  wünschen,  daß  Weis- 
kirchner die  Energie,  die  er  gegen  diese  Äußerung  aufgewendet 
hat,  gegen  den  Agrarismus  aufbrächte,  wenn  er  nicht  nur  Maul 
gegen  Maul,  sondern  Tat  gegen  Tat  setzen  würde.  (Laute  Zustim- 
mung.) Der  Protest  gegen  eine  Phrase  tut  den  Agrariern  nicht  weh, 
aber  die  ganze  Regierungstätigkeit  Weiskirchners  zeigt  auf  Schritt 
und  Tritt  einZurtickweichenvordenAgrariern.  (Leb- 
hafter Beifall.)  In  der  Fleischfrage,  in  der  Zollfrage,  bei  den  Handels- 
verträgen hat  er  etwas  geleistet,  was  seine  ganze  Regierungs- 
methode und  seine  ganze  Persönlichkeit  als  Politiker  kennzeichnet. 
Er  sagt,  in  keiner  Wählerversammlung  dürfe  man  an  die  Phrase  von 
den  breiten  Hüten  vergessen.  Ich  sage  wieder: 

In  keiner  Wählerversammlung  soll  man  des  26.  März  1909  vergessen! 

Da  ist  auf  der  Tagesordnung  des  Volkswirtschaftlichen  Aus- 
schusses ein  Ermächtigungsgesetz  gestanden.  Die  Regie- 
rung sollte  ermächtigt  werden,  mit  Bulgarien  und  Mexiko  Handels- 
verträge abzuschließen.  Nun  hat  wieder  ein  so  kurzsichtiger  Sozial- 
demokrat, Genosse  S  e  i  t  z,  gesagt,  wir  sollen  der  Regierung  auch 
die  Ermächtigung  und  den  Auftrag  geben,  mit  Serbien  einen 
Handelsvertrag  zu  vereinbaren.  Da  ist  Weiskirchner  aufgestanden 
und  hat  in  einer  begeisterten  Rede  zugestimmt.  Der 
Antrag  Seitz  wurde  angenommen.  Der  Referent  war  Dr.  Licht, 
ein  Liberale  von  Rothschilds  Gnaden;  im  Ausschuß  hat  er  zuge- 
stimmt und  im  Hause  ist  er  umgefallen.  Der  Handelsminister,  der 
sich  vor  wenigen  Tagen  für  die  vernünftige  Politik  ausgesprochen 
hat,  hat  wegen  des  Einspruchs  der  Agrarier  sein  eigenes  Wort 
verleugnet  und  der  Antrag  ist  abgelehnt  worden. 
(Stürmische  Entrüstungsrufe.)  Damals  hat  man  gesehen,  welcher 
Charakter  Weiskirchner  ist.  Man  wußte  aber  noch,  nicht,  warum  er 
sich  so  rasch  geändert  hat.  Später  hat  sich's  herausgestellt,  daß  er 
durch  einen  Geheimvertrag  mit  Ungarn  gebunden  ist  und  sich  ver- 
pflichtet hat,  nicht  mehr  Vieh  herüberzulassen,  als  den  ungari- 
schen Viehzüchtern  paßt.  (Rufe:  Ein  Judäomagyar!  Ein  Vater- 
landsverräter!) Dieses  Beispiel  genügt,  um  zu  verstehen,  was  es 
heißt,  wenn  dieser  Mann  von  der  parteilosen  Regierung  spricht  und 
von  der  „kurzsichtigen"  Sozialdemokratie,  die  das  glorreiche  Mini- 
sterium verhindert  haben  soll,  alle  Segnungen  auch  über  uns  auszu- 
schütten, die  es  für  uns  bereit  hat.  (Sehr  gut!) 

Die  Parteien  glauben  ja  selbst  nicht,  was  sie  sagen.  Wer  meint 
denn,  daß  die  Christlichsozialen  an  die  Parteilosigkeit  der  Regierung 
glauben?  (Lebhafte  Heiterkeit.)  Es  handelt  sich  ja  darum,  ein  Regime 
zu  erhalten,  bei  dem  ihrWeizenblüht,  und  das  wird  natürlich 
um  so  notwendiger,  als  es  ja  bei  ihnen  selbst  anfängt,  ein  bißchen 
unangenehm  auszusehen. 

Die  Erbschaft,  die  Dr.  Lueger  hinterlassen  hat, 

wird  von  Dr.  G  e  ß  m  a  n  n  gerade  nicht  in  glücklicher  Weise  fort- 


Hunde  dei    Regierung   Bienerth.  223 


geführt.  So  sympathisch  Dr.  Lueger  so  vielen  Wienern  war,  so 
unsympathisch  ist  ihnen  Qeßmann.  Er  ist  zu  gescheit,  zu  klug,  er 
will  fortwährend  überlisten.  Qeßmann  hat  aber  das  große  Verdienst, 
den  Schleier  gehoben  zu  haben  von  den  Zuständen  in  der  christ- 
lichsozialen Partei.  Sie  waren  ja  zum  Teil  zugedeckt  durch  die  per- 
sönliche Beliebtheit  und  die  abgöttische  Verehrung  für  Dr.  Lneger. 
Selbstverständlich  liegen  die  Ursachen  der  Wirren  tiefer.  Diese 
Partei  mußte  an  ihrer  innerlichen  Unmöglichkeit  früher  oder  später 
kaputt  gehen.  Es  widerspricht  allen  wirtschaftlichen  und  politischen 
Tatsachen,  daß  man  Interessengegensätze  der  größten  und  schärfsten 
Art  in  einer  Partei  vereinigen  könnte.  So  wie  die  Bibel  sagt:  „Man 
kann  nicht  Gott  dienen  und  dem  Mammon"  -  -  ich  weiß  nicht,  wie 
Qeßmann  das  mit  sich  ausmacht  (lebhafte  Heiterkeit)  — ,  so  wenig 
ist  es  möglich,  daß  man  dem  Hausherrn  und  städtischen  Grund- 
besitzer und  dem  armen  Mieter  zugleich  hilft,  daß  man  dem  Groß- 
industriellen und  dem  Kleingewerbe  und  dem  Arbeiter  auch  noch 
hilft.  Es  ist  ausgeschlossen,  sich  von  den  Großerzeugern  von  Vieh 
und  von  Brotfrucht  kommandieren  zu  lassen  und  zugleich  zu  behaup- 
ten, daß  man  das  im  Interesse  der  großen  Massen  der  städtischen 
Bevölkerung  tut,  die  billiges  Brot  und  Fleisch  braucht.  Man  kann  den 
Wucherern  und  den  Bewucherten  nicht  zugleich  helfen.  So  hat  sich 
in  dieser  Partei  nach  und  nach  eine  Zersetzung  vollzogen.  Ich 
erinnere  mich  an  die  Zeit,  als  die  Christlichsozialen  anfingen.  Damals 
hat  der  arme  Kronawetter  gesagt:  „Was  soll  ich  machen?  Die  ver- 
sprechen jedem  eine  goldene  Uhr,  ja  was,  eine  goldene  Uhr?  ein 
Haus!"  (Lebhafte  Heiterkeit.)  Das  sollte  alles  geschehen  mit  dem 
Befähigungsnachweis.  Wer  spricht  heute  davon?  Heute  sind  sie  bis 
aufs  Hausiergesetz*)  heruntergekommen  und  dazu  sind  sie 
unfähig.  Wir  „kurzsichtigen"  Sozialdemokraten  haben  uns  im  Parla- 
ment an  der  Gesetzgebungsarbeit  außerordentlich  eifrig  beteiligt. 
Wir  hatten  das  Interesse,  daß  die  Gesetze  vernünftig  ausfallen.  Am 
Hausiergesetz  haben  wir  uns  nicht  beteiligt.  Es  schaut  aber  auch 
danach  aus.  (Heiterkeit.)  Diese  Zersetzung  nimmt  überhand,  weil 
die  christlichsoziale  Partei  aus  Enttäuschten  besteht.  Die  Wähler 
wurden  getäuscht  und  wurden  enttäuscht,  denn  die  wirtschaftliche 
Entwicklung  hat  nicht  den  Christlichsozialen  recht  gegeben,  sondern 
den  Sozialdemokraten,  die  gesagt  haben:  „Es  ist  Schwindel  oder 
Selbsttäuschung,  wenn  man  mit  Zünfteleien  entgegenarbeiten  will 
der  Ausbreitung  des  Kapitalismus  und  der  Großindustrie!"  (So  ist  es!) 
Aber  es  gibt  auch  eine  Gruppe,  die  zufrieden  ist.  Wenn  man 
das  Kleinbürgertum  nicht  im  ganzen  gerettet  hat,  so  konnte  man 
doch  einzelne  retten.  Einzelne  konnte  man  zur  Futterkrippe  lassen, 
ihnen  Ämter  geben,  sie  avancieren  lassen.  Aber  allen  kann  man  das 
nicht  tun,  denn  die  Partei  ist  groß,  und  die  nichts  gekriegt  haben,  die 
chreien.  Wenn  sie  nun  zu  zanken  anfangen,  packen  sie  allerhand 
Dinge  aus.  Man  braucht  nur  zu  lesen,  was  Geßmann  über  Vergani 

*)  Das  Verbot  des  Hausierhandels,  aber  mit  so  viel  Ausnahmen,  daß 
das  Verbot  illusorisch  wurde.  Das  Gesetz  wurde  am  10.  Februar  1911  in 
einer   dreistündigen   verworrenen   Abstimmung   beschlossen. 


224  Das  System  Bienerth. 

und  Vergani  über  Geßmann  sagt,  und  man  kann  sich  ein  Urteil  über 
beide  bilden.  (Sehr  gut!)  Aber  das  ist  nicht  das  wichtigste.  Die 
Anbetung  des  Gott  Nimm*)  ist  vielleicht  nur  eine  vorübergehende,  als 
Einzelerscheinung  nicht  übertrieben  zu  wertende  Sache.  Das  Ent- 
scheidende ist,  daß  das  Raufen  um  den  Futtertrog,  um  Ämter  und 
Amterln,  dieser  Krieg  aller  gegen  alle,  diese  Gevatterschaften 
zusammenhängen  mit  dem  Wesen  dieser  Partei  selbst. 

Auch  wenn  sie  alle  ehrliche  Leute  wären, 

so  wäre  die  Partei  auf  die  Dauer  nicht  lebensfähig,  weil  es  wider- 
sinnig ist,  daß  eine  Partei  mit  solchen  Widersprüchen  lebensfähig 
bliebe.  Schauen  Sie  diese  armen  Leute  an,  die  man  christlich- 
soziale Arbeiter  heißt  und  die  von  Enttäuschung  zu  Enttäu- 
schung gehen.  Aber  immer  wieder  ducken  sie  sich,  nicht  alle  mehr 
allerdings,  und  es  werden  wohl  allen  noch  die  Augen  gründlich 
aufgehen. 

Glauben  Sie  aber  nicht,  daß  diese  Fäulniserscheinungen,  diese 
höchst  unappetitlichen  Dinge,  die  in  der  Partei  vorgehen,  dieser 
Streit  um  die  Mandate  und  die  Kandidaturen,  daß  das  alles  schon 
bedeutet,  daß  der  Macht  der  Christlichsozialen  und  ihren  Erfolgen 
bei  den  Wahlen  ein  Ende  gemacht  sei.  Sie  können  sich  streiten  und 
werden  noch  immer  Wahlerfolge  haben.  Sie  siegen  nicht,  weil  der 
Kandidat  so  ehrlich,  so  unterrichtet,  ein  so  großer  Staatsmann  ist, 
sondern  weil  die  Maschine  da  ist,  weil  die  Transmissionen  vorn 
Wahlkataster  bis  zur  Urne  laufen.  Diese  Wahlmaschinerie  arbeitet 
weiter,  auch  wenn  sich  die  Herren  streiten;  vielleicht  gelingt  es  uns, 
einzelne  Teile  dieser  Maschine  herauszunehmen  und  einmal  andere 
aufzumontieren.  Aber  geben  Sie  sich  nicht  der  Illusion 
hin,  als  ob  wir  es  ohne  eigene  Arbeit  der  Zer- 
setzung der  Christlich  sozialen  überlassen  könn- 
ten, daß  sie  zugrunde  gehen!  Es  soll  das  auch  nicht 
sein.  Nicht  an  ihren  eigenen  Sünden  sollen  sie  zugrunde  gehen, 
sondern  an  der  Kraft  der  Arbeiterschaft,  nicht  an  ihrem 
Wahnsinn,  sondern  an  unserer  Vernunft,  nicht  an  ihrem 
Verrat  an  allen  Klassen  der  Bevölkerung,  sondern  an  der  Ener- 
gie, mit  der  wir  die  Interessen  des  arbeitenden 
Volkes  in  Schutz  nehmen.  (Stürmischer  Beifall.)  Darum 
fordere  ich  Sie  auf:  Wählen  Sie  sozialdemokratisch!  Jede  Stimme, 
die  Sie  für  die  Wahrheit  abgeben,  ist  ein  Schlag  gegen  die  Lüge, 
jede  Stimme  für  das  Recht  ein  Schlag  gegen  das  Unrecht  und  jede 
Stimme    für    die  Freiheit    ein  Schlag    gegen    die  Vergewaltigung! 

*)  Am  19.  März  1910,  also  wenige  Tage  nach  dem  Tode  Luegers,  hatte 
der  christlichsoziale  Stadtrat  und  Landtagsabgeordnete  Hraba  von  den 
christlichsozialen  Führern  gesagt,  es  seien  Leute,  die  „z  u  m  G  o  1 1  Nimm 
bete  n".  Außerdem  sagte  er,  es  habe  sich  ein  Konsortium  von  Aas- 
geiern gebildet...  Lueger  habe  diese  Leute  verachtet...  Im  Jahre  1911 
brachte  dann  das  christlichsoziale  „Deutsche  Volksblatt",  dessen  Heraus- 
geber Ernst  Vergani  war,  Enthüllungen  über  Geßmann,  dem  vor- 
geworfen wurde,  er  habe  eine  Baukreditbank  gegründet,  die  durch 
die  Unterstützung  des  jüdischen  Bauwitchers   hohe  Prozente   abwerfe. 


Siegesfeier  In  V\  len,  225 

Wir  kämpfen  gegen  eleu  Klerikalismus,  gegen  den  verhüllten  Ab- 
solutismus dieser  Regierung,  gegen  den  Agrarismus,  der  die  Arbeiter 
ausraubt,  gegen  die  Arbeiterfeindlichkeit  der  Regierung  und  der 
bürgerlichen  Parteien.  Mit  uns  ist  das  Volk  und  mit  uns  wird  der 
Sieg  sein!  (Stürmischer  Beifall.) 

Siegesfeier  in  Wien. 

Vertraue  n  s  m  ä  iinerve  r  s  a  m  in  1  u  n  g,    _;  8.    Juni    1911  *). 

Werte  Genossen  und  Genossinnen!  Die  Parteivertretung  und  die 
Landesparteivertretung  haben  gemeint,  daß  es  nicht  nur  ihrem, 
sondern  aller  Genossen  Empfinden  und  Bedürfnis  entsprechen  wird, 
daß  wir  die  Vertreter  der  Wiener  Genossen  zusammenberufen,  um 

*)  Ende  März  hatte  Bienerth  das  Parlament  aufgelöst  und  in  der 
amtlichen  „Wiener  Zeitung"  einen  Kommentar  dazu  geliefert,  in  dem  er 
die  Sozialdemokraten  beschuldigte,  als  Verbündete  der  Tseheehen  das 
Parlament  zerschlagen  zu  haben.  Zugleich  unternahm  er  den  Versuch,  ein 
Wahlübereinkommen  der  Deutschfreiheitlichen  und  der  Christlichsozialen 
gegen  die  Sozialdemokraten  zustande  zu  bringen.  Tatsächlich  waren  auch 
die  Führer  des  „Deutschen  Nationalverbandes"  wie  der  „Christlichsozialen 
Vereinigung"  dazu  bereit;  das  Kompromiß  zerschlug  sich  aber,  weil  in 
den  Alpenländeru  die  klerikale  Gefahr  zu  offenkundig  war.  In  Deutsch- 
böhmen kam  zwar  ein  weitsehendes  Übereinkommen  zwischen  den  deutsch- 
bürgerlichen  Parteien  zustande.  In  Wien  aber  war  nach  dem  Tode  Luegers 
die  christlichsoziale  Partei  in  völliger  Auflösung,  zumal  ihre  Korruption 
aus  ihren  eigenen  Reihen  enthüllt  worden  war.  Siehe  oben  die  Bemerkungen 
über  den  „Gott  Nim  m". 

Die  Wahlen  am  13.  und  20.  Juni  brachten  der  Sozialdemokratie  zwar 
einen  Verlust  an  Mandaten,  der  durch  die  Verluste  in  den  Sudetenländern 
herbeigeführt  worden  war,  statt  87  Mandaten  hatte  die  Sozialdemokratie 
nur  noch  81,  die  deutsche  Sozialdemokratie  statt  50  nur  noch  44,  aber 
trotzdem  hatte  die  deutsche  Sozialdemokratie  ihre  Stimmenzahl  von 
513.219  auf  541.989  erhöht.  Aber  das  Entscheidende  war,  daß  Bienerths 
eigentliche  Partei,  die  christlichsoziale  Partei,  eine  vernich- 
tende Niederlage  erlitten  hatte.  In  Niederösterreich  erhielt  die  Sozial- 
demokratie 26  statt  der  bisherigen  16  Mandate.  Von  den  33  Wiener  Man- 
daten erhielten  die  Sozialdemokraten  19.  Von  den  20  Abgeordneten,  die  die 
Christlichsozialen  in  Wien  hatten,  verloren  sie  16,  und  von  den  vieren,  die 
gewählt  wurden,  hatte  der  eine,  Dr.  fieilinger,  sein  Mandat  nur  behalten, 
weil  er  sich  von  der  christlichsozialen  Partei  losgesagt  hatte.  Alle  ihre  Führer 
lagen  auf  der  Strecke:  der  Handelsminister  Weiskirchner  wurde  von 
dem  Redakteur  der  „Arbeiter-Zeitung"  Max  Winter,  der  Bürgermeister  Doktor 
N  e  u  m  a  y  r  von  dem  Obmann  der  Buchdruckerorganisation  S  c  h  i  e  g  1  ge- 
schlagen, der  Präsident  des  Abgeordnetenhauses  Dr.  Pattai  wurde  von 
dem  Redakteur  der  „Arbeiter-Zeitung"  Karl  Leuthner  besiegt.  Auch  alle 
anderen  christlichsozialen  Führer,  Liechtenstei  n,  K  u  n  s  c  h  a  k, 
Wittek  waren  durchgefallen,  in  dem  niederösterreichischen  Ort  Mistelbach 
auch  Q  e  B  m  a  n  n. 

Am  28.  Juni  wurde  Bienerth  durch  Qautsch  ersetzt. 

An  diesem  Tag  hielten  die  Wiener  Vertrauensmänner  im  Sofiensaal  unter 
dem  Vorsitz  von  B  r  e  t  s  c  li  n  e  i  d  e  r  eine  Siegesfeier  ab,  in  der  Adler 
Sprach.  Zu  Beginn  wurde  von  den  Arbeitersängern  der  „Festgesang"  von 
loset  Sehen    vorgetragen. 

Adler,  Briefe.    XI.  Bd.  15 


226  Das  System  hienerth. 


ihnen  zu  sagen,  daß  die  Partei  ihnen  dankt.  Die  Sozialdemokratie 
hat  in  Wien  ein  großes  Werk  verrichtet,  sie  hat  ein  Joch  ab- 
geschüttelt, sie  hat  eine  Schmach  von  Wien  gewendet,  sie  hat  das 

Volk  von  Wien  von  Schande  befreit. 

(Lebhafte  Zustimmung.)  Diese  Wiener  Wahlen  sind  nicht  das  ^Verk 
und  das  Produkt  eines  Tages  und  nicht  eines  Jahres.  Diese  Wiener 
Wahlen,  bei  denen  die  sozialdemokratische  Arbeiterschaft  jene 
Lage  in  Wien  geschaffen  hat,  die  es  möglich  machte,  die  Christlich- 
sozialen  hinwegzufegen,  sind  das  Resultat  einer  jahrzehntelangen 
Arbeit  der  Sozialdemokratie  in  Wien,  der  Sozialdemokratie  von 
ganz  Österreich!  Parteigenossen!  Wir  können  von  den  Wiener 
Wahlen  nicht  sprechen,  ohne  von  den  Wahlen  im  ganzen  Reiche 
und  von  der  Lage  der  Partei  zu  reden.  Wir  sind  herausgefordert 
worden  zum  Kampfe,  gezwungen  worden,  eine  Schlacht  zu  schlagen 
in  einem  Augenblick,  der  der  Regierung,  der  allen  bürgerlichen 
Gegnern  der  günstigste  erschien,  die  Sozialdemokratie  zu  schlagen, 
in  einem  Moment,  den  wir  selbst  als  einen  wenig  günstigen  für  uns 
betrachteten.  Wir  sind  herausgefordert  worden,  in  einen  Wahl- 
kampf zu  treten  gegen  eine  Verbindung  aller  Bürgerlichen,  befehligt 
und  kommandiert  von  der  Regierung  Bienerth  mit  der  ausdrück- 
lichen Parole,  der  Effekt  der  Wahlen  solle  sein:  Stärkung  der  Regie- 
rungsparteien, deren  stärkste  die  Christlichsozialen  waren,  durch 
Besiegung  der  Sozialdemokratie  und  Raub  von  zwei  bis  drei 
Dutzend  ihrer  Mandate.  Der  Feldzug  ist  begonnen  und  geführt 
worden,  damit  das  vereinigte  Bürgertum  der  sozialdemokratischen 
Arbeiterschaft  eine  Schlacht  liefere.  Der  Wahlkampf,  den  wir  im 
Jahre  1907  durchzufechten  hatten,  ging  unter  ganz  anderen  Bedin- 
gungen vor  sich,  unter  den  allergünstigsten,  die  jemals 
einer  Partei  beschieden  waren  und  sein  können. 
Im  Jahre  1907  waren  wir  die  Bringer  des  allgemeinen  Wahlrechtes. 
Genosse  Bretschneider  hat  die  Tradition  dieses  Saales  be- 
rührt, aber  er  hätte  daran  erinnern  können,  daß  er  selbst  es  war, 
der  in  diesem  Saale  verkündet  hat:  Keine  Ruhe  in  Öster- 
reich, bis  das  allgemeine,  gleiche  und  direkte 
Wahlrecht  erkämpft  ist!  Diesen  Kampf  haben  wir  geführt 
in  ganz  Österreich,  voran  in  Wien.  Langsam  haben  wir  Bundes- 
genossen gefunden,  spät,  als  schon  die  Wage  der  Entscheidung  zu 
unseren  Gunsten  gesenkt  war,  und  der  Mann,  der  heute  wieder 
Ministerpräsident  ist,  war  einer  von  denen,  die  am  schwersten  zu 
bekehren  waren.  Als  Sieger  im  Wahlrechtskampf 
haben  wir  die  Wahlschlacht  von  1907  gewonnen. 
Wir  waren  die  einzige  aller  Parteien,  die  einen  Ansatz  zu  einer 
Wahlorganisation  hatte,  die  irgendwie  eingerichtet  war  auf  eine 
Massenbewegung,  und  so  konnten  wir  eine  Reihe  von  überraschen- 
den Wahlerfolgen  verzeichnen.  Seitdem  aber  hat  sich  das  Bürger- 
tum in  bewußten  Gegensatz  zu  der  Arbeiterschaft  gestellt,  hat  sich 
in  ganz  Österreich  gegen  uns  ralliiert  und  der  Kampf  bei  dieser 
Wahl  war  als  ein  wahrer  Klassenkampf  zu  führen.  Bei  der  Haupt- 
wahl waren    es   in   allen  Ländern   und   selbst   hier   in  Wien   a  u  s- 


Siegesfeier  in  Wien.  227 


s ch  1  i e  ü  lieh  Soziaide  m  o  k ra  1  e  n,  die  sozialdemokratische 
Stimmen  abgegeben  haben.  Wir  haben  bei  dieser  Wahl  so  ii.it 
sieh  der  Klassengegensatz  zugespitzt  ohne  Mitläufer  gekämpft 
und  inder  ganzen  Provinz  sind  alle  Mitläufer  W  e  g- 
1  ä  u  f  e  r  geworden.  Die 

Arbeiterschaft  war  auf  ihre  eigenste  Kraft  angewiesen 

gegenüber  einer  Übermacht,  die  nicht  wählerisch  war  in  ihren 
Mitteln,  die  gemeinste  Demagogie  und  brutalste  Gewalttätigkeit  nicht 
scheute  und  den  ganzen  Verwaltungsapparat  in  den  Parteidienst 
stellte,  (legen  diesen  Apparat,  der  draußen  ebenso  in  den  Händen 
der  Bürgerlichen  ist  wie  hier  und  draußen  nicht  weniger  mißbraucht 
wird  von  den  Machthabern  wie  hier  von  den  Christlichsozialen, 
hatten  unsere  Genossen  in  Böhmen,  Mähren  und  Schlesien  zu 
kämpfen.  Und  wenn  es  uns  gelungen  ist,  trotz  des  schmerzlichen 
Verlustes  einiger  unserer  tüchtigsten  Parlamentarier,  unsere 
Stimmen  zahl  zu  behaupten,  den  furchtbaren  Kampf  mit 
Ehren  zu  bestehen,  ist  das  ein  Beweis  für  die  große  Tüchtigkeit  und 
Tapferkeit  der  sozialdemokratischen  Arbeiter  in  ganz  Österreich. 
(Lebhafte  Zustimmung.) 

Hier  in  Wien  war  es  freilich  ganz  anders.  Hier  haben  wir  bei 
der  Hauptwahl  durch  das  starke  Anwachsen  unserer  Stimmen  die 
Möglichkeit  geschaffen,  daß  dem  Bürgertum  die  Zuver- 
sicht gekommen  ist,  ihm  die  Hoffnung  aufgeleuchtet  hat,  daß 
man 

mit  den  Christlichsozialen  fertig  werden 

kann.  Das  war  nicht  immer  so.  Ich  erinnere  Sie  an  den  9.  März 
1  8  9  7*),  an  dem  wir,  die  wir  geglaubt  hatten,  daß  wir  die  Mehrheit 
haben,  überall  geschlagen  wurden.  Ich  erinnere  Sie  an  diesen  Tag 
des  großen  Schmerzes  und  der  großen  Enttäuschung  gerade  am 
heutigen  Tage  des  Sieges  und  der  Freude.  Wir  haben  uns  damals 
nicht  schlecht  geschlagen  als  Anfänger,  die  wir  waren.  Wir  hatten 
in  Wien  88.350  Stimmen,  eine  schöne  Zahl.  Wir  hatten  genug,  aber 
die  anderen  hatten  zuviel.  (Heiterkeit.)  Wir  haben  erst  am  Abend 
des  9.  März  das  Kräfteverhältnis  und  die  Situation  bei  den  Wahlen 
in  Wien  kennengelernt.  Kein  Tag  in  der  Parteigeschichte  ist  für  uns 
so  fruchtbar  gewesen  wie  dieser  9.  März.  (Sehr  richtig!)  Wie 
Schuppen  ist  es  uns  von  den  Augen  gefallen.  Damals  lernten  wir  den 
Unterschied  zwischen  dem,  was  man  das  „Volk  von  Wien"  nennt, 
und  der  sozialdemokratischen  Arbeiterschaft,  dem  Kern  von  Wien, 
kennen.  Damals  haben  wir  unterscheiden  gelernt  zwischen  einer 
Masse,  die  Stimmung  hat,  die  mitgeht,  aber  auch  weggeht,  zwischen 
Leuten,  die  gelegentlich  guten  Willens  sind  und  mit  denen  gehen, 
die  Macht  und  Erfolg  haben,  und  denjenigen,  die  Kämpfer  sind  in 
den  Reihen  des  Proletariats  in  trüben  wie  in  guten  Tagen.  Damals 


*)  Bei  den  ersten  Wahlen  in  der  fünften  Kurie  hat  die  Sozialdemokratie 
von  den  fünf  Wiener  Mandaten  dieser  Kurie  kein  einziges  errungen.  (Siehe 
den  Artikel  vom  10.  März  1897,  „Die  Niederlage  vom  9.  März  1897", 
Bd.   VfFI,  Seite  367.) 

15* 


228  Das  System  Bienerth. 


haben  wir  auch  kennengelernt,  worin  die  Macht  der  Christlich- 
sozialen  in  Wien  besteht.  Am  Tage  nach  der  Niederlage  schrieb  die 
„Arbeiter-Zeitung":  „Daß  Lueger  den  Verwaltungsapparat  in  der 
Hand  hat,  das  hat  uns  geschlagen,  Lueger  ist  der  Herr  von 
Wien  und  darum  ist  er  der  Herr  der  Wahlurne  ge- 
w  o  r  d  e  n.  Die  Christlichsozialen  haben  nicht  die  Wähler,  sondern 
die  Legitimationen  an  ihrer  Seite."  Wir  haben  damals  zum 
erstenmal  erkannt,  welchen  ganz  besonderen  Kampf  die  Arbeiter- 
schaft in  Wien  zu  führen  hat,  wenn  sie  sich  geltend  machen  und  ihr 
Recht  auf  Vertretung  hier  erringen  will.  Nicht  allein  hat  es  gegolten, 
Überzeugung,  Aufklärung,  Wissen  zu  verbreiten,  nicht  allein,  Sozial- 
demokraten, Anhänger  zu  gewinnen.  Es  hat  gegolten,  der  Gewalt, 
dem  Betrug  gewachsen  zu  sein.  Es  galt,  was  in  keiner  Stadt  nötig 
und  was  keiner  Arbeiterschaft  beschieden  ist:  das  ganze  System 
von  Betrug,  Gewalttat,  Amtsmißbrauch,  diese  Maschine  systema- 
tischen Amtsmißbrauchs,  die  im  Wahlkataster  anfängt  und  bei  der 
Urne  endet,  wenn  nicht  zu  zerbrechen,  so  durch  unseren  Zuwachs 
zu  kompensieren.  (So  ist  es!) 

Das  ist  nun  das  Werk,  das  die  Wiener  sozialdemokratische 
Arbeiterschaft  und  ihre  Organisationen,  deren  Vertreter  hier  ver- 
sammelt sind,  zuwege  gebracht  haben.  Ihr,  Genossen,  habt  nicht  nur 
der  Sozialdemokratie  Anhänger  geworben,  nicht  nur  unermüdlich 
Propaganda  gemacht  und  euch  erfüllt  mit  dem  Geiste  der  Sozial- 
demokratie! Ihr  mußtet  mehr  tun:  euch  wehrhaft  machen, 
stark  sein,  euch  nicht  beugen  und  die  Maschine,  wenn  sie  nicht 
zerschlagen  werden  kann,  unbrauchbar  machen.  Das  ist  die 
Leistung.  Sie  zu  vollbringen  ist  nicht  an  einem  Tage  möglich  ge- 
wesen; zu  ihr  war  nötig  die  feste  Überzeugung  von  den  Lebens- 
notwendigkeiten des  Proletariats  bei  vielen  Zehntausenden,  die  feste 
Überzeugung  von  der  Möglichkeit  des  Gelingens  und  unverrück- 
barer Mut.  (Laute  Zustimmung.) 

Die  bürgerlichen  Parteien,  die  sich  freuen  über  die  Be- 
freiung von  Wien,  die  könnten  wir  heute  fragen,  was  eigentlich  s  i  e 
dazu  getan  haben.  Sie  haben  das  christlichsoziale  Regime  über 
sich  ergehen  lassen  wie  eine  göttliche  Fügung.  Sie  haben  g  e- 
träumt  von  der  Wiedereroberung  und  gelegentlich  und  nicht  sehr 
klug  von  ihren  Träumen  gesprochen.  Haben  sie  sich  aufgerichtet, 
haben  sie  es  gewagt,  den  Kampf  aufzunehmen? 

Die  Arbeiterschaft  hat  den  Bann  gebrochen, 

und  unsere  Pflicht  war  es  auch.  Das  haben  wir  erkannt,  und  am 
10.  März  1897  verkündete  es  die  „Arbeiter-Zeitung":  „Wien,  das 
dem  Lueger  zu  Füßen  liegt,  das  ist  für  Wien  eine  Schmach,  für  die 
Wiener  Sozialdemokraten  ist  es  eine  Aufgab  e."  Diese  Aufgabe 
haben  wir  geleistet,  und  mit  allem  Pflichtgefühl,  mit  aller  Zähigkeit, 
mit  einer  Hingebung,  die,  ich  sage  es  Ihnen  offen,  mir  oft  die  Tränen 
in  die  Augen  gebracht  hat.  (Bewegung.)  Wenn  ich  gesehen  habe, 
wie  unsere  Frauen  und  Männer  Nacht  um  Nacht,  durch  Wochen 
und  Monate  gearbeitet  haben,  nicht  nur  zur  Zeit  der  Wahl,  jahraus, 
jahrein,  ungenannt  und  ungekannt  ihre  Arbeit  verrichtet  haben  — 


Siegesfeier  in  Wien.  229 

dieses  Austragen  von  Plugschriften  und  Zeitungen,  das  ohne  Möglich- 
keit der  Kontrolle  und  ohne  Möglichkeil  einer  Belohnung  ist,  die 
auch  nur  in  der  Anerkennung  läge;  wenn  ich  sah.  daß  sich  aus  dieser 
Masse  ein  Korps  herausgebildet  hat,  in  das  viele  Kämpfer  eingereiht 
sind,  nicht  nur  für  Wien,  sondern  für  ganz  Osterreich,  die  zu  Hilfe 
gerufen  werden,  wo  man  Erfahrung  und  Tapferkeit  braucht,  erprobte 
Soldaten,  die  lehren,  wie  man  das  macht;  wenn  ich  diese  ungeheure 
Summe  von  Hingebung  gesehen  habe  —  da  habe  ich  gesagt  und  Sie 
wohl  alle:  Das  kann  keine  andere  Partei!  Finer  solchen  Sache  zu 
dienen  ist  für  jeden  das  Heiligste,  ist  das.  was  das  Lehen  allein 
lebenswert  macht.  (Lebhafter  Beifall.) 

Wir  haben  in  dieser,  wie  wir  es  bescheiden  nennen, 

Kleinarbeit,  sie  ist  aber  die  große  Arbeit, 

und  wir  heißen  sie  nur  Kleinarbeit,  weil  sie  alle  1  age  verrichtet 
werden  muß,  unsere  Pflicht  getan.  Aber  Sie  kennen  mich:  ich  halte 
es  nicht  aus,  Ihnen  nur  Gutes  zu  sagen.  Ich  will  nicht  verhehlen,  daß 
auch  da  noch  vieles  zu  tun  ist.  Ich  will  Sie  heute  nicht  mit  Weih- 
rauch benebeln  und  nicht  Ihren  Willen  lähmen  durch  Einseitigkeit 
oder  Übertreibung.  Sie  wissen  besser  als  ich,  wo  es  fehlt,  wieviel 
auch  in  Wien  noch  zu  tun  ist;  Sie  wissen  besser  als  ich,  was  wir 
leisten  könnten,  wenn  die  volle  Kraft  der  Wiener  Arbeiterschaft  an- 
gespannt wäre.  (So  ist  es!) 

Nun  haben  wir  nicht  nur  den  Trägern  unserer  Organisation  zu 
danken,  die  draußen  den  Kampf  geführt  haben.,  wir  müssen  auch 
danken,  ich  möchte  sagen,  den  Opfern,  den  Objekten  aller  dieser 
Anstrengungen,  den  Kandidaten.  Kandidat  zu  sein  ist  keine  be- 
sonders angenehme  und  leichte  Sache,  wenn  man  ein  sozialdemo- 
kratischer Kandidat  ist.  Unsere  Kandidaten  haben,  und  es  waren 
manche  junge  und  unerfahrene  unter  ihnen,  durchaus  ihre  Pflicht 
getan.  (So  ist  es!)  Wir  müssen  auch  danken  dem  P  arteisekr.e- 
t  a  r  i  a  t.  Ich  möchte  hier  einmal  feststellen,  was  Ihnen  wohl  bekannt 
ist,  was  aber  heute  auch  anerkannt  werden  soll:  daß  niemals  bisher 
Wahlen  einen  so  guten  Zentralapparat  vorgefunden  haben,  wie  er 
bei  diesen  Wahlen  funktioniert  hat.  Wir  haben  nicht  viel  weniger 
als  eine  Million  Broschüren  in  die  Wählerschaft  geworfen,  die 
schnell  improvisiert  waren,  die  acht  bis  zehn  Tage  nach  der  Wahl- 
ausschreibung zu  Ihrer  Verfügung  gestanden  sind,  worin  alle  Fragen, 
die  im  Wahlkampf  von  Bedeutung  waren,  gründlich  und  verständ- 
lich behandelt  wurden.  Wir  hatten  weiter  eine  Zentrale  gehabt  für 
die  Herstellung  von  Flugblättern,  die  natürlich  in  die  Millionen 
gingen.  Der  Apparat  hat  geklappt,  wie  es  in  ähnlicher  Weise  niemals 
noch  für  unsere  Partei  auch  nur  gedacht  war.  Ich  kann  und  will  nicht 
die  Namen  aller  derer  nennen,  die  sich  daran  beteiligt  haben.  Ich 
muß  aber  doch  sagen,  daß  in  der  Zentrale  ein  Mann  gewirkt  hat, 
dem  an  der  Organisation  der  Wahlen  ein  großes  Verdienst  zukommt, 
das  um  so  mehr  hervorzuheben  ist,  als  er  allen  Grund  gehabt  hätte, 
sich  der  Arbeit  zu  entziehen  oder  sie  einzuschränken:  Genosse 
S  e  i  t  z.  (Die  Versammlung  bringt  Seitz  lebhafte  Ovationen  dar.) 
Kurz  nach  einer  Operation  auf   Tod  und  Leben,  kaum  erholt,  hat  er 


230  Das  System  Bienerth. 


sich,  mehr  als  ihm  physisch  nützlich  war,  in  die  Arbeit  gestürzt. 
(Neuerliche  Kundgebungen  für  Seitz.)  Und  wenn  ich  von  denen 
schweige,  die  auch  sonst  in  der  Öffentlichkeit  wirken,  so  will  ich 
doch  als  Vertreter  der  Schmiede  unserer  geistigen  Waffen  einen 
Namen  nennen,  einen  unserer  Arsenalverwalter,  den  Genossen  Otto 
Bauer,  der  sein  außerordentliches  Wissen  und  seine  Arbeitskraft 
voll  in  den  Dienst  der  Sache  gestellt  hat.  (Lebhafte  Zustimmung.) 
Jetzt  lassen  Sie  mich  nun  eines  Apparats  erwähnen,  der  nicht 
nur  für  die  Wahl,  sondern  für  jede  Parteiarbeit  an  allererster  Stelle 
steht,  ich  meine 

unsere  Presse. 

(Laute  Zustimmung.)  Wenn  ich  jetzt  von  der  „Arbeiter- 
Zeitung"  spreche,  so  wissen  Sie,  daß  ich  es  tun  kann,  ohne 
irgendwie  auf  Lob  für  mich  Anspruch  zu  machen.  Meine  Kraft  ist 
schon  längst  zu  schwach  geworden,  um  in  der  „Arbeiter-Zeitung" 
regelmäßige  Arbeit  zu  verrichten  wie  einstmals.  Ich  habe  mit  dem, 
was  ich  sonst  zu  tun  habe,  für  meine  Kraft  genug.  Ich  stehe  also  der 
Leistung  der  „Arbeiter-Zeitung"  ganz  objektiv  gegenüber  und  ich 
möchte  Sie  darum  einladen,  mit  mir  anzuerkennen,  daß  die  Leistung 
der  „Arbeiter-Zeitung"  ganz  enorm  war.  (Lebhafte  Zustimmung.) 
Sie  hat  unsere  Kraft  vervielfacht;  sie  hat  uns  gegeben,  was  keine 
andere  Partei  von  ihrer  Presse  hat.  (So  ist  es!)  Lassen  Sie  mich 
darum  auch  des  Mannes  gedenken,  der  die  Seele  des  Blattes  ist, 
unseres  Friedrich  Austerlitz*)  (Rufe:  Hoch  Austerlitz!),  den  wir 
leider  trotz  besten  Willens  und  Wollens  als  Kandidaten  auf  einen 
Posten  gestellt  haben,  wo  wir  seine  Niederlage  erleben  mußten,  und 
den  wir  an  dem  Orte  schmerzlich  vermissen  werden,  wohin  er  schon 
lange  gehört.  (So  ist  es!)  Um  so  mehr  ist  es  uns  Bedürfnis,  anzu- 
erkennen, was  der  Mann  neben  seiner  Kandidatur  gewirkt  hat.  Wenn 
er  in  zwei  oder  drei  Versammlungen  gesprochen  hat,  ist  er  bis  fünf 
oder  sechs  Uhr  morgens  an  seinem  Schreibtisch  gesessen  und  hat 
Broschüren  und  Flugblätter  für  Böhmen  und  Mähren  und  überall 
geschrieben.  Er  hat  mit  seiner  unvergleichlichen  Arbeitskraft,  wie 
ich  sie  noch  bei  keinem  anderen  Menschen  gesehen  habe,  ganz  Un- 
erhörtes geleistet,  nicht  für  seinen  Wahlbezirk  allein,  sondern  für 
die  ganze  Partei.  (Bravo!  Bravo!)  Ich  sage  ausdrücklich:  Wir  ver- 
missen ihn  schmerzlich  im  Parlament.  (So  ist  es!)  Aber  mehr  noch, 
als  seine  parlamentarische  Tätigkeit  uns  geben  könnte,  leistet  uns 
und  ganz  Österreich  Friedrich  Austerlitz  in  der  Presse,  hat  er  ge- 
leistet und  wird  er  leisten.  Und  was  er  für  die  Wiener  Wahlsiege 
getan,  wissen  Sie.  Ich  habe  vom  Kampfe  um  die  Legitimationen 
gesprochen,  dem  Kampfe  gegen  Amtsmißbrauch  und  Betrug.  Sie 
wissen,  wie  er  die  juristische  Seele  dieses  Kampfes  gewesen  ist. 
(Lebhafte  Zustimmung.) 

Wenn  ich  hier  einzelne  genannt,  wenn  ich  einzelne  Tatsachen 
hervorgehoben  habe,  so  werden  Sie  mir  das  gewiß  nicht  übelnehmen 
und  nicht  glauben,  daß  ich  die  Leistung  anderer  darum  zurückstelle. 

*)  Austerlitz,  der  Chefredakteur  der  „Arbeiter-Zeitung",  wurde  erst 
nach  dem  Umsturz  in  das  Parlament  gewählt. 


Siegesfeier  in  Wim.  231 


Aber  gerade  diejenigen  Leistungen,  die  gar  nicht  an  die  Öffentlich- 
keit getreten,  nicht  einmal  an  die  Parteiöffentlichkeit  im  vollen  Um- 
fang, zu  erwähnen,  war  mir  Pflicht  und  Bedürfnis.  (Bravo!) 

Was  bedeuten  nun  die  Wiener  Wahlen? 

Ihr  Effekt  liegt  zutage:  Herr  Bienerth  hat  die  Sozialdemokratie 
herausgefordert  und  Bienerth  ist  nicht  mehr  Ministerpräsident. 
(Heiterkeit.)  Er  wollte  uns  schwächen,  er  hat  aber  die  Zahl  unserer 
Mandate  sehr  unerheblich  vermindert.  Er  wollte  seine  Freunde 
stärken,  vor  allem  seine  Parteigenossen,  die  Christlichsozialen,  und 
er  hat  seine  Partei  vernichtet  (Bravo!),  unter  die  Räder  gebracht, 
so  gründlich,  wie  es  noch  nie  geschehen  ist.  Wenn  das  Haupt- 
verdienst an  der  Niederlage  der  Christlichsozialen  die  Sozialdemo- 
kratie hat,  der  zweite,  der  ein  Verdienst  daran  hat,  ist  Bienerth. 
(Heiterkeit  und  Beifall.)  Nur  ihm  konnte  einfallen,  in  seiner  Feind- 
seligkeit gegen  das  Parlament,  in  diesem  Moment  die  Wahl  auszu- 
schreiben, eine  Parole  auszugeben,  die  unmöglich  ist.  Und  nur  ihm 
konnte  einfallen,  zur  Hauptwahl  und  Stichwahl  das  Unmögliche  zu 
versuchen  und  dem  Wiener  Bürgertum  zuzumuten,  es  solle  sich 
unter  die  Parole  beugen,  die  von  ein  paar  Herren  aus  der  Provinz 
ausgegeben  wurde,  die  keine  Ahnung  von  Wien  haben.  Nur  ihm 
konnte  einfallen,  in  Wien  Politik  zu  machen  auf  Geheiß  G  e  ß- 
manns.  Herrn  Bienerth  sind  wir  dankbar.  (So  ist  es!)  Er  hat  die 
Konstellation  ermöglicht,  die  den  Sieg  bringen  konnte.  So  war  es 
möglich,  den  Kampf  zu  führen  unmittelbar  gegen  die  Häupter 
der  Christlich  sozialen,  unmittelbar  gegen  die  Verkörpe- 
rung der  Christlichsozialen,  die  das  ganze  Ministerium  war, 
nicht  nur  Weiskirchner,  der  doppelt  unterlegen  ist.  Ein  Weiskirchner 
mehr  oder  weniger,  darauf  kommt  es  nicht  an.  Hier  bedeutet  es  die 
Niederlage  des  ganzen  Systems.  Liechtenstein,  Pattai,  Weiskirchner 
und  ihr  Führer  Geßmann  unterlegen  —  das  bedeutet,  daß  eine 
Partei  in  ihrer  heutigen  Gestalt  aufgehört  hat,  zu 
existieren.  (Lebhafte  Zustimmung.)  Ich  habe  das  Verdienst  des 
Ministerpräsidenten  gerühmt,  ich  muß  auch  das  Verdienst  des 
HerrnGeßmann  rühmen.  (Heiterkeit  und  Beifall.)  Es  ist  noch 
nicht  lange  her,  daß  Geßmann  wieder  einmal  im  Parlament  den 
Kreuzzug  gegen  die  Sozialdemokratie  gepredigt  und  gesagt  hat: 
„Alle  müssen  sich  vereinigen  gegen  die  Vaterlands-,  nations-  und 
religionsfeindliche,  die  Familie  untergrabende  Sozialdemokratie!" 
Ich  hatte  das  Glück,  unmittelbar  nach  ihm  zu  Worte  zu  kommen 
und  ihm  zu  antworten:  „Wir  warten  auf  diesen  Feldzug!  Nichts  wird 
uns  angenehmer  sein,  aber  eines  erbitten  wir  uns:  Exzellenz  Geß- 
mann muß  der  Generalissimus  dieses  Feldzuges  sein!"  (Schallende 
Heiterkeit.)  Dieser  Wunsch  ist  in  Erfüllung  gegangen  (neuerliche, 
lebhafte  Heiterkeit),  und  darum  würden  wir  das  Verdienst,  das  Geß- 
mann hat,  unterschätzen,  wenn  wir  ihm  nicht  ausdrücklich  dankten. 
(Sehr  richtig!) 

Wir  hatten  den  Kampf  i  n  d  e  r  H  a  u  p  t  w  a  h  1  a  1 1  e  i  n  zu  führen. 
Wir  sind  in  die  Stichwahl  gekommen  durch  eigene  Kraft  und  durch 
die    unvermeidliche  Zersetzung    der    christlichsozialen  Partei.    Wir 


232  Das  System  Bienerth. 


können  nicht  allein  durch  unsere  Tugenden  wachsen.  (Heiterkeit  und 
Sehr  gut!)  Wo  wir  nicht  vorwärtskommen  durch  eigene  Kraft,  helfen 
uns  die  Laster  der  Gegner.  Das  ist  aber  ein  Umstand,  auf  den  wir 
mit  derselben  Bestimmtheit  rechnen  können  wie  auf  unsere  eigene 
Kraft.  (Sehr  richtig!)  Neben  uns  kam  in  die  Stichwahl  eine  Anzahl 
bürgerlicher  Herren  verschiedener  Parteien.  Nun  war  die  W  e  n- 
d  u  11  k  da.  Nun  sah  man  zum  erstenmal  die  Möglichkeit  der  Beseiti- 
gung der  Christlichsozialen,  nun  hat  das  Bürgertum  die 
Courage  bekommen,  mit  uns  zu  gehen,  endlich  das  von  sich 
zu  stoßen,  was  es  schon  so  lange  verachtet  und  gehaßt  hat.  So  ist 
bei  der  Stichwahl  der  Sieg  gemeinsam  erfochten  worden.  Was  nun 
kommt,  ist  auf  Seite  des  Bürgertums  schwer  vorauszusagen,  und 
ich  möchte  Sie 

vor  Illusionen  ausdrücklich  warnen. 

Meinen  Sie  nicht  etwa,  daß  diese  Treue  dem  Gedanken  der  Frei- 
heit auf  immer  gesichert  sei.  Wir  haben  bei  der  Stichwahl  gewählt 
als  Politiker,  ohne  alle  Illusion.  (So  ist  es!)  Wir  lieben  diese 
bürgerlichen  Parteien  nicht,  für  die  wir  gestimmt  haben,  und  wir 
haben  um  ihre  Liebe  nicht  geworben.  Wir  haben  zusammengewirkt 
zu  einem  gemeinsamen  augenblicklichen  politischen  Zweck,  zur  Be- 
seitigung der  Christlichsozialen,  zu  einem  wohltätigen  Werke  für 
ganz  Wien.  Das  ist  alles,  und  wir  möchten  weder  Illusionen  bei  uns 
noch  bei  unseren  Gegnern  darüber  erwecken,  als  ob  irgendein 
anderer  Zusammenhang  zwischen  diesen  beiden  Gruppen  von  Par- 
teien bestände.  Wir  bleiben,  was  wir  waren,  die  Arbeiterpartei,  die 
proletarische  Partei,  die  Partei  der  klassenbewußten  Arbeiterschaft. 
Wir  sind  keine  Art  von  Allianz,  keinerlei  Art  von 
Koalition  eingegangen,  wir  haben  nichts  anderes  als  bei 
einer  lebenswichtigen  Gelegenheit  eine  gemeinsame  Anstrengung  ge- 
macht, einen  schweren  Stein,  der  uns  im  Wege  lag  und  auch  den 
anderen  unbequem  war,  haben  sie  mit  wegwälzen  geholfen.  Man  soll 
nicht  meinen,  daß  wir  dem  deutschen  Bürgertum,  gegen  das  wir  in 
den  Sudetenländern  für  das  nackte  Leben  der  Arbeiterschaft  mit  dem 
vollen  Einsatz  unserer  Kraft  kämpfen  müssen,  mehr  zumuten,  als  es 
leisten  kann.  Oh,  es  gibt  gewiß  unter  den  gewählten  Herren  und  unter 
ihren  Wählern  noch  mehr,  die  den  Kopf  gelegentlich  voll  der  Ge- 
danken an  Freiheit  haben.  Allen  Respekt  vor  jedem,  der  es  gut  meint 
und  guten  Willens  ist.  Es  ist  unsere  Pflicht,  im  entscheidenden 
Moment  alle  diese  Kräfte  zusammenzufassen  und  mitzureißen.  Das 
ist  selbstverständlich  und  wir  werden  es  immer  tun.  Aber  das  soll 
uns  nicht  verdunkeln,  was  hier  in  Wien  nicht  minder  als  in  ganz 
Österreich  für  die  Arbeiterklasse  nötig  ist:  das  Bewußtsein  des 
proletarischen  Kampfes  für  die  Ideale  und  Interessen  des  Prole- 
tariats, die  die  Ideale  und  Interessen  der  ganzen  Menschheit 
sind  und  die  nur  verwirklicht  und  durchgesetzt  werden  können 
durch  das  Proletariat  selbst.  (Bravo!  Bravo!)  Wir  danken 
denen,  die  uns  geholfen  haben.  Wir  erwarten  keinen 
Dank  für  das,  was  wir  geleistet;  wir  haben,  was  wir  getan, 
niemand  zuliebe  getan.  Was  wir  taten,  geschah  für  die  Arbeiter- 


Siegesfeier  in  \\  len 


schaft,  für  die  Sozialdemokratie,  geschah  in  unserem  Geiste. 
Wir  wissen  auch:  wenn  wir  ins  Parlament  kommen, 
w  i  r  d  d  i  e  W  e  I  t  g  a  n  z  a  n  d  e  r  s  a  u  s  s  e  h  e  n  a  I  s  a  m  _;  0.  .1  u  n  i. 
Da  ist  nicht  mehr  der  Feind  die  Verdummung,  der  Klerikalismus,  die 
christlichsoziale  Gewalttat.  Da  gibt  es  nur  Gruppen,  die  sich  um  das 
Ministerium  sammeln,  heiße  es  nun  Bienerth  oder  Gautsch.  Wenn 
wir  fragen: 

Wofür  haben  wir  gekämpft? 

in  wessen  Namen  haben  wir  den  Kampf  geführt?  SO  haben  wir  ihn 
geführt  namens  der  s  o  z  i  a  1  d  e  m  o  k  r  a  t  i  s  c  h  e  n  Vorder  u  n- 
g  e  n,  gegen  die  sich  alle  widersetzen,  gegen  den  Militaris- 
mus, gegen  den  A  g  r  a  r  i  s  m  US,  gegen  neue  Steuer- 
b  e  1  a  s  t  u  n  g  e  n,  g  e  g  e  n  die  A  u  s  h  u  n  g  e  r  u  n  g  des  Volkes 
durch  eine  Politik,  die  alles  andere  ist  als  eine  Volkspolitik.  Glauben 
Sie,  daß  für  diese  Kämpfe  bei  den  Herren,  die  an  die  Stelle  der 
Christlichsozialen  getreten  sind.  Verlaß  ist?  Glauben  Sie,  daß  die 
Parteien,  die  die  Christlichsozialen  ersetzen,  morgen  etwas  anderes 
sein  werden  als  Regierungsparteien?  Es  wäre  mir  sehr  erwünscht, 
wenn  ich  die  Herren  beim  Worte  nehmen  könnte,  aber  es  wäre 
Selbsttäuschung.  Gewiß,  die  Wahlen  in  Wien  haben  im  Bürgertum 
eine  leidenschaftliche  Bewegung  für  große  Dinge  gezeigt,  aber 
täuschen  wir  uns  nicht!  Das  ist  ein  wesentlich  negativer  Prozeß,  eine 
Bewegung  gegen  die  Christlichsozialen,  die  nötig  war.  deren  wir  uns 
freuen,  die  zeigt,  daß  es  noch  reine  Elemente  im  Bürgertum  gibt,  die 
noch  einige  Hoffnung  bieten,  daß  die  Schichten,  die  unter  seinem 
Einfluß  sind  und  die  uns  noch  fernstehen,  entwicklungsfähig  sind,  daß 
sie  einst  zu  uns  kommen  werden.  Wir  könnten  nicht  leben,  wenn 
wir  nicht  diese  Siegeszuversicht  hätten,  daß  wir  noch  gewinnen 
könnten,  wenn  wir  meinten,  daß  alles  außer  uns  verloren  ist  für  alle 
Vernunft.  (So  ist  es!) 

Gewiß  sind  diese  Wahlen  ein  Zeichen  erwachender  gesunder  Er- 
kenntnis. Aber  für  den  speziellen  parlamentarischen 
Kampf.denwiriühren,  wird  sich  im  Hause  wenig  ändern.  Nur 
eines  ist  allerdings  angebahnt,  was  freilich  etwas  Großes  ist.  D  i  e 
furchtbare  Macht  der  Christlich  soziale  n.  die 

wie  ein  Alp  auf  der  ganzen  Verwaltung 

gelegen  ist,  noch  mehr  wie  auf  der  Gesetzgebung,  die  alle  Ministerien 
verwüstet  hat,  die  den  ganzen  Apparat  des  Landes  in  der  Hand  hat 
und  mißbraucht,  die  die  Gemeinde  in  der  Hand  hat  und  nicht  nur  für 
Parteizwecke,  sondern  auch  für  persönliche  mißbraucht,  hat  einen 
ernsten  Stoß  bekommen.  Wenn  Sie  aber  glauben,  wir  seien 
mit  ihr  fertig,  täuschen  Sie  sich!  Bevor  ein  Jahr  um  ist,  bei  den 
Gemeinderatswahlen,  sehen  wir  uns  wieder.  Es  wird  des  Aufgebots 
der  größten  Kraft  bedürfen,  um  weiterzuführen,  was  am  20.  Juni  erst 
begonnen  wurde.  (So  ist  es!) 

Vielleicht  ist  das.  was  ich  da  sage,  keine  Eestrede.  (Heiterkeit  und 
Widerspruch.)  Vielleicht  hat  mich  mein  Hang  zu  politischen  Erörte- 
ren etwas  weiter  geführt,  als  ich  wollte.  Aber  wenn  ich  mit  vielen 


234  Das  System  Bienerth. 


Genossen  beisammen  bin,  geht  das  mit  mir  durch.  Wir  können  aber 
die  Arbeit,  die  wir  begonnen  haben,  nicht  eine  Minute  unterbrechen, 
und  darum  spreche  ich  von  den  nächsten  Wahlen.  Nichts  läge  ja 
näher,  als  daß  wir  nach  den  zweieinhalb  Monaten  Wahlarbeit  jetzt 
einmal  ausschnaufen,  und  jeder  hat  geradezu  das  physische  Bedürf- 
nis danach.  Aber,  Genossen  und  Genossinnen,  Sie  dürfen  das  nur  in 
sehr  beschränktem  Maße  tun  (Heiterkeit  und  Zustimmung)  und 
dürfen  absolut  nicht  glauben,  daß  Ihnen  auch  nur  eine  Minute  Ruhe 
gegönnt  ist  bei  der  eigentlichsten  Arbeit,  die  jeder  einzelne  zu  ver- 
richten hat.  Sie  dürfen  das  um  so  weniger  tun,  als  wir  nicht  wissen, 
ob  wir  nicht  in  ganz  kurzer  Zeit  die  Kraft  unserer  Organisation 
—  nicht  nur  für  die  Gemeinderatswahlen  —  werden 
von  neuem  auf  die  Probe  stellen  müssen.  (So  ist  es!)  Ich  möchte  es 
Ihnen  von  dieser  Stelle  aus  und  in  diesem  feierlichen  Moment  als 
heilige  Pflicht  ans  Herz  legen,  nicht  dem  Gedanken  zu  verfallen:  Die 
Stichwahlen  werden  uns  auch  dann  herausreißen.  Ich  wiederhole: 

Verlassen  wir  uns  nur  auf  die  eigene  Stärke! 

Sonst  sind  wir  verloren!  (Sehr  richtig!)  Benützen  Sie  die  Zeit,  um 
schwache  Punkte  zu  stärken,  Erfahrungen  zu  nützen;  tun  Sie  das- 
selbe, was  auch  die  Parteivertretung  tut:  rastlos  sofort  an  die  neue 
Arbeit  gehen.  (Bravo!  Bravo!) 

Nun,  Genossen  und  Genossinnen,  freuen  wir  uns,  daß  von  Wien 
genommen  ist  die  Schmach,  daß,  was  1897  nicht  möglich  war.  heute 
geworden  ist!  Freuen  wir  uns,  daß  das  schwarze  Wien  zum 
großen  Teil  das  rote  Wien  geworden  ist!  Freuen  wir  uns, 
daß  wir  so  zugenommen  haben  an  Zahl  und  Kraft.  Wir  haben  1897 
88.000  Stimmen  gehabt  —  ohne  Floridsdorf,  das  damals  eine  Stadt 
für  sich  war;  ich  sage  das  mit  aller  Ehrfurcht  vor  Floridsdorf  (Heiter- 
keit), aber  ich  kann  darum  die  heutige  Stimmenzahl  auch  nur  ohne 
Floridsdorf  angeben.  Wir  haben  heute  ohne  Floridsdorf  136.000  Stim- 
men. Wir  sind  um  mehr  als  fünfzig  Prozent  gewachsen,  um 
48.000  Stimmen.  Nun,  Wien  ist  groß,  größer  geworden,  aber  die 
Partei,  mit  der  wir  zu  kämpfen  hatten,  war  uns  1897  beträchtlich 
überlegen.  Unseren  88.000  stellte  sie  117.000  Stimmen  entgegen. 
Heute  —  ich  spreche  selbstverständlich  nur  von  der  Hauptwahl  — 
hatte  sie  uns  mit  allen  ihren  Wilden  nur  130.000  Stimmen  entgegen- 
zustellen. Wir,  die  damals  Schwächeren,  sind  also  weit  stärker  ge- 
worden, aus  eigener  Kraft  und  das  ist  das  wichtigste  Ergebnis  des 
Wahlkampfes.  Wir  stehen  im  Dienste  einer  großen  Idee,  wir  stehen 
im  Dienste,  wie  es  erhebend  im  herrlichen  Chor,  der  diese  Feier  er- 
öffnete, heißt:  des  Wissens  Macht,  der  Freiheit  Drang,  der  Men- 
schenliebe. Wir  stehen  im  Dienste  der  Idee  des  Sozialismus,  im 
Dienste  einer  Kraft,  die  die  Arbeiterklasse  und  mit  ihr  die  Welt  be- 
freien wird.  Wir  sind  ein  gutes  Stück  weitergekommen!  Aber  wie 
viel  auch  noch  zu  tun  ist,  wie  ungeheuer  auch  die  Kraft  der  Gegner 
ist  und  sich  steigert,  weil  sie  zum  Bewußtsein  kommen  des  Klassen- 
gegensatzes, den  sie  leugnen,  den  sie  aber  täglich  brutaler  zum  Aus- 
druck bringen  —  in  diesem  Kampfe  werden  wir  gestärkt,  weil  wir 
das  Bewußtsein  der  Notwendigkeit  unseres  Sieges  haben. 


ohne  Bienerth.  235 


Genossen  von  Wien!  Von  ganz  Österreich  ich  wage  zu  sagen, 
von  allen  Nationen  liegt  auf  euch  die  größte  Last  der  Arbeit  und 
Verantwortung,  weil  Wicnda s  g  r  ö  ß  t e  Industriezentru  m 

ist.  Wien  ist  nicht  nur  die  Haupt-  und  Residenzstadt  des  Kaisers, 
sondern  auch  die 

Haupt-  tind  Residenzstadt  des  österreichischen  Proletariats. 

(Lebhafter  Beifall.)  Wien  ist  das  Herz  des  österreichischen  Prole- 
tariats, hier  sind  in  unserem  industriell  langsam  wachsenden  Lande 
die  größten  Massen  der  Proletarier.  Hier  haben  sie  die  Möglichkeit, 
emporzukommen,  sich  geistig  zu  entwickeln,  alle  Gelegenheiten,  sich 
zu  entfalten  und  zu  kämpfen.  Sie,  Genossen,  sind  also  berufen,  die 
Hauptträger  unserer  nächsten  Kämpfe  zu  sein!  Sie  sind  es  heute 
schon.  Unsere  Wiener  politische  Organisation  kann  sich  sehen 
lassen,  aber  auch  die  gewerkschaftliche  Organisation  von  ganz 
Österreich  hat  ihr  Zentrum,  ihren  Schwerpunkt  in  Wien  und  Nieder- 
österreich. Nicht  anders  steht  es  um  alle  anderen  Formen  der  prole- 
tarischen Tätigkeit.  Hier  müssen  wir  uns  immer  mehr  erfüllen  mit 
der  Kraft  zur  Arbeit,  die  nicht  allein  der  Wunsch,  zu  siegen,  gibt, 
sondern  der  unbeugsame  Wille,  denSiegzu  erringen  durch 
Arbeit  Tag  um  Tag,  durch  unermüdbare  Zähigkeit!  (Tosender 
Applaus.) 

Und  so  fordere  ich  Sie  auf  zu  einem  Hoch  auf  die  Sozialdemo- 
kratie! Die  Sozialdemokratie  Wiens,  die  internationale  Sozialdemo- 
kratie, sie  lebe  hoch!  (Brausende  Hochrufe.) 

Ohne  Bienerth. 

Sieben  Versammlungen,   18.   Juli    1911*). 

Das  Parlament  ist  eröffnet  und  rüstet  sich  zur  Arbeit;  zunächst 
allerdings  nur  zu  einer  vorläufigen  Arbeit,  denn  im  August  wird 
es  auf  Urlaub  gehen.  Immerhin  wird  man  schon  jetzt  ein  Bild  be- 
kommen, wessen  man  sich  von  ihm  und  der  neuen  Regierung  vor- 
sehen kann.  Die  erste  Wirkung  der  Neuwahlen  war  das  Verschwin- 
den des  Herrn  Bienerth.  (Bravo!)  Der  Mann  hat  sich  verspekuliert 
und  ist  an  seiner  verfehlten  Spekulation  kaputt  gegangen.  Die  Herren 
haben  es  sich  so  fein  ausgerechnet  gehabt,  daß  Herr  Bienerth  eine 
bedeutend  größere  Majorität  bekommen  soll,  indem  die  Christlich- 
sozialen in  Wien  und  der  Deutsche  Nationalverband  in  der  Provinz 
den  Sozialdemokraten  ein  paar  Dutzend  Mandate  wegnehmen,  so 
daß  Herr  Bienerth  leichter  regieren  kann;  aber  die  Wahlen  sind 
anders  ausgefallen.  (Heiterkeit.)  Allerdings  haben  wir  in  den 
Sudetenländern  sehr  schmerzliche  Verluste  zu  beklagen.  In  diesen 
Ländern  sind  wir  überall  gegenübergestanden  einer  Verbrüderung 
aller  Parteien  und  Schichten,  die  nicht  Arbeiter  und  nicht  Sozial- 

*)  Am  17.  Juli  trat  nach  dun  Juniwahlen  das  Parlament  zusammen  und 
die  Sozialdemokraten  hielten  am  17.  und  IS.  Juli  sieben  Massenversamm- 
lungen ab,  um  ihre  Stellung  /-um  neuen  Parlament  zu  besprechen.  Im 
Favoritner  Arbeiterheim  sprach   Adler. 


236  Das  System  Bienerth. 


demok raten  sind,  und  wir  haben  zwar  nicht  eine  Einbuße  an  Stim- 
men, aber  eine  Einbuße  an  Mandaten  erlitten  Aber  Klauben  Sie 
nicht,  daß  der  Mut  unserer  Genossen  draußen  gebrochen  ist.  Im 
Gegenteil,  es  zeigt  sich  heute  schon,  daß  in  der  Arbeiterschaft  in 
dieser  Industriegegend  sich  endlich  jener  Trotz,  jene  Entschlossen- 
heit durchbricht,  die  dort  noch  vielfach  gefehlt  haben  und  ohne  die, 
das  wissen  wir  in  Wien  am  allerbesten,  man  nichts  durchsetzt.  Ein 
anderes  Bild  haben  wir  hier  in  Wien  gehabt.  Hier  hat  sich  gezeigt, 
daß  die  einzige  Kraft,  die  fertig  werden  kann  mit  den  klerikalen 
Beherrschern  Wiens  und  Niederösterreichs,  die  einzige  Kraft,  die 
nie  versagt  und  immer  wächst,  die  sozialdemokratische  Arbeiter- 
schaft ist.  (Beifall.)  Wir  haben  auch  hier  in  der  Stichwahl  —  und 
ich  lege  Wert  darauf,  das  immer  wieder  hervorzuheben  —  mit 
niemand  Kompromisse  abgeschlossen  und  gewählt,  wie  es  im  Inter- 
esse der  Arbeiterschaft  notwendig  ist.*)  (Lebhafter  Beifall.) 

Aber  der  Deutsche  Nationalverband,  der  sich  freiheitlich  nennt, 
hat  in  Böhmen,  Mähren  und  Schlesien  Kompromisse  geschlossen 
mit  den  Klerikalen,  Kompromisse,  die  kompromittieren,  weil  sie 
ausdrücklich  mit  Zurücksetzung  und  Aufhebung  ihres  Programms 
eingegangen  wurden.  (Pfui!)  Die  Deutschfreiheitlichen  haben  dort 
Mann  für  Mann  ihre  freiheitlichen  Grundsätze  abgeschworen,  haben 
Erklärungen  abgegeben  gegen  die  freie  Schule,  gegen  die  Ehe- 
reform, haben  jeden  Kampf  gegen  den  Klerikalismus  abgeschworen, 
alles  bloß,  um  die  christlichsozialen  Stimmen  zu  bekommen.  Wenn 
die  Christlichsozialen  dank  dem  Haß,  den  sie  sich  durch  ihre  jahre- 
lange Tätigkeit  zugezogen  haben,  verschwunden  sind  mit  ihren 
Häuptern  aus  dem  Parlament,  so  können  die  Klerikalen  unbesorgt 
sein:  der  Deutsche  Nationalverband  wird  schon  dafür  sorgen,  daß 
dem  Klerikalisnms  nichts  Übles  widerfahre.  Wenn  die  Herren 
meinen,  daß  sie  sich  über  diese  Frage  hinwegschwindeln  werden, 
da  täuschen  sie  sich.  Wir  werden  sie  zwingen,  Farbe  zu  bekennen, 
und  diejenigen,  die  sich  freiheitlich  genannt  haben,  werden  Gelegen- 
heit haben,  zu  zeigen,  wie  weit  ihr  Freisinn  geht.  (Großer  Beifall.) 

Aber  die  für  uns  wichtigste  Frage  ist,  wie  sich  das  neue  Parla- 
ment in  allen  Dingen  stellt,  wo  es  sich  um  die  soziale  Reform  und 
die  Lebenshaltung  der  breiten  Massen  handelt.  Da  ist  zunächst  die 
Frage**):  Wie  wird  sich  das  Parlament  stellen  überall  dort,  wo  es 
sich  um  die  Ernährung    und  wo  es  sich    um  die  Wohnungen  des 

*)  Die  Sozialdemokraten  haben  in  der  Stichwahl  zwar  überall  gegen 
die  Klerikalen  gestimmt,  aber  die  Freisinnigen  haben  nicht  überall  für  die 
Sozialdemokraten  gestimmt  und  wenn  sie  mit  Sozialdemokraten  in  der 
Stichwahl  waren,  haben  sie  bei  den  Pfarrern  um  die  klerikalen  Stimmen 
gebettelt. 

Außerhalb  Niederösterreichs  stand  die  deutsche  Sozialdemokratie  in 
42  Stichwahlen,  aber  von  diesen  wurden  nur  zwei  zugunsten  der  Sozial- 
demokratie entschieden.  Christlichsoziale  stimmten  für  Freiheitliche,  Los- 
von-Rom-Leute  für  Klerikale,  nur  um  die  Sozialdemokratie  niederzuringen. 

r*)  Siehe  Adlers  Reden  über  die  Teuerung  am  4.  und  5.  Oktober  1911. 
(Bd.  VIII,  Seite  447  und  452  f.) 


ohne  Bienerth.  237 


Volkes   handelt?    Nim   passiert    es   heute,   daß    wieder   eine   Sendung 

von  ein  paar  hunderttausend  Tonnen  argentinischen  Fleisches  an- 
gekündigt wird,  und  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  werden  Sie  morgen 
lesen,  daß  das  Ackerbaiinunisterhiin  erklärt,  es  sei  nielit  in  ^Wv 
Lage,  zu  verfügen,  daß  dieses  Fleisch  nach  Österreich  eingeführt 
werde.  (Allgemeine  Erregung  und  minutenlange  tosende  Pfuirufe.) 
Wir  haben  nun  ein  neues  Ministerium,  aber  in  dieser  Beziehung  ist 
die  Richtung  die  alte,  Die  Qeschichte  dieser  Fleischeinfuhr  ist  am 
belehrendsten,  weil  sie  zeigt,  wie  man  die  Bevölkerung  in  raffi- 
nierter Weise  irreführen  kann.  Sie  erinnern  sich,  daß  der  christlicht 
soziale  Handelsminister  Weiskifchner  (Pfui!)  so  getan  hat,  als 
wollte  er  der  Bevölkerung  dieses  Fleisch  in  genügender  Menge 
verschaffen,  und  daß  er  dann  im  Parlament  eingestehen  mußte,  daß 
er  mit  Ungarn  einen  Geheimvertrag  abgeschlossen  hat,  nach  dem 
nicht  mehr  als  zweitausend  Tonnen  nach  Österreich  hereingelassen 
werden  sollen.  Dieser  von  Weiskirchner  abgeschlossene,  von  den 
Christlichsozialen  gedeckte  und  gutgeheißene  Geheimvertrag  gibt 
dem  Ackerbauminister  den  Scheingrund  für  sein  Einfuhrverbot,  und 
nun  sind  die  Christlichsozialen  die  ersten,  die  eine  Protestversamm- 
lung in  der  Volkshalle  gegen  die  Einfuhrverhinderung  ankündigen! 
(Pfuirufe  und  Gelächter.)  Weiter  kann  die  Heuchelei  in  der  Politik 
nicht  mehr  getrieben  werden.  Wrenn  jemand  schuld  ist,  daß  der 
Ackerbauminister  einen  Vorwand  hat,  den  Wienern  das  Fleisch  zu 
entziehen,  so  ist  es  der  christlichsoziale  Vertreter  des  früheren 
Ministeriums.  Wir  werden  ja  sehen,  wie  sich  die  Sache  im  Parla- 
ment machen  wird  und  ob  man  die  Anträge,  die  die  Sozialdemo- 
kraten schon  im  früheren  Hause  gestellt  haben,  auch  jetzt  so  auf- 
nehmen wird  wie  damals,  da  sich  Herr  Bielohlawek  und  Herr  Kun- 
schak  erfrecht  haben,  die  Teuerung  einen  Schwindel 
zu  nenne  n.*) 

Wir    werden    sehen    —    das    will    ich    einfügen    — ,    was    der 
Wiener  Gemeinderat  gegen  die  furchtbare  Wohnungsnot  tut,  gegen 


*)  In  der  Debatte  über  die  sozialdemokratischen  Teuerungsanträge  im 
Herbst  1907  stimmten  die  Christlichsozialen,  auch  ihre  sogenannten  Ar- 
beitervertreter,  am  28.  November  1907  gegen  die  Anträge.  Zur  Begründung 
führte  Ku  nsch  ak  an,  „daß  die  Preise  einiger  im  Haushalt  der  Arbeiter 
zumeist  gebrauchten  Artikel,  wie  Kartoffeln  und  Kraut,  wesentlich 
gesunken"  seien.  Deshalb  stimmte  er  gegen  die  Aktion  für  billiges  Fleisch. 
Die  Arbeiter  sollen  nach  dem  Rezept  des  christlichsozialen  Arbeiterführers 
Kraut  und  Kartoffeln  essen;  dann  brauchte  das  Fleisch  nicht  billiger  zu 
werden.  B  i  e  1  o  h  1  a  w  e  k  nannte  damals  die  Teuerung  einen  „T  e  u- 
erungsschwindel"  und  stellte  sie  als  eine  Erfindung  der 
Sozialdemokraten  und  der  Frauen  hin. 

Die  obige  Äußerung  Kunschaks  findet  ihr  Gegenstück  in  der  Äußerung, 
die  er  am  7.  Februar  1927  über  die  Löhne  der  Bauarbeiter  gemacht  hat. 
Er  sagte  damals  wörtlich: 

„Ich  bin  ein  entschiedener  Gegner  des  Wohnhausbaues  durch  die  Ge- 
meinde. Und  zwar  hin  ich  deswegen  dagegen,  weil  die  Gemeinde  schlecht 
und   teuer  baut.  Wir  haben   in  Österreich  die   höchste  V  a  1  o  r  i  s  i  e- 


238  Das  System  Bienerth. 


die  die  Gemeinde  das  Notwendige  vorzukehren  hat.  Es  wird  sich 
ja  zeigen,  ob  sich  die  Leute  gebessert  haben  nach  der  ersten  Lek- 
tion der  Pädagogik,  die  ihnen  die  Stadt  Wien  zuteil  werden  ließ. 
Der  Wiener  Gemeinderat  ist  eine  Körperschaft,  in  der  die  Haus- 
und Grundbesitzer  dieselbe  Rolle  spielen  wie  im  Parlament  die 
großen  Viehzüchter  und  Getreidefabrikanten.  Wie  diese  das  größte 
Interesse  haben  an  teurem  Fleisch  und  Brot,  so  haben  die  Be- 
herrscher des  Gemeinderates  ein  Interesse  an 
teuren  Wohnungen.  Aber  wir  meinen,  daß  diese  teuren 
Wohnungen  nun  endlich  teuer  genug  geworden  sind  (Sehr  richtig! 
So  ist  es!);  wir  meinen,  daß  in  Wien  ein  unerträglicher  Zustand 
geworden  ist,  weit  unerträglicher  als  er  mit  dem  kapitalistischen 
Grundausbeutungssystem  überall  verknüpft  ist.  (Stürmischer  Bei- 
fall.) Die  Wohnungspreise  sind  in  Wien  zu  einer  Höhe  gediehen, 
daß  jeder,  der  Einblick  hat,  erschrickt  und  erstarrt  bei  dem  Ge- 
danken, wie  sie  bei  den  Löhnen  und  Einkommen  überhaupt  noch 
getragen  werden  können.  (Leidenschaftliche  Entrüstungsrufe:  Zehn 
Personen  in  einem  Zimmer!) 

Die  Wohnungs-  und  Lebensmittelteuerung,  das  sind  die  Dinge, 
die  heute  am  meisten  auf  uns  drücken  und  gegen  die  zunächst, 
wenn  auch  nur  Palliativmittel,  gesucht  werden  müssen.  Ob  wir  im 
Parlament  dafür  eine  Unterstützung  finden  werden,  weiß  ich  nicht. 
So  viel  aber  ist  sicher,  daß  alles  das  um  so  unerträglicher  wird,  um 
so  schwerer  es  der  Arbeiterschaft  gemacht  wird,  ihre  Lebenslage 
zu  verbessern  und  ihren  Lohn  einigermaßen  zu  erhöhen.  Wenn  wir 
nun  ein  Parlament  vor  uns  sehen,  dessen  größte  Partei,  der 
Deutsche  Nationalverband,  mit  der  ausdrücklichen  Parole  gewählt 
wurde:  „Gegen  die  sozialdemokratische  Arbeiterschaft  und  ihre 
Forderungen!",  dann  dürfen  wir  uns  darauf  gefaßt  machen,  daß 
jede  Forderung  für  den  Arbeiterschutz,  jeder  Schritt,  um  das 
Koalitionsrecht  zu  sichern  und  zu  erweitern,  jeder  Schritt,  um  die 
Lebenslage  der  Arbeiterschaft  zu  heben,  auf  schweren  Widerstand 
stoßen  wird.  Darauf  machen  Sie  sich  gefaßt:  Wir  werden  in  diesem 
Parlament  das  Bild  des  Klassenkampfes  haben,  wie  wir  es  im 
Wahlkampf  gehabt  haben.  (Lebhafte  Zustimmung.)  Darum  müssen 
wir  von  allen  politischen  Dingen  aus  diesen  Wahlen  die  Lehre 
ziehen,  daß  wir  so,  wie  wir  unsere  politischen  Organisationen  er- 
gänzen und  verstärken  müssen,  vor  allem  unsere  gewerk- 
schaftlichen Organisationen  mit  um  so  größerem  Eifer  verstärken 
müssen,     denn  wir  werden  es  in  der  nächsten  Zeit  mit  schweren 

r  u  n  g  der  Bauarbeiterlöhne  in  Europa.  Das  erklärt  sich 
daraus,  daß  bei  uns  nur  die  Gemeinde  baut.  Es  ist  klar,  daß  die  G  e- 
meinde  gegenüber  den  Bauarbeitern  sehr  freigebig 
sein  kann.  Es  kostet  sie  ja  nichts.  Die  Steuerträger 
müssen  ja  alles  zahlen.  Wenn  eine  Forderung  gestellt  wird, 
zeigt  sich  die  Gemeinde  nobel,  ohne  Rücksicht  auf  die  Lage  der  übrigen 
Arbeiterschaft." 

So  sprach  nicht  etwa  der  Unternehmersekretär,   sondern  der  christlich- 
soziale „Arbeiterführer". 


Ohne  Bienerth.  '^ 


Kämpfen,  vielleicht  mil  frechen  Angriffen  ;iuf  ganze  Positionen  der 
Arbeiterschaft  zu  tun  haben.  (Allgemeine  lebhafte  Zustimmung.) 
Ich  kann  Ihnen  nicht  versprechen,  daß  wir  Ihnen  in  der  nächsten 
Zeit  über  Erfolge,  für  Sie,  die  unmittelbar  wirken,  werden  berichten 
können;  ich  kann  nur  mit  allein  Ernst  und  mit  dem  größten  Nach- 
druck Sie  auffordern,  bereit  zu  sein  zum  schwersten  Kampfe. 
(Stürmischer  Beifall  und  Rufe:  Zu  jeder  Stunde!)  Ich  kann  Ihnen 
nichts  anderes  sagen,  als  dal»  Sie  auf  das  beschränkt  sein  werden 
und  das  haben  werden,  was  Sie  selbst  zu  halten  wissen  durch  ihre 
Organisation. 

Nicht  daß  ich  die  Tätigkeit  im  Parlament  unterschätze.  Wir 
Sozialdemokraten  arbeiten  alle  schwer  und  ernst  im  Parlament, 
wir  halten  es  für  eine  heilige  und  wichtige  Sache  und  verteidigen 
jeden  Fußbreit  Boden  und  sind  froh,  wenn  wir  einen  Millimeter 
weiter  vorrücken;  wir  werden  diesen  Kampf  mit  größter  Schärfe 
und  Intensität  weiterführen;  aber  wir  würden  unrecht  tun,  wenn 
wir  sie  nicht  aufmerksam  machten,  daß  der  Kampf  im  Parlament 
in  der  nächsten  Zeit  noch  weniger  ausreichen 
wird  als  bisher.  Wir  stehen  einer  Ralliierung  des  Unter- 
nehmertums gegenüber,  wie  sie  in  Österreich  noch  nicht  da  war, 
und  was  noch  schlimmer  ist     —    gegen    eine    Unternehmer- 

organisation, die  noch  jung  ist,  unerfahren  und  die  ihre  Flegeljahre 
noch  nicht  hinter  sich  hat.  (Beifall.) 

Nun  haben  wir  eine  ganze  Reihe  von  sozialpolitischen  Anträgen 
und  Dingen,  die  wir  im  vorigen  Parlament  sehr  weit  gefördert 
hatten.  Selbstverständlich  werden  wir  sie  alle  sofort  erneuern  und 
wir  hoffen,  sie  mit  Benützung  der  besten  Gelegenheiten  stückweise 
eines  nach  dem  anderen  durchzusetzen.  Das  Wichtigste  ist  freilich 
die  Sozialversicherung.  Da  stehen  wir  vor  einer  großen  Schwierig- 
keit. Das  frühere  Haus  hatte  das  Gesetz  im  Ausschuß  soviel  wie 
fertig,  und  es  ist  eines  der  größten  Verbrechen  Bienerths,  daß  er 
das  Haus  aufgelöst  hat  mitten  in  dieser  Arbeit.  (Pfui  Bienerth!)  Es 
hat  ihm  übel  angeschlagen.  Das  erste  Wort  der  Sozialdemokraten 
mit  dem  neuen  Manne,  Herrn  v.  G  a  u  t  s  c  h,  galt  natürlich  der 
Sozialversicherung.  Wir  sagten  ihm,  daß  wir  wünschen,  daß  die 
Arbeit  sofort  aufgenommen  und  im  neuen  Hause  dort  fortgesetzt 
werde,  wo  das  alte  aufgehört  hat.  Der  Minister  erwiderte,  die 
Regierung  wolle  die  Sozialversicherung;  aber  ob  er  sie  gleich  ein- 
bringen werde,  kann  er  nicht  sagen.  Er  will  es  in  der  allernächsten 
Zeit;  man  beschäftigte  sich  mit  der  Ausarbeitung  der  Vorlage. 
Nun  kann  das  was  Gutes  und  was  Schlechtes  bezeichnen.  Die  alte 
Vorlage  hat  durchaus  nicht  allen  unseren  Wünschen  entsprochen; 
die  Vorlage  ist  außerordentlich  verbesserungsbedürftig  und  ver- 
besserungsfähig; aber  die  Frage  ist,  ob  sie  aus  den  Händen  der 
Regierung  verbessert  oder  etwa  gar  verschlechtert  kommt.  Wir 
verlangen,  daß  die  Sozialversicherung  ehestens  eingebracht  und 
die  Arbeit  sofort  fortgesetzt  werde.  (Großer  Beifall.) 

Wir  stellen  diese  Forderung  an  ein  altes  Ministerium  mit  einer 
neuen    Spitze.    Wir    können    sagen,    daß    wir    Herrn    v.  Gautsch 


240  Das  System  Biene rth. 


eigentlich  ohne  Übelwollen  und  ohne  böse  Vorurteile  entgegen- 
kommen; denn  Gautsch  hat  während  seines  letzten  Auftretens  als 
Ministerpräsident  manches  gutgemacht,  was  er  früher  verbrochen 
hat.  Cr  war  der  Mann,  der  seinerzeit  gesagt  hat:  Man  darf  in 
Ungarn  keine  Wahlreform  machen,  weil  das  für  Österreich  schäd- 
lich wäre.  Cr  war  aber  auch  der  Mann,  der  sich  gedreht  hat  und 
seine  neue  Überzeugung  kräftig  vertreten  hat.  Wir  erinnern  uns 
alle,  mit  welch  wirklichen  Kraftworten  er  die  Wahlreform  gegen- 
über den  Herren  Junkern  vertreten  hat.  Das  war  eine  männliche 
Sprache,  und  wenn  die  Herren  oben  vergeßlich  sind:  das  Volk 
hat  ein  gutes  Gedächtnis  —  auch  für  gute  Dinge.  Von 
vornherein  kommen  wir  Herrn  v.  Gautsch  unvoreingenommen 
entgegen;  aber  freilich,  es  wäre  sehr  zu  wünschen,  daß  er  diese 
gute  Meinung  nicht  allzu  schnell  dementieren  würde.  (Stürmischer 
Beifall.)  Wenn  war  die  Thronrede  lesen,  die  ja  das  Regierungs- 
programm ist,  so  müssen  wir  schon  sagen,  daß  unsere  gute 
Meinung  eine  erkleckliche  Abschwächung  erfährt; 
denn  in  dieser  Thronrede  steht  vor  allem,  was  die  eigentliche 
Mission  des  Herrn  v.  Gautsch  ist:  Wehrvorlage  mit  neuen  Lasten 
und  neuen  Steuern.  Mit  welchen  Mitteln  er  das  erreichen  wird, 
weiß  er  heute  wohl  noch  selber  nicht.  Er  sucht  erst  eine  tragfähige 
Majorität.  Man  weiß  noch  nicht,  wer  die  Majorität  sein  wird,  die 
trägt,  man  weiß  aber  schon  sehr  genau,  was  sie  tragen  soll:  Aus- 
gaben für  den  Militarismus  und  neue  Steuern;  und  wer  sie  tragen 
und  ausgeben  soll,  das  sind  die  neuen  Massen.  (Lebhafte  Zustim- 
mung.) Freilich  wird  sich  der  Kampf  nicht  so  leicht  abspielen.  Unser 
Glück  ist  wieder  unser  Unglück:  zunächst  ist  das  Ding  in  Ungarn 
nicht  in  Ordnung.  Aber  dieses  Unglück  ist  ein  sehr  zweifelhaftes; 
denn  Parlamente,  die  zu  Schlechtem  nicht  zu  brauchen  sind,  sind 
gewöhnlich  auch  zu  nichts  Gutem  zu  brauchen.  (Heiterkeit.) 

Nun  schwebt  natürlich  auch  allen  die  Frage  auf  den  Lippen,  in 
welcher  Verfassung  die  Sozialdemokraten  ins  Parlament  kommen. 
Sie  haben  gelesen,  daß  der  Sozialdemokratische  Verband  nicht  in 
der  alten  Form  erneuert  wurde.  Es  ist  bedauerlich,  daß  das  nicht 
möglich  war,  aber  Sie  brauchen  darum  noch  nicht  daran  zu 
zweifeln,  daß  für  ernste  politische  Interessen  alle 
Sozialdemokraten  ohne  Unterschied  der  nationalen  Klubs 
tätig  sein  werden.*)  (Allgemeiner  Beifall.)  In  einigen  tschechischen 
Parteiversammlungen  in  Wien  wurde  gestern  zum  Teil  die  An- 
klage gegen  uns  erhoben,  daß  wir  Deutschen  den  Verband  zerrissen 
hatten,  daß  wir  uns  separiert  haben  im  Parlament.  Ich  will  keine 
Polemik  hier  führen;  aber  das  möchte  ich  konstatieren,  daß  die 
deutsche    Sozialdemokratie    die   internationale   Solidarität    auch   in 


*)  Im  neuen  Parlament  haben  die  Sozialdemokraten  der  verschiedenen 
Nationen  nicht  mehr  wie  im  vorigen  einen  gemeinsamen  Verband  gebildet, 
sondern  es  hat  sich  nach  dem  Beispiel  der  anderen  Nationen  gemäß  dem 
Beschluß  der  Parteivertretung  vom  21.  Juni  ein  besonderer  Klub  der  deut- 
schen Sozialdemokraten  konstituiert,  der  sich  allerdings  bemühte,  mit  den 
sozialdemokratischen  Klubs   der  anderen  Nationen   enge   Fühlung  zu   haben. 


ohne  Blenerth.  241 


der  Organisation  in  allen  ihren  Formen,  politisch,  gewerkschaftlich 
und  genossenschaftlich,  mit  den  größten  Opfern  durchgesetzt  und 
aufrechterhalten  hat.  (Sehr  richtig!  Bravo!)  Und  ich  möchte  kon- 
statieren, daß,  wer  immer  den  Separatismus  erfunden  hat,  eine 
deutsche  Erfindung  ist  er  nieht.  Wir  konnten  uns  dein  Eindruck 
nicht  entziehen,  daß  es  unsere  tschechischen  Genossen  nur  schwer 
ertragen  haben  und  wiederholt  in  Gegensatz  gekommen  sind  zu 
dem,  was  der  gesamte  Verband  beschlossen  hat,  und  die  gesamte 
tschechische  Parteipresse  hat  wiederholt  von  der  Last  gesprochen, 
die  ihr  die  deutsehe  Führung  auferlege.  Wir  haben  uns  für  ver- 
pfliehtet  gehalten,  unter  solchen  Umständen  die  schwer  zu  er- 
haltende Einigkeit  im  Verband  etwas  loser  zu  gestalten.  Wir 
hoffen,  und  ich  bin  überzeugt  davon,  daß  die  Zeit  kommen  wird, 
wo  das  gesamte  tschechische  Proletariat  einig  mit  uns  gehen  wird; 
aber,  Parteigenossen,  wir  können  mit  Gewalt  nicht  an  uns  halten, 
was  bei  uns  nicht  bleiben  will  oder  kann.  (Beifall.)  Wir  wollen  die 
Selbständigkeit  der  tschechischen  Genossen  nicht  antasten  und  wir 
werden  sehen,  wie  weit  die  eiserne  politische  Notwendigkeit  der 
Dinge  und  die  eiserne  politische  Notwendigkeit  im  Parlament  es 
herbeiführen  werden,  daß  gegenüber  den  bürgerlichen  Parteien  und 
den  Gegnern  der  Regierung  eine  eiserne  proletarische  Phalanx 
dasteht.  (Allgemeiner  stürmischer  Beifall.) 


Adler,  Briefe.   XI.  Bd.  HJ 


242  Militarismus  und  Krieg. 


Militarismus  und  Krieg. 

Der  Deutschmeisterrummel. 

Versammlung  am   7.   September   189 6*). 

Der  Jubel  beim  Empfang  des  Zaren  hat  natürlich  nur  dem 
europäischen  Frieden  gegolten.  (Heiterkeit.)  Man  glaubt,  das  Volk 
sei  heute  so  eingelullt,  daß  man  sich  alles  mit  ihm  erlauben  könne, 
und  man  führt  es  systematisch  von  einem  militärischen  Gepränge 
zum  anderen,  um  es  zu  betäuben.  Es  gibt  noch  bürgerliche  Ideologen, 
die  gegen  den  Militarismus  im  Namen  der  Menschlichkeit  auftreten. 
Dieselben  Leute  wollen  aber  nicht  einen  Schritt  tun,  um  die  kapi- 
talistischen Grundlagen  des  Militarismus  zu  beseitigen.  Wir  sehen 
klar,  uns  sind  die  Ursachen  des  Militarismus  nicht  verborgen 
geblieben.  Und  wenn  die  Machthaber  Ströme  von  Champagner 
vergössen  in  ihrem  Friedensdusel,  wir  wissen,  daß  nicht  ein  Mann 
weniger  ausgehoben  werden  würde.  Kaiser  Wilhelm,  der  überhaupt 
für  uns  unbezahlbar  ist,  weil  er  so  gern  aus  der  Schule  plaudert, 
hat  wiederholt  offen  den  Soldaten  in  seinen  Ansprachen  erklärt, 
was  ihr  Hauptzweck  ist:  die  Bekämpfung  des  „inneren  Fein- 


*)  Anfangs  September  1896  wurden  zu  Ehren  des  sich  aus  Wien 
rekrutierenden,  „Deutschmeister"  genannten  Infanterieregiments,  das  die 
Feier  seines  zweihundertjährigen  Bestehens  mit  großem  Tamtam  beging, 
große  patriotische  Kundgebungen  und  Aufmärsche  auf  dem  Deutschmeister- 
platz  vor  dem  dortigen  Deutschmeisterdenkmal  veranstaltet.  Am  6.  Sep- 
tember richtete  auch  der  Kaiser  Franz  Josef  ein  Glückwunschtelegramm 
an  das  Regiment. 

Für  den  7.  September  hatte  die  sozialdemokratische  Partei  in  Wien 
vier  große  Volksversammlungen  mit  der  Tagesordnung  „Der  Militarismus 
und  das  Volk"  einberufen,  um  dem  Deutschmeisterrummel  der  Schwarz- 
gelben die  wahre  Gesinnung  der  arbeitenden  Massen  gegenüberzustellen. 

Kurz  vorher  war  auch  der  russische  Zar  Nikolaus  II.  in  Wien. 
Er  hatte  am  25.  August  mit  seiner  Frau  eine  große  Rundreise  zum  Besuch 
der  Oberhäupter  der  Großmächte  angetreten  und  hatte  sich  zunächst  nach 
Wien  begeben,  wo  er  allerdings  ohne  viel  Geschichten  mit  ganz  formalen 
Trinksprüchen  empfangen  wurde.  Am  5.  September  wurden  sie  in  Breslau 
vom  Kaiser  Wilhelm  II.  empfangen,  der  bei  der  Festtafel  im  königlichen 
Schloß  einen  Trinkspruch  auf  den  Zaren  als  den  Träger  alter  Tradition 
und  Hort  des  Friedens  ausbrachte. 

In  der  Versammlung  beim  Hamberger  „Zur  Blauen  Weintraube"  in 
Margareten,  in  der  auch  der  belgische  Genosse  Vandervelde  anwesend 
war,  sprach  Adler. 


Der  Deutschmeisterrummel.  24.'i 


des",  eventuell  des  Vaters  und  Bind  eis').  Was  der  Milita- 
rismus wirklich  bedeutet,  darüber  hat  seinerzeit  Eeldzeug- 
meister  Freiherr  v.  Schönfeld  ein  wertvolles  Geständnis  ge- 
inaclit,  als  er  sagte,  daß  die  Armee  die  Bestimmung  habe, 
Schulter    an    Schulter    mit    dem    Bürgertum    die    heiligen    Hüter 


)  Einige  Ausspr  ü  che  des  Kaisers  W  i  1  h  e  I  in  II.,  aui  die  Adler 
hier  anspielt,  sind: 

Was  die  Förderungen  selbst  betrifft,  so  werde  ich  diese  durch  meine 
Regierung  genau  prüfen  und  euch  das  Ergebnis  der  Untersuchung  durch 
die  dazu  bestimmten  Behörden  zugehen  lassen.  Sollten  aber  Ausschrei- 
tungen gegen  die  öffentliche  Ordnung  und  Ruhe  vorkommen,  sollte  sich 
der  Zusammenhang  der  Bewegung  mit  sozialdemokratischen  Vereinen 
herausstellen,  so  würde  ich  nicht  imstande  sein,  eure  Wünsche  mit 
meinem  königlichen  Wohlwollen  zu  erwägen.  Denn  für  mich  ist  jeder 
Sozialdemokrat  gleichbedeutend  mit  Reichs-  und  Vaterlandsfeind.  Merke 
ich  daher,  daß  sich  sozialdemokratische  Führer  in  die  Bewegung 
mischen  und  zu  ungesetzlichem  Widerstand  anreizen,  so  würde  ich  mit 
urfnachsichtlicher  Strenge  einschreiten  und  die  volle  Gewalt,  die  mir 
zusteht  -  -  und  die  ist  eine  große  —  zur  Anwendung  bringen. 

Aus   der   Ansprache    an   die   Deputation    der    aus- 
ständigen  Bergarbeiter.    14.   Mai    1889   zu   Berlin. 

Ich  knüpfe  hieran  den  Wunsch,  daß  dieses  gute  Beispiel,  welches  die 
Provinz  gegeben  hat,  ohne  Unterschied  der  Parteien  und  Konfessionen 
von  allen  Teilen  meines  Volkes  befolgt  werde,  daß  unsere  Bürger  end- 
lich aus  dem  Schlummer  erwachen  mögen,  in  dem  sie  sich  so  lange 
gewiegt  haben,  und  nicht  bloß  dem  Staate  und  seinen  Organen  die 
Bekämpfung  der  umwälzenden  Elemente  überlassen,  sondern  selbst  mit 
Hand  anlegen.  Breslau,  13.  September   1890. 

Kinder  meiner  Garde,  mit  dem  heutigen  Tage  seid  ihr  meiner  Armee 
einverleibt  worden,  steht  jetzt  unter  meinem  Befehl  und  habt  das  Vor- 
recht, meinen  Rock  tragen  zu  dürfen.  Tragt  ihn  in  Ehren.  Denkt  an 
unsere  ruhmreiche  vaterländische  Geschichte;  denket  daran,  daß  die 
deutsche  Armee  gerüstet  sein  muß  gegen  den  inneren  Feind 
sowohl  als  gegen  den  äußeren.  Mehr  denn  je  hebt  der  Unglaube  und 
Mißmut  sein  Haupt  im  Vaterland  empor,  und  es  kann  vorkommen, 
daß    ihr    eure    eigenen    Verwandten    und    Brüder    niederschießen    oder 

—  -stechen    müßt.   Dann    besiegelt    die   Treue   mit    Aufopferung   eures 
Herzblutes. 

Nach   einem   anderen   Bericht:    Und   müßte   ich   euch   einst  vielleicht 

—  Gott   wolle    es   verhüten  dazu   berufen,   auf   eure   eigenen   Ver- 
wandten, ja  Geschwister  und  Eltern  zu  schießen,  so  denkt  an  euren  Eid! 

Bei  der  Rekrutenvereidigung  der  Garderegimenter 
in  Potsdam  am  23.  November  1891. 

Eine  erhebende  Feier  hat  sich  gestern  vor  unseren  Augen  abge- 
spielt; vor  uns  steht  die  Statue  Kaiser  Wilhelms  I.,  das  Reichsschwert 
erhoben  in  der  Rechten,  das  Symbol  von  Recht  und  Ordnung.  Er  mahnt 
uns  alle  an  andere  Pflichten,  an  den  ernsten  Kampf  wider  die  Be- 
strebungen, welche  siel)  gegen  die  Grundlagen  unseres  staatlichen  und 
gesellschaftlichen  Lebens  richten.  Nun,  meine  Herren,  an  Sie  ergeht 
ietzt   mein    Ruf:    Auf   zum   Kampf  für  Religion,   für  Sitte   und   Ordnung. 

16* 


244  Militarismus   und   Krieg. 


des  Eigentums  zu  schützen.  Das  Bürgertum  weiß  dies  sehr 
genau,  und  die  Antisemiten  sind  in  dieser  Beziehung  gar 
nicht  dümmer  als  die  Liberalen.  Lueger,  der  seinerzeit  das  richtige 
Wort  vom  Rothschild-Militär*)  gebrauchte,  kennt  den  Mili- 
tarismus und  seine  Aufgaben  sehr  genau,  und  seine  Anhänger  wissen 
ebenfalls,  warum  sie  sich  nun,  da  sie  am  Ruder  sind,  für  den  „Roth- 
schild-Militarismus" begeistern.  Der  Militarismus  ist  nämlich  nicht 
nur  der  ideale  Hort  des  üeldsackes,  sondern  auch  das  unmittelbare 
kapitalistische  Interesse  fordert  die  Förderung  des  Militarismus.  Er 
„befruchtet"  das  Kapital  und  verhilft  ihm  zu  vielen  recht  guten 
Geschäften.  Die  Kehrseite  dieser  Harmonie  zwischen  Militarismus 
und  Kapital  ist  die  ungeheuerliche  Tatsache,  daß  die  Arbeiter  nicht 

gegen  die  Parteien  des  Unisturzes!  ...  Wohlan  denn,  lassen  Sie  uns 
zusammen  in  diesen  Kampf  hineingehen.  Vorwärts  mit  Gott,  und  ehr- 
los,  wer   seinen   König   im  Stiche   läßt. 

Königsberg,  6.   September   1894. 

Doch  in  die  hohe,  große  Festesfreude  schlägt  ein  Ton  hinein,  der 
wahrlich  nicht  dazu  gehört;  eine  Rotte  von  Menschen,  nicht  wert,  den 
Namen  Deutscher  zu  tragen,  wagt  es,  das  deutsche  Volk  zu  schmähen, 
wagt  es,  die  uns  geheiligte  Person  des  allverehrten 
Kaisers  in  den  Staub  zu  ziehen.  Möge  das  gesamte  Volk  in 
sich  die  Kraft  finden,  diese  unerhörten  Angriffe  zurückzu- 
weisen! Geschieht  es  nicht,  nun  dann  rufe  ich  Sie,  um  der  hoch- 
verräterischen Schar  zu  wehren,  um  einen  Kampf  zu  führen,  der  uns 
befreit  von  solchen  Elementen. 

Sedanfeier,    2.   September    1895   im   Weißen   Saal 
des   Schlosses   zu   Berlin. 

*■)  Am  11.  April  1894  hatte  sich  an  dem  zu  Ehren  des  neugewählten 
liberalen  Bürgermeisters  Dr.  G  r  ü  b  1  veranstalteten  Bankett  der  Wiener 
Korpskommandant  Feldzeugmeister  Baron  v.  Schönfeld  beteiligt  und  dort 
eine  Rede  gehalten,  daß  das  Militär  zum  Schutze  des  Bürgertums  da  sei. 
(„Sie  können  versichert  sein,  daß  Sie  uns  hinter  Ihrer  Front  finden  werden, 
wenn  Sie  im  ersten  Treffen  stehen,  wenn  die  Existenz  der  Gesellschaft, 
der  Genuß  des  sauer  erworbenen  Besitzes  bedroht  sind... 
Wenn  der  Bürger  in  erster  Linie  steht,  eilt  der  Soldat  zu  Hilfe.  Nur  ein 
fest  geschlossenes  Bürgertum  vermag  derartige  Gefahren  abzuwenden.") 
Darauf  sagte  am  18.  April  im  Parlament  in  der  Debatte  über  die  Melde- 
pflicht  der   Landsturmpflichtigen   Dr.   Lueger: 

Ich  erkläre,  daß  das  österreichische  Militär  nicht  dazu  da  ist,  um 
diejenigen  zu  schützen,  die   ihr  Vermögen  auf  Kosten   des  Volkes  er- 
worben haben,  und  wenn  diese  Pflicht  verletzt  wird,  dann  ist  das  kein 
österreichisches  Militär,  dann  möge  es  sich  Rothschild-Militär 
nennen,  aber  nicht  kaiserlich  österreichisches  Militär. 
Übrigens  hat  Lueger  auch  noch  im  Mai,  als  von  Gendarmen  in  F  a  1  k  e  n  a  u 
drei  Bergarbeiter  getötet  und  acht  verwundet  und  in  Polnisch-Ostrau  vier- 
zehn getötet  und  zwanzig  verwundet  wurden,  in  der  Beratung  des  Perner- 
storferschen   Dringlichkeitsantrages    gesagt:    „Spielen   Sie    nicht   mit   dem 
Militär!  Es  besteht  aus  dem  Volke  und  ist  nicht  zu  dem  Zwecke  da,  einige 
Kohlenbarone  gegen  ausgehungerte  Arbeiter  zu  verteidigen,  sondern  viel- 
leicht   eher    dazu,    ausgehungerte  Arbeiter    gegen    die   Kohlenbarone    zu 
schützen."  Bald  danach  ist  er  aber  sehr  militärfromm  geworden. 


Der  Deutschmeisterrummel.  24f> 


nur  die  Flinten  und  Kanonen  im  Schweiße  ihres  Angesichts  erzengen 
müssen,  zum  Heile  des  Qeldsacks  anderer,  sondern  daß  sie  sie 
auch  dann  noch  drei  Jahre  tragen  und  bedienen  müssen,  zum 
Schutze  des  (ieldsacks  jener  anderen  gegen  sich  seihst.  Man  wirft 
uns  vor,  daß  wir  das  Volk  wehrlos  machen  wollen,  und  d  a  s 
( i  e  g ;  e  n  t  e  i  1  davon  ist  richtig.  Wenn  es  eine  E  i  n  T  i  ch- 
t  u  n  g  g  i  b  t,  die  das  Volk  w  e  h  r  I  o  s  m  a  c  h  t,  s  o  i  s  t  e  s  d  e  r 
Militarismus.  Wir  wollen  das  Volk  aus  seiner 
Wertlosigkeit  erheben,  und  unsere  Forderung  der  allge- 
meinen Wahrhaftigkeit  bedeutet  nicht  die  Heranziehung  eines 
Volkes  von  Schwächlingen,  die  nicht  wissen,  wie  eine  Waffe  aus- 
sieht, sondern  eines  Volkes  von  Männern,  die  die  Waffe  zu  ge- 
brauchen verstehen  zum  Schutze  ihres  Rechtes.  Manche  Seiten 
des  Militarismus  ließen  sich  sehr  wohl  verwerten  für  die  körper- 
liche und  hygienische  Erziehung  des  Volkes*),  aber  losgelöst  vom 
Prinzip  des  Militarismus,  unter  dessen  Fuchtel  diese  körperliche 
und  hygienische  Ausbildung  ebenso  einseitig  ausfällt  wie  die 
Geistesbildung  des  Volkes  unter  dem  Einfluß  der  heutigen  Schule. 
Der  Redner  bespricht  nun  das  Verhältnis  des  österreichischen 
Parlaments  zum  Militarismus,  die  Ohnmacht  und  die  Feigheit  der 
bürgerlichen  Parteien  allen  Anforderungen  des  Militarismus  gegen- 
über, wie  sie  es  aber  trotz  ihrer  Schwäche  verstanden  hätten,  für 
das  Bürgertum  das  Privileg  des  Einjährigendienstes  zu  ergattern. 
Sodann  erörtert  der  Redner  den  Deutschmeisterrummel,  den  eine 
verächtliche  Presse  im  Verein  mit  den  Parteien,  die  früher  das 
Bürgertum  mißbrauchten,  und  mit  den  Parteien,  die  es  jetzt  miß- 
brauchen, entfacht  habe,  um  die  gedankenlose  Menge  zu  be- 
rauschen, um  sie  zu  verleiten,  alles  das  zu  vergessen,  was  jedem 
einzelnen  seine  Erfahrung  über  den  Militarismus  lehrt,  und,  statt 
nachzudenken,  nachzulaufen  —  der  Burgmusik**).  Dem  Militarismus 
könne  niemand  ernstlich  zu  Leibe  als  allein  die  Sozialdemokratie. 
Die  ehrlichen  bürgerlichen  Ideologen  samt  denen,  die  mit  ihrer 
gespielten  Feindschaft  gegen  den  Militarismus  Reklame  zu  machen 
verstehen,  werden  wider  ihn  nichts  ausrichten.  Man  weiß  das  oben 
auch  sehr  gut,  und  es  wäre  gar  nicht  so  inkonsequent,  wenn  man 
den  Reklamebedürfnissen  gewisser  Friedensfreunde  entgegenkäme 
und  die  Orden  für  die  Militärfreunde  durch  Orden  für  die 
Friedensapostel  ergänzte.  Die  Leute  tun  ja  dem  Militarismus 
nichts.  Diese  Sueß,  Pirquet***)  und  andere  haben  noch  jedes 
Kriegsbudget     bewilligt,     sogar     ohne     die     sonst     übliche     Zere- 


*)  Siehe  auch  die  Rede  Adlers  auf  dem  Parteitag  1903,  abgedruckt 
unter  dem  Titel:  „Militarismus  und  Demokratie"  im  Band  IX 
dieser   Schriften,   Seite  11  f. 

**)  Jeden  Vormittag  spielte  im  inneren  Hof  der  Hofburg  eine  Militär- 
kapelle. Sie  zog  schon  unter  großem  patriotischem  Lärm  unter  Begleitung 
der  schwarzgclben  Nichtstuer  auf  und  war  eines  der  üblichen  Mittel  der 
Da trio tischen   Beeinflussung. 

'*)  Liberale  Abgeordnete,  von  denen  Professor  Eduard  Sueß  der  be- 
kannte große  Geologe  und  Erbauer  der  Wiener  Wasserleitung,  aber  ein 
engstirniger  Politiker   war. 


246  Militarismus   und   Krieg. 


monie  des  Augenverdrehens.  Wir  wissen,  daß  die  Arbeiter 
solange  für  fremde  Zwecke  das  Gewehr  werden  tragen  müssen, 
solange  sie  nicht  gründlich  gelernt  haben  werden,  für  eigene 
Zwecke  einzutreten.  Wir  können  gegen  den  Militarismus  nichts 
anderes  tun,  als  gute  Sozialdemokraten  erziehen,  rastlos  zu  orga- 
nisieren. Wenn  Sie  bedenken,  unter  welchen  Umständen  Sie  sich 
drei  Jahre  lang  für  andere  organisieren  lassen  mußten,  so 
werden  Sie  begreifen,  wie  geringfügig  die  Opfer  sind,  die  Ihre 
eigene  Organisation  Ihnen  auferlegt.  Durch  Bekämpfung  des  Kapi- 
talismus entziehen  wir  auch  dem  Militarismus  seine  Lebens- 
bedingungen, und  er  wird  in  absehbarer  Zeit  zusammenbrechen. 
Das  wissen  wir,  und  deshalb  brauchen  wir  auch  keine  Propaganda 
in  den  Kasernen  zu  machen.  Sie  ist  überflüssig,  denn  die  Propa- 
ganda für  uns  macht  sich  gerade  in  den  Kasernen  von  selbst, 
nirgends  ist  der  Kapitalismus  mehr  sein  eigener  Totengräber  als 
gerade  dort,  wo  er  seine  immer  wachsende  Massenanhäufung 
arbeitender  Proletarierarmeen  durch  ebenso  stetig  wachsende 
Konzentration  bewaffneter  Proletariermassen  ergänzt. 

Haubitzen  und  Volksvertretung. 

Versammlung  am  13.  Mai  190 2*). 

Dieses  Lokal  hier  ist  eine  Erinnerung  für  viele  von  uns.  Wir 
sind  hier  so  eng  beisammen,  weil  daneben  das  Assentierungslokal 
ist.  Wir  müssen  uns  drängen,  es  fehlt  uns  an  Raum,  wir  müssen 
eben  dem  Militarismus  Platz  machen.  So  wie  es  uns  hier  in  diesem 
Saale  ergeht,  ergeht's  uns  überhaupt.  Wir  wissen  aber  auch,  ein 
Klassenstaat  braucht  die  Gewalt.  Er  braucht  die  Gewalt  zum 
Schutze  des  Ausbeutungssystems,  und  er  braucht  sie  im  Verhältnis 
zu  den  anderen  Staaten.  Dieselben  Ursachen,  die  die  großen 
Fabriken  geschaffen  haben,  haben  auch  die  großen  Armeen,  die 
kolossalen  Geschütze,  die  enormen  Festungen  geschaffen.  Es  gibt 
sanftmütige  Leute,  die  den  Krieg  abschaffen  wollen,  weil  sie  das 
viele  Blut  nicht  sehen  wollen.  Aber  an  der  Spitze  dieser  Friedens- 

*)  Bei  der  Beratung  des  Heeresbudgets  in  den  Delegationen  wurde  die 
Frage  der  neuen  Haubitzen  vornehmlich  erörtert.  Die  Regierung  hatte  zu- 
nächst einen  Betrag  von  38  Millionen  Kronen  für  die  Aufstellung  von 
Haubitzendivisionen  und  zur  Reorganisation  der  Gebirgsartillerie  als  erste 
Rate  in  das  Budget  eingestellt,  doch  waren  die  gesamten  Kosten  der  Um- 
gestaltung der  Artilleriegeschütze  mit  200  Millionen  veranschlagt.  Im  Ab- 
geordnetenhaus brachten  Daszynski  und  P  ernerstorfer  im  Namen 
des  sozialdemokratischen  Verbandes  einen  Dringlichkeitsantrag  ein,  die 
Regierung  solle  sich  rechtfertigen,  wie  sie  dazu  ihre  Hand  bieten  konnte. 
Am  14.  Mai  wurde  der  Antrag  eingebracht.  Am  13.  Mai  sprach  Adler 
darüber  in  einer  Massenversammlung  beim  Dreher. 

Auf  eine  Anfrage  erklärte  der  Finanzminister  Böhm-Bawerk  im 
Parlament,  er  beabsichtige  die  Kosten  durch  eine  tilgbare  Anleihe  aufzu- 
bringen. Siehe  darüber  und  über  dieses  Finanzkunststück  Adlers  Rede  vom 
24.  Mai  1904.  Über  die  Institution  der  Delegationen  sagt  Adler  alles 
Nötige  selbst. 


Haubitzen  und   Volksvertretui  -47 


freunde  steht  der  Herrscher  im  Reiche  des  Massenmordes.  (B 
wegung.)  Derselbe  Zar*  der  seine  Russen  totprügeln  läßt  und  in  die- 
Bergwerke  verschickt,  wenn  er  sie  nicht  hängen  kann,  wird  von 
den  Friedensfreunden  und  der  anmutigen  Baronin  Suttner  als  ein 
gebenedeiter  Friedensenge]  angebetet.  Durch  P  r  e  dig  te  n 
k  a  n  n  a  her  der  Militari  s  m  n  s  nicht  beseitigt  w  e  r- 
den.  (Zustimmung.)  Solange  es  Klassenherrschaft  gibt,  wird  es 
Militarismus  geben. 

Heute  führt  uns  ein  besonderer  Anlaß  zusammen,  In  allen  euro- 
päischen Staaten  machen  die  Militärforderungen  den  Hauptanteil 
des  Budgets  aus.  Diese  Lasten,  nicht  nur  die  Blutlast,  sondern  auch 
die  Steuerlast,  werden  von  den  Massen  des  Volkes  getragen*  die 
indirekten  Steuern,  die  Zölle,  die  Verzehrungssteuern  dienen  zur 
Fütterung  dieses  Molochs.  Aber  in  anderen  europäischen  Ländern 
sind  wir  doch  so  weit,  daß  die  Völker  da  doch  etwas  dreinzureden 
haben.  Ich  überschätze  das  nicht,  was  der  deutsche  Reichstag,  die 
französische  Kammer,  das  englische  Parlament  in  dieser  Hinsicht 
leisten,  der  Volkswille  kommt  auch  dort  nicht  zum  Ausdruck.  Aber 
in  anderen  Ländern  muß  die  Regierung  um  jede 
Militärforderung  wenigstens  bitter  kämpfen!  Da- 
durch kommt  in  alle  Schichten  der  Bevölkerung  bis  in  die  ent- 
legenste Bauernhütte  das  Bewußtsein  von  den  stets  wachsenden 
Forderungen  des  IViilitarismus.  In  Österreich  redet  kein 
Mensch  von  den  Militärforderungen!  Wir  haben  ein 
Parlament,  aber  mit  dieser  wichtigen  Funktion  hat  es  nichts  zu 
tun.  Ja,  das  Parlament  ist  wichtig,  es  kann  wegen  einer  slowenischen 
Parallelklasse  Regierungen  stürzen  (Heiterkeit),  wenn  die  Regie- 
rung sich  nämlich  stürzen  lassen  will.  (Neuerliche  Heiterkeit.)  Aber 
in  diese  wichtigen  Dinge  dürfen  die  Abgeordneten  nichts  dreinreden. 
Bei  uns  gibt  es  keine  ernste  Debatte  über  unsere  äußere  Politik, 
keine  ernste  Debatte  über  Militärforderungen,  denn  das  alles  sind 
ja  „gemeinsame  Angelegenheiten"  mit  Ungarn !  Was 
sind  denn  das,  diese  „gemeinsamen  Angelegenheiten"?  Wir  zahlen 
alle  in  gleicher  Münze  Steuern,  wir  werden  alle  in  gleich  an- 
gestrichene Arreste  eingesperrt,  das  sind  in  Österreich  die  gemein- 
samen Dinge.  (Heiterkeit.)  Mit  Ungarn  haben  wir  gemein- 
sam —  dasselbe  Bajonett.  (Lebhafte  Zustimmung.) 

Zur  Erledigung  der  gemeinsamen  Angelegenheiten  haben  wir  die 
Delegationen.  Das  Parlament  wählt  einen  Ausschuß  von  vierzig 
Mitgliedern,  das  Herrenhaus  zwanzig  Mitglieder.  Sie  sehen,  wie 
demokratisch  da  unsere  Verfassung  ist.  (Gelächter.)  Diese  sechzig 
Herren  entscheiden  über  die  wichtigsten  Fragen.  Wäre  das  Ab- 
geordnetenhaus ein  Volkshaus,  so  könnte  in  der  Delegation  eine  an- 
ständige Volksmajorität  sein.  Die  Wahl  erfolgt,  wie  Sie  wissen,  nach 
Kronländern.  Wären  die  zehn  Sozialdemokraten  nur  die  Vertreter 
eines  Volkes,  so  bekämen  sie  vermutlich  in  der  Delegation  einen 
Sitz.  Weil  die  Sozialdemokraten  aber  alle  Völker 
Österreichs  vertreten,  deshalb  wird  keiner  von  ihnen  in 
die   Delegation   gewählt.  Jeder  Großgrundbesitzer,  der  von  sechs, 


248  Militarismus   und   Krickr. 


sieben  Herren  gewählt  wurde,  hat  da  mehr  Rechte  als  die  großen 
Massen  des  arbeitenden  Volkes.  (Pfui!)  Nun  sollte  man  denken,  so 
ein  Kavalier,  der  den  anderen  als  Vertreter  aufgedrängt  wurde, 
werde  es,  da  er  für  anderer  Wohl  und  Wehe  zu  entscheiden  hat, 
sehr  genau  nehmen.  Wie  werden  diese  Dinge  aber  in  Wirklichkeit 
erledigt? 

Vor  vierzehn  Tagen  sind  die  Delegationen  in  Pest  zusammen- 
getreten. Sie  hatten  2  0  7  V2  Millionen  für  den  normalen  Militär- 
etat, 12  0  Millionen  für  den  außerordentlichen  Militäretat  zu 
bewilligen  und  neue  38Millionen  Kronen  für  Neuforderungen 
aus  Anlaß  —  aus  einem  Anlaß  (Heiterkeit)  —  der  Anschaffung 
neuer  Feldhaubitzen  zu  bewilligen.  Haubitzen  sind,  ich 
kann  Ihnen  das  rasch  nicht  anders  erklären,  Kanonen,  mit  denen 
man  ums  Eck  schießen  kann.  (Heiterkeit.)  Das  sind  Ge- 
schütze, die  man  so  aufstellen  kann,  daß  die  Geschosse  sehr  hoch 
hinauffliegen  und  dann  über  einem  Hindernis  sinken  und  enden.  Sie 
sehen  ein,  das  haben  wir  nötig.  (Gelächter.)  Dabei  ist  der  Kriegs- 
minister  sehr  sparsam.  An  Geschützen  und  Munition  kann  er  nicht 
sparen,  so  spart  er  wenigstens  an  —  Papier.  Auf  einem  ein- 
zigen Blatt  steht  die  „Begründung"  für  die  38  Mil- 
lionen. (Bewegung.)  Auf  diesem  Blatte  ist  aber  gleichzeitig  an- 
gekündigt, daß  noch  Forderungen  für  das  Drei-  und  Vier- 
fache kommen  werden.  Wir  haben  neue  Gewehre,  jetzt  müssen 
wir  auch  neue  Kanonen,  die  weiter  tragen,  bekommen.  „Die  Steige- 
rung der  Infanteriewirkung  bedingt  auch  die  Steigerung  der 
Artilleriewirkung",  heißt  es  da.  „Rationellere  Geschosse'* 
müssen  angeschafft  werden.  Aber  damit  nicht  genug,  es  heißt 
weiter:  „Erst  mit  neuen  Feldgeschützen  kann  allen  Bedingungen  des 
Feldkrieges  entsprochen  werden."  (Hört!  Hört!)  Die  neuen  Feld- 
geschütze werden  aber  diesmal  noch  gar  nicht  verlangt,  sie  werden 
erst  noch  probiert,  man  kündigt  uns  das  nur  nebenbei  an.  Heute 
werden  nur  die  neuen  „Hinterdeckungsgeschütze"  verlangt!  1903 
wird  ein  neuer  Betrag  angesprochen  werden,  der  wird  aber  nicht 
mehr  als  —  40  Millionen  kosten.  (Sehr  bescheiden.  —  Ge- 
lächter.) Sie  sehen,  das  alles  ist  nur  ein  Anfang! 

Die  Forderungen  für  heuer  wurden  in  einer  Sitzung  be- 
willigt. (Bewegung.)  Vergebens  fragen  wir:  Welche  Anstrengungen 
wurden  gemacht,  um  diese  Mehrforderungen  abzuwehren?  Es 
wurde  gar  kein  Widerstand  geleistet!  Die  Groß- 
grundbesitzer und  Herrenhäusler  waren  für  alles  zu 
haben.  Aber  auch  zwei  bürgerliche  Abgeordnete,  die  Herren  Per- 
gelt (Pfuirufe)  und  To  Hing  er*)  (Pfuirufe)  haben,  ohne  zu 
mucksen,  dafür  gestimmt.  Herr  Pergelt  hätte  das  nicht  nötig  gehabt. 


*)  Der  Liberale  Dr.  Pergelt  aus  Deutschböhmen  und  der  Klerikale 
Dr.  T  0  1 1  i  n  g  e  r  aus  Tirol  sind  auch  in  den  Kämpfen  um  das  Wahlrecht 
in  den  Jahren  1905  und  1906  als  die  ärgsten  Volksfeinde  aufgetreten, 
worüber  in  den  bezüglichen  Kapiteln  des  zehnten  Bandes  ja  berichtet  wurde; 
namentlich  Tollinger  hat  dem  berüchtigten  Pluralitätsantrag  seinen 
Namen  gegeben. 


[aubitzen  und  Volksvertretung.  24!) 


Diese  Liberalen  prostituieren  sich  seit  Jahren,  ohne  zur  Regierung 
zu  kommen!  Schlimmer  noch  ist's,  daß  sich  ein  Klerikaler,  der 
Herr  Trolljnger,  dafür  gefunden  hat.  Der  gehört  zu  einer  wirklichen 
Volkspartei,  denn  wir  haben  deren  nur  zwei  in  Österreich, 
Sozialdemokraten  und  Klerikale.  Aber  haben  denn  die  Hauern  ein 
Interesse  am  Militarismus?  Wenn  ein  Klerikaler  für  den  Militaris- 
mus stimmt,  dann  begeht  er  Verrat  an  den  eigene  n 
Klassengenossen  !  (So  ist's !) 

Man  hätte  erwartet,  daß  in  der  Delegation  wenigstens  die  Forde- 
rungen an  den  Militarismus  zur  Sprache  kommen.  Die  zwei- 
jährige Dienstzeit,  in  Deutschland  längst  bewährt,  ist  selbst 
von  Militärs  empfohlen  worden.  Dann  hätte  man  der  Heeresverwal- 
tung ihr  Sündenregister  vorhalten  sollen!  Die  Soldaten- 
mißhandlungen sind  eine  ständige  Zeitungsrubrik,  und  dabei 
gelangt  kaum  ein  Tausendstel  dieser  Mißhandlungen  an  die  Öffent- 
lichkeit. Selbst  wir  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  können  vieles  nicht 
bringen,  weil  wir  oft  den  Leuten  sagen  müssen:  „Du,  wenn  wir  das 
morgen  veröffentlichen,  kommen  sie  übermorgen  über  dich!"  Wir 
haben  ja  viele  sehr  vernünftige,  sehr  anständige,  humane  Offiziere 
in  der  Armee.  Aber  leider,  sie  bleiben  nicht  immer  so,  weil  es  oben 
nicht  genügend  anerkannt  wird.  Der  Herr  Galgotzy*)  (minuten- 
lange erregte  Zwischenrufe)  ist  vom  Kriegsminister  als  edle  Natur 
hingestellt  worden.  Kein  Abgeordneter  hat  darauf  die  nötige  kräftige 
Antwort  gegeben.  Auch  für's  „Anbinden"  durfte  Herr  Krieghammer 
ohne  Widerspruch  schwärmen.  Es  waren  eben  nur  Leute  dort,  die 
selbst  das  Anbinden  kommandierten,  aber  noch  nie  angebunden 
wurden.  (Zwischenruf:  Man  sollt's  probieren!)  Von  der  Affäre 
Mattach  ich**)  und  dem  Militärstrafprozeß  überhaupt 
war  nicht  die  Rede.  In  anderen  Ländern  wäre  nach  den  Enthüllungen 
der  „Arbeiter-Zeitung"  ein  Sturm  der  Empörung  durch  die  Presse 
und   die  Abgeordneten  gegangen.   Bei  uns  hat   —  außer  unserem 


*)  Über  die  Soldatenmißhandlungen  und  namentlich  über  die 
schändlichen  Strafen  der  Spangen  und  des  Anbindens  an  eine  Säule, 
die  noch  im  Militärstrafprozeß  vorgesehen  waren,  wurde  immer  wieder  im 
Parlament  und  in  den  Delegationen  gesprochen  und  der  Landesverteidigungs- 
minister Graf  Zeno  Welsersheimb  mußte  immer  wieder  die  aufgeregten 
Abgeordneten  beruhigen,  so  wieder  in  den  Debatten  über  das  Rekrutenkontin- 
gent im  Februar  1902,  wo  krasse  Fälle  von  Soldatenmißhandlungen  vorgebracht 
wurden.  Die  ärgsten  Fälle  von  Soldatenmißhandlungen  wurden  aus  dem 
Armeekorps  von  Przcmysl  berichtet,  wo  der  Feldzeugmeister  Galgotzy 
die  Soldaten,  aber  auch  die  Offiziere  rücksichtslos  behandelte.  Da  Galgotzy 
aber  damals  als  Generalissimus  in  einem  Kriege  gegen  Rußland  angesehen 
wurde,  erfreute  er  sich  der  Gunst  des  Hofes  und  wurde  vom  Kriegsminister 
Krieghammer  geschützt,  obwohl  sogar  in  Preßprozessen  skandalöse 
Fälle   von    Soldatenmißhandlungen   in   seinem   Korps   bewiesen   wurden. 

**)  Es  handelt  sich  um  den  Oberleutnant  Geza  M  a  1 1  a  c  h  i  c  h,  der 
wegen  seines  Verhältnisses  zur  Prinzessin  Luise  v.  Coburg  von  der 
Militärjustiz  verfolgt  wurde.  Man  hatte  Mattachich  angeklagt,  die  Unter- 
schrift der  Prinzessin  auf  Wechseln  gefälscht  zu  haben,  obwohl  er  es  mit 


250  Militarismus    und    K: 


Daszynski  —  selbst  im  Parlament  niemand  ein  Wort  darüber  ge- 
funden. 

Es  wurde  aber  auch  nicht  davon  gesprochen,  wer  das  alles 
/  a  h  1  e  n  s  o  1 1  !  Die  Diurnisten  läßt  man  warten,  der  Finanzminister 
verlangt  erst  eine  Fahrkartensteuer.  Aber  wegen  dieser  38,  eigent- 
lich 280  Millionen  regt  sich  der  Herr  F  i  n  a  n  z  m  i  n  i  s  t  e  r  nicht 
auf.  Die  Sozialdemokraten  werden  im  Parlament 
den  Versucli  machen,  den  Finanz  minister  darüber 
zu  befragen,  wo  er  denn  das  nötige  Geld  her- 
nehmen will?  Wir  werden  sehen,  wer  im  Abgeordnetenhaus 
die  Courage  haben  wird,  mit  uns  zu  gehen!  (Lebhafter  Beifall.) 

Diese  Militärforderungen  haben  auch  ihre  andere  Seite.  Hätten 
wir  ein  Volksparlament,  dann  wären  diese  Bewilligungen  nicht  so 
einfach!  Aber  die  Herren  vergessen:  Der  Kampf  ums  Wahl- 
rechtistnurunterbrochen!  (Brausende  Zustimmung.)  Die 
Stunde  kommt,  wo  wir  Sie  wieder  rufen  werden!  Solche  Dinge  wie 
die  heute  besprochenen  führen  diese  Stunde  herbei.  Ich  weiß,  Sie 
sagen:  „Wenn's  nur  bald  wäre!"  (anhaltender  Beifall),  ich  sage 
Ihnen:  Wir  wTarten  nur  auf  den  Moment,  der  uns  paßt!  Rüsten  Sie 
sich  für  diese  Stunde!  Wir  werden  Sie  rufen!  (Stürmischer  Beifall.) 

Militarismus  und  Geschäft. 

Versammlung  am  2  4.  Mai  190 4*). 

Als  die  Delegierten  nach  Budapest  kamen,  da  erfuhren  sie  zu 
ihrer  größten  Überraschung,  daß  man  diesmal  statt  der  üblichen 


ihrer  Zustimmung  tat.  Er  wurde  vom  Kriegsgericht  zu  Kerkerstrafe  ver- 
urteilt, Luise  Coburg  auf  Veranlassung  ihres  Gatten,  des  Herzogs  Philipp 
v.  Coburg,  in  eine  Irrenanstalt  gesteckt.  Doch  gelang  es  ihr  mit  Hilfe  von 
Mattachich,  zu  flüchten.  Wegen  dieser  Affäre  hat  seinerzeit  die  „Arbeiter- 
Zeitung"  einen  energischen  Feldzug  geführt  und  Daszynski  hat  in  Inter- 
pellationen und  Reden  die  Verurteilung  von  Mattachich  als  Justizmord 
gebrandmarkt. 

*)  Nachdem  in  den  Jahren  1902  und  1903  einige  Dutzend  Millionen 
Kronen  —  zusammen  53  Millionen  —  für  neue  Geschütze  bewilligt  worden 
waren,  verlangte  im  Jahre  1904  die  Heeresverwaltung  auf  einmal  391  Mil- 
lionen an  außerordentlichen  Ausgaben  und  im  Heeresausschuß  der  öster- 
reichischen Delegation  erschien  der  Finanzminister  Böhm-Bawerk 
—  ein  Professor  der  Nationalökonomie  —  und  entwickelte  folgenden  Plan 
der  Finanzierung  der  Rüstungen:  Man  solle  die  geforderten  391  Millionen 
bewilligen  und  die  Heeresverwaltung  werde  durch  25  Jahre  jährlich  27  Mil- 
lionen aus  dem  Budget  zurückzahlen.  Dabei  tat  er  so,  als  ob  dafür  die 
Heeresleitung  auf  weitere  Ansprüche  in  den  nächsten  Jahren  verzichten 
würde.  Da  aber  der  Leiter  der  Marinesektion  dann  ausdrücklich  erklärte, 
das  sei  nicht  richtig,  mußte  im  Oktober  der  Herr  Professor  von  seinem 
Amte  als  Finanzminister  zurücktreten.  In  neun  Protestversammhingen 
protestierten  die  Wiener  Arbeiter  gegen  diese  unerhörten  Forderungen  des 
Molochs.  In  der  Versammlung,  die  am  24.  Mai  im  Arbeiterheim  stattfand, 
sprach  Adler. 


Militarismus  mul   Geschäft. 


Portion  von  Millionen  nocli  einige  hundert  Millionen  mehr  verlang! 
hat.  Nicht  einmal  so  viel  Respekt  Imt  man  vor  den  Abgeordneten 
gehabt,  ihnen,  ehe  man  sie  wegschickte,  mitzuteilen,  was  man  plant. 
Die  Delegierten  waren  anfangs  sehr  aufgeregt,  aber  bald  haben  sie 
sich  beruhigen  lassen,  und  so  ist  heute  die  große  Sorge  der  Staats- 
lenker nur  die,  in  welcher  Form  man  die  Anlehen  aufbringen  soll, 
da  doch  nicht  einmal  dazu  der  Reichsrat  zu  brauchen  ist.  Wir 
stehen  einfach  vor  der  Tatsache,  daß  die  paar  Merren,  die  in  Buda- 
pest  Volksvertretung  spielen,  die  verbrecherische  Kühn- 
heit haben  werden,  diese  ungeheuerlichen  Mehrforde- 
rungen ohne  weiteres  zu  bewilligen.  (Pfuirufe.)  Wir 
brauchen  angeblich  die  Kanonen  sehr  dringend.  Ein  Staat,  der  durch- 
aus hohl  und  innerlich  zerrüttet  ist,  nicht  imstande  ist,  seine  einfach- 
sten Lebensfunktionen  zu  verrichten,  dessen  Unterricht  von  oben  bis 
unten  Mangel  an  den  notwendigen  Mitteln  leidet,  der  nicht  einmal 
imstande  ist,  das  Geld  aufzubringen  für  das  bißchen  Altersversiche- 
rung der  Arbeiter,  wie  sie  in  Deutschland  schon  lange  besteht,  ein 
Staat,  der  nach  außen  nicht  die  geringste  Macht  entfalten  kann,  vor 
dem  sich  niemand  fürchtet,  den  auch  niemand  bedroht,  weil  sich 
jeder  scheut,  auch  nur  die  Hand  nach  ihm  auszustrecken,  der 
draußen  nur  Mitleid  und  Hohn,  aberkeinen  Haß  erzeugt 
und  der  keinen  Feind  hat  —  seine  Regierung  ganz  allein  aus- 
genommen. Aber  Kanonen  brauchen  wir  unbedingt!  Wir  haben 
kein  Geld,  um  unseren  Greisen  und  Invaliden  ein  Stück  Brot  zu 
geben,  aber  was  man  für  Kanonen  und  Unterseeboote  von  uns  ver- 
langt, das  zahlen  wir. 

Aber  man  sagt  uns  doch,  das  wird  alles  ohne  Mehrbelastung 
durchgeführt  werden.  (Heiterkeit.)  Das  verstehen  Sie  nicht.  (Rufe: 
Nein!)  Das  kommt  nur  davon,  daß  Sie  ganz  ungebildet  sind.  Wenn 
Sie  zum  Beispiel  Herrenhausmitglieder  oder  Großgrundbesitzer 
wären,  dann  hätte  Ihnen  Gott  mit  dem  Amt  auch  den  nötigen  Ver- 
stand gegeben  und  Sie  würden  das  sofort  verstehen.  Das  ist  doch 
auch  sehr  einfach.  Wenn  ein  Mann,  der  eine  große  Familie,  aber 
ein  schmales  Einkommen  hat,  die  Lust  hat,  Champagner  zu  trinken, 
so  ist  das  nicht  sehr  vernünftig.  Nun  hat  der  Mann  schon  zwei 
Jahre  lang  Champagner  getrunken  und  er  will  noch  23  Jahre  lang 
Champagner  trinken.  Wie  ihm  nun  seine  Frau  Vorwürfe  macht, 
sagt  er:  Das  kostet  mich  doch  nichts;  das  steht  einmal  im  Budget 
und  ich  leihe  mir  jetzt  auf  einmal  die  2000  Gulden  aus,  die  ich  in  den 
nächsten  23  Jahren  versaufen  werde,  und  dafür  refundierst  du  mir 
aus  dem  Budget  alle  Jahre  das,  was  ich  an  Zinsen  zu  zahlen  habe. 
(Heiterkeit.)  Genau  so  macht  es  der  Kriegsminister,  der  sagt:  Ich 
habe  schon  früher  15  Millionen  bekommen  und  jetzt  wollte  ich 
wieder  25  Millionen  nehmen,  deshalb  nehme  ich  mir  gleich  auf  ein- 
mal 400  Millionen  für  die  nächsten  25  Jahre.  Das  ist  doch  keine 
Mehrbelastung,  denn  ich  habe  euch  das  ja  ohnedies  schon  aus  der 
Tasche  genommen.  Das  ist  natürlich  ein  ganz  gewöhnlicher 
Schwindel,  mit  dem  man  sich's  ersparen  will,  jedes  Jahr  z  u 
verlangen,      was      man      den     Leuten      auf     einmal 


252  Militarismus   und   Krickr. 


n  e  li  m  e  n  ka  n  n,  und  der  es  ermöglichen  soll,  später  wieder 
ungestört  neue  Forderungen  zu  stellen,  obzwar  man 
diese  Forderungen  vorweggenommen  hat. 

Und.  für  diese  Militärvorlage  ist  dank  der  Zusammensetzung  der 
Delegationen  schon  von  allem  Anfang  an  die  Majorität  bestimmt.  Die 
Großgrundbesitzer  und  die  lierrenhäusler  bilden  die  Mehrheit  und 
die  Vertreter  der  bürgerlichen  Parteien  brauchten  also  bei  diesem 
Akt  der  Selbstkastrierung  gar  nicht  mitzutun.  Sie  könnten  sich  in 
die  Brust  werfen  und  Opposition  machen,  weil  ja  die  Majorität  auch 
ohne  sie  da  ist.  Aber  es  scheint,  daß  man  ihnen  nicht  einmal  dazu 
die  Erlaubnis  geben  will,  Mannhaftigkeit  auch  nur  zu  heucheln.  S  i  e 
werden  über  den  Stock  springen,  sie  werden  die  Mil- 
lionen bewilligen,  weil  sie  für  einen  Gnaden  blick  von 
oben  jede  Würde,  jede  Mannhaftigkeit  und  jede 
politische  Überzeugung  preiszugeben  bereit 
sind.  Sie  erinnern  sich  noch,  wie  sie  die  letzte  Wehrvorlage  durch- 
gepeitscht haben,  damit  sie  dem  Kaiser  zum  Frühstück  schon  bereit- 
stehe, und  sie  werden  die  Millionen,  die  man  jetzt  fordert,  bewilligen, 
wahrscheinlich  noch  vor  dem  großen  Empfange  . . .  Sie  wissen,  daß 
die  Delegierten  immer  abgefüttert  werden.  Sind  sie  brav,  so  kriegen 
sie  die  Fütterung  nach  der  Abstimmung;  sind  sie  aber  widerhaarig, 
dann  müssen  sie  zuerst  gefüttert  werden  und  hernach  gehen  sie 
zur  Abstimmung.  (Lebhafte  Zustimmung.) 

Aber  wenn  sie  die  Militärforderungen  bewilligen,  so  tun  sie  das, 
wie  sie  sagen,  aus  Opferwilligkeit,  aus  Patriotismus. 
Aber  wir  meinen,  dieser  Patriotismus  ist  Verrat  am  Vaterland,  das 
sie  zu  lieben  vorgeben.  Wir  lieben  unser  Land  und  unser  Volk  mehr 
als  die  Herren  oben,  wir  lieben  es,  weil  wir  es  selbst  sind,  während 
sie  das  Volk  nur  als  Weide  für  ihr  Parasitentum  benützen,  als  ein 
Objekt  für  ihre  Geschäfte  brauchen.  Für  sie  ist  die  ganze  Volks- 
vertretung ein  Geschäft,  und  Geschäft  ist  ihnen  der  Patriotismus, 
Geschäft  ihre  Opferwilligkeit.  Bei  den  Uniformen  und  bei  den 
Patrontaschen  beginnt  das  Geschäft  und  beim  Zwieback  wird  es 
fortgesetzt.  S  i  e  machen  natürlich  kein  Geschäft  dabei,  denn  Sie 
haben  die  Uniformen  nur  zu  tragen  und  die  Gewehre  nur  auf  die 
Schulter  zu  nehmen,  und  wenn  es  zum  Schießen  kommt,  so  sind 
Sie  entweder  bei  denen,  die  schießen,  oder  bei  denen, 
die  erschossen  werden.  (Lebhafter  Beifall.)  Sie  müssen 
die  Gewehre  machen  und  sie  bezahlen,  aber  den 
Profit  am  Militarismus  haben  die  anderen.  Aber 
neben  dem  reellen  Geschäft  gibt  es  noch  eines,  das  ebenso  gut  ist, 
aber  schmutzig.  Da  gibt  es  nämlich  Makler,  Vermittler,  Agen- 
ten, die  Provisionen  machen;  das  ist  ein  ganzes  Gewebe  von  höchst 
einflußreichen  Leuten,  die  Bestellungen  und  Liefe- 
rungen zuschanzen  ...  Ehe  die  Millionen  ausgegeben  wer- 
den, bevor  auch  nur  ein  Soldat  ein  Stück  Zwieback  davon  ißt, 
haben  schon  Tausende  von  Leuten  sich  satt  daran  gefressen.  Jetzt 
begreifen  Sie,  woher  der  Patriotismus  dieser  Leute  kommt. 


Die  Triester  Konferenz. 


Die  Triester  Konferenz. 

Am  21.  M  a  i    I  905*). 

Das  Referat  Pittonis,  das  sich  durch  unübertreffliche  Klar- 
heit und  Sachlichkeit  auszeichnete,  kann  ich  vorn  ersten  bis  /um 
letzten  Wort  unterschreiben.  Was  unsere  italienischen  Genossen 
\cii  uns  verlangen,  das  kann  die  österreichische  Sozialdemokratie 
um  so  leichter  erfüllen,  als  sie  damit  nur  ihr  eigenes  Programm 
konsequent  verfolgt.  Aber  die  Autonomie  von  Welschtirol  und  die 
Erfüllung  kultureller  Forderungen  ist  nicht  alles  und  vielleicht  nicht 
das  Wichtigste,  was  wir  dem  italienischen  Proletariat  zu  bieten 
haben.   Die   österreichische   Sozialdemokratie  selbstverständlich 

unter  Mitwirkung  unserer  italienischen  Genossen  -  -  führt  seit  Jahr- 
zehnten einen  Kampf  gegen  die  österreichische  Unterdrückung  und 
Bevormundung  und  führt  ihn  mit  solchem  Erfolg,  daß  sie  die  poli- 
tische Atmosphäre  in  diesem  Lande  vollständig  umgestaltet  hat. 
Daß  ihr  italienischen  Genossen  von  hüben  und  drüben  hier  in 
diesem  Triest  diesen  euren  Kongreß  abhalten  könnt,  daß  sich  eure 
Presse  heute  frei  bewegen  kann,  daß  das  italienische  Proletariat 
die  Möglichkeit  hat,  sich  zu  organisieren,  daß  es  nicht  mehr,  in 
mancher  Beziehung  vielleicht  weniger  behindert  ist  als  unsere 
Brüder  in  Italien,  ist  das  Verdienst  der  österreichischen  Sozial- 
demokraten, und  ich  wage  zu  sagen,  allein  ihr  Verdienst.  Aber  es 
ist  notwendig,  zu  sagen:  Wie  wir  mit  euch  sind  in  allen  euren 
Kämpfen,  so  müssen  wir  verlangen,  daß  ihr  auch  mit  uns 
seid!  Wir  müssen  verlangen,  daß  ihr  euch  bewußt  seid  der  Tat- 
sache, daß  eure  Geschicke  mit  den  unseren  auf  unabsehbare  Zeit 
verknüpft  sind,  und  daß  es  ein  Unrecht  gegen  euch  selbst  wie  gegen 
uns  wäre,  wenn  ihr  euch  durch  Zukunftsträume  von  den  Aufgaben 
der  lebendigen  Gegenwart  ablenken  ließet.  Ich  verwahre  mich  aus- 
drücklich dagegen,  daß  ich  in  dieser  Beziehung  einen  Vorwurf  zu 
erheben  hätte,  aber  es  ist  notwendig,  daß  das  ausgesprochen  wird. 
Was  den  Irredentismus  anlangt,  so  weiß  jedermann,  daß  nicht  nur 
die  Italiener  Irredentisten  sind.  Alle  wollten  weg  von  diesem  Staat, 
wenn  sie  es  nur  könnten.  Wir  alle  leiden  unter  Österreich,  aber 
diese  Sehnsuchten  gehören  auf  das  Gebiet  der  Hoffnungen,  viel- 
leicht des  Glaubens  und  auch  hier  ist  der  Glaube  —  Privatsache. 
Politisch  kann  diese  Stimmung  nicht  in  Betracht  kommen.  Politisch 


"/")  Am  21.  Mai  1905  wurde  im  Hafen  von  Triest  ein  neues  öster- 
reichisches Kriegsschiff  vom  Stapel  gelassen,  wobei  die  Spitzen  der  offi- 
ziellen Welt  Österreichs  aufmarschierten.  Zu  gleicher  Zeit  versammelten 
sich  wenige  Schritte  von  dort  die  Vertreter  des  italienischen  und  des  öster- 
reichischen Proletariats,  um  gegen  die  in  beiden  Staaten  betriebene  Kriegs- 
hetze zu  protestieren.  Das  Referat  auf  dieser  Konferenz  erstattete  Valentino 
Pittoni,  der  Redakteur  des  Triester  „Lavoratore"  und  nachmalige  Ab- 
geordnete, nach  dem  Umsturz  zuerst  in  Mailand,  dann  Administrator  der 
Wiener  „Arbeiter-Zeitung".  Nach  ihm  spracli  der  Redakteur  des  „Lavora- 
tore" CiCCO  t  ti,  dann  der  Slovene  ritbin  K  r  i  s  t  a  n  (Laibach).  Dann  kam 
Adler  zu  Worte. 


-54  Militarismus   und   Krieg. 


haben  wir  die  Pflicht,  uns  in  den  gegebenen  Verhältnissen  einzu- 
richten und  dafür  zu  sorgen,  daß  für  die  in  Österreich  lebenden 
Völker,  insbesondere  die  Arbeiterklasse,  die  Bedingungen  ihrer  Ent- 
wicklung heute  geschaffen  werden.  Der  Irredentismus,  dessen 
Unernst  Pittoni  so  treffend  dargestellt  hat,  ist  aber  eine  Gefahr, 
weil  er  den  Vorwand  bildet  für  dynastische  Intrigen  und  militari- 
stische Exzesse.  Wenn  unsere  Genossen  in  Italien  wünschen,  daß 
wir  gegen  den  Militarismus  auftreten,  wie  sie  das  so  glänzend  ge- 
tan, so  können  wir  darauf  hinweisen,  daß  unsere  ganze  Politik  gegen 
den  Militarismus  gerichtet  ist,  daß  sie  aber  auch  darauf  hinwirkt, 
allen  aggressiven  Expansionsgelüsten  zu  Leibe  zu  gehen,  indem 
sie  dazu  beiträgt,  dem  Großmachtsschwindel  von  Österreich-Ungarn 
ein  Ende  zu  machen.  Die  Sozialdemokratie  hat  das  größte  politische 
Interesse  daran,  daß  die  Lostrennung  Ungarns  von  Österreich,  die 
für  das  Proletariat  beider  Staaten  eine  Wohltat  ist,  sich  vollziehe, 
und  sie  wirkt  in  dem  Bewußtsein,  daß  sie  damit  jeder  entfernten 
Möglichkeit  einer  kriegerischen  Abenteurerpolitik  ein  definitives 
Ende  bereitet.  Die  italienischen  Sozialisten,  deren  Energie  und  Auf- 
opferung wir  bewundern,  können  versichert  sein,  daß  wir  das  natio- 
nale Recht  der  Italiener  in  Österreich  schützen  werden,  wo  es  ver- 
kürzt ist,  und  daß  wir  uns  so  wie  sie  allen  militaristischen  Plänen 
mit  aller  Kraft  widersetzen  werden.  Wenn  in  der  italienischen 
Parteipresse  der  Vorschlag  gemacht  wurde,  für  den  Fall  eines 
Krieges  den  Generalstreik  zu  proklamieren,  so  möchten  wir  vor 
einem  solchen  Beschluß  warnen.  Schon  der  internationale  Sozia- 
listenkongreß in  Zürich  1893  hat  einen  derartigen  Antrag  abgelehnt. 
Wir  wollen  nicht  mit  Dingen  drohen,  von  denen  wir  wissen,  daß 
wir  sie  nicht  machen  können.  Wir  müssen  unser  Äußerstes  daran- 
setzen, um  zu  verhindern,  daß  es  überhaupt  zu  einem  Kriege 
komme;  eine  Eventualität,  die  ich  übrigens  als  völlig  ausgeschlossen 
betrachte.  Wäre  aber  das  Unmögliche  einmal  geschehen,  dann  wäre 
es  zu  spät  für  unser  Eingreifen. 

Adler*):  Wenn  Genosse  Piscel  die  Anerkennung  der  Auto- 
nomie Welschtirols  verlangt,  so  können  wir  diese  Forderung  mit 
um  so  mehr  Entschiedenheit  vertreten,  als  sie  genau  in  die  Linie 
der  Politik  unseres  Programms  fällt.  Die  Organisation  der  natio- 
nalen Autonomie  findet  in  Österreich  ihre  größte  Schwierigkeit  an 
dem  Rest  der  Feudalzeit,  an  den  sogenannten  „historischen  Indivi- 
dualitäten", an  den  Kronländern.  Die  Kronlandsorganisation  aufzu- 
lösen, an  ihre   Stelle  national  abgegrenzte   Territorien  zu   setzen, 


*)  Nach  Adler  sprach  Dr.  Wilhelm  Ellenbogen  (Wien),  dann  Enrico 
F  e  r  r  i  (Rom),  am  Montag  den  22.  Mai  erstattete  Dr.  Antonio  Piscel, 
der  Redakteur  des  „Popolo"  in  Trient,  ein  Referat  über  die  Forde- 
rungen Welschtirols:  dann  sprachen  B  i  s  s  o  1  a  t  i  (Rom),  L  a  z  z  a- 
r  i  n  i  (Albona),  dann  kam  wieder  Adler  zu  Worte.  An  der  Konferenz 
hatten  auch  Vertreter  der  tschechischen  und  der  ungarischen  Partei 
teilgenommen.  (Die  Resolution,  die  da  beschlossen  wurde,  ist  im  Bd.  VIII, 
Seite  304,  in  der  Fußnote  zu  Adlers  Rede  in  der  Budgetdebatte  vom 
15.  Dezember  1908  über  das  Standrecht  in  Prag  abgedruckt,  wo  Adler  sich 
mit  der  italienischen  Frage  beschäftigt.) 


Die  neuen   Dreadnoughts. 


das  ist  der  Weg:,  den  wir  für  notwendig  halten.  Der  erste  und 
leichteste  Fall,  ein  Präjudiz  für  die  zukünftige  Gestaltung  ist  die 
Abtrennung  Welschtirols,  und  wenn  irgendeine  Nation  in  Österreich 
ein  Lebensinteresse  geradezu  an  der  Abgrenzung  nationaler  Terri- 
torien hat,  SO  sind  das  neben  den  Italienern  die  Deutschen.  Wir  sind 
schon  darum  von  jeher  für  diese  Forderung  eingetreten.  Die 
Rüstungen,  von  denen  Piscel  und  andere  Genossen  erzählten,  sind 
nicht  sehr  aufregend.  Die  militärische  Bürokratie  folgt  eben  der 
Mode,  und  seit  dem  Russisch- Japanischen  Kriege  traut  sich  der  Mili- 
tarismus ohne  Stacheldrähte  nicht  auf  die  Straße.  An  den  Krieg 
glaubt  aber  kein  Vernünftiger  und  der  Genosse  Bissoläti 
scheint  die  Sachlage  ziemlich  zu  verkeimen,  wenn  er  an  eine  solche 
Gefahr  glaubt.  Insbesondere  wenn  er  an  die  Gefahr  eines  Krieges 
denkt,  der  Deutschland  und  Österreich  gegen  Italien  und  Frankreich 
einigen  würde.  Sollte  die  Bestialität  eines  solchen  Krieges  jemals 
wirklich  werden,  dann  kann  man  sicher  sein,  daß  Österreich  seine 
beiden  Verbündeten,  Italien  und  Deutschland,  wieder  gegen  sich 
sehen  wird.  Wir  österreichische  Sozialdemokraten  machen  nicht 
gern  solche  Ausflüge  in  Konjekturalpolitik  und  bescheiden  uns,  uns 
auf  jene  Dinge  zu  beschränken,  die  wir  selbst  beeinflussen  können. 

Dem  Genossen  L  a  z  z  a  r  i  n  i,  der  es  für  überflüssig  hält,  daß 
wir  uns  mit  der  Rekonstruktion  Österreichs  beschäftigen,  ist  zu 
sagen:  Man  mag  Österreich  so  wenig  lieben  wie  wir  alle,  doch  von 
den  Wünschen  nach  seiner  Destruktion  kann  das  Proletariat  Öster- 
reichs nicht  leben.  Wir  machen  nicht  eine  Politik  für  Österreich, 
sondern  eine  Politik  für  die  Arbeiter,  deren  wirtschaftliche  und 
kulturelle  Entwicklung  eines  staatlichen  Rahmens  bedarf  und  die 
nicht  verdammt  werden  dürfen,  auf  dem  Trümmerfelde,  das  heute 
dieses  Österreich  darstellt,  zu  verkommen.  Darum  setzen  wir  alle 
unsere  Kraft  daran,  den  Boden  frei  zu  machen  für  ein  neues  Öster- 
reich der  Völker. 

Die  neuen  Dreadnoughts, 

Versammlung  am  7.  Februar  1911*). 

In  unserer  letzten  Versammlung  haben  wir  verhandelt  über  die 
Not,  die  in  Wien  und  in  allen  größeren  Städten  Österreichs 
herrscht,   und   die   nicht   nur   durch    die   Teuerung   der   Nahrungs- 

*)  Am  9.  .Jänner  1911  wurde  die  neue  Regierung  Bienerth  ernannt. 
An  Stelle  des  Polen  Bilinski  wurde  Sektionschef  Dr.  Meyer  Finanz- 
minister, an  Stelle  von  Wrba  wurde  der  Pole  Dr.  Glombinski  Risen- 
bahnminister;  S  t  ü  r  g  h  blieb  Unterriehtsminister,  Hochenburger 
Justizmirrister,  Weiskirchner  Handelsminister. 

Ende  Jänner  hatte  der  Marinekommandant  Montecuccoli  im 
ungarischen  Delegationsausschuß  mitgeteilt,  daß  die  Marineverwaltung 
vier  große  Schlachtschiffe  (Dreadnoughts)  mit  den  dazugehörigen 
Kreuzern,  Torpedos  und  dergleichen  mit  einem  Kostenveranschlag  von 
312  Millionen  Kronen  bauen  wolle,  um  es  so  auf  13  Schlachtschiffe  zu 
bringen.    So    nebenbei    hatte    er    angedeutet,    daß    auch    das    nicht    geniige. 


256  Militarismus   und   Krieg. 


mittel,  sondern  auch  durch  eine  immer  empfindlicher  werdende 
Wohnungsteuerung  hervorgerufen  wird.  Weit  über  die  proletari- 
schen Schichten  hinaus  wird  diese  Not  schwer  empfunden,  und 
im  Reichsrat,  im  Landtag  und  in  den  Gemeindevertretungen  wurde 
sie  erregt  behandelt.  Sie  erinnern  sich  der  Debatten  über  die 
Fleischnot,  über  die  hohen  Zölle  und  die  Wohnungsnot.  Jetzt  sehen 
wir,  daß  es  in  Österreich  auch  noch  andere  Sorgen  gibt  als  um 
Brot  und  Luft.  Wenn  wir  an  die  Regierung  herangetreten  sind. 
um  für  die  Forderungen  des  Volkes  Erfüllung  zu  verlangen,  wenn 
wir  Spitäler,  Schulen,  sozialpolitische  Einrichtungen,  und  sei  es 
auch  nur  die  Gewerbeinspektion,  forderten,  so  hat  es  immer  ge- 
heißen: „Wir  haben  kein  Geld!"  Als  man  einen  Wohnungsfonds 
gründete,  hat  der  Minister  geknapst  und  geknapst  und  den  Betrag 
beschnitten,  wo  er  -nur  konnte,  mit  der  Begründung:  Wir  haben 
kein  Geld!  —  Aber  heute  haben  wir  Geld,  viel  Geld.  (Zwischen- 
ruf: Für  Schiffe!)  Heute  handelt  es  sich  nämlich  nicht  um  das 
Leben  der  Menschen,  heute  handelt  es  sich  um  das  Morden  der 
Menschen.  (Erregte  Rufe:  Nieder  mit  dem  Moloch  und  seinen 
Knechten!)  Es  handelt  sich  heute,  wo  Forderungen  erhoben  wer- 

sondern  daß  man  noch  weitere  drei  Schlachtschiffe  samt  Zugehör  brauche, 
die  weitere  300  bis  350  Millionen  kosten  würden.  Am  1.  Februar  begann 
nun  der  Heeresausschuß  der  österreichischen  Delegation  seine  Beratungen, 
und  da  erfuhr  man  vom  Kriegsminister  Dr.  Schönaich,  daß  auch  das 
alles  noch  nicht  genüge.  Der  Chef  des  Generalstabes  habe  ein  Operat 
über  die  Ausgestaltung  des  Heeres  ausgearbeitet,  wonach  an  „fort- 
laufenden Mehrauslagen",  die  auf  acht  Jahre  aufzuteilen  wären,  120  Mil- 
lionen und  an  „einmaligen  Mehrauslagen",  auf  zehn  Jahre  verteilt, 
355  Millionen,  zusammen  also  475  Millionen  in  Aussicht  genommen  wären, 
wobei   aber   wieder   die   Flottenvermehrung   nicht   eingerechnet   war. 

Um  aber  die  erschreckten  Abgeordneten  wieder  zu  beruhigen,  erzählte 
Schönaich,  die  gemeinsame  Ministerkonferenz  habe  im  November  1910 
beschlossen,  statt  der  475  Millionen  „bloß"  200  Millionen  für  die  Aus- 
gestaltung des  Heeres  bis  zum  Jahre  1915  zu  verlangen;  über  1915  hinaus 
könne  er  aber  keine  Verpflichtung  übernehmen.  Als  Entgelt  für  alles  das 
bot  der  Minister  bloß  die  zweijährige  Dienstzeit,  ratenweise  eingeführt 
innerhalb  von  fünf  Jahren.  Bis  zum  Krieg  gab  es  in  Österreich  nämlich 
noch  die  dreijährige  Dienstzeit. 

Und  dann  kam  der  Finanzminister  Dr.  Meyer,  der  bisher  Präsident 
der  Statistischen  Zentralkommission  gewesen  war,  und  dieser  hatte  den 
Abgeordneten  vorzurechnen,  daß  er  die  halbe  oder  gar  ganz  Milliarde 
ja  gar  nicht  verlange,  sondern  nur  79  Millionen  im  heurigen  Jahre,  wovon 
auf  Österreich  etwa  50  Millionen  kämen.  Aber  auch  diese  50  Millionen 
verlange  er  gar  nicht,  sondern  die  wolle  er  durch  eine  Anleihe  verschaffen, 
wofür  an  Zinsen  nur  2'2  Millionen  oder,  da  die  Anleihe  erst  im  zweiten 
Halbjahr  aufgenommen  werde,  in  diesem  Jahre  gar  nur  Fl  Millionen  zu 
zahlen  wären.  So  hatte  er  die  Kosten  der  Dreadnoughts,  die  in  Wirklich- 
keit eine  Milliarde  oder  eine  halbe  Milliarde  betrugen  —  Hokuspokus,  eins, 
zwei,  drei  — ,  umgerechnet  auf  eine  Zinsenzahl  von  rund  einer  Million . . . 
Und  die  bürgerlichen  Abgeordneten  klatschten  Beifall! 

Natürlich  protestierten  die  Arbeiter  in  Massenversammlungen  gegen 
diesen  Schwindel.  In  der  Versammlung,  die  am  8.  Februar  im  Favoritner 
Arbeiterheim  stattfand,  sprach  Adler. 


Die  neuen  Dreadnoughts.  257 

den,  nicht  um  die  Produktion  zu  liehen  und  die  kulturellen  Kräfte 
des  Volkes  zu  entwickeln,  um  das  Bedürfnis  des  Großstaates 
Österreich-Ungarn,  eine  große,  mächtige  Armee  und  eine  große, 
mächtige  Marine  zu  haben.  (Rufe:  Pur  unsere  kleine  Küste!  Schiffe 
für  Breitensee*)!  —  Heiterkeit.) 

Wir  haben  immer  in  Österreich  schwere  Lasten  durch  den 
Militarismus,  schwere  Lasten,  die  dadurch  nicht  leichter  werden, 
daß  man  sie  vergleicht  mit  den  Lasten  anderer  Staaten  und  uns 
nachweist,  daß  diese  noch  mehr  Millionen  ausgeben.  Wir  haben 
Lasten,  die  für  unsere  Schultern  noch  zu  schwer  waren,  weil  wir 
schwache  Schultern  haben.  Es  ist  wahr,  daß  Deutschland,  Frank- 
reich und  England  pro  Kopf  noch  mehr  Geld  für  die  Marine  und 
das  Militär  ausgeben.  Es  ist  auch  ein  Verbrechen  draußen,  daß  es 
geschieht,  und  auch  dort  leidet  die  Bevölkerung  darunter  und 
wehrt  sich  dagegen  geradeso  wie  bei  uns.  Das  Verbrechen  der 
anderen  ist  noch  keine  Entschuldigung  und  keine  Entlastung  für 
die  Verbrechen,  die  vom  Militarismus  an  uns  begangen  werden. 
(Lebhafter  Beifall.)  Wir  haben  alle  Lasten  des  Militär-  und  Groß- 
staates und  haben  keinen  einzigen  Vorteil  des  Großstaates.  Die 
Herren  dürfen  nicht  vergessen,  daß  die  Industrie  da  draußen  frei 
ist  von  den  lächerlichen  Fesseln  und  Hemmungen,  die  wir  in 
Österreich  haben,  und  auch  nicht  vergessen,  daß  weite  Gebiete 
unseres  Reiches  in  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  so  weit 
zurückgeblieben  sind,  daß  die  ganze  wuchtige  Last  des  Militaris- 
mus auf  einigen  industriellen  Zentren  ruht.  Jetzt  kommt  man  mit 
der  Forderung  von  fast  einer  halben  Milliarde,  sage  fünfhundert 
Millionen,  für  Kriegsschiffe  und  militärische  Rüstungen.  (Allgemeine 
große  Erregung.)  Wenn  wir  eine  Volksvertretung  hätten,  die  über 
militärische  Dinge  sprechen  kann,  so  müßte  jetzt  ein  Aufschrei  von 
ihr  ausgehen,  der  gehört  würde  im  ganzen  Lande.  Sie  wissen  aber, 
daß  Österreich,  wie  es  wirtschaftlich  rückständig  ist,  auch  politisch 
rückständig  ist  bis  zum  Äußersten  und  daß  wir  zwar  eine  Ver- 
tretung haben,  die  die  Steuern  bewilligen  muß,  daß  aber  die  Lasten 
und  Ausgaben  für  Militär  und  Marine  nicht  bewilligt  werden  von 
der  Volksvertretung,  sondern  von  jener  Delegation,  die  nur  ein 
schwächlicher  Ausschuß  ist,  der  seinen  Willen  niemals  äußern 
kann,  weil  er  nullifiziert  wird  durch  die  Vertreter  des  Herren- 
hauses. Damit  mache  ich  freilich  der  Mehrzahl  der  bürgerlichen 
Parteien  ein  ganz  unverdientes  Kompliment.  Wir  hören  auch  bei 
ihnen  nichts  von  diesem  entschiedenen  Nein,  das  dem  Kriegs- 
minister und  dem  Marinekommandanten  jetzt  entgegengerufen 
werden  sollte.  (Entrüstete  Rufe:  Die  tun  ja  selber  mit!  Die 
schinden   uns   dafür   selber   die   Steuern    heraus!) 

Der  merkwürdige  Finanzminister. 

Wir  haben    seit  einigen   Wochen   eine   funkelnagelneue   Regie- 
rung:   das    Ministerium    Bienerth    im   dritten   Aufguß.   (Heiterkeit.) 

*)  Breitensee  ist  ein  ehemaliger  Vorort  von   Wien,  jetzt  ein  Teil  des 
13.  Wiener  Bezirkes. 

Adler,  Briefe.   XI.  Bd.  17 


258  Militarismus   und   Krieg. 


Da  ist  uns  in  der  Budgetdebatte  auch  der  neue  Finanzminister  vor- 
gestellt worden.  Dr.  Meyer,  Professor  Dr.  Meyer,  früher  Sektions- 
chef, ein  Gelehrter,  ein  tüchtiger  Statistiker  und  vor  allem  ein 
tüchtiger  Beamter  —  das  wird  niemand  leugnen  — ,  aber  ein  sehr 
merkwürdiger  Finanzminister.  (Heiterkeit.)  Das  ist  nicht  sein 
Fehler,  sondern  der  Fehler  seines  Geschäfts.  Es 
wäre  sehr  schwer,  einen  zu  finden,  der  dieses  Geschäft  so  führte, 
wie  es  vernünftig  geführt  werden  sollte.  In  seiner  ersten  Rede 
hat  er  uns  gesagt,  daß  wir  die  Tugend  des  Sparens  üben  müssen, 
und  uns  an  die  Lebensregel  erinnert,  daß  man  das,  was  man  aus- 
gibt, auch  einnehmen  muß.  Man  hat  ihm  aus  den  Kassen  zuviel 
herausgenommen.  Damit  hat  er  aber  nicht  gemeint,  daß  man  die 
Kassen  ausgeleert  und  umgedreht  hat,  um  die  Gelder  für  die 
Annexion  Bosniens,  für  die  Renovierung  der  Armee  unter  dem 
trügerischen  Vorwand  einer  Kriegsgefahr  zu  verwenden.  Davon 
hat  er  nicht  gesprochen,  daß  hiedurch  unsere  Kassen  leer  wurden, 
sondern  leer  sind  sie  geworden  durch  die  Verbesserung  einiger 
Beamtengehalte,  leer  sind  sie  geworden  durch  den  bloßen 
Gedanken,  daß  eine  Alters-  und  Invalidenversicherung  kommen 
werde.  (Lebhafte  Heiterkeit.)  Das  ist  einer  der  größten  Schwindel. 
die  man  jetzt  aufführt.  Sooft  von  österreichischen  Finanzen  die 
Rede  ist,  weist  man  immer  auf  die  „kolossalen  Kosten"  hin,  die 
die  Sozialversicherung  verursachen  wird.  Es  ist  deshalb  schon 
Schwindel,  weil  ihre  Kosten  in  der  ersten  Zeit  gleich  Null  sein 
werden  und  es  Jahre  dauern  wird,  bis  für  sie  im  österreichischen 
Budget  eine  überhaupt  empfindliche  Last  zu  tragen  sein  wird.  Die 
ersten  Jahre  werden  drei,  vier,  fünf  Millionen  für  sie  notwendig 
sein,  dann  wird  es  sehr  lange  dauern,  bis  die  Sozialversicherung 
soviel  erfordern  wird  wie  die  Herstellung  eines  Kreuzers,  und  so 
hoch  wie  die  Kosten  eines  Dreadnoughts  wird  dem  Staate  wahr- 
scheinlich die  ganze  Alters-  und  Invalidenversicherung  im  Jahre 
nie  kommen.  In  Budapest  hat  nun  der  Finanzminister  wieder  ge- 
sprochen, und  ausgerechnet  derselbe  Mann,  der  uns  in  Wien  be- 
lehrt hat,  daß  man  einnehmen  muß,  was  man  ausgibt,  hat  uns  in 
Budapest  nicht  ausgerechnet,  wie  man  die  halbe  Milliarde  herein- 
bringt, sondern  nur,  wie  man  die  Zinsen  zahlen  kann,  die  im  — 
ersten  halben  Jahre  fällig  sind.  (Stürmische  Erregung.)  Sie  dürfen 
das  dem  Manne  nicht  persönlich  anrechnen.  Das  ist  das  Schicksal 
eines  österreichischen  Finanzministers,  daß  er  ein  Schwächling 
sein  muß  für  die  Forderungen,  die  von  oben  kommen,  und  mich 
wundert  nur,  daß  es  noch  Leute  gibt,  die  das  Metier  übernehmen. 

Wozu  brauchen  wir  eine  Armee  und  eine  Marine? 

Nun  sagt  man  uns,  die  Armee  sei  rückständig.  Wir  fordern 
allerdings  auch,  daß  jeder  waffenfähige  Mann  die  Waffe  trage, 
aber  wir  fordern  die  Bewaffnung  des  Volkes,  damit  es  fähig  sei, 
sich  gegen  seine  Feinde  zu  wehren  (Zwischenrufe:  Den  wirklichen 
Feind!),  mögen  sie  kommen  woher  immer.  Auf  dem  Wege  zu 
diesem  Ziele  verlangen  wir  auch  die  zweijährige  Dienstzeit.  Der 
Kriegsminister  aber  erklärt  uns:  Die  Herabsetzung  der  Dienstzeit 


Die  neuen  Dreadnoughts.  2W 

auf  zwei  Jahre  gehl  nur  bei  der  Infanterie  und  nicht  bei  der 
Kavallerie  und  Artillerie,  und  er  benutzt  die  zweijährige  Dienst- 
zeil, um  wieder  ein  Geschäft  ZU  machen  durch  die  Erhöhung  des 
Präsenzstandes.  Wir  brauchen  eine  Armee  und  eine  Marine,  sagt 
man  uns.  Warum  brauchen  wir  eine  Marine?  Weil  wir  unsere 
Küsten  schützen  müssen  gegen  Angriffe  von  Italien.  (Schallende 
Heiterkeit.)  Ich  freue  mich,  daß  Sie  auch  darüber  lachen  und  daß 
Sie  das  nicht  glauben.  Aber  in  den  offiziösen  Zeitungen  wird  uns 
das  jetzt  immer  erzählt  und  gewisse  Leute  sagen  es  mit  geheimnis- 
voller Miene  und  glauben  es  oder  tun  so,  als  ob  sie  es  glaubten, 
und  „beweisen"  damit,  daß  die  Hunderte  von  Millionen  bewilligt 
werden  müssen.  Nun  sagt  der  Kriegsminister:  Ein  Krieg  kostet 
mehr  Milliarden  als  die  Rüstungen  Millionen.  Durch  Rüstungen  hat 
man  noch  keinen  Krieg  verhindert;  aber  die  richtige  Antwort  ist 
die :  Wir  wollen  ja  keinen  Krieg  führen.  Welche  Not- 
wendigkeit, welchen  Zwang  oder  Anlaß  hat  Österreich,  einen 
Krieg  zu  führen?  Österreich  hat  wirklich  zu  Hause  genug  zu  tun, 
und  wenn  der  Staat  Österreich  Eroberungen  machen  will,  so  möge 
er  seine  eigenen  Völker  für  diesen  Staat  erobern.  Es  fehlt  noch  sehr 
\  iel.  daß  diese  Völker  diesen  Staat  lieben.  Die  Aussicht  auf  einen 
Krieg  wäre  das  Schlimmste,  das  passieren  könnte;  aber  kein 
Mensch  denkt  im  Ernst  an  einen  Krieg,  bei  uns  nicht  und  in  Italien 
nicht.  Warum  spricht  man  denn  von  Beunruhigungen  zwischen 
Österreich  und  Italien  —  hüben  und  drüben?  Nicht  wegen  der 
Beunruhigung  rüstet  man,  nicht  weil  man  den  Krieg  fürchtet,  baut 
man  Schiffe,  sondern  man  erfindet  Beunruhigung,  streut  Gerüchte 
aus  über  die  Kriegslüsternheit  beim  anderen  Staate,  gewissenlos 
und  verbrecherisch,  um  rüsten  zu  können.  So  macht  man  es  nicht 
nur  bei  uns,  sondern  auch  in  Italien.  Mit  diesen  Mitteln  will  man 
die  bürgerlichen  Parteien  zusammentreiben,  daß  sie  für  die  wahn- 
sinnigsten Militärforderungen  stimmen.  Als  die  kolossalen  Forde- 
rungen des  Kriegsministers  und  des  Marinekommandanten  bekannt 
wurden,  da  waren  sie  auch  den  bürgerlichen  Parteien  zuviel  Da 
ist  nun  der  Kriegsminister  gekommen  und  hat  eine  lange  Rede 
gehalten,  deren  Inhalt  war,  nicht  daß  es  weniger  kostet,  sondern 
daß  sich  die  Herren  nicht  einbliden  sollen,  daß  das  schon  das  Ende 
ist.  es  sei  erst  der  Anfang.  (Hört!  Hört!)  Da  stand  der  Oberkurator 
Steiner  von  den  Christlichsozialen,  die  heute  die  Führer  des 
Bürgertums  sind,  auf  und  sagte,  die  Rede  des  Herrn  Ministers 
habe  eine  Entspannung  bei  ihm  hervorgerufen.  (Heiterkeit.)  Zuerst 
war  er  überspannt,  jetzt  ist  er  entspannt  und  es  ist  ihm  schon 
leichter.  Diese  bürgerlichen  Parteien  —  die  Christlichsozialen  und 
die  Herren,  die  sich  im  Deutschen  Nationalverband  zusammen- 
gefunden haben  -  werden  also  für  die  Militär-  und  Marinekosten 
stimmen.  Sie  klammern  sich  in  ihrer  Kritik  deshalb  jetzt  schon 
nur  an  Kleinigkeiten.  Die  paar  Millionen,  die  die  zweijährige 
Dienstzeit  kostet,  die  drücken  sie;  gerade  die  tun  es  ihnen  an;  die 
Hunderte  Millionen  für  Rüstungen  und  Schiffe  machen  ihnen 
nichts.    Aber    es   kommen   auch    wieder    einmal    Wahlen   und    eine 

17* 


260  Militarismus   und   Krieg. 


Agitation  mit  der  halben  Milliarde  für  Rüstungen  auf  dem  Buckel 
ist  ein  bißchen  schwer  (Heiterkeit),  und  sie  wissen,  daß  sie  sich 
zu  viel  demaskiert  haben,  die  Lust,  alles  zu  bewilligen,  unvor- 
sichtig preisgegeben  haben.  Und  darüber  denken  sie  nach.  Nicht  die 
Tatsache,  daß  der  Bevölkerung  neue  Lasten  auferlegt  werden, 
bedrückt  sie,  sondern  was  sie  bedrückt,  ist  die  bittere  Notwendig- 
keit, daß  sie  für  alles  stimmen  müssen  und  dann  dafür  die  Prügel 
bekommen.  Ihre  eigene  Not  ist  es,  die  sie  quält,  die  Enthüllung 
ihrer  niederträchtigen  Demagogie,  die  sie  als  Demokraten  ausgibt 
und  bei  der  ersten  Gelegenheit  zusammenbricht,  wenn  der  Hof 
anschafft,  möge  die  Last  noch  so  groß  sein.  Und  darum  unter- 
stützen die  christlich  soziale  Presse  und  ein 
Teil  der  deutschnationalen  Presse  diese  nieder- 
trächtigen Gerüchte  und  Ausstreuungen,  als  wären 
wirklich  Reibungen  zwischen  Österreich  und  Italien  da,  die  zu 
einem  Kriege  führen  könnten. 

Die  Lüge  von  der  Kriegslüsternheit. 

Alles  von  dieser  Kriegslüsternheit  ist  nur  eine  Lüge,  die  er- 
funden wird,  um  die  Geschäfte  des  Militarismus  zu  besorgen,  und 
daß  es  eine  Lüge  ist,  dafür  werden  die  Proletarier  beider  Länder 
in  kurzer  Zeit  den  glänzendsten  Beweis  liefern.  Vor  einigen  Tagen 
sind  einige  Genossen  von  uns  in  Triest  mit  den  Genossen  von 
Italien,  Vertretern  großer  Gewerkschaften,  zusammengekommen 
und  haben  darüber  beraten,  wie  man  dem  niederträchtigen  Schwin- 
del von  der  Kriegslust  ein  Ende  machen  kann;  denn  was  bei  uns 
erzählt  wird  von  der  Kriegslüsternheit  der  Italiener,  das  wird  in 
Italien  erzählt  von  der  Kriegslüsternheit  der  Österreicher.  Wir 
wollen  ejne  große  Manifestation 

veranstalten,  die  dieser  Lüge  ein  Ende  macht.  In  Florenz  oder  Rom 
werden  am  Palmsonntag  die  Delegierten  Österreichs,  Ungarns  und 
Italiens  zusammenkommen,  um  zu  manifestieren,  daß  die  arbei- 
tenden Massen  in  Österreich-Ungarn  und  Italien 
keinen  Krieg  wollen.  (Lebhafter  Beifall.)  Wir  haben  be- 
schlossen, einen  Aufruf  in  Österreich  und  in  Italien 
zu  verbreiten  und  an  einem  Tage  in  beiden  Ländern  in  jedem 
Zentrum  große  Versammlungen  abzuhalten,  in  denen  die  Arbeiter 
erklären,  wie  sie  über  Krieg  und  Frieden  denken  und  wie  sie 
denken  über  den  mordenden  Militarismus,  der  uns  im  Frieden  fast 
mehr  mordet  als  im  Kriege.  (Stürmischer,  sich  immer  wieder  er- 
neuernder Beifall.) 

Der  Gedenktag  der  Internationale. 

„Arbeiter-Zeitung",  27.  September  1914*). 

Morgen  jährt  sich  zum  fünfzigstenmal  der  Tag  der  Gründung 
der      Internationalen      Arbeiterassoziation.       Am 

*)  Der  Krieg  war  vor  wenigen  Wochen  ausgebrochen  und  Adler  be- 
nutzte den  Gedenktag  der  Internationale,    um    unter    dem    Schein    eines 


Der  Gedenktag  der  Internationale.  261 

js.  September  iw>4  hal  zu  London  in  St.  Martins  Hall  ein  Massen« 
meeting,  woran  niclit  nur  Engländer,  sondern  auch  besonders  zahl- 
reich Deutsche,  Franzosen,  Italiener  und  Polen  teilnahmen,  die 
Gründung  einer  Internationalen  Vereinigung  beschlossen,  um  die 
Arbeitergemeinschaft  zu  fördern.  In  das  Komitee,  das  dieser  Ver- 
einigung das  Programm  und  das  Statut  geben  sollte,  wurde  neben 
einer  Anzahl  von  Leitern  der  englischen  Gewerkschaften,  neben 
Vertretern  der  vorgeschrittensten  Arbeitergruppen  aller  Länder 
auch  Karl  Marx  gewählt,  der  bald  bestimmend  wurde  für  den 
(ieist  und  das  Werk  der  neuen  Organisation.  Zum  erstenmal  fand 
die  internationale  Solidarität  der  Arbeiterklasse  einen  klar  be- 
wußten Ausdruck,  wurde  internationale  proletarische  Politik 
lebendige,  wirkende  Tatsache.  Das  Wachsen  und  die  Leistung 
dieser  internationalen  Arbeiterassoziation  ist  ein  ruhmreiches 
Stück  der  Geschichte  des  Proletariats.  Der  Rahmen  der  alten 
Assoziation  wurde  gesprengt  durch  das  Gelingen  ihres  Werkes, 
durch  das  Anwachsen  der  proletarischen  Organisationen  zu  großen 
Parteien,  die  nicht  mehr  in  der  zu  eng  gewordenen  Form  eines 
Vereines  zusammengehalten  werden  konnten.  Fünfundzwanzig 
Jahre  nach  der  Gründung  der  ersten  wird  auf  dem  Pariser  Kon- 
greß die  zweite  Internationale  gegründet,  die  nunmehr  eine  Zu- 
sammenfassung aller  proletarischen  Parteien  und  Gewerkschaften 
ist,  welche  auf  prinzipiell  gemeinsamem  Boden  stehen,  auf  dem 
Boden  des  mit  klarem  Bewußtsein  in  internationaler  Solidarität 
geführten  Klassenkampfes;  mit  dem  Ziele  der  ökonomischen  Be- 
freiung der  Arbeiterklasse  durch  das  Mittel  der  Erringung  der 
politischen  Macht.  Jahr  um  Jahr  werden  die  Beziehungen  zwischen 
den  Arbeitern  der  verschiedenen  Länder  enger  und  inniger;  deut- 
licher und  lebendiger  wird  das  Bewußtsein,  daß  die  internationale 
Gemeinschaft  eine  Notwendigkeit  ist,  die  dem  Proletariat  nicht 
etwa  nur  aus  seinem  menschlichen  Empfinden,  sondern  aus  seinem 
Lebensbedürfnis  entspringt.  Die  internationale  Herrschaft  des 
Kapitals  hat  den  internationalen  Kampfesbund  des  Proletariats  zur 
naturnotwendigen  Folge.  Die  Aufgabe  der  Internationale  war  es. 
diese  eiserne  Notwendigkeit  wirksam  zu  machen,  wirksam  im 
Bewußtsein  der  Arbeiterschaft,  wirksam  in  der  Organisation  und 
wirksam  in  der  planmäßigen  Geltendmachung  der  wachsenden 
Kraft  und  Macht  des  international  geeinigten  Proletariats. 

Vor  allem  ist  das  Objekt  des  Klassenkampfes  die  Lebenshaltung 
des  Proletariats,  der  Kampf  gegen  die  Ausbeutung.  Aber  der 
Kapitalismus  hat  noch  ein  anderes  Gesicht  als  das  des  privaten 
Ausbeuters.  Er  ist  auch  Beherrscher  der  Staaten  und  der  eigent- 
liche Herr  über  Krieg  und  Frieden.  Darum  mußte  die  Internatio- 
nale, und  das  wußten  schon  ihre  Stifter  ganz  genau,  sich  auch  um 
die  äußere  Politik  kümmern,  die,  wie  es  in  der  ersten  Adresse  der 
Internationale  heißt,  „frevelhafte  Zwecke  verfolgt,  mit  National- 
vorurteilen ihr  Spiel  treibt  und  in  piratischen  Kriegen  des  Volkes 

historischen    Rückblickes  so    daß    die    Krie^szensur    nichts    einwenden 

konnte         Über  die   Internationale   und   den   Krieg  zu   schreiben. 


262  Militarismus  und  Krieg. 


Blut  und  Gut  vergeudet".  Und  gerade  heute  lesen  wir  mit  beson- 
derem Verständnis  in  dieser  vor  fünfzig  Jahren  nach  der  Nieder- 
werfung des  polnischen  Autstandes  geschriebenen  Adresse  die 
Worte:  „Der  schamlose  Beifall,  die  Scheinsympathie  oder  idiotische 
Gleichgültigkeit,  womit  die  höheren  Klassen  Europas  dem  Meuchel- 
mord des  heroischen  Polen  und  der  Erbeutung  der  Bergfeste  des 
Kaukasus  durch  Rußland  zusahen;  die  ungeheuren  und  ohne  Wider- 
stand erlaubten  Übergriffe  dieser  barbarischen  Macht,  deren  Kopf 
zu  St.  Petersburg  und  deren  Hand  in  jedem  Kabinett  von  Europa, 
haben  den  Arbeiterklassen  die  Pflicht  gelehrt,  in  die  Geheimnisse 
der  internationalen  Politik  einzudringen,  die  diplomatischen  Akte 
ihrer  Regierungen  zu  überwachen,  ihnen,  wenn  nötig,  entgegen- 
zuwirken, wenn  es  aber  unmöglich,  ihnen  zuvorzukommen,  dann 
sich  zu  vereinigen  in  gleichzeitigen  Anklagen  und  die  einfachen 
Gesetze  der  Moral  und  des  Rechtes,  welche  die  Beziehungen  von 
Privatpersonen  regeln  sollten,  als  die  obersten  Gesetze  des  Ver- 
kehrs von  Nationen  geltend  zu  machen.  Der  Kampf  für  eine  solche 
auswärtige  Politik  ist  eingeschlossen  im  allgemeinen  Kampf  für 
die  Emanzipation  der  Arbeiterklasse." 

Redlich  und  tapfer  hat  die  Internationale  während  dieser  fünfzig 
Jahre  ihre  Pflicht  erfüllt  und  das  klassenbewußte  Proletariat  hat 
in  allen  Ländern  mit  Aufgebot  aller  seiner  Kraft  für  die  Verständi- 
gung unter  den  Völkern  und  für  den  Frieden  zwischen  den  Staaten 
gewirkt  und  gekämpft.  Aber  noch  hat  es  nirgends  die  Macht,  noch 
ist  ungebrochen  die  Gewaltherrschaft  des  Kapitalismus,  der  als 
kriegerischer  Imperialismus  die  nationalen  Gegensätze  benützt,  zu 
blutigem  Haß  aufpeitscht  und  schließlich  die  Staaten  fast  ohne 
ihren  Willen,  ja  vielleicht  gegen  ihren  Willen  in  jene  ungeheure 
Katastrophe  hineingetrieben  hat,  deren  entsetzte  Zeugen  und  wehr- 
lose Opfer  die  Völker  Europas  sind.  Das  Proletariat  konnte  die 
Katastrophe  des  Weltkrieges  nicht  hindern,  noch  mehr:  Auch  die 
Proletarier  jedes  Landes  sind  verpflichtet,  zu  kämpfen,  ihr  äußerstes 
zu  tun,  um  sich  den  Boden  und  die  Bedingungen  ihres  Lebens  zu 
erhalten;  und  die  sich  als  Brüder  gefühlt  haben  und  heute  noch 
fühlen,  sind  durch  ein  furchtbares  Verhängnis  gezwungen,  einander 
mit  der  Waffe  in  der  Hand  gegenüberzustehen.  Aber  das  Bewußt- 
sein der  proletarischen  Solidarität  kann  in  den  Strömen  von  Blut 
und  in  dem  nervenzerreißenden  Grauen  dieses  Krieges  nicht  er- 
stickt werden.  Um  auch  noch  in  diesem  Meer  von  Ungeheuerlich- 
keit das  gemeinsam  Menschliche,  wo  immer  nur  möglich,  zu  retten, 
zu  stärken,  zu  erhalten,  sind  alle  sozialistisch  Denkenden  unermüd- 
lich am  Wrerk.  Und  die  Internationale?  Ihre  Stimme  ist  heute  vom 
Donner  der  Kanonen  übertönt,  ihre  Hand  gelähmt,  ihr  Band  un- 
sichtbar und  unwirksam  geworden.  Aber  die  Internationale  ist 
keineswegs  tot,  wie  höhnende  Feinde  und  kleinmütige  Freunde 
meinen.  Sie  wird  sich  geltend  machen  als  Wille  zum  Frieden 
und  sie  wird  wieder  zum  Wirken  und  zur  Tat  erwachen.  Denn 
wenn  dieser  Krieg  die  Tatsache  der  Klassenherrschaft  nicht  aus 
der  Welt  schafft,  so  wird  es  auch  dann  ein  Proletariat  geben,  das 


I  [offnuaKsschimtner. 

nur  leben,    kämpfen    und    siegen    kann  in  jener  weltumfassenden 

Solidarität,  in  deren  Zeichen  die  Arbeiterklasse  endlich  ihren 
Krieg  führen  und  ihren  Sieg  erfechten  wird,  im  Zeichen  der 
Internationale. 

Hoffnungsschimmer. 

„A  r  b  e  i  t  e  r  -  Z  e  i  t  u  n  g",    1  4.   F  c  b  mar    1915   I. 

Was  alle  Völker,  alle  die  Hunderte  von  Millionen,  die  unter  dem 
unsagbaren  Entsetzen  dieses  Krieges  leiden,  bewegt,  ist  der  Friede. 
Ein  dauernder  Friede  ist  das  tägliche  Gebet  aller,  /weitellos 
derer,  die  in  bewundernswertem  Heldenmut  dem  Tode  und  allen 
unerhörten  Strapazen  die  Stirn  bieten,  aber  nicht  minder  derer,  die 
schmerzvoll  und  fast  beschämt  nur  mitleiden,  aber  nicht  mitkämpfen 
können.  Wir  alle  wollen  durchhalten;  aber  wir  wollen  nicht 
nur  durchhalten  in  der  Abwehr  des  Feindes  und  in  der  Erhöhung 
der  Widerstandsfähigkeit  unseres  Landes  und  unseres  Volkes  bis 
auf  den  letzten  Rest  unserer  Kraft,  sondern  auch  durchhalten  in 
jeder  Bemühung,  die  uns  dem  Ende  dieses  grenzenlosen  Leidens  für 
die  Kulturwelt  näherbringt.  Darum  muß  jedes  Anzeichen,  das  dafür 
spricht,  daß  dieses  Empfinden  von  Tag  zu  Tag  allgemeiner  wird, 
in  allen  Ländern  und  in  allen  Klassen  sorgfältig  verzeichnet,  geprüft 
und  erwogen  werden. 

Die  Sozialdemokratie  in  Deutschland  und  Österreich  hat  es  an 
dem  Rufe  nach  dem  Frieden  niemals  fehlen  lassen,  und  während  das 
klassenbewußte  Proletariat  alle  seine  Entschlossenheit  und  Tüchtig- 
keit aufwendete,  um  das  Land  vor  einer  Niederlage  zu  bewahren, 
und  zur  Einschränkung  der  dem  Kriege  entspringenden  Nöte  alle 
seine  Ausdauer  und  Organisationserfahrung  einsetzte,  hat  es  jede 
Gelegenheit  benützt,  um  neben  dem  Willen  zum  Siege  auch  mit  der- 
selben Leidenschaft  dem  Willen  zum  Frieden  Ausdruck  zu  geben. 
Es  sei  rühmend  und  dankbar  festgestellt,  daß  die  Sozialdemokraten 
Serbiens  unter  ganz  besonders  schwierigen  Verhältnissen  von  jeher 
und  bis  zur  Stunde  eine  opfervolle  Agitation  für  den  Frieden  führen. 
In  England  hat  die  bedeutendste  sozialistische  Partei,  die  Unab- 
hängige Arbeiterpartei  unter  Führung  des  tapferen  Keir  Hardie,  nicht 
aufgehört,  gegen  die  chauvinistischen  Kriegshetzer  einen  erbitterten 
Krieg  zu  führen,  wie  er  in  anderen,  weniger  demokratischen  Ländern 
ganz  unmöglich  wäre.  In  Rußland  haben  —  von  den  im  Ausland 
lebenden  Vertretern  einzelner  Gruppen  sei  in  diesem  Zusammen- 

*)  Dieser  Artikel  erschien  als  Leitartikel  der  „Arbeiter-Zeitung"  mit  der 
Namensnennung  Adlers  am  14.  Februar  1915.  In  dem  noch  erhaltenen,  im 
Besitz  des  ehemaligen  Metteurs  der  „Arbeiter-Zeitung"  Karl  Keller  befind- 
lichen Manuskript  des  Artikels  ist  als  Titel  des  Artikels  zuerst  „E  i  n 
Hoffnungsstrahl"  angegeben.  Dieser  wurde  dann  gestrichen  und  dar- 
über der  Titel  „Auf  dem  Wege  zum  Ende"  geschrieben.  Der  Anfang 
des  Artikels  ist  in  der  Handschrift  Adlers  im  Faksimile  im  Anhang  ab- 
gedruckt. 


264  Militarismus   und  Krie«. 


hang  abgesehen  —  die  offiziellen  Vertreter  der  sozialdemokratischen 
Partei,  ihre  Abgeordneten  in  der  Duma,  gegen  den  Krieg  protestiert, 
an  der  Abstimmung  nicht  teilgenommen  und  büßen  ihre  heroische 
Haltung  in  den  Kerkern  der  zarischen  Regierung,  die  ihre  Immunität 
mit  Füßen  tritt;  sie  warten  auf  ihr  Urteil,  das  in  den  nächsten  Tagen 
gesprochen  werden  soll.  Von  den  Belgiern  sei  nicht  gesprochen, 
so  wenig  wie  von  den  Polen.  Der  himmelschreiende  Jammer,  der 
über  Belgien  gekommen  ist,  der  Kampf  für  die  ganze  Zukunft  eines 
Volkes,  den  die  Polen  führen,  dieser  Kampf,  in  dem  alle  geschicht- 
lichen Hoffnungen  neben  der  Verzweiflung  wohnen,  ihr  Land  von 
Millionenheeren  zerstampft  zu  sehen,  gibt  Belgiern  und  Polen  eine 
besondere  Stellung. 

Anders  war,  soviel  wir  wissen,  bisher  die  Haltung  der  franzö- 
sischen Sozialisten,  deren  Redner  und  Zeitungen  sich  gegen  jeden 
Frieden  aussprachen,  der  nicht  die  völlige  Niederwerfung  Deutsch- 
lands und  Österreichs  abschließen  würde.  Seit  einigen  Monaten  ist 
nun  auch  da  eine  Änderung  eingetreten,  die  sich  in  den  letzten  Tagen 
zu  einer  Reihe  von  Anzeichen  verdichtet  hat,  die  hoffen  lassen,  daß 
sich  ein  gewisser  Wandel  in  den  Gedankengängen  und  Stimmungen 
der  sozialistischen  Gruppen  der  Ententestaaten  zu  entwickeln  be- 
ginnt. Vor  allem  in  Frankreich.  Die  französischen  Sozialisten  haben 
sich  von  der  ersten  Minute  des  Krieges  an,  selbstverständlich  wie 
wir  Sozialdemokraten  alle  in  allen  Ländern,  auf  den  Boden  der  Ver- 
teidigung ihres  Landes  gestellt.  Das  war  nicht  nur  ihr  Recht,  son- 
dern ihre  Pflicht,  wie  es  Recht  und  Pflicht  der  deutschen  Sozial- 
demokraten war,  bei  den  Abstimmungen  im  Deutschen  Reichstag 
am  4.  August  und  2.  Dezember  mit  der  größten  Wucht  und  Feier- 
lichkeit zu  bekennen,  daß  sie,  da  der  Krieg,  den  sie  verdammen, 
nun  einmal  da,  ihre  volle  Kraft  und  ihren  letzten  Tropfen  Blut  an 
die  Verteidigung  des  deutschen  Bodens  und  des  deutschen  Volkes, 
das  als  uns  wertvollstes  Glied  die  deutsche  Arbeiterklasse  umfaßt, 
setzen.  Und  die  sozialdemokratische  Fraktion  in  Berlin  hat  auch  für 
uns  Österreicher  gesprochen,  die  das  Schicksal  freilich  in  weit 
weniger  einfache  Verhältnisse  gestellt  hat  und  denen  überdies  jede 
Möglichkeit,  zu  sprechen,  entzogen  war.  Wir  haben  also  hüben  wie 
drüben  ein  gutes  Gewissen  als  Sozialdemokraten  wie  als 
Glieder  der  Internationale,  die  immer  mit  aller  Leidenschaft  gegen 
den  Krieg  und  für  den  Völkerfrieden  eingetreten  ist,  die  aber  niemals 
und  für  niemand  die  Landespreisgebung  als  proletarische  Pflicht 
vorgeschrieben  hat.  Jeder  von  uns  hat  in  jenen  furchtbaren  August- 
wochen die  erdrückende  Schwere  des  tragischen  Konflikts  empfun- 
den, aber  keiner,  der  nicht  die  proletarische  Politik  als  ein  Gedanken- 
spiel im  luftleeren  und  vor  allem  menschenleeren  Räume  ansieht, 
konnte  eine  andere  Entscheidung  treffen  oder  auch  nur  erwarten. 
Wenn  von  einzelnen  Genossen  trotzdem  an  der  Entscheidung  der 
deutschen  Sozialdemokraten  und,  wohlgemerkt,  nur  an  dieser,  nicht 
etwa  auch  an  der  der  Franzosen,  gemäkelt  wird,  so  wird  man  das 
bei  allem  Respekt  vor  jeder  ehrlichen  Überzeugung  nur  entweder 
als  Äußerung  eines  naiven  Doktrinarismus  oder,  was  noch  schlimmer 


i  [offnungsschimmer. 

wäre,  als  demagogische  Ausnützung  des  Grauens  ansehen  müssen, 
das  angesichts  des  Entsetzlichen,  das  uns  der  Krieg  gebracht,  nicht 
nur  uns  alle,  sondern  auch  die  leidenden  Massen  täglich  mehr  be- 
herrscht Dieses  Spiel  wäre  lange  ZU  Ende,  wenn  nicht  mancherlei 
und  in  diesen  Zeiten  noch  mehr  als  sonst  unvermeidliche  Ent- 
gleisungen  einer  böswilligen  Kritik  erwünschten  Stoff  Rehen  würden 
und  wenn  nicht  die  gründliche  Abwehr  solcher  Demagogie  durch  die 
Einschränkung  der  Presse  mehr  behindert  wäre  als  die  Demagogie 
selbst,  die  sich  mit  halben  Worten  begnügt,  durch  keinen  Sinn  für 
Verantwortung  gehemmt  ist  und  schließlich  in  die  ausländische, 
völlig  urteilslose  Presse  flüchten  kann. 

Unsere  französischen  Genossen  haben  die  Verteidigung  ihres 
Landes  mit  gewohnter  Leidenschaft  aufgenommen,  sie  haben  sie  als 
eine  Sache  des  gesamten  Volkes  angesehen  und  haben,  wie  das  in 
einem  demokratischen  Lande  fast  selbstverständlich  ist,  auch  die 
Verantwortung  mitübernommen,  indem  sie  zwei  Mitglieder  in  das 
Ministerium  delegierten.  Das  war  aber  nicht  alles.  Wenn  wir 
Deutschen  uns  redliche  Mühe  gaben,  die  Franzosen  zu  verstehen, 
wenn  wir  erst  recht  die  furchtbare  Lage  der  belgischen  Genossen, 
deren  unglückliches  Land  der  Schauplatz  des  Entsetzlichsten  ge- 
worden war,  zu  begreifen  suchten,  so  hat  man  es  drüben  an  jedem 
Versuch,  die  deutschen  Sozialdemokraten  mit  einiger  Objektivität 
und  Gerechtigkeit  zu  beurteilen,  fehlen  lassen.  Eines  der  schlimmsten 
Übel  ist  ja  freilich,  daß  der  Krieg  alle  Verbindung  zwischen  uns  zer- 
stört und  uns  auf  zum  Teil  sehr  trübe  Quellen  angewiesen  hat.  Noch 
heute  ist  es  ungemein  schwer,  sich  die  französische  und  englische 
Parteipresse  zu  verschaffen,  und  die  offiziellen  und  nichtoffiziellen 
Depeschenbüros  verbreiten  mit  größtem  Behagen  Nachrichten,  die 
geeignet  sind,  die  Sozialdemokraten  der  verschiedenen  Länder 
gegeneinander  zu  hetzen.  Daß  sie  dabei  vor  Entstellung  und  blanken 
Lügen  nicht  zurückschrecken,  wird  niemand  überraschen,  der  über- 
legt, daß  das  nicht  nur  zu  den  Methoden  moderner  Kriegführung 
gehört,  sondern  daß  auch  die  Vergiftung  der  internationalen  Be- 
ziehungen der  proletarischen  Parteien  und  womöglich  die  Behinde- 
rung des  Wiederaufbaues  der  Internationale  ein  den  herrschenden 
sowie  den  kapitalistischen  Interessengruppen  erwünschtes  Neben- 
produkt ist.  Sich  dadurch  irreführen  zu  lassen  ist  für  erfahrene  Leute 
unerlaubte  Naivität  und  es  muß  als  ein  gemeinschädliches  Beginnen 
entschieden  zurückgewiesen  werden,  wenn  man  kindlich-gläubig 
gegenüber  allen  Übertreibungen  und  Lügen  sogar  des  berüchtigten 
.,Matin",  hingegen  ohne  genaue  Kenntnis  der  bekanntesten  Tat- 
sachen des  Lebens  der  Internationale  zügellose  Anklagen  gegen  die 
„Tripelententesozialisten"  erhebt,  die  jedes  Maß  übersteigen  und 
an  sich  ein  ebenso  großer  Exzeß,  ein  ebenso  großes  Vergehen  gegen 
die  in  Zukunft  noch  mehr  als  je  notwendige  Verbindung  des  Prole- 
tariats sind  wie  die  mit  Recht  oder  Unrecht  denunzierten  Exzesse 
der  anderen  selbst. 

Leider  ist  die  gegenwärtig  festzustellende  Wahrheit  bisher  un- 
erfreulich genug  gewesen.  Das  Verhalten  der  deutschen  und  seihst- 


266  Militarismus    und   Krickr. 


verständlich  auch  der  österreichischen  Sozialdemokratie  wurde  von 
der  französischen  Parteipresse  als  Verrat  an  der  Internationale  be- 
zeichnet, ohne  jeden  Schatten  des  Verständnisses  dafür,  daß  wir 
nichts  anderes  getan,  als  was  die  französischen  Sozialisten  selbst  tun 
mußten.  Von  allen  französisch  sprechenden  Genossen  war  es,  soviel 
wir  wissen,  der  einzige  Vandervelde,  der  sowohl  in  einer  Rede  in 
Amerika  als  wiederholt  in  Versammlungen,  die  er  in  England  hielt, 
auseinandersetzte,  daß  die  deutsche  Sozialdemokratie,  insbesondere 
angesichts  der  russischen  Gefahr,  am  4.  August  wohl  nicht  anders 
entscheiden  konnte,  als  sie  tat.  Man  legt  Vandervelde  sehr  viel  un- 
gereimtes Zeug  in  den  Mund  und  er  wird  wohl  auch  manches  ge- 
sagt haben,  was  er  vor  der  Vernunft  nicht  verantworten  kann  und 
was  erst  recht  nicht  mit  der  Rücksicht  vereinbar  ist,  die  ihm  sein 
Amt  als  Vorsitzender  des  Internationalen  Büros  auferlegte.  Aber 
man  begreife  die  Lage  eines  Belgiers:  was,  wie  die  deutschen  Stra- 
tegen erklärten,  Lebensnotwendigkeit  für  Deutschland  war,  war 
Todesnotwendigkeit  für  Belgien  und  erst  recht  für  die  belgische 
Arbeiterklasse.  Es  ist  in  jenen  Wochen,  da  uns  das  Entsetzen,  mit 
dem  wir  heute  vertraut  sind,  noch  neu  war,  auch  von  anderen 
Leuten,  die  weniger  im  Feuer  standen  als  er,  hüben  und  drüben, 
manches  Törichte  gesagt  und  geschrieben  worden.  Wenn  wir  diese 
Zeit  der  Ungeheuerlichkeiten  überstanden  haben  wrerden,  wird  es 
erste  Pflicht  sein,  einander  nicht  beim  Wort  zu  nehmen. 

Aber  die  Franzosen  ließen  es  bei  diesem  Mangel  an  Objektivität 
nicht  bewenden,  sondern  auch  die  Besten  unter  ihnen  führten  eine 
Sprache,  die  mit  den  wildesten  Chauvinisten  und  Revanchepolitikern 
wetteiferte.  Sembat,  der,  es  ist  noch  kein  Jahr  her,  ein  Buch  ver- 
öffentlichte, das  wahrhaft  ein  Wunder  des  Verständnisses  für 
deutsche  Dinge  und  vor  allem  von  mutiger  Kritik  des  eigenen 
Landes  ist,  konnte  sich,  wenn  die  Berichte  nicht  lügen,  nicht  genug- 
tun an  leidenschaftlicher  Wut  gegen  die  Deutschen.  Er  und  Guesde 
haben  es  nicht  geleugnet,  daß  sie  die  Sozialdemokraten  Italiens  und 
Rumäniens  veranlassen  wollten,  gegen  die  Neutralität  ihrer  Länder 
aufzutreten  und  für  den  Krieg  zu  wirken,  eine  Taktik,  die  unmöglich 
ist  für  einen  Sozialisten,  selbst  wenn  er  Minister  der  nationalen 
Verteidigung  ist.  Und  unser  alter,  verehrter  Vaillant,  der  mit 
deutscher  Bildung  gesättigt  ist  wie  wenige  Franzosen,  schrieb 
Artikel  von  so  zügelloser  Wildheit  in  der  „Humanite",  daß  dieser 
Rückfall  des  greisen  Kämpfers  in  alle  Exzesse  des  jugendlichsten 
Blanquismus  mehr  noch  erstaunlich  als  empörend  war.  Beherrscht 
von  dem  Wahne,  daß  die  Sache  der  Entente  die  Sache  der  Demo- 
kratie und  des  Sozialismus  sei,  die  Sache  der  Zentralmächte  aber 
nur  die  der  Reaktion  und  Völkerunterdrückung,  vermochten  sie  es 
schließlich,  sich  in  den  Glauben  an  zarische  Manifeste  und  die 
völkerbefreiende  Mission  Rußlands  hineinzuleben.  Jedes  schüchterne 
Wort,  das  für  die  Ermöglichung  des  Friedens  gesprochen  wurde, 
hat  zu  jener  Zeit,  etwa  bis  Weihnachten,  leidenschaftliche  Zurück- 
weisung erfahren.  Deutschland,  der  „Imperialismus",  ein  Wort,  das 
dort  nicht  in  unserem  Sinne  gebraucht  wird,  sondern  „Kaiserismus" 


I  [offnungsschimmei  207 


bedeutet,  „muß  niedergeworfen  werden".  Dem  Militarismus,  den  sie 
nur  in  Deutschland  sahen  und  nicht  auch  in  Frankreich  wo  sie 
ihn  bis  zum  Juli  SO  tapfer  bekämpft  und  nicht  einmal  in  Rußland 
und  England,  „muß  durch  die  Tripelentente  ein  Ende  gemacht 
werden,  Deutschland  gedemütigt,  Österreich  vernichtet,  früher  kein 
Friede". 

Das  ist  anders  geworden.  Wahrscheinlich  hat  der  Zar  ein  großes 
Verdienst  daran;  mit  einer  gewissen  Beschämung  entdeckten  die 
französischen  Sozialisten,  als  sich  die  neuesten  Schandtaten  des 
zarischen  Regiments  gegen  die  Sozialisten  nicht  mehr  verhüllen 
ließen,  an  der  Seite  welches  Alliierten  sie  kämpften,  sie,  die  diese 
Allianz  immer  bekämpft  hatten  als  die  Todsünde  der  Demokratie. 
Und  dann  kamen,  soviel  man  sehen  kann,  aus  der  Masse  des  Prole- 
tariats, aus  den  politischen  Organisationen  einzelner  Bezirke,  Mah- 
nungen zur  Besinnung.  Ein  weiterer  Anstoß  zur  Wendung  kam  von 
den  Gewerkschaften,  deren  Aufruf  wir  gestern  veröffentlicht  haben. 
Das  gegenwärtig  politisch  Wichtige  darin  ist  nicht  eigentlich  der 
positive  Vorschlag,  eine  internationale  Konferenz  zur  Zeit  und  am 
Orte  der  Friedensverhandlungen  einzuberufen,  sondern  wichtig  ist 
das  Bekenntnis  zum  Frieden,  und  trotz  aller  Anerkennung  der  Not- 
wendigkeit, das  Land  zu  verteidigen,  das  Fehlen  jedes  gehässigen 
oder  auch  nur  feindseligen  Wortes  gegen  die  Deutschen.  Es  sind 
also  nicht  ganz  ungünstige  Vorzeichen,  unter  denen  morgen  in 
London  eine  Konferenz  von  Delegierten  der  sozialistischen  Parteien 
von  Frankreich,  England,  Belgien,  Rußland  und  Serbien  zusammen- 
treten wird.  Wir  wollen  diese  Anzeichen  durchaus  nicht  über- 
schätzen, wir  wissen  selbst  am  besten  und  spüren  es  am  eigenen 
Leibe,  wie  dieser  Krieg  den  Verstand  der  Verständigsten  umnebelt, 
das  Gemüt  der  Besten  vergiftet  und  allen  Denkenden  die  Gedanken 
verwirrt  hat,  insofern  sich  ihr  Denken  nicht  einzig  auf  die  Forderung 
des  Tages  beschränkt:  vom  eigenen  Volke  die  Niederlage  abzu- 
wehren. Aber  es  gibt  ein  Morgen,  muß  es  für  die  Menschheit  geben, 
und  heilige  Pflicht  ist  es  auch,  dieses  Morgen  vorzubereiten.  Selbst- 
verständlich setzen  sich  die,  die  vom  Frieden  reden,  der  Verleum- 
dung aus,  daß  sie  ihr  Land  in  Nachteil  setzen,  indem  sie  Schwäche 
verraten,  und  selbstverständlich  hat  das  Wiener  Organ  der  christ- 
lichsozialen Kriegshetzer,  über  dessen  Verantwortlichkeit  für  alles 
Übel  man  noch  später  einmal  reden  wird,  sofort  die  französischen 
Sozialisten  gehöhnt,  daß  sie  nun  wohl  „mürbe"  werden.  Solche 
Reden  sind  nicht  nur  töricht,  sondern  auch  verbrecherisch.  Die 
französische  Hetzpresse  würde  ihr  Geschäft  schlecht  verstehen, 
wenn  sie  sich  solche  Äußerungen  nicht  telegraphieren  ließe,  um  sie 
gegen  die  erwachende  Vernunft  auszunützen.  In  Wahrheit  ist  die 
„Kriegsmüdigkeit"  in  Frankreich  nicht  größer  als  überall,  und  was 
wir  als  hoffnungsvolles  Vorzeichen  vorsichtig  und  zögernd  zu  be- 
zeichnen wagen,  ist  nicht  ein  Ausfluß  des  Schwächegefühls  und  der 
verminderten  Siegeszuversicht  und  Entschlossenheit  zum  Kampfe, 
sondern  eine  erste,  leider  noch  leise  Regung  menschlicher  Vernunft 
und  proletarischen  Empfindens. 


268  Militarismus   und   Krieg. 


Die  Sozialdemokratie  und  die 
Friedensvorschläge. 

Friedensversammlung    am    2  8.    Dezember    191 6*). 

lEs  ist  jetzt  das  drittemal,  daß  wir  das  Fest  der  Menschenliebe 
gefeiert  haben  mit  Menschenmord,  das  drittemal,  daß  wir  in  ein 
neues  Jahr  eintreten,  während  draußen  unsere  Söhne  und  unsere 
Brüder,  ja  unsere  Väter  in  Eiseskälte,  in  Sümpfen  eingegraben,  aus- 
gesetzt sind  der  Pestilenz  und  ausgesetzt  allen  menschenmorden- 
den Instrumenten,  die  die  fortschreitende  Technik  ausdenken  kann. 

Neunundzwanzig  Monate 

dauert  schon  dieser  Krieg  und  so  viele  blutige  Tränen  sind  ge- 
flossen, daß  sie  jenes  Meer  bilden  könnten,  von  dem  ein  englischer 
Staatsmann  dieser  Tage  gesagt  hat,  daß  auch  ein  Meer  nicht  ab- 

*)  Am  21.  Oktober  1916  war  Graf  Stürgkh  von  Fritz  Adler  erschossen 
worden  und  der  Kaiser  Franz  Josef  hatte  nun  Körber  an  die  Spitze  der 
Regierung  berufen.  Aber  als  am  21.  November  Franz  Josef  starb  und  Karl 
Kaiser  wurde,  war  dessen  Bleiben  nur  provisorisch.  Am  12.  Dezember 
trat  Körber  zurück  und  nach  einem  vergeblichen  Versuch  einer  Re- 
gierung Spitzmüller,  wurde  am  21.  Dezember  der  tschechische  Feudale 
Graf  Heinrich  Clam-Martinic,  seinerzeit  ein  Vertrauensmann  des 
Erzherzogs  Franz  Ferdinand,  mit  der  Regierungsbildung  betraut,  der  sich 
bereit  erklärte,  ohne  Parlament  weiterzuregieren.  Tatsächlich  blieb  das 
Parlament  bis  zum  30.  Mai  1917  ausgeschaltet.  Während  Kaiser  Karl  zu- 
gleich Tisza  die  ganze  Macht  überließ,  spielte  er  nach  außen  den  Friedens- 
freund. 

Am  12.  Dezember  hatten  die  Regierungen  der  Mittelmächte  an  den 
am  7.  November  wiedergewählten  nordamerikanischen  Präsidenten 
Wilson  das  Ersuchen  gerichtet,  Friedensverhandlungen  einzuleiten.  Aller- 
dings wurde  darin  ängstlich  vermieden,  die  Bedingungen  der  Mittel- 
mächte anzugeben.  Es  wurde  nur  gesagt,  daß  die  Bedingungen  bei  der 
Beratung  aufgestellt  werden  und  eine  geeignete  Grundlage  für  die  Her- 
stellung des  Friedens  bilden  würden.  Dieser  Vorschlag  wurde  von  allen 
Regierungen  des  Vierverbandes  in  öffentlichen  Kundgebungen  abgelehnt, 
am  19.  Dezember  von  England,  wo  am  7.  Dezember  an  Stelle  von 
Asquith  Lloyd-George  die  Leitung  der  Regierung  übernommen 
hatte.  Am  19.  Dezember  trat  auch  Wilson  an  die  Kriegführenden  mit 
dem  Verlangen  heran,  ihn  wissen  zu  lassen,  unter  welchen  Voraus- 
setzungen sie  Frieden  schließen  würden,  er  werde  dann  prüfen,  ob  die 
Möglichkeit  einer  Annäherung  schon  gegeben  sei.  Am  21.  Dezember,  an 
dem  Clam-Martinic  die  Regierung  in  Österreich  übernommen  hatte,  wurde 
auch  an  Stelle  des  Grafen  Burian  Graf  Ottokar  C  z  e  r  n  i  n,  auch  einer 
vom  Kreise  Franz  Ferdinands,  zum  Minister  des  Äußern  ernannt. 

Am  21.  Dezember  trat  auch  der  Klub  der  deutschen  sozialdemokrati- 
schen Abgeordneten  zusammen,  um  zur  neuen  Lage  Stellung  zu  nehmen. 
Es  wurde  da  eine  Resolution  beschlossen,  in  der  von  der  Regierung  Be- 
weise verlangt  wurden,  daß  es  ihr  voller  Ernst  sei  mit  dem  Bestreben, 
das  Ende  dieser  zwecklosen  Schlächterei  herbeizuführen.  Sie  dürfe  sich 
durch  eine  kühle  oder  sogar  in  der  Form  ablehnende  Haltung  der  gegne- 
rischen Diplomatie    nicht    abschrecken    lassen,    auf    dem    eingeschlagenen 


Die  Sozialdemokratie  und  die  Friedensvorschläge.  269 


waschen  könnte  die  Schuld  des  Mannes,  der  x\c\\  Krieg  verlängern 
würde.  Aber  es  geht  zu  linde.  Diese  Empfindung  haben  heute  alle. 
Es  geht  zu  Ende,  weil  die  Völker  erschöpft  sind,  weil  die  Zweck- 
losigkeit,  der  Wahnsinn  der  Fortsetzung  dieser  Schlächterei  endlich 
auch  begriffen  wird  von  jenen,  die  allein  die  Macht  haben,  zu  ver- 
fügen über  Leben  und  Tod  von  Millionen  Menschen  in  allen 
Ländern*).] 

Wir  Sozialdemokraten  haben  nicht  erst  diesen  furchtbaren 
Krieg  gebraucht,  um  der  Mahnung  zu  bedürfen,  für  den  Frieden  zu 
arbeiten.  Wir  haben  damals,  als  die  Kriegsgefahr  bedrohlich  wurde, 
so  gut  wir  konnten,  unsere  Pflicht  getan,  uns  mit  dem  Aufwand 
unserer  ganzen  Kraft  gegen  den  Krieg  zu  stellen,  und  mehr  Macht 
haben  wir  nicht.  Wer  schuld  ist  an  dem  Kriege,  darüber  wird  später 
die  Rechnung  aufgemacht  werden  und  wenn  diese  Rechnung  auf- 
gemacht wird,  wird  man  finden,  daß  es  nichts  nützt,  zu  erforschen, 
wer  „angefangen"  hat.  I Nicht  einer  ist  schuld,  alle  sind  schuld, 
die  geherrscht  haben.  Wenn  man  heute  noch  nicht  untersuchen 
darf,  wer  angefangen  hat,  soviel  ist  heute  schon  sicher,  daß  jene 
Klasse  von  Herrschenden,  die  in  allen  Staaten  verhüllt  in  eine  Ge- 
heimkunst der  Diplomatie  die  Fäden  zieht,  gemeinsam  die  Schuld 
trägt.    Es  wird    die  Sache    jedes  Volkes    sein,    abzurechnen    mit 

Wege  weiterzuschreiten  und  müsse  durch  eine  klare  Darlegung  ihrer 
Friedensbedkigungen  den  Gegnern  jeden  Vorwand  nehmen,  sich  dem 
einzigen  Wege,  der  zum  Frieden  führen  kann,  dem  Wege  der  Verhand- 
lungen, zu  entziehen.  Die  Abgeordneten  würden  dafür  sorgen,  daß  womöglich 
allerorts  die  Arbeiterschaft  Gelegenheit  finde,  auch  in  Versammlungen 
ihren  Friedenswillen  zu  bekunden. 

Der  Passus  über  den  Frieden  wurde  in  der  „Arbeiter-Zeitung"  zunächst 
unterdrückt  und  konnte  erst  am  23.  Dezember  gebracht  werden. 

Bezeichnend  ist  auch  das  Schicksal,  das  die  Note  Wilsons  zunächst  in 
Österreich  hatte.  Sie  wurde  in  Berlin  den  Zeitungen  am  22.  Dezember  zu- 
gestellt und  konnte  also  am  23.  Dezember  veröffentlicht  werden.  In  Öster- 
reich wurde  sie  den  Zeitungen  erst  am  Sonntag  den  24.  Dezember  zuge- 
stellt und  da  Montag  die  Weihnachten  begannen,  konnte  sie  erst  am 
27.  Dezember  in  den  Zeitungen  erscheinen. 

Die  Versammlung,  die  am  28.  Dezember  im  Favoritener  Arbeiterheim 
stattfand,  war  massenhaft  besucht.  Das  Referat  Adlers  fand  natürlich 
stürmischen  Beifall,  besonders  als  Adler  noch  folgenden  Gruß  an  Wilson 
vorschlug: 

Die  heutige  Versammlung  der  Sozialdemokraten  Wiens  begrüßt 
die  erleuchtete  und  energische  Initiative  des  Präsi- 
denten der  Vereinigten  Staaten,  die  in  gleicher  Linie  wirkend  wie  das 
beachtenswerte  Friedensangebot  der  Mittelstaaten,  den  Weg  öffnet  zur 
Beendigung  der  zwecklosen  und  kultur  mordenden  Schläch- 
terei des  Weltkrieges.  Die  Versammlung  wünscht  aus  vollem 
Herzen,  daß  dem  hohen  Streben  Wilsons  voller  Erfolg  werde  und 
daß  sein  Eingreifen  der  blutenden  Welt  den  Frieden 
näherbringe. 

*)  Die  eckigen  Klammern  bezeichnen  die  von  der  Kriegszensur  bean- 
standeten Stellen,  an  deren  Stelle  bloß  weiße  Flecke  in  der  Zeitung 
erschienen.  Fs  sind  in  dieser  einen  Rede  nicht  weniger  als  sechzehn 
solche   weiße  Flecke  gewesen. 


270  Militarismus   und   Krieg. 


seinen  eigenen  Schuldigen.  Aber  seien  wir  nicht  Pharisäer,  auch 
wir  tragen  Schuld,  wir  haben  vielleicht  nicht  alles  getan,  was  wir 
hätten  tun  können  seit  Jahren  und  Jahrzehnten,  um  die  Macht  zur 
Macht  zu  machen,  die  allein  den  Krieg  hätte  hindern  können.  Viel- 
leicht, wenn  wir  in  allen  Ländern  mit  noch  größerem  Eifer 

aus  dem  Proletariat  eine  Macht  gemacht  hätten, 

wenn  wir  unsere  Organisation  schneller  und  intensiver  und  viel- 
leicht mit  mehr  Klugheit  ausgebaut  hätten,  vielleicht  wären  wir 
dann  in  jenem  entscheidenden  Moment,  den  wir  herannahen  ge- 
sehen haben,  doch  imstande  gewesen,  ein  Halt  zu  gebieten  dem 
hereinbrechenden  Unheil.]  Es  war  nicht  möglich  —  in  keinem  Lande 
— ,  und  nun  konnte  nichts  anderes  geschehen,  als  was  in  allen 
Ländern  allen  Völkern  aufgedrängt  war,  ob  sie  wollten  oder  nicht, 
ob  sie  es  mit  klangvollen  Worten  begründeten  oder  nicht.  Es 
konnte  nichts  geschehen,  als  was  automatisch  jedem  Volke  inne- 
wohnt: sich  zu  verteidigen,  zu  verteidigen  gegen  den  Feind  nach 
außen,  zu  verteidigen  gegen  die  Not  und  gegen  das  Elend  im 
Innern.  Man  kommt  mit  theoretischen  Erwägungen,  ob  die  Ver- 
teidigung des  Landes  eine  Pflicht  sei,  nicht  hinweg  darüber,  daß 
die  Verteidigung  automatisch  eintritt.  Schlimmer  als  der  Krieg,  das 
wußten  wir, 

ist  für  jedes  Land  die  Niederlage 

und  die  Menschen  jener  Gegenden,  die  zu  Schlachtfeldern  ge- 
worden sind,  wissen  zu  erzählen,  was  das  heißt.  Wir  hatten  aber 
außer  dieser  Pflicht  der  Verteidigung  noch  eine  andere  Pflicht, 
nämlich  die  Pflicht,  das  Proletariat  durchzuhalten,  den  einzelnen 
Proletarier,  die  einzelne  proletarische  Familie  durchzuhalten,  aber 
auch  unsere  Organisation.  Darum  haben  wir  versucht,  so  viel  als 
möglich  von  dem  Elend,  das  über  uns  hereingebrochen  ist,  abzu- 
wenden, und  unsere  Parteigenossen  waren  überall  die  ersten,  die 
zur  Hilfstätigkeit  bereitstanden,  die  ersten,  weil  wir  geschulter 
sind  in  der  Organisation  und  auch  die  Mittel  und  Wege,  um  zu 
helfen,  besser  kennen.  In  weitestem  Umfang  haben  wir  auch  diese 
Pflicht  erfüllt.  Die  Pflicht  aber,  die  uns  unsere  Kongresse  seit  Jahr- 
zehnten auferlegt  haben,  die  Pflicht,  die  wir  selbst  als  die  wichtigste 
und  heiligste  erkannt  haben,  die  Pflicht,  dem  Kriege  ein  Ende  zu 
machen,  sie  konnten  wir  nicht  erfüllen,  [denn  wir  waren  die 
Schwächeren  zu  der  Zeit.  Aber  wie  wir  wissen,  daß  für  alle  unsere 
Gedanken  die  Zeit  kommen  wird, 

so  ist  auch  für  diesen  Gedanken  des  Friedens  die  Zeit  gekommen. 

Wir  waren  geknebelt  durch  mehr  als  zweieinhalb  Jahre.  Wir 
durften  den  Mund  nicht  öffnen,  um  auszusprechen,  was  auf  jedes 
Menschen  Zunge,  in  jedes  Menschen  Herz  war.  Welche  Wandlung!] 
Heute  hören  Sie  die  Worte,  daß  die  Fortsetzung  des  Krieges,  daß 
das  Anzünden  des  Krieges  ein  Verbrechen  sei,  [aus  dem  Munde 
aller  zünftigen  Diplomaten.] 

Heute  endlich  hören  Sie,  daß  es  „sinnlos  ist,  den  Krieg  weiterzu- 
führen", weil  einer  den  anderen  nicht  überwinden  kann,  und  daß 


Die  Sozialdemokratie  und  die  Friedensvorschlä  271 


„ein  weiteres  Blutvergießen  ein  Verbrechen  Ist44.  Nichl  nur  der 
deutsche  Reichskanzler  sagt  es,  sondern  auch  die  österreichische 
Regierung,  die  sich  rühmt,  den  Anstoß  zum  Friedensangebot  ge- 
geben zu  haben,  versichert,  daß  der  /weck  des  Krieges  für  sie 
nicht  in  Eroberungsabsichten  lag  was  wir  zur  Kenntnis  nehmen 
,  und  sie  sagt  weiter,  daß  eine  Fortsetzung  des  Krieges  eil) 
zweckloses  Vernichten  von  Menschen  und  Gütern,  ein  unmensch- 
liches Verbrechen  an  der  Zivilisation  wäre.  [Spät  kommt  die  Er- 
kenntnis; aber  seien  wir  froh,  dal.»  sie  endlich  kommt.  Es  liegt  mir 
fern,  zu  erzählen,  daß  wir  schwach  sind,  daß  wir  allein  ausgeblutet, 
ausgehungert  sind.  Genau  so  ausgeblutet  und  ausgehungert  wie 
wir,  sind  auch  die  anderen.  I 

Kuropa  ist  ausgeblutet  und  es  ist  beinahe  wie  bei  einem 
Brand,  der  ausgetobt  hat  und  kein  Objekt  mehr  findet,  um  weiter 
zu  wüten.  Europa  ist  zu  Rande,  der  Krieg  brennt  ab,  erlischt,  weil 
nichts  Brennbares  mehr  da  ist. 

Sie  werden  sich  wohl  denken:  der  alte  Optimist,  der  den 
Schrecken  zu  Ende  wähnt!  Gewiß,  ich  zweifle  nicht  daran,  daß  es 
zu  Ende  geht.  Wie  lange  und  unter  welchen  einzelnen  Phasen  das 
noch  dauern  kann,  das  weiß  heute  noch  niemand.  Aber  gewiß 
ist,  daß 

das  Friedensangebot  der  Mittelmächte 

eine  Initiative  war,  die  gewirkt  hat  [und  sie  hätte  noch  ein  Gutteil 
wirksamer  sein  können,  wenn  die  Form  den  Feinden  etwas  mehr 
goldene  Brücken  gebaut  hätte.]  Heute  bringen  die  Blätter  die 
Nachricht,  der  deutsche  Botschafter  Graf  Bernstorff  in  Neuyork 
habe  erklärt,  Deutschland  verlange  kein  fremdes  Gebiet,  sondern 
nur  die  künftige  Sicherheit  gegen  Angriffe  und  feindliche  Bündnisse. 

I  Wenn  wir  sagten,  daß  wir  den  Frieden  ohne  Annexion  verlangen, 
so  sind  wir  nicht  verhöhnt,  sondern  einfach  ausgekratzt  worden 
(Heiterkeit  und  Beifall),  die  Stimme  ist  nie  an  die  Oberfläche  ge- 
kommen. I  Nun  sagt  das  der  Graf  Bernstorff  in  Amerika!  Hoffen  wir, 
daß  das  Wort  morgen  nicht  etwa  schon  abgeschwächt  oder  ab- 
gestritten wird . . .  Hätte  Bethmann-Hollweg  das  Wort  in  seiner 
Note  an  die  Mächte  gebraucht  oder  wäre  es  gar  schon  vor  einem 
Jahre  gesprochen  worden,  so  hätte  das  den  Erfolg  des  Friedens- 
angebots beträchtlich  erhöht.  Aber  wir  haben  gelernt,  bescheiden 
zu  sein,  und  begrüßen  mit  aller  Freude  und  Leidenschaft  das 
Friedensangebot  der  Mittelmächte,  weil  es  endlich  ausspricht,  daß 
wir  verhandeln  wollen,  Iwenn  es  uns  auch  lieber  gewesen  wäre, 
daß  dieses  Angebot  anders  instrumentiert  gewesen,  daß  nicht  so 
viel  Posaunen  und  Trommeln  dabei  gewesen  wären,  weil  es  den 
gegnerischen  Staatsmännern  dann  unmöglich  gemacht  wäre,  so  ab- 
fällig zu  antworten,  wie  sie  es  zunächst  getan  haben.]  Aber  wenn 
wir  die  Reden  Bethmanns  wie  auch  Lloyd-Georges  und  Briands 
richtig  würdigen  wollen,  so  dürfen  wir  nicht  vergessen,  daß  sie 
nicht  nur  zum  Ausland  sprechen,  sondern  auch  zum  Inland,  |zu 
jenen  Klassen  und  Parteien, 


272  Militarismus   und   Krieg. 


die  die  Nutznießer  des  Krieges  sind 

und  bleiben  wollen.  Für  diese  waren  die  Trommeln  und  Posaunen 
berechnet,  durch  die  wieder  die  Wirkung  nach  außen  gelitten  hat] 
Trotzdem  und  trotz  alledem,  was  in  Petersburg  und  Paris  gesagt 
wurde,  glaube  ich  fest  daran,  daß  sich  die  Wirkung  von  Tag  zu  Tag 
verstärken  wird  und  daß  auch  in  den  gegnerischen  Ländern  die 
Überzeugung  da  ist,  daß  sie  nicht  lange  mehr  dem  Frieden  werden 
widerstehen  können. 

Das  ist  die  wichtigste  Wirkung  des  Friedensangebotes,  die  wich- 
tigste Wirkung  des  Eingreifens  von  Wilson,  daß  diejenigen,  die  den 
Frieden  wollen,  in  allen  Ländern  —  und  das  ist  die  große  Masse, 
die  überall  leidet  —  ermutigt  werden,  daß  sie  Kräfte  gewinnen,  Ibis 
endlich  eine  Macht  aus  ihnen  wird,  der  nicht  mehr  Widerstand  ge- 
leistet werden  kann.]  Die  Sehnsucht  nach  dem  Frieden  war  ja 
immer  da,  aber  etwas  anderes  ist  es,  aus  der  Sehnsucht  einen 
Willen  zu  machen,  aus  dem  Wunsche  eine  bewegende  Kraft. 

[Da  sagt  man  nun,  diese  Anregung  hätte  den  richtigen  psycho- 
logischen Moment  erfordert.  Ich  glaube,  für  eine  Anregung  zum 
Frieden  war  immer  der  psychologische  Moment  da.  Die  Psycho- 
logie zum  Frieden  war  in  diesen  neunundzwanzig  Monaten  immer 
da.  Wenn  man  eine  Urabstimmung  in  den  Schützengräben  aller 
Völker  vorgenommen  hätte,  so  hätte  man  ein  klares  Votum,  einen 
klaren  Ausdruck  der  Psychologie  aller  Völker  in  allen  Staaten  be- 
kommen. (Beifall.)  Aber  sie  wollten  nicht,  und  was  sie  am  meisten 
gefürchtet  haben  —  in  allen  Staaten  — ,  war  die  Furcht,  schwach 
zu  erscheinen.  Das  ist  nun  vorbei.  Es  besteht  aber  noch  eine  große 
Gefahr,  die  Gefahr  der  Rechthaberei  —  hüben  wie  drüben  — ,  die 
Gefahr,  daß  man  sich  verbeißt  auf  seinem  Wege.  Wir  haben  in 
einem  Beschluß  des  Klubs  betont,  die  Regierung  dürfe  sich  durch 
eine  kühle  oder  sogar  in  der  Form  ablehnende  Haltung  der 
gegnerischen  Diplomatie  nicht  abschrecken  lassen,  auf  dem  ein- 
geschlagenen Wege  weiterzugehen,  und  müsse  durch  eine 

klare  Darlegung  ihrer  Friedensbedingungen 

den  Gegnern  jeden  Vorwand  nehmen.  In  allen  Ländern  gibt  es  noch 
Kräfte,  die  Grund  haben,  sich  vor  dem  Frieden,  vor  der  Ab- 
rechnung zu  fürchten,  und  diesen  darf  man  nicht  den  Weg  ebnen, 
indem  man  sich  an  irgendeine  Form,  an  irgendeinen  Weg 
klammert.] 

Es  ist  notwendig,  daß  mit  aller  Schärfe  ausgesprochen  werde: 
Wir  wollen  das  Ende  des  Krieges,  aber  Friede  bedeutet  nicht  nur, 
daß  kein  Krieg  mehr  ist,  sondern  wir  wollen,  daß  auch  die  Vor- 
bedingungen geschaffen  werden, 

daß  der  Friede  bleibe, 

und  es  war  bedeutungsvoll,  als  am  12.  November  zum  erstenmal 
Bethmann-Hollweg  im  Deutschen  Reichstag  davon  sprach,  daß,  über 
den  Krieg  hinaus,  Deutschland  das  Interesse  habe,  an  einem  neuen 
Völkerrecht  mitzuwirken.  Wir  wollen  einen  Zustand  der  Völker,  der 


Die  Sozialdemokratie  und  die  Prledensvorschlä  WS 


ein   Zusammenleben   für  die  Zukunft   ermöglicht   und   im    Friedens- 
schluß schon  die  Ursachen  weiterer  Kriege  vermeidet. 

iWir  wollen  mit  einem  Worte  ein  neues  Völkerrecht. 
das  das  Recht  der  Völker  zur  Grundlage  hat.  Das  werden  wir  er- 
reichen, wenn  nicht  nur  die  Kanonen  schweigen,  s  o  ädern  a  u  c  h 
die  Völker  wieder  sprechen  können.  Denn  wir  sind 
überzeugt,  daß  die  Völker  deutlicher  und  kräftiger  sprechen  werden. 
als  sie  je  gesprochen  haben,  daß  heute  niemand  einen  künftigen 
Krieg  mehr  will  nach  all  dem  Elend  und  all  der  Verwüstung,  die 
wir  miterlebt  haben.] 

Wenn  wir  der  Gefahr  ausweichen,  daß  man  sich  an  Formen 
klammert,  wenn  man  gerade  in  dem  Bewußtsein,  daß  man  der 
Stärkere  oder  mindestens,  daß  man  unbezwinglich  ist,  dem  Feinde 
goldene  Brücken  baut,  [wie  es  jeder  ehrliche  und  vernünftige  Sach- 
walter des  Friedens  tun  würde,]  dann  glaube  ich,  wird  Friede 
werden.  Vorläufig  aber  stehen  wir  noch  im  Kriege  und  keiner  von 
uns  kann  sagen,  wie  viel  Blut  noch  fließen  wird,  I  Jeder  Tag  bringt 
neue  Ströme  von  Blut,  jeder  Tag  mehrt  das  Flend.  Die  Herren 
hätten  allen  Grund,  sich  zu  beeilen.]  Wir  aber  haben  die  Pflicht, 
jedes  Stück  Möglichkeit  im  Willen  des  Proletariats  auszudrücken, 
auszunützen,  um  zu  sagen:  Wir  wollen  den  Frieden!  In  diesem 
Sinne  haben  wir  unsere  Anstrengungen  zu  vermehren  und  wir 
wissen,  daß  auch  auf  der  anderen  Seite  der  Wille  zum  Frieden  in 
den  Massen  wächst.  Wenn  wir  so  oft  mit  unserer  Regierung  in 
Fehde  liegen  müssen,  Iwenn  wir  uns  nicht  wehren  konnten  gegen 
den  Krieg,  den  sie  uns  auferlegt  haben,  den  sie  glaubten  uns  auf- 
erlegen zu  müssen,]  so  haben  wir  heute  wiederum  die  Pflicht, 

sie  zu  bestärken  auf  dem  guten  Wege, 

den  sie  jetzt  betreten  haben,  und  wir  wollen  nur  unsere  Forderung 
aussprechen,  daß  sie  auf  dem  Wege  zum  Frieden  bleiben.  Allen 
denen,  die  im  Ausland  ebenfalls  diesen  Frieden  fordern  und  diesen 
Weg  zum  Frieden,  wollen  wir  demonstrativ  unsere  Anerkennung 
aussprechen  und  wollen  ihnen  demonstrativ  zurufen:  „Ihr  alle,  deren 
Stimmen  draußen  gehört  werden,  die  ihr  einen  Druck  ausübt  für 
den  Frieden,  ihr  könnt  sicher  sein,  daß  wir  euch  Erfolg  wünschen 
und  daß  ihr  die  Begeisterung  der  Proletarier  aller  Länder  hinter 
euch  habt!"  Und  so  wollen  wir  auch  anerkennen,  was  der  Präsident 
der  Vereinigten  Staaten  jetzt  unternommen  hat,  und  wir  dürfen  die 
Hoffnung  haben,  daß  der  Schrei  nach  dem  Frieden,  der  aus  allen 
Völkern  kommt,  endlich  so  mächtig  wird,  daß  er  nicht  mehr  über- 
hört wird.  Um  aber  überallhin  und  deutlich  zum  Ausdruck  zu 
bringen,  daß  auch  das  Proletariat  mit  jedem  Pulsschlag  das  Be- 
mühen der  Neutralen  und  insbesondere  des  Präsidenten  Wilson 
um  den  Frieden  verolgt,  möchte  ich  mir  von  der  Versammlung  die 
Ermächtigung  erbitten,  in  ihrem  Namen  dem  Präsidenten  Wilson 
telegraphisch  unseren  Gruß  und  unseren  Dank  zu  entbieten,  daß 
auch  unsere  Stimme  nicht  fehle  in  dem  Chor,  der  dem  Präsidenten 
Wilson  Dank  zollt.  (Lebhafter  Beifall.) 

Adler,  Briefe.    XI.  Bd.  1« 


274  Militarismus   und   Krieg. 


Mit  unserer  Kundgebung  wollen  wir  der  Welt  noch  einmal  sagen. 
daß  das  einzige,  was  wir  wollen,  der  Friede  ist. 

IWir  wollen  alle  wieder  unsere  Väter  haben,  unsere  Kinder, 
unsere  Brüder,  und  schließlich  wollen  wir  unsere  Mütter  und  Frauen 
und  unsere  Töchter  aus  Beschäftigungen  heraus  haben,  die  nicht 
für  sie  sind!  Wir  wollen  wieder  einmal  für  uns  arbeiten  und  nicht 
für  die  anderen!  Was  wir  verloren  haben,  was  uns  dieser  Krieg 
gekostet,  das  wissen  wir  heute  noch  nicht  ganz,  das  werden  wir 
erst  wissen,  wenn  die  zurückkommen,  die  übriggeblieben  sind.  Aber 
eines  wissen  wir  heute  schon:  diejenigen,  die  glauben,  daß  die 
Sozialdemokratie  in  allen  Ländern  in  diesem  Kriege  die  Besiegte 
war,  die  irren  sich.  Das  Proletariat  war  nicht  mächtig  genug,  den 
Krieg  zu  verhindern,  aber  der  Krieg  hat  neben  allem  Elend,  das  er 
über  uns  gebracht  hat,  die  eine  Wirkung  gehabt, 

daß  er  alle  Herzen  festgemacht  und  alle  Gehirne  erleuchtet  hat, 

und  die  nächste  Generation  und  diejenigen,  die  von  der  heutigen 
Generation  übriggeblieben  sind,  werden  wissen,  daß  die  Welt  nicht 
wert  ist,  daß  sie  fortbesteht,  wie  sie  heute  ist  ...  Der  Gedanke,  der 
uns  zusammenhielt,  wird  immer  mehr  geistiges  Eigentum  aller 
Menschen,  die  leiden,  und  wer  leidet  heute  nicht!  In  jedes  Herz  ist 
eingegraben  die  Aufgabe,  den  Krieg  zu  bekämpfen,  zu  bekämpfen 
erst  recht  nach  dem  Kriege!  Hoffen  wir,  daß  wir  nach  der  Arbeit 
für  den  Frieden  bald'  zu  einer  kommen,  zum  Kampfe  gegen  den 
Krieg  für  eine  menschliche,  für  eine  sozialistische  Zukunft.]  (Leb- 
hafter Beifall.) 

Die  russische  Revolution  und  die  Wiener 

Arbeiter. 

Versammlung  im  Arbeiter  heim,  2  7.  März    19  17*). 

Lln  dem  Meer  von  Blut,  in  dem  die  Menschheit  seit  fast  drei 
Jahren  zu  ertrinken  droht,  zeigt  sich  zum  erstenmal  wie  ein 
Lichtblick  aus  weiter  Ferne  ein  großes  Geschehen,  das 
die  größte  Bedeutung  hat  für  alle  Völker  dieser  Erde.  Erinnern  wir 
uns,  wie  vor  zwölf  Jahren  in  diesem  Saale,  wo  wir  gerade  unseren 
Parteitag  hielten,  die  Nachricht  von  dem  Oktobermanifest  des 
Zaren  kam,  mit  dem  ein  Parlament  auf  Grund  des  allgemeinen 
Wahlrechtes  in  Rußland  gewährt  wurde.  Aber  das  Wort  des  Blut- 
zaren hat  sich  als  Lüge  erwiesen  und  die  blutigste  Reaktion  hat 
das  Volk  um  die  Früchte  der  Revolution  betrogen**).]  Aber  wenn 
unsere  russischen  Genossen,  von  denen  wir  in  diesen  Jahren  der 

*)  Am  14.  März  1917  hatte  die  Revolution  in  Rußland  begonnen.  Am 
16.  März  mußte  Zar  Nikolaus  abdanken  und  wurde  am  21.  März  in  Haft 
genommen.  Rußland  war  Republik.  Die  Wiener  Arbeiter  versammelten  sich 
am  27.  März  im  Favoritner  Arbeiterheim,  wo  Victor  Adler  sprach. 

**)  Die  eingeklammerten  Stellen  wurden  von  der  Kriegszensur  ge- 
strichen. Sie  waren  in  der  Zeitung  durch  weiße  Flecken  ersetzt. 


Die   russische   Revolution  und  die   Wienei    \rbeiter.  275 

Gegenrevolution    so   viele    hier    begrüßen    konnten,    verzweifeln 

wollten,  suchten  wir  sie  immer  wieder  aufzurichten,  indem  wir 
ihnen  sagten,  daß  die  Revolution  und  ihre  Früchte  aus  der  (ie- 
SCllichte  Rußlands  und  der  Menscliheit  nicht  mehr  zu  streichen 
seien.  Wie  bei  der  Flui  Welle  um  Welle  kommt  und  zurückgehl 
und  jede  neue  Welle  doch  ein  neues  Stück  Hoden  erobert,  so  voll- 
zieht sich  eben  der  Portschritt  der  Geschichte  nicht  geradlinig, 
sondern  mit  Rückschlägen,  mit  Sieben  und  Niederlagen.  Und  so 
ist  es  auch  gekommen.  Aus  dem,  was  wir  jetzt  in  Rußland  sehen 
soweit  wir  es  aus  den  Nachrichten  erfahren  können,  die  man  ja  mit 
Vorsicht  aufnehmen  muß,  wie  man  denn  überall  nur  das  durchläßt, 
was  für  Kinder  gut  und  nützlich  ist,  und  auch  deshalb,  weil  die  Lüge 
heute  überall  als  patriotische  Tugend  gilt,  erscheint  doch  das  eine 
sicher,  daß  der  Zarismus  unter  dem  Druck  der  vereinigten  Macht 
der  oppositionellen  Parteien  zusammengebrochen  ist,  wie  ein 
Kartenhaus  zusammenbricht.  Zwei  Parteien  wirkten  da  zusammen, 
die  Partei  des  imperialistisch-liberalen  Bürgertums,  die  die  zari- 
schen Regierungen  anklagte,  daß  der  Zarismus  den  Krieg  zu  führen 
durch  seine  Korruptheit  unfähig  war.  und  die  Partei  der  Arbeiter- 
schaft, die  den  Zarismus  anklagte,  nicht  daß  er  den  Krieg  nicht 
richtig  führt,  sondern  daß  er  ihn  führt,  und  als  die  Duma 
davongejagt  wurde,  da  vereinigten  sich  die  beiden  Strömungen.  Die 
Strömung,  die  den  Krieg  wollte,  aber  ein  bürgerlich  freies  Rußland, 
die  konnte  natürlich  den  Kampf  nicht  allein  führen;  gekämpft  und 
die  Schlacht  gewonnen  haben  die  proletarischen  Massen  in  den 
großen  Städten  Rußlands,  vor  allem  Petersburgs,  und  die  zarische 
Regierung,  die  weder  Frieden  zu  halten  vermochte,  noch  den  Krieg 
zu  führen  verstand,  war  im  Nu  weggefegt.  Aber  diesmal  ist  es  tiefer 
gegangen  als  vor  zwölf  Jahren  und  man  hat  den  Zarismus  mit  der 
Wurzel  ausgerissen.  Was  nun  kommen  wird,  das  wissen  wir  nicht, 
und  sich  darüber  in  Prophezeiungen  zu  ergehen,  wäre  eine  Tor- 
heit; was  wir  wissen,  ist,  daß  die  Revolution,  die  zunächst  gesiegt 
hat,  keine  einheitliche  ist,  daß  sich  zwei  Klassen  zu  ihr  verbunden 
haben,  |  denen  nur  eines  gemeinsam  ist,  daß  sie  ein  modernes  Ruß- 
land wollen,  daß  sie  das  alte,  korrupte,  blutbedeckte  zarische  Regi- 
ment beseitigen  wollen.  Auch  das  wissen  wir,  wer  das  Verdienst 
an  diesem  Siege  hat;  es  sind  unsere  Brüder,  die  Prole- 
tarier Rußlands,  die  ihr  Blut  und  ihr  Leben  dafür 
in  die  Schanze  geschlagen  habe  n.] 

Wenn  die  bürgerliche  Presse  aller  Länder  nun  meint,  daß  die 
„Unordnung",  die  nun  in  Rußland  eintrat,  Rußlands  Kraft  gebrochen 
hat,  so  scheint  das  doch  übertrieben.  Wir  haben  nie  geglaubt,  daß 
der  Zarismus,  daß  die  Unterdrückung  und  die  Allmacht  der  Büro- 
kratie ein  Moment  der  Kraft  eines  Staates  ist,  denn  wir  wußten,  daß 
gerade  die  schwachen  Staaten  alle  diese  Laster  haben,  daß  Q  e- 
w  a  1  t  und  Absolutismus  eine  Q  u  e  1 1  e  d  e  r  Schwäche 
eines  Staates  ist.  und  deshalb  erscheint  es  uns  sicher,  wie 
immer  man  über  die  Zukunft  denken  mag:  Rußland  wird  nicht 
schwächer,  wenn  es  seine  Tyrannen  los  wird  und  seine  korrupte 
Bürokratie  zum    Teufel  gejagt  hat,  es  wird  nicht  schwächer,  wenn 

18* 


276  Militarismus   und  Krieg. 


die  tüchtigsten  und  begabtesten  Kiemente  des  Bürgertums  und  der 
Arbeiterschaft  das  Heft  in  die  Hand  bekommen.  Außerdem  wird 
uns  auch  erzählt,  daß  das  eine  „englische  Revolution"  sei,  um  den 
Krieg  fortzuführen.  Ich  weiß  es  nicht,  es  ist  wohl  möglich,  daß  die 
englische  Regierung  in  der  Tat  diese  Entwicklung  beschleunigt  hat, 
weil  ihr  Bundesgenosse  schuldig  geblieben  ist  -  nicht  Geld,  das 
er  ja  immer  schuldig  war  (Heiterkeit),  aber  schuldig  geblieben  ist 
die  militärische  Machtentfaltung  und  den  Erfolg  im  Kriege.  Aber 
wenn  das  wahr  sein  mag,  so  viel  ist  sicher,  daß  der  Erfolg  weit  über 
das  hinausgegangen  ist,  was  sie  wollten,  und  daß  die  Revolution 
heute  keine  englische  Revolution  mehr  ist,  sondern  eine 
richtig  gehende  russische  Revolution,  von  der  wir  nicht 
sagen  können,  wohin  sie  führt,  die  aber  die  Geschicke  Rußlands 
wendet,  und  eine  Revolution,  in  der  das  führende,  vorläufig  sieg- 
reiche Element  das  ist,  das  die  Revolution  nicht  macht  für  den 
Krieg,  sondern  für  die  Freiheit  und  für  den  Frieden. 
(Lebhafter  Beifall.) 

Wir  meinen  also,  daß  Rußland  durch  die  Revolution  nicht 
schwächer  geworden  ist  und  wir  wissen,  daß  wir  uns  gegenüber 
nicht  mehr  das  Rußland  haben,  das  repräsentiert  war  durch  das 
verhaßteste  Regime,  durch  den  Zaren,  gegen  den  unser  Land  zu 
verteidigen  auch  für  uns,  die  wir  wirklich  den  Krieg  nicht  wollten, 
ein  Grund  war,  uns  zu  wehren.  Heute  haben  wir  nicht  mehr  den 
russischen  Zaren  drüben,  sondern  Rußland  ist  das  russische 
Volk,  dem  wir  nicht  Haß,  sondern  Liebe  entgegen- 
bringen, Liebe  und  Solidarität  (lebhafter  Beifall),  das 
russische  Volk,  das  nichts  anderes  als  wir,  nichts 
sehnlicher  wünscht  als  den  Frieden.  Aber  nicht  nur 
für  uns,  sondern  für  alle  Staaten  ist  diese  russische  Revolution  das 
wichtigste  geschichtliche  Ereignis,  jedenfalls  das  wichtigste  Ergeb- 
nis dieses  furchtbaren  Krieges.  Bisher  war  Rußland  der  böse  Geist 
für  Europa,  die  brennende  Schande,  die  jeder  fühlte,  und  das  Bünd- 
nis mit  Rußland  war  selbst  für  seine  getreuesten  Alliierten  ein 
Makel,  den  sie  spürten  trotz  aller  Kriechereien  der  Herrschenden 
vor  dem  Zaren.  Sie  krochen  vor  ihm,  weil  er  der  Besitzer  der 
großen  „Dampfwalze"  war,  die  alles  vor  sich  niederwerfen  konnte, 
unerschöpflich  an  Mitteln  und  unerschöpflich  vor  allem  an  Kanonen- 
futter. Deshalb  stellten  sie  alle  Hoffnung  auf  ihn,  aber  sie  hatten 
kein  gutes  Gewissen  dabei.  Heute  steht  es  anders:  Ein  freies  Ruß- 
land ist  nicht  der  Schrecken  für  Europa,  insofern  als  man  gewissen- 
lose Eroberungspolitik  von  ihm  erwarten  könnte,  ein  freies  Ruß- 
land ist  aber  mächtiger  geworden,  kräftiger,  wirtschaftlich  und 
politisch  entwicklungsfähiger  und  hört  damit  auf,  eine  Ge- 
fahr für  Europa  zu  sein.  Andere  Bündnisse,  andere  Freund- 
schaften werden  entstehen  müssen,  denn  ein  liberales  oder  gar 
republikanisches  Rußland  wird  eine  ganz  andere  Anziehung  in 
Europa  ausüben  und  Europas  Staatsmänner  werden  sich  rüsten 
müssen,  die  Konkurrenz  mit  ihm  aufzunehmen,  und  auch  ein 
erneutes  Österreich,  von  dem  man  soviel  hört,  wird  sich  kon- 
kurrenzfähig machen  müssen. 


Die   russische   Revolution  und  die   Wiener    \rbeitei  ~?7 

I Als  B e i  li  mann-Hollwe  g  sagte:  „W  c  li  e  d  e  m  Staat  s- 

m  a  n  11,  der  die  Z  e  i  c  li  e  n  der  Zeit  nicht  verstellt  !' 
war  die  russische  Revolution  noch  nicht  da.  Das  allerkhirste  Zeichen 
der  Zeit,  SO  klar,  daß  den  Herren  die  Augen  heilten  müssen,  ist  die 
glorreiche  russische  Revolution,  und  wenn  die  Staatsmänner  dieses 
Zeichen  nicht  zu  deuten  wissen,  dann  ist  ihnen  nicht  zu  helfen. 
Jeder  weiß,  daß  Revolutionen  nicht  gemacht  weiden,  und  die  Fnt- 
Wickhing  der  Völker  kennt  auch  andere  Formen  als  diese  akuteste, 
schnellste,  deutlichste,  auf  einen  Moment  zusammengedrängte  Form 
der  Umwälzung.  Schon  das  ist  Revolution,  wenn  Zersetzung  eintritt, 
die  nicht  mehr  aufzuhalten  ist,  wenn  die  Hindernisse  für  das  staat- 
liche Leben  größer  werden. 1 

Aber  noch  ein  anderes  Zeichen  ist  es,  das  die  Staatsmänner 
sehen  müßten,  das  ist,  daß  jetzt  derMoment  ist,  Frieden 
zu  machen!  (Lebhafter  Beifall.)  Der  Zar  konnte  vielleicht  nicht 
Frieden  machen,  weil  er  für  den  Thron  fürchten  mußte.  Die  Völker 
Rußlands  aber  —  bis  auf  eine  kleine,  allerdings  mächtige  Schicht  - 
wollen  den  Frieden.  Man  sagt  uns  mit  Recht,  die  Arbeiterschaft 
ist  keine  zahlreiche  Klasse  in  Rußland,  das  Wesentliche  ist  die 
Bauernschaft.  Aber  kann  jemand  ernsthaft  glauben,  daß  die  Bauern- 
schaft den  Krieg  will?  Daß  eine  Gegenrevolution  in  Rußland 
kommen  kann,  das  leugne  ich  nicht,  aber  daß  sie  mit  dem  Ziele, 
den  Krieg  weiterzuführen,  sich  auf  die  Bauernschaft  stützen  kann, 
das  glaube  ich  nicht.  Umgekehrt  kann  es  sein,  daß  man  in  die 
Bauernschaft  die  Lüge  trägt,  daß  der  Zar  gestürzt  wurde,  weil  er 
ein  Friedensfreund  sei.  Und  wieweit  diese  Lüge  Verbreitung  findet, 
ob  sich  nicht  die  Geistlichkeit  einer  solchen  Lüge  bemächtigt,  das 
weiß  ich  nicht.  Aber  ausgeschlossen  ist,  daß  man  die  Bauernschaft 
zur  Fortsetzung  des  Krieges  aufrufen  könnte.  Noch  ein  Moment  ist 
da,  von  dem  man  nicht  weiß,  was  für  eine  Rolle  es  spielt:  das  ist 
die  Armee.  Man  hat  geglaubt,  daß  die  Armee  die  Gegenrevolution 
machen  könnte.  Es  wäre  ja  möglich  gewesen,  daß  irgendein  Groß- 
fürst oder  ein  General  ein  Armeekorps  gegen  Petersburg  führt  und 
die  Revolution  im  Blute  erstickt,  aber  es  scheint,  daß  die  Zeit  dafür 
vorbei  ist. 

[Daß  aber  die  Armee  —  die  Soldaten,  das  Kanonenfutter  —  für 
die  Fortsetzung  des  Krieges  und  gegen  den  Frieden  die  Waffen 
ergreifen  sollte,  das  glaube  ich  nicht.  Man  kann  nicht  annehmen, 
daß  die  Menschen  jenseits  der  Schützengräben  so  ganz  anders  ge- 
artet sind  als  wir  selbst.  (Beifall.)] 

Nun  handelt  es  sich  darum,  daß  der  Friede  ermöglicht  und  nicht 
gewalttätig  verhindert  werde  durch  die  Staatsmänner,  es  handelt 
sich  darum,  daß  sich  unsere  Staatsmänner  vor  der  siegreichen 
Revolution  weniger  fürchten  als  vor  dem  derzeit  unterliegenden 
Rußland,  daß  sie  erkennen,  daß  wenn  —  wie  sie  uns  so  oft  gesagt 
haben  —  wir  den  Krieg  nur  für  unsere  Verteidigung  und 
nicht  um  zu  erobern  führen,  daß  dann  unsere  besten  Ver- 
bündeten  die  kämpfenden    Proletarier   Rußlands 


278  Militarismus   und   Krieg. 


sind  (lebhafter  Beifall),  die  gewiß  nicht  die  Zertrümmerung  Ruß- 
lands wollen,  so  wenig  wie  wir  die  Zertrümmerung  unseres  Staates 
wollen,  die  aber  den  Frieden  wollen  ohne  Eroberung  und  ohne 
Demütigung,  so  wie  wir.  (Beifall.)  Und  wie  die  Mittelmächte  vor 
drei  Monaten  aufrichtig  ihre  Hand  zum  Frieden  geboten  haben,  so 
wäre  jetzt  der  Moment,  nochmals  und  deutlicher  zu  fragen.  Wir 
sind  nicht  schwächer  geworden  seitdem,  wir  sind  stärker  geworden 
und  wir  haben  den  ungeheuren  Trost,  daß  nun  auch  die  drüben 
hungern  und  leiden,  und  wir  und  die  anderen  sind  reif  für  das 
Ende  des  Krieges.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  auch  die 
anderen  endlich  daraufgekommen  sind. 

Donnerstag  wird  der  Kanzler  des  Deutschen  Reiches  sprechen 
—  bei  uns  haben  die  Völker,  aber  damit  freilich  auch  die  Minister 
auf  die  Tribüne  verzichten  müssen*)  — ,  aber  Bethmann  wird  sprechen 
und  ich  halte  es  für  bedeutungsvoll,  daß  unser  Minister  des  Äußern 
vorgestern  nach  Berlin  gefahren  ist;  hoffen  wir,  daß  sich  an  die 
vernünftige  Rede,  die  Bethmann  vor  wenigen  Tagen  über  die  innere 
Politik  gehalten  hat,  ein  vernünftiges  und  entschlossenes  Wort  über 
die  äußere  Politik  anschließen  wird.  Er  muß  sich  jetzt  sagen: 
Wehe  dem  Staatsmann,  wehe  den  Völkern,  deren 
Staatsmänner  die  Zeichen  der  Zeit  nicht  er- 
fassen können  und  die  nicht  tun,  was  das  eiserne 
Gebot  der  Zeit  ist! 

[Unsere  Gedanken  aber  wenden  sich  an  die  Proletarier  in  allen 
Ländern,  wenden  sich  an  jene  Internationale,  die  zersprengt 
ist  und  die  zum  erstenmal  in  diesem  Kriege  in  einem  Ge- 
danken einig  ist,  beherrscht  von  einem  gemeinsamen  Gefühl, 
dem  Gefühl  des  Dankes,  der  Ehrfurcht  und  der  Liebe  für  die 
russischen  Proletarier,  die  mit  ihrem  Blute  einen  Schritt  nach  vor- 
wärts getan  haben,  zum  Frieden  nicht  nur,  sondern  zu 
einer  Neugeburt  Europas  und  seiner  Geschichte. 
(Lebhafter  Beifall.)  Wir  haben  unseren  Gruß  durch  Vermittlung 
des  Internationalen  Büros  im  Haag  unseren  russischen  Brüdern 
geschickt**),  und  wenn  er  auch  hier  nicht  gedruckt  werden  durfte, 
so  wissen  wir  doch  alle,  daß  ein  Gedanke  uns  beseelt:  Es  lebe 
das  revolutionäre,  neugeborene  Proletariat  Ruß- 
lands, es  lebe  die  Friedenspartei  drüben  und 
hüben,  die  einzige  echte  und  wahre  und  kampf- 
bereite, die  es  gibt.  (Stürmischer  Beifall.)] 


*)  Das    österreichische    Parlament    ist    erst    am    30.   Mai    zusammen- 
getreten. 

**)  Am  22.  März  beschloß  der  sozialdemokratische  Parteivorstand,  den 
russischen  Genossen  durch  Vermittlung  des  Internationalen  Sozialistischen 
Büros  eine  Erklärung  zu  übermitteln,  die  der  Sozialdemokratie  Rußlands 
den  Sieg  wünscht  und  die  ernste  Erwartung  ausspricht,  daß  die  Regie- 
rungen der  Zentralmächte  ihre  Friedensbereitschaft  offen  bekunden  und 
wirksam  betätigen  werden.  Diese  Erklärung  durfte  in  Wien  erst  am 
17.  April  veröffentlicht  werden. 


I  in   Demokratie  und  Frieden!  27') 

Für  Demokratie  und  Frieden! 

Erste   L  e  s  i!  ii  g  des  Staatsvoranscfrl  a  g  e  s, 
2  6.  Septe  m  ber  I  9  l  7(). 

Die  neue  Arbeitsperiode  des  Abgeordnetenhauses  ist  gestern 
mit  einer  Rede  des  Ministerpräsidenten  eröffnet  worden,  die  uns 
alle  dureh  ihre  Reichhaltigkeit  fasziniert  hat.  Vom  ganzen  Herzen 
muß  man  wünschen,  daß  ein  gewisser  Prozentsatz  der  von  ihm 
ausgesprochenen  Wünsche  in  Erfüllung  geht.  Den  guten  Willen  der 
Regierung  in  Ehren;  aber  der  gute  Wille  ist  nicht  alles.  Die  Rede 
des  Ministerpräsidenten  war  nicht  nur  ein  Verzeichnis  der  Dinge, 
die  anzustreben  sind,  sondern  vor  allem  ein  Verzeichnis  der 
Rückständigkeiten,  unter  denen  wir  leiden.  Sie  war  nicht 
nur  ein  Katalog  unserer  Hoffnungen,  sondern  ein 

Katalog  der  Sünden  Österreichs. 

Wir  stehen  i  n  m  itteneines  Leichenfeldes.  Ich  spreche 
da  nicht  von  den  Hunderttausende^  die  in  den  Schützengräben  ge- 
blutet haben,  nicht  von  dem  Verlust  an  Volkskraft,  der  allen 
Völkern  zugefügt  wurde,  sondern  von  dem  Leichen-  und 
Trümmerfeld,  das  in  unserem  Innern  durch  die  unverant- 
wortlichen Exzesse  des  Kriegsabsolutismus  ge- 
schaffen wurde.  Ich  will  nicht  die  S  c  h  u  1  d  f  r  a  g  e  in  bezug  auf 
die  Veranlassung  des  Krieges  aufwerfen,  weil  uns  das  dem  Frieden 
nicht  näherbringt.  Darum  aber  verzichten  wir  nicht  für  die  Zu- 
kunft auf  die  Untersuchung  der  Frage  der  Schuld  an  dem 
Kriege  auch  hier.  Ich  will  aber  doch  hier  daran  erinnern,  daß 
die  sozialistischen  Abgeordneten  ein  Jahr  vor  Ausbruch  des  Krieges 
auf  der 


*)  Am  15.  Juli  1917  war  das  am  30.  Mai  zusammengetretene  Parlament 
in  die  Sommerferien  gegangen  und  am  25.  September  trat  es  wieder 
zusammen.  Die  Regierung  Seidler,  die  am  23.  Juni  als  provisorische 
Regierung  eingesetzt  worden  war,  versuchte  nun  definitiv  zu  werden, 
indem  man  ein  Korizentrationsministerium  zu  bilden  suchte.  Selbst  den 
Sozialdemokraten  bot  der  Ministerpräsident  Seidler  Ende  Juli  den 
Eintritt  in  eine  Koalitionsregierung  an;  die  Sozialdemokraten  lehnten  selbst- 
verständlich ab.  Am  30.  August  wurde  ein  „definitives"  Ministerium 
Seidler  ernannt,  dem  eine  Anzahl  von  Beamten  und  Professoren  und 
auch  vier  Minister  ohne  Ressort  angehörten.  Als  am  25.  September  das 
Abgeordnetenhaus  zusammentrat,  war  die  Situation  ganz  ungeklärt.  Klar 
war  nur,  daß  der  Deutsche  Nationalverband  am  24.  September  in  einer 
Resolution  gegen  die  „pazifistischen  Kreise  der  Mittelmächte"  auftrat 
und  den  Verständigungsfrieden,  aber  auch  „grundstürzende  Änderungen 
in  der  Regelung  des  Verhältnisses  unter  den  Nationalitäten"  ablehnte.  In 
der  ersten  Sitzung  hielt  Dr.  v.  S  e  i  d  1  e  r  seine  Programmrede,  die  eine  Fülle 
von  Reformen  in  leeren  Phrasen  ankündigte,  aber  über  die  eigentlichen 
Probleme  des  Staates,  über  die  Demokratisierung  und  über  den  Frieden 
kein   ernstes   Wort  sagte. 

In  der  ersten  Lesung  des  Staatsvoranschlages  sprach  Adler,  der  dem 
Wunsch    nach    Demokratie   und    Frieden   Ausdruck   gab. 


280  Militarismus   und    Kric«. 


Konferenz  in  Basel 

eine  Friedensresolution  beschlossen,  deren  Teile  bis  ins  einzelne 
eigentlich  die  Zielpunkte  der  heutigen  Friedens- 
bewegung bilden,  und  als  wir  von  Basel  zurückkehrten,  da 
konnten  wir  in  diesem  Hause  unseren  Beschluß  nicht  ein- 
mal den  Arbeitern  zur  Kenntnis  bringen.  Wir 
konnten  vor  den  Arbeitern  Österreichs  nicht  einmal  aussprechen, 
was  sie  selbst  durch  die  Delegierten  in  Basel  ausgesprochen  haben. 
Das  war  ein  Jahr  vor  dem  Kriege.  Wir  haben  gekämpft  bis  zur 
letzten  Minute,  mit  allen  Mitteln,  die  uns  zur  Verfügung  gestanden 
sind.  Sie  wissen,  wer  unsere  Gegner  waren,  Sie  wissen,  wie  man 
uns  bekämpft  hat.  Dann  ist  der  Krieg  gekommen  und  wir  haben 
getan,  was  wir  tun  mußten,  wir  haben  uns  angepaßt  den  Verhält- 
nissen und  von  der  Arbeiterklasse  zu  erhalten  gesucht,  was  sich 
durch  unsere  Mitarbeit  erhalten  ließ.  Aber  darum  haben  wir  die 
Abrechnung  nicht  aufgegeben! 

Aber  so  wie  die  eigentliche  Schuldfrage  heute  lautet,  wer  sich 
dem  Frieden  widersetzt,  so  muß  man  heute  fragen,  wer 
und  was  ist  in  Österreich  schuld  daran,  daß  wir  innerhalb  des 
Krieges  nicht  zu  friedlicher  Arbeit,  zu  gemeinsamem 
Zusammenwirken  kommen.  Das  ist  die 

innere  Schuldfrage. 

Wenn  wir  in  Österreich  nicht  dazu  kommen  werden,  das  ein- 
zige, das  dieser  Krieg  für  uns  günstiger  gestaltet  hat,  zu  benützen 
und  eine  Neugestaltung  des  Zusammenlebens  der  Völker  durchzu- 
setzen, so  werden  alle  wirtschaftlichen  Programme  uns  nicht  helfen. 
Brot  ist  wichtig,  es  war  nie  wichtiger  als  jetzt,  wo  es  so  viele  ent- 
behren müssen;  aber  nicht  vom  Brot  allein  lebt  der  Mensch.  Wir 
müssen  den  Moment  benützen,  wo  die  Dinge  endlich  in  Fluß 
gekommen  sind.  Was  durch  Jahrzehnte  und  Generationen  un- 
beweglich war,  ist  heute  flüssig  geworden.  Es  sind  Möglichkeiten 
eröffnet,  die  nach  abwärts  und  zur  hilflosen,  impotenten  Verwirrung 
führen  können,  die  aber,  richtig  erfaßt,  zu  einem  Neubau  führen, 
der  unser  und  der  Zukunft  würdig  ist. 

Die  Regierung  hat  dabei  gewiß  eine  schwere  Aufgabe.  Diese 
Aufgabe  wird  aber  nicht  erfüllt  dadurch,  daß  sie  im  Verfassungs- 
ausschuß ein  paar  Leitsätze  für  die  nationale  Abgrenzung  oder  die 
Kreiseinteilung  vorlegt,  die  ja  als  Substrat  und  Anknüpfung  sehr 
notwendig  sind;  aber  das,  was  wir  von  einer  Regierung  brauchen, 
ist  die  suggestive  Kraft,  die  Vertreter  dieser  Völker  zu- 
sammenzuführen und  sie  in  einer  Diskussion  zu  vereinigen.  (Leb- 
hafte Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten.)  Nicht  als  ob  ich 
meinen  würde,  daß  das  Parlament,  das  so  viel  kann,  in  diesen 
Dingen  alles  kann.  Dieser  „parlamentarische  Kretinismus"  liegt  mir 
völlig  fern.  Ich  weiß,  daß  es  sich  darum  handelt,  was  in  den  Völkern 
draußen  vorgeht,  und  diejenigen,  die  sich  einbilden,  daß  es  sich  hier 
nur  um  Couloirabmachungen  handelt  und  auf  Ausschußabstimmun- 
gen ankommt,  die  geben  sich  groben  Täuschungen  hin.  Aber  was 
wir  brauchen,  ist 


f  im    Demokratie  mui  Frieden!  ^Bi 


das  Bewußtsein,  daU  die  alte  Zeit  vorbei  ist 

und  dali  wir  mit  dem,  was  war,  brechen  müssen.  Nicht  das  Ge- 
wesen e  ist  das  Substrat  des  historischen  Weiter- 
a  r  b  e  i  t  e  11  s,  sondern  das  (ie  wordene  -  und  geworden 
sind  die  Dinge  ganz  anders,  das  hat  der  Krieg  nicht  bewirkt,  son- 
dern enthüllt.  Geworden  ist,  daß  sich  die  Völker  nicht  mehr  durch 
den  Korporalstock  und  aus  dem  Bürokraten/immer,  aber  auch  nicht 
durch  den  Galgen  kommandieren  lassen.  (Lebhafter  Beifall.)  Wir 
haben  zu  viel  Blut  gesehen,  als  daß  noch  ein  Volk  Blut 
fürchten  würde.  Wir  haben  zu  viel  Elend  gesehen,  als  daß 
ein  Volk  sich  noch  schonen  würde  im  Kampfe  um  sein  Höchstes, 
um  seine  Existenz.  (Beifall.)  Wir  müssen  an  unsere  Arbeit  gehen, 
durchdrungen  von  dem  Gedanken,  daß  wir  ein  neues  Öster- 
reich aufbauen  müssen;  aber  je  weniger  dieses  neue  Öster- 
reich dem  alten  gleich  schauen  wird,  um  so  besser  wird  es 
sein.  (Lebhafter  Beifall.)  Wir  haben  vom  Ministerpräsidenten  ge- 
hört, die  Regierung  halte  an  dem  alten  österreichischen  Staats- 
gedanken fest.  Von  den  Reden  österreichischer  Ministerpräsidenten 
allein  kann  der  österreichische  Staatsgedanke  nicht  leben,  mögen 
sie  noch  so  warm  und  ehrlich  gemeint  sein.  (Zustimmung  bei  den 
Sozialdemokraten.)  Der  österreichische  Staatsgedanke  ist  ein 
schönes  Wort,  mit  dem  aber  im  Laufe  der  Entwicklung  der  Völker 
verschiedene  Dinge  verbunden  wurden.  Für  uns  Sozialdemokraten 
zum  Beispiel  ist  der  Staatsgedanke  nicht  der  Volksstaat,  auch  nicht 
der  freie  Volksstaat,  sondern  der 

freie  Völkerstaat! 

Die  Förderung  der  Entwicklung  der  Völker,  nicht  die  Opfer,  die 
die  Völker  für  diese  Entwicklung  bringen  müssen,  das  ist  der 
Staatsgedanke. 

Wir  haben  vom  Abgeordneten  Zahradnik  eine  sehr  tempera- 
mentvolle Rede  gehört,  der  die  Souveränität  des  tschechi- 
schen Volkes  gewünscht  hat  und  überzeugt  ist,  daß  sie  das  Resultat 
des  Friedens  sein  werde.  Die  Sozialdemokraten  empfinden  alle 
Sympathien  für  die  Bestrebungen  des  tschechischen  Volkes  nach 
selbständiger  Entwicklung  und  Betätigung  aller  seiner  Kräfte.  Aber 
die  Tatsache  können  alle  diese  Wünsche  nicht  aus  der  Welt 
schaffen,  daß  wir  zusammen  leben  müssen,  und  da  macht  sich  das 
Wort  „Souveränität"  ein  bißchen  zweideutig.  Wir  Sozialdemo- 
kraten waren  die  ersten,  die 

die  Ideen  von  1848, 

die  Idee  der  nationalen  Autonomie  aufgegriffen  und  auf  die  Tages- 
ordnung gesetzt  haben,  zunächst  ungehört  und  verhöhnt. 
Heute  ist  das  ein  Schlagwort  geworden.  Wir  sind  von  der 
Vorstellung  durchdrungen,  daß  die  Völker  Österreichs  nicht  anders 
leben  können  als  bei  Gewährung  der  Selbständigkeit  an  jede 
Nation,  ich  möchte  sagen,  der  Personalität  an  die  Nation, 
und  wir  wollen  darin  so  weit  gehen,  als  es  möglich  ist,  ohne 
Dinge    unmöglich    zu    machen,    die    gemeinsam    gemacht  werden 


282  Militarismus  und  Krieg. 


müssen.  Wenn  aber  die  deutschen  Sozialdemokraten  den  anderen 
Nationen  —  nicht  als  Spende  oder  Gnade  —  ihr  Recht  auf  Selb- 
ständigkeit und  freie  Entwicklung  innerhalb  dieses  Nationen- 
verbandes anerkennen,  so  sind  wir  andererseits  nicht  geneigt, 
uns  nehmen  zu  lassen,  was  wir  den  anderen  ge- 
währen. (Lebhafte  Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten.) 
Ebenso  wie  es  für  die  Deutschen  und  für  das  Reich  nicht  von  Vor- 
teil ist,  irgendeiner  Nation  eine  Fremdherrschaft  aufzudrängen 
—  auch  der  tschechischen  nicht  — ,  ebenso  wollen  wir  auch  für 
unser  Volk  freie  Entwicklung  und  wollen  uns 

keiner  Fremdherrschaft  in  keinem  Teile  dieses  Reiches 

unterstellen.  Das  müssen  die  tschechischen  Politiker  aller  Parteien 
begreifen  und  darin  werden  sie  wohl  eine  Grenze  finden  müssen, 
wenn  sie  nicht  Utopien  nachjagen  wollen,  die  sie  nicht  erreichen 
können,  weder  hier  noch  an  irgendeinem  Konferenztisch  der  Welt. 
Lassen  Sie  die  gegenseitige  Vergiftung,  den  Groll,  der  sich  während 
der  drei  letzten  Jahre  angesammelt  hat,  nicht  so  weit  gehen,  daß 
es  unsere  Zukunft  völlig  unmöglich  macht  und 
ruiniert!  Seien  wir  uns  dessen  bewußt,  daß  wir  neu,  sehr  neu 
anfangen  müssen,  sehr  tief  die  neuen  Fundamente  legen  müssen. 
Der  irrt  sich  sehr,  der  glaubt,  daß  er  auf  dem  Alten  nur  ein 
Scheingebäude  aufrichten  kann.  Lassen  wir  Deutschen  den 
alten  Traum  fallen  von  der  Mission,  der  wir  entweder  nicht  ge- 
wachsen sind  oder  die  wir  vielleicht  nicht  haben,  die  aber  keines- 
falls geeignet  ist,  uns  ein  Recht  auf  Herrschaft  irgendeiner  Art  zu 
geben. 

Die  Slawen,  insbesondere  die  tschechischen  Parteien,  mögen 
alte  Dinge  ruhen  lassen.  Wir  können  nicht  davon  leben,  was  die 
Ahnen  gemacht  haben,  sondern  müssen  bedenken,  daß  wir 
selbst  Ahnen  sind,  und  daß  es  von  unserer  Kraft,  Weisheit 
und  Entschlossenheit  zur  Gerechtigkeit,  auch  wenn  manches  alte 
Vorurteil  dabei  bluten  muß,  und  von  unserer  Opferwilligkeit  als 
Einzelnes  und  Ganzes  abhängt,  ob  wir  auf  dem  Boden,  auf  den  wir 
nun  einmal  unweigerlich  gestellt  sind,  ob  wir  wollen  oder  nicht,  zu- 
sammen leben  können. 

Dr.  Sylvester  hat  gemeint,  die  nationale  Gerechtigkeit  solle  im 
Inland  anfangen.  Die  Menschen  halten  leider  die  Gerechtigkeit  für 
einen  Exportartikel,  der  nur  im  Ausland  zu  verwerten  ist  (Heiter- 
keit), aber  für  den  inländischen  Konsum  nicht  passe.  Es  ist  aber  so, 
daß  es  keinen  Staat  gibt,  der  durch  die  nationale  Frage  so  bis  in 
sein  Zentrum  leidet  wie  Österreich.  Wenn  wir  das  Problem  der 
nationalen  Gerechtigkeit  damit  von  uns  schieben  wollen,  daß  wir 
sagen,  die  anderen  mögen  anfangen,  so  versündigen  wir  uns 
nicht  nur  an  dem  Frieden,  sondern  vor  allem  an  uns. selbst. 

Der  Ministerpräsident  hat  natürlich  auch  von  Ernährungsfragen 
sprechen  müssen  und  hat  sehr  gute  Worte  für  die  städtische  Be- 
völkerung gewählt.  Die  schönsten  Worte  können  aber  nicht  darüber 
hinwegtäuschen,  daß  in  der  Praxis  gerade  in  der  letzten  Zeit  eine 


Im    Demokratie  und  Prieden!  '^', 


g  e  w  i  s  s  e  S  c  h  w  ä  c  h  1  i  c  h  k  e  i  1  g  e  g  e  n  ii  h  c  r  d  e  n  A  g  r  a- 
riern  sich  gezeigt  hat.  Ich  hätte  auch  gewünscht,  daß  der 
Ministerpräsident  ein  Wort  darüber  gesprochen  hätte,  was  auf  dein 
Gebiet  des  Arbeiter  Schutzes  nachzuholen  ist,  am  dem  wir 
eine  Periode,  wenn  nicht  der  Reaktion,  so  doch  des  Still- 
standes hinter  uns  haben,  Es  gibl  Anzeichen  dafür,  daß  man 
jetzt  unter  dein  vermeintlichen  Druck  des  Krieges 

an  der  Arbeiterschaft  und  ihren  Organisationen 

Vergewaltigungen  ausüben  will,  die  in  W  i  d  er  s  p  r  uch  z  u  der 
Anerkenn  u  n  g  stehe  n.  die  man  den  Arbeitern  überall  gezollt 
hat.  Wir  brauchen  keine  Militarisierungen.  Wenn  irgendeine  Gesell- 
schaftsschieht  mit  dem  Säbel  zu  regieren  ist,  die  Arbeiterschaft  ist 
es  nicht.  (Lebhafte  Zustimmung  und  Beifall  bei  den  Sozialdemo- 
kraten.) Das  mögen  die  Herren  sehr  ernstlich  zur  Kenntnis  nehmen. 
Wir  sind  durchaus  nicht  gesonnen,  einen  erheblicheren  Teil  der 
Verantwortung  auf  unsere  Schultern  zu  nehmen,  als  uns  für  die 
ganze  Ernährungsorganisation  trifft,  wir  sind  gesonnen,  alle  die 
Dienste  zu  verrichten,  die  wir  für  das  Volk  verrichten,  aber 
wenn  man  uns  wie  Kulis  behandeln  will,  wie  Soldaten 
von  Anno  dazumal,  da  sagen  wir :  Nein,  datunwirnichtmit! 
Das  ist  nicht  unsere  Pflicht;  im  Gegenteil,  dadurch,  daß  wir  unsere 
Mithilfe  verweigern,  retten  wir  das  Ganze.  (Lebhafter  Beifall  bei 
den  Sozialdemokraten.) 

Die  neuen  Ministerien,  die  gegründet  werden,  sind  ja  sehr  schön, 
ich  hätte  vielleicht  die  Zusammensetzung  aller  Arbeiterdinge  in  ein 
Arbeitsministerium  gewünscht,  denn  es  wird  jetzt  wieder 
eine  Zersplitterung  herauskommen,  aber  es  ist  besser  als  es 
war,  und  es  wird  sich  vieles  bessern.  Insbesondere  das  Gesund- 
heitsministerium wird  endlich  unser  Sanitätswesen 
aus  seiner  Aschenbrödelstellung  befreien,  und  ich 
hoffe,  daß  die  Sozialpolitik  nicht  vollständig  ersäuft  werden  wird  in 
diesem  Fürsorgeministerium.  Das  wird  von  den  Personen  abhängen, 
und  was  an  uns  liegt,  wird  geschehen,  wir  werden  schieben  und 
arbeiten  soviel  als  möglich.  Das  nur  vorläufig,  denn  wir  werden 
darüber  noch  sprechen. 

Die  Voraussetzung  für  alle  Arbeit,  die  Voraussetzung  für  die 
Entwicklung  unseres  Lebens  ist,  daß  wir  zum  Frieden 
kommen.  Das  sozialistische  Proletariat  hat  die  Not  von  Anfang 
an  ganz  besonders  empfunden.  Als  im  Frühjahr  der  Ruf  „Stock- 
holm" erging,  ist  ein  Sturm  durch  die  Massen  gegangen:  Jetzt  ist 
es  zu  Ende!  Das  Signal  dafür  war 

die  russische  Revolution. 

Wenn  dieser  Krieg  das  Eingangstor  zu  Umwälzungen 
und  neuen  Dingen  ist,  die  wir  heute  noch  gar  nicht  ermessen 
können,  ist  die  russische  Revolution  ein  Ereignis  von  vielleicht  noch 
einschneidenderer  Bedeutung.  Der  Zarismus  war  der  Unterstützer 
und  die  Grundlage  aller  reaktionären  Dinge  in  der  Welt.  Für  uns 


284  Militarismus   und   Kric«. 


und  Deutschland  hatte  Rußland  noch  eine  spezitische  Bedeutung. 
Der  Zarismus  war  der  dunkle  Hintergrund  der  Reak- 
tion, auf  dem  sich  unsere  Zustände  zwar  nicht  hell,  aber  ein 
bißchen  lichter  ausgenommen  haben.  Diesen  Hintergrund  haben -wir 
verloren.  Das  Dunkelste,  das  es  heute  in  Europa  gibt,  das  sind  leider 
wir.  (Heiterkeit  und  Beifall.)  Es  wird  nun  niemand  unseren  Fort- 
schritt an  etwas  messen,  was  tiefer  steht,  sondern  daran,  daß 
nicht  nur  im  Westen,  sondern  auch  im  Osten  der 
Tag  angebrochen  ist  und  daß  es  trotz  allem  nicht  mehr 
dunkel  werden  wird. 

Wir  dürfen  nicht  mehr  zurückbleiben,  wir  müssen  vor- 
wärts. Mögen  der  russischen  Revolution  Wechselfälle  bevor- 
stehen, die  Revolution  ist  unbesiegbar,  sie  ist  eine  Tat- 
sache, die  nicht  mehr  aus  der  Weltgeschichte  gelöscht  werden  kann, 
und  wir  sind  verpflichtet,  daraus  die  Konsequenzen  zu  ziehen.  Wir 
Sozialdemokraten  waren  sehr  befriedigt,  daß  bei  Ausbruch  der 
russischen  Revolution  unser  Auswärtiges  Amt  und  auch  Deutsch- 
land erklärten,  daß  es  ihnen  fernliege,  reaktionäre  Versuche  in 
Rußland  zu  begünstigen  oder  die  russische  Revolution  zurück- 
dämmen zu  wollen.  Das  ist  selbstverständlich  und  ich  wünsche  nur. 
daß  man  dabei  bleibe.  Die  Politik  unseres  Auswärtigen  Amtes  wird 
verdächtigt,  als  ob  sie  ihre  Stellung  in  dieser  Beziehung  geändert 
hätte,  als  ob  sie  aus  konterrevolutionären  Strömun- 
gen Profit  ziehen  zu  können  glaubte,  als  ob  sie  mit  dem 
Trugbildeines  Separatfriedens  ihr  Spiel  treiben  wollte. 
Ich  bin  überzeugt,  daß  Graf  Czernin  nicht  daran  denkt.  Es  ist  durch- 
aus notwendig  und  nützlich,  daß  wir  gegenüber  der  russischen 
Revolution  auf  dem  Standpunkt  stehen  bleiben,  den 
die  österreichisch-ungarische  Politik  vom  Anfang  an  eingenommen 
hat. 

Der  Ruf  zum  Frieden 

ist  überall  vernehmbar,  auch  bei  unseren  Gegnern  im  Kriege.  Die 
Sozialdemokraten  leiden  unter  der  physischen  Schwierigkeit,  sich 
zu  verständigen,  ferner  unter  der  zu  Kriegszwecken  aufgepeitschten 
Leidenschaft  der  Massen,  sie  leiden  aber  vor  allem  unter  den 
Schlagworten,  die  hinausgegeben  und  als  Friedensbedingungen  in 
die  Welt  hinausgerufen  werden.  Eines  jedoch  ist  sicher  und  das  hat 
sich  immer  mehr  durchgerungen:  die  Völker  und  auch  unser  Volk 
wollen  nicht  umsonst  geblutet  haben,  das  heißt  d i e 
Völker  wollen  ausrotten  mit  der  Wurzel,  was 
diesen  Krieg  herbeigeführt  hat.  (Lebhafter  Beifall  bei 
den  Sozialdemokraten.)  Darum  kann  die  Voraussetzung  eines 
Friedens  nur  sein  der  feste  Entschluß  der  Staatsmänner  und  Völker, 
ein  neues  Völkerrecht  zu  schaffen.  Es  ist  eine  wahre  Genugtuung 
und  eine  große  Hoffnung  für  uns,  daß  beinahe  mit  denselben  Worten, 
mit  denen  sich  vor  fünfzig  Jahren  Karl  Marx  an  die  Internationale 
gewendet  hat,  um  die  Linien  zu  kennzeichnen,  die  für  ein  Zu- 
sammenleben der  Völker  möglich  wären,  der  Papst  in  seiner  letzten 
Kundgebung  das  Ziel  ausgesprochen  hat,  daß  nämlich  die  großen 


Für  Demokratie  und  Frieden!  28f> 


Prinzipien  der  Gerechtigkeit,  der  L  i  e  b  e  und  der 
Moral,  die  im  Privatleben  im  Verhältnis  der  einzelnen  zueinander 
maßgebend  sind,  mich  maßgebend  werden  im  Verhältnis  der  Staaten 
zueinander. 

Die  Voraussetzung  des  Frieden?  und  von  Friedensverhandlungen 

ist,  daß  dieses  Ziel  vorerst  im  Auge  behalten  wird.  Man  wird 
leichter  einander  näherkommen  können,  wenn  man  früher  fest- 
gestellt hat,  am  Ende  soll  nicht  sein  eine  Absperrung 
und  gegenseitige  Bedrohung,  sondern  ein  ver- 
trägliches Zusammenleben  zu  gemeinsamer 
Kulturarbeit  aller  Völker.  Darüber  läßt  sich  auch  un- 
schwer eine  Einigkeit  erzielen.  Schwerer  ist  es  natürlich  mit  den 
Einzelheiten.  So  sehr  wir  nun  anerkennen,  was  vom  deutschen 
Reichskanzler  und  vom  Grafen  Czernin  zum  Lobe  des  Friedens 
und  an  Wünschen  des  Friedens  gesagt  wurde  —  es  genügt 
nicht.  Wir  leben  in  einer  Zeit,  wo  man 

deutlich  und  klar  sprechen  muß. 

Heute  reden  die  Staatsmänner  zur  Welt  und  sie  sollten  in 
solchen  Worten  reden,  die  man  im  Ausland  nicht  ver- 
schweigen, nicht  verdrehen  und  n  i  c  h  t  f  a  1  s  c  h  i  n  t  e  r- 
pretieren  kann.  (Zustimmung  bei  den  Sozialdemokraten.)  So- 
wohl in  der  wirklich  weitgehenden  warmen  Antwort,  die  der  Kaiser 
an  den  Papst  gerichtet  hat,  die  wir  rückhaltlos  anerkennen  als  wirk- 
lich herzliche  und  offenbar  empfundene  Äußerung,  die  ein  Friedens- 
bekenntnis ist,  als  auch  noch  mehr  in  der  Antwortnote  des 
deutschen  Reichskanzlers  fehlt  das  Wort:  Wir  wollen  keine 
Eroberung  machen!  So  wie  drüben  das  Wort  Belgien,  so 
fehlt  bei  uns  das  Wort  Serbien  und  Rumänien.  Wir  wissen,  daß 
das  kein  Vernünftiger  will,  aber  man  sollte  esauchnachaußen 
sagen,  daß  wir  es  wissen. 

Es  ist  ein  wichtiges  Moment  dafür,  daß  wir  zum  Frieden  kom- 
men. Daß  es  fehlt,  ist  eine  Unterlassung.  Meine  Pflicht  hier  ist  es, 
dafür  zu  sorgen,  daß  die  Massen  in  England  und  in  Frankreich 
den  Mut  bekommen,  sich  dazu  zu  bekennen,  daß  der 
Friede  möglich  ist,  ohne  Verletzung  und  Unter- 
drückung eines  Volkes,  daß  der  Friede  möglich  ist,  weil 
bei  den  Zentralmächten  nicht,  wie  sie  meinen  und  wie  man  ihnen 
einredet,  Sklaven  leben,  sondern  daß  auch  da  freie  Menschen 
sind,  die  die  Demokratie  wollen  und  die  die  Freiheit 
durchsetzen  werden  und  den  Frieden.  (Lebhafter  Bei- 
fall bei  den  Sozialdemokraten.)  Es  ist  furchtbar,  was  wir  erlebt 
haben;  aber  so  furchtbar  es  ist,  tun  wir  unsere  Pflicht.  Dazu  ist 
notwendig,  nicht  nur  für  die  einzelnen,  auch  für  die  Parteien  und 
für  die  Völker  ein  wenig  Selbstverleugnung  und  sehr  viel  Mut,  sehr 
viel  Überzeugung,  daß  die  alte  Zeit  vorbei  ist,  daß  die  neue  Zeit 
kommen  muß,  die  mit  dem  Frieden  beginnt  und  zur 
Freiheit  führt.   (Lebhafter  Beifall  bei  den  Sozialdemokraten.) 


286  Militarismus   und   Krieg. 


Die  Vertagung  des  Reichsrates. 

Obmännerkonferenz  am  3.  Mai   191  8*). 

Die  Sozialdemokraten  warnen  auf  das  ernsteste  vor  dem 
Schritt,  den  der  Ministerpräsident  in  Aussicht  gestellt  habe.  Jedes 
Parlament,  das  sich  respektiert  und  seiner  Aufgabe  bewußt  ist, 
würde  nicht  eine  Verschiebung,  sondern  eine  Permanenz  des 
Hauses  beschließen.  Eine  Zerschlagung  des  Hauses,  die  befürchtet 
wird,  würde  von  niemandem  anders  angedeutet  außer  als  Folge, 
wenn  Schritte  zur  Ausschaltung  des  Hauses  gemacht  werden 
sollten.  Wenn  man  das  Haus  auf  vier  oder  sechs  Wochen  vertage, 
dürfe  man  sich  nicht  der  Hoffnung  hingeben,  daß  man  den 
Debatten,  die  jetzt  befürchtet  werden,  entgehen  könne.  Was  heute 
unangenehm  wäre,  könnte  später  unter  dem  Drucke  des  Termins 
noch  viel  unangenehmer  sein.  Die  Hoffnung,  daß  sich 
bis  dahin  die  Parteien  beruhigen  werden,  könne  man  nur  als  eine 
beneidenswerte  Naivität  ansehen.  Von  der  Regierung 
werde  nun  eine  Maßregel  geplant,  die  den  Deutschen  nichts  gibt 
und  die  Tschechen  reizt.  Nach  vier  Wochen  werde  durch  diese 
Maßregel  ein  Gegenstand  mehr  zur  Debatte  stehen. 
Aus  dem  Komplex  der  nationalen  Fragen  werde  sachlich  und 
territorial  eine  Frage  herausgerissen.  Es  gehe  auch  nicht  an,  von 
Hetzagitation  zu  sprechen.  Seine  nationalen  Interessen  geltend  zu 
machen  sei  das    gute    politische  Recht    jedes  Volkes.    Die    sozial- 

*)  Der  Staat  zerfiel,  aber  die  Regierung  Seidler  glaubte,  ihn  mit  der 
Vogel-Strauß-Politik  retten  zu  können.  Um  die  Rebellion  der  Nationen  zu 
verschleiern,  wurde  der  Reichsrat  vertagt.  Das  war  nun  schon  das  be- 
liebteste Rezept. 

Am  15.  März  war  das  österreichische  Abgeordnetenhaus  in  die  Oster- 
ferien  gegangen;  Mitte  April  sollte  es  wieder  zusammentreten,  nachdem 
die  Ausschüsse  vom  7.  April  an  die  Verhandlungsgegenstände  vorbereitet 
hatten.  Statt  dessen  wurde  das  Haus  am  3.  Mai  vertagt,  da  sich  der  Präsi- 
dent weigerte,  dem  Wunsche  der  Regierung  gemäß  die  Sitzungen  gegen 
den  Willen  der  Parteien  neuerlich  zu  verschieben.  Die  Vertagung  wurde 
vom  Ministerpräsidenten  damit  begründet,  daß  er  Verhandlungen  pflegen 
wolle,  um  „die  politischen  Knäuel  zu  lösen"  und  „über  die  momentane 
Situation  hinwegzukommen".  Diese  Situation  bestand  darin,  daß  nun  alle 
Nationen,  außer  den  Tschechen,  Polen  und  Südslawen  schließlich  auch 
die  bisher  ruhigen  Deutschbürgerlichen  aufgeregt  waren. 

Noch  vor  einer  Woche  schien  es.  als  ob  die  Regierung  des  Herrn 
v.  Seidler  zurücktreten  werde,  um  dadurch  eine  Lösung  der  Staats- 
krise zu  erleichtern.  Aber  Seidler  hatte  das  Vertrauen  des  Kaisers  Karl, 
also  wurde  nicht  er  weggeschickt,  sondern  das  Parlament,  obwohl  es 
jedem  klar  sein  mußte,  daß  sein  glorreiches  Regieren  den  Staat  zugrunde 
richtete.  Seit  dem  ukrainischen  Frieden,  der  den  Ukrainern  das  von  den 
Polen  in  Anspruch  genommene  Chelm  gab,  waren  die  Polen  von  Öster- 
reich abgefallen  und  nun  hatten  auch  die  Tiroler  Deutschbürgerlichen  in 
der  „Meraner  Resolution"  erklärt,  daß  die  Deutschen  keine  Ursache  haben, 
sich  weiter  für  den  Staat  einzusetzen,  und  die  Enthüllungen  über  die  Ver- 
handlungen des  Kaisers  mit  der  Entente  und  sein  Brief  an  seinen  Schwager 
Sixtus,  worin  er  das  Verlangen  Frankreichs  nach  dem  Elsaß  als  berechtigt 


Die  Vertagung  des  Reichsrates.  287 

demokratische  Partei  habe  seit  Jahren  immer  wieder  darauf  ge- 
drängt, eine  Verfassungsrevision  und  eine  Schaffung  der  neuen 
nationalen  Ordnung  in  die  Wege  zu  leiten.  Die  Spannung  sei  wohl 
auf  das  höchste  gestiegen,  aber  weil  dies  der  Fall  ist,  soll  das 
Parlament  ausweichen  und  fortgehen?  (iegcn  ein  solches  Vor- 
gehen erhebe  seine  Partei  die  allerentschiedenste  Einsprache.  Er 
hedaure  es,  daß  die  slawischen  Parteien  in  der  Obmännerkonferenz 
nicht  erschienen  seien,  er  hedaure  es  aber  auch,  dal.»  mau  ihnen 
dies  so  leicht  gemacht  habe.  Pinnen  vierundzwanzig  Stunden  dürfe 
man  nicht  eine  so  wichtige  Sitzung  wie  die  heutige  Obmänner  - 
Konferenz  einberufen.  Was  die  Erage  der  Kreiseinteilung  betrifft, 
sei  diese  für  die  Tschechen  sogar  ein  Vorteil.  Warum  gebe  man 
also  das  Pfand  aus  der  Hand,  warum  präjudiziere  man  den  natio- 
nalen Ausgleich  und  warum  gebe  man  das,  was  für  die  anderen 
ein  Vorteil  sein  sollte,  womit  sie  auch  einverstanden  sein  müßten, 
in  einer  Form  hinaus,  die  wie  ein  Hieb  empfunden  wird?  Er  ver- 
weist schließlich  auf  die  Wirkungen  einer  Vertagung  des  Parla- 
ments im  Ausland  und  erklärt,  die  Sozialdemokraten  erheben 
von  den  gekennzeichneten  Gesichtspunkten  ihre  Einsprache  und 
ihre  Warnung  gegen  eine  solche  Maßregel. 


erklärt  (allerdings  selbst  auf  kein  Gebiet,  selbst  nicht  auf  das  besetzte 
Serbien  verzichten  wollte!),  regten  die  Deutschbürgerlichen  noch  mehr  auf. 

Um  die  Deutschen  zu  versöhnen,  erließ  Dr.  v.  Seidler  eine  Verordnung, 
die  den  Schein  eines  Entgegenkommens  an  sie  vorspiegeln  sollte.  Statt  der 
von  ihnen  verlangten  Zweiteilung  Böhmens  in  ein  deutsches  und  ein 
tschechisches  Kronland  ernannte  er  für  national  abgegrenzte  Kreise  zwölf 
Kreishauptleute,  richtiger:  er  beförderte  zwölf  Bezirkshauptleute  zu  Kreis- 
hauptlenten  als  Gehilfen  des  Statthalters.  Es  war  eine  Verordnung,  die 
den  Tschechen  nichts  nahm,  den  Deutschen  nichts  gab, 
eine  echt  österreichische  Lösung.  Aber  die  Form,  in  der  sie  den  Deutschen 
als  nationales  Zugeständnis  gegeben  wurde,  regte  die  Tschechen  auf,  die 
ja  jeden  Anlaß  zur  Entrüstung  über  die  Regierung  begierig  ergriffen,  und 
die  Deutschen  wieder  freute  an  der  Verordnung  nichts  mehr,  als  daß  sie 
die  Tschechen  aufregte. 

Die  Aufregung  der  Tschechen  war  übrigens  auch  für  Seidler  die  Haupt- 
sache, denn  sie  gab  ihm  den  Vor  wand,  das  Parlament  zu  ver- 
tagen, da  die  Tschechen  in  ihrer  ersten  Aufwallung  bereit  schienen,  das 
Parlament  zu  zerschlagen. 

Als  die  Vertagung  schon  mit  den  Deutschbürgerlichen  vereinbart  war, 
berief  Seidler  für  den  3.  Mai  noch  eine  Obmännerkonferenz  ein,  um  den 
Schein  zu  erwecken,  daß  er  konstitutionell  handle.  In  dieser  erschienen  die 
Tschechen  und  Südslawen  nicht  mehr.  Die  Deutschbürgerlichen  billigten 
die  Vertagung. 

Daran!   sprach   Adler. 

Seidler  regierte  noch  bis  rinde  Juli  und  mußte  dann  Hussa  rek  Platz 
machen,  der  wieder  im  Zusammenbruch  der  Regierung  Lammasch  Platz 
machte,  Dann  war  es  aus. 


288  Nationalismus  und  Internationalismus. 


Nationalismus 
und  Internationalismus. 

Das  Verbot  tschechischer  Versammlungen. 

Drei  Versammlungen  am  2  8.  Jänner  189 4*). 

Adler  erinnert  an  die  heftigen  nationalen  Kämpfe  in  Böhmen 
und  an  jene  Episode,  wo  in  Österreich  nichts  wichtiger  war  als  die 
Entscheidung  über  die  Amtssprache  bei  einem  Bezirksgericht  in 
Böhmen.  Auch  in  Wien  wiederholte  sich  alljährlich  im  Qemeinderat 
und  Landtag  eine  heftige  Szene  bezüglich  der  Komensky- 
Schule**)  im  zehnten  Bezirk,  die  vom  Grafen  Ha  r  räch  pro- 
tegiert wird.  Die  Herren  tschechischen  Grafen  nehmen  sich  ihrer 
nationalen  Genossen  in  Favoriten  an,  wenn  es  ihnen  in  den  Kram 

*)  Die  niederösterreichischen  Behörden  hatten  die  Organisation  der 
tschechischen  Arbeiter  dadurch  zu  behindern  versucht,  daß  sie  ihre  Ver- 
sammlungen mit  der  Begründung  verboten,  sie  hätten  keine  Beamten,  die 
tschechisch  verstehen,  so  daß  sie  also  die  Versammlungen  nicht  zu  über- 
wachen vermöchten.  Gegen  ein  solches  Verbot  erhoben  nun  die  Einberufer 
einer  Versammlung  in  I  n  z  e  r  s  d  o  r  f,  wo  die  Ziegelarbeiter  der  Wiener- 
berger  Ziegelwerke  vornehmlich  Tschechen  waren,  Beschwerde  beim 
Reichsgericht,  weil  sie  in  ihrem  staatsgrundgesetzlich  gewährleisteten 
Versammlungsrecht  verletzt  seien.  Am  12.  Jänner  1894  wurde  diese  Be- 
schwerde abgewiesen  und  das  Reichsgericht  erkannte,  daß  durch  das  Ver- 
bot eine  Verletzung  des  Versammlungsrechtes  nicht  stattgefunden  habe. 
Es  könne  in  der  Bestimmung,  daß  der  Gebrauch  einer  anderen  als  der 
deutschen  Sprache  untersagt  sei,  keine  Verletzung  des  Gesetzes  erblickt 
werden.  Damit  der  behördliche  Abgeordnete  das  Überwachungsrecht  üben 
könne,  müsse  er  auch  die  Sprache  verstehen,  woraus  folgt,  daß  die  Ver- 
handlung in  der  Sprache  erfolgen  muß,  deren  Kenntnis  von  den  Beamten 
nach  den  bestehenden  gesetzlichen  Vorschriften  gefordert  werden  kann, 
derjenigen  Sprache,  deren  sich  die  mit  dem  Aufsichtsrecht  betraute  poli- 
tische Behörde  erster  Instanz  im  Verkehr  mit  Parteien  als  Amtssprache 
bedient.  Für  die  Bezirkshauptmannschaft  Hietzing-Umgebung  sei  diese 
Amtssprache  das  Deutsche,  womit  sich  die  von  dieser  Behörde  gemachte 
Einschränkung  bezüglich  der  Verhandlungssprache  als  gesetzlich  be- 
gründet darstelle. 

Für  den  28.  Jänner  waren  nun  drei  Protestversammlungen  der  Wiener 
Arbeiter  gegen  diese  Verbote  tschechischer  Versammlungen  und  gegen  die 
Entscheidung  des  Reichsgerichtes  einberufen.  Von  diesen  Versammlungen 
war  eine  tschechisch,  zwei  deutsch.  In  der  Versammlung  in  Favoriten 
sprach  auch  Adler. 

**)  Die  tschechische  Privatschule,  die  der  „Komensky-Verein"  errichtet 
hatte. 


Das  Verbot  tschechische!    Versammlung  280 

paßt  Wo  es  sich  aber  um  das  unzweifelhafte  Recht  tschechischer 
Arbeiter  in  Wien  und  Umgebung  handelt,  die  von  den  Staatsgrund- 
gesetzen Gebrauch  machen  wollen  und  daran  gehindert  werden. 
da  schweigen   sie,   die   feudalen  Grafen.   Freilich,   die  Komensky- 

Seliule  hat  den  /weck,  ein  Mittelpunkt  tschechisch-nationaler  Agi- 
tation im  Sinne  von  Harrach  und  Konsorten  zu  sein,  die  tschechi- 
schen Arbeiter  als  Schwanz  der  tschechischen  Parteien  zu  erhalten 
und  für  diesen  Zweck  sind  die  Herren  Grafen  bereit,  sogar  (ield 
zu  opfern.  In  dem  Moment  aber,  wo  die  tschechischen  Arbeiter  sich 
auf  eigene  Füße  stellen,  Sozialdemokraten  werden,  da  sind  sie  nicht 
mehr  die  Nationsgenossen  der  Grafen  Harrach  usw.,  da.  sind  sie 
Proletarier,  die  geschurigelt  werden  müssen  und  die  Herren 
klatschen  dann  Beifall  dazu. 

Hier  handelt  es  sicli  nicht  um  eine  eigentliche  natio- 
nale Frage  im  Sinne  der  nationalen  Zwistigkeiten,  sondern  um 
eine  Frage  der  Klasse,  des  Klassenkampfes,  da  man  den 
tschechischen  Arbeitern  das  Recht  verkürzen  will,  sich  als  klassen- 
bewußte Arbeiter  zu  bewegen.  Und  das  ist  der  Grund,  warum  wir 
verpflichtet  sind,  diesem  Attentat  mit  aller  Energie  entgegenzu- 
treten. 

Die  Gefahr,  die  in  der  letzten  Entscheidung  des  Reichsgerichtes 
liegt,  ist  die,  daß  sie  als  prinzipieller  Beschluß  von  Bezirkshaupt- 
leuten und  Polizeidirektionen  zitiert  werden  wird,  um  das  Ver- 
sammlungsrecht einzuschränken.  Reichsgerichtliche  Entscheidungen 
sind  aber  absolut  nicht  von  gesetzlicher  Wirkung  begleitet;  im 
Gegenteil,  es  gibt  zu  Dutzenden  reichsgerichtliche  Entscheidungen, 
die  einander  widersprechen;  wenn  aber  schon  das  Reichsgericht  in 
solchen  Dingen  eine  Autorität  hätte,  dann  möchten  wir  die  löblichen 
Bezirkshauptmannschaften  und  Polizeidirektionen  ersuchen,  daß  sie 
auch  jene  Urteile  des  Reichsgerichtes,  welche  mit  dem  Geiste  des 
Staatsgrundgesetzes  übereinstimmen,  respektieren.  So  hat  das 
Reichsgericht  wiederholt  erklärt,  daß  es  eine  Verletzung  des  Staats- 
bürgerrechtes ist,  wenn  man  Arbeiter  oder  sonstige  Personen  aus- 
weist, abschubiert,  weil  sie  im  Streik  stehen  und  augenblicklich 
ohne  Arbeit  sind. 

Das  Reichsgericht  hat  seit  Jahren  sich  damit  beschäftigen 
müssen  und  trotzdem  kommt  es  fast  bei  jedem  Streik  in  Böhmen 
und  Steiermark  vor,  daß  der  Herr  Bezirkshauptmann  die  u  n- 
bequemen  Arbeiter  einfach  abschieben  läßt.  •  Was 
aber  diesen  speziellen  Fall  anlangt,  so  wird  bei  nächster  Gelegen- 
heit ein  neues  reichsgerichtliches  Urteil  provoziert  und  eine  solche 
Reihe  von  Argumenten  und  Tatsachen  vorgeführt  werden,  daß  es 
unmöglich  sein  wird,  in  demselben  Sinne  zu  urteilen  wie  heute. 

Es  ist  übrigens  bezeichnend  für  die  Koalitionsregierung, 
die  unter  Offenheit  und  Wahrheit  die  möglichste  Reaktion  verbirgt, 
daß  sie  nun  auch  zur  nationalen  Frage  offen  Farbe  bekannt  hat,  in 
einer  Zeit,  wo  für  die  Tschechen  in  Österreich  eine  schlechte  Zeit 
herrscht.  So  zeigt  auch  der  Gang  des  Oml  adina-Proz  esse  s*), 

)   Siehe  Bd.   VIII,  Seite  45. 
Adler,  Briefe.    XI.  Bd.  19 


290  Nationalismus  und  Internationalismus. 


über  den  die  ParesSe  nur  spärliche  Berichte  bringt,  daß  das  Gericht 
bemüht  ist;  einen  Zusammenhang  der  radikal-nationaltschecliischen 
Partei  mit  der  Sozialdemokratie  herzustellen;  namentlich  die 
deutsch-liberale  Presse  sucht  ihn  darzulegen.  Um  den  natio- 
nalen Streitigkeiten  ein  Ende  zu  machen,  gibt  es  nUr  ein 
Mittel :  die  ehrliche  De  m  o  k  r  a  t  i  e,  wie  sie  in  der  Schweiz 
besteht,  wo  drei  Nationen  friedlich  nebeneinander  leben.  Ohne  aber 
den  Weg  der  Freiheit  zu  betreten,  ist  eine  Beilegung  des  Streites 
unmöglich,  er  wird  nur  verewigt;  die  Regierer  leben  davon. 

Wir  werden  ihnen  diese  Möglichkeit  benehmen.  Das  deutsche 
und  das  tschechische,  das  polnische  und  ruthenische,  das  slowe- 
nische und  das  italienische  Proletariat,  das  in  chauvinistischen  Vor- 
stellungen auferzogen  und  befangen  war,  wird  dem  ein  Ende  be- 
reiten. So  wird  die  Sozialdemokratie  nicht  nur  die  Rettung  für 
ökonomische  und  freiheitliche  Interessen  sein-,  sondern  auch  die 
Rettung  für  berechtigte  nationale  Interessen. 
Die  Völker  haben  ein  Recht  zu  leben  wie  die  Individuen;  heute  wird 
dieses  Recht  nur*,  hervorgehoben,  zum  Schutze  der  Ausbeutung,  um 
dem  Ausschuß  der.  Ausbeuter  die  Verfügung  über  die  Geschäfte  zu 
wahren,  um  die  Völker  abzulenken  von  den  wirklichen  Interessen, 
welche  einzig  und  allein  die  Sozialdemokratie  vertritt.  Wir  sind  der 
Überzeugung,  daß  die  heutigen  Protestversammlungen  in  Wien  und 
im  ganzen  Reiche  bei  den  Behörden  werden  verstanden  werden. 
(Beifall.) 

National  und  antinational. 

Tschechische    W  ä  h  1  e  r  v  e  r  s  a  m  m  1  u  n  g, 
2  8.  Februar  18  97*). 

Man  wirft  uns  vor,  daß  wir  antinational  sincj,  und  wie  wir  von 
den  verlogenen  Deutschnationalen  beschimpft  werden,  genau  so 
fallen  die  Tschechischnationalen  über  uns  her.  Wenn  es  wahr  wäre, 
daß  die  deutschen  Sozialisten  die  deutsche  Nation  verraten  und 
den  Tschechen  nützen,  dann  müßten  ja  die  „Närodni  Listy"  ihre 
Freude  an  uns  haben,  aber  die  schimpfen  über  uns  und  verleumden 
uns.  Und  wenn  es  wahr  wäre,  daß  unsere  tschechischen  Genossen 
die  tschechische  Nation  verraten  und  den  Deutschen  nützen,  wie 
es  die  Jungtschechen  behaupten,  dann  müßte  ja  wieder  die 
„Deutsche  Zeitung"  sich  darüber  freuen,  aber  diese  schimpft  über 
sie.  Das  Ganze  ist  eben  nur  ein  Schwindel,  der  jetzt  gerade  vor 
den  Wahlen  wieder  aufgewärmt  wird,  um  das  Volk  zu  spalten.  Der 
Badeni  ist  eben  ein  durchtriebener  Mensch,  ein  Mittelstück 
zwischen  einem  polnischen  Juden  und  einem  polnischen  Scillaen - 
zizen.  Aber  die  Arbeiterschaft  fliegt  nicht  auf  diesen  Schwindel. 
Wir  stehen  auf  dem  Standpunkt,  -  daß  es  für  jeden  Arbeiter  not- 

*)  An  dem  gleichen  Tag,  an  dem  Adler  in  der  Wahlbewegung  über 
christliche  und  jüdische  Ausbeutung  und  über  die  sozial- 
demokratischen ,  W  a  h  1  k  pst  e  n  sprach  (siehe  im  Kapitel  von  den 
christlichsozialen  Wahlargumenten),  sprach  er  auch  in  einer 
Versammlung  der  tschechischen  Arbeiter.  ; 


I  tu  lidatur  im  Wienei  Wahlbezirk  Favorit«     [I.  2$M 

wendig  ist,  daß  er  sich  nicht  beschränkl  aui  die  Kenntnis  seiner 
Muttersprache,  Welcher  Arbeiter  weiß  denn  heute,  ob  er  nicht 
morgen  unter  Arbeitern  wird  arbeiten  müssen,  deren  spräche 
nicht  seine  Muttersprache  Ist.  Wir  legen  Jäher  ein  besonderes 
Gewicht  auf  Sprachkenntnisse.  Die  tschechischnationalen  Groß- 
mäuler lassen  ihre  Kinder  Deutsch  lernen  und  die  deutschnationalen 
Großmäuler  die  ihren  Tschechisch.  Aber  die  Herren  wünschen, 
daLi  die  Arbeiter  so  wenig  als  möglich  die  andere  Landessprache 
lernen,  damit  sie  so  wenig  als  möglich  von  den  Unternehmern 
bleiben.  Diesen  Schwindel  hat  aber  die  Arbeiterschaft  sehr  gut 
durchschaut,  und  darum  gehen  das  tschechische  und  das  deutsche 
Proletariat  geschlossen  vor. 

Die    Kandidatur    im  Wiener   Wahlbezirk 

Favoriten  IL 

„A  r  b  e  i  t  e  r  -  Z  e  i  t  u.n  g",  10.  Februar  undlü.  Märzl90  7*). 

I. 

Die  Aufstellung  der  sozialdemokratischen  Kandidaturen  für 
Wien  hatte  eine  Vorgeschichte,  deren  Inhalt  eine  bedauerliche 
Meinungsverschiedenheit  zwischen  der  deutschen  und  der  tschechi- 
schen Organisation  in  Wien  war.  Wir  waren  der  Ansicht  und  es 
war  stets  Tradition  der  Partei,  solche  interne  Vorgänge, .  die 
zwischen  den  kompetenten  Korporationen  der  Partei  ausgetragen 
werden,  nicht  ohne  Not  an  die  Öffentlichkeit  zu  bringen  und  es  zu 
vermeiden,  den  Gegnern  Anlaß  zu  absichtlicher  Mißdeutung  zu 
geben.  Da  es  aber  unsere  tschechische  Bruderpresse  für  angezeigt 
gehalten  hat,  diese  Angelegenheit  ausführlich  zu  erörtern,  so  fällt 
für  uns  jedes  Bedenken  weg,  auch  unsererseits  darüber  zu 
sprechen. 

Die  Wiener  „Delnicke  Listy"  erzählen  in  einem  Leitartikel  vom 
5.  d.  ausführlich  die  Geschichte  des  Konflikts.  Die  Landeskonferenz 
der  tschechischen  Sozialdemokraten  in  Niederösterreich  stellte 
schon  im  Oktober  die  Forderung  auf,  es  sei  im  oberen  Favoritner 
Wahlbezirk  (zwanzigster  Wiener  Wahlbezirk)  ein  tschechischer 
Genosse  als  gemeinsamer  Kandidat  der  deutschen  und  tschechi- 
schen Organisation  aufzustellen.  Die  deutsche  Parteivertretung 
erklärte   schon   damals,   auf   diese   Forderung  zu   ihrem   Bedauern 


*)  In  dem  zehnten  Wiener  Bezirk  Favoriten,  in  dem  auch  tschechische 
Arbeiter  in  größerer  Zahl  wohnen,  hatten  bei  den  ersten  Wahlen 
unter  dem  allgemeinen  Wahlrecht  die  tschechischen  Sozialdemokraten 
den  Anspruch  erhoben,  daß  eines  der  beiden  Mandate  des  Bezirkes 
ihnen  überlassen  werde  und  sie  hatten  gerade  den  proletarischeren  Teil 
des  Bezirkes,  in  dem  Adler  kandidierte,  während  in  dem  anderen  Teil 
Reumaini  aufgestellt  war,  in  Anspruch  genommen.  Da  das  Parteiblatt 
der  Wiener  tschechischen  Sozialdemokraten,  die  „Delnicke"  Listy" 
(Arbeiterblatt),  den  Konflikt  öffentlich  erörterte,  hat  Adler  in  zwei  Artikeln 
darüber   auch    öffentlich    geschrieben. 

19* 


292  Nationalismus  und  Internationalismus. 

nicht  eingehen  ZU  können,  und  in  demselben  Sinne  äußerten  sich  die 
Mitglieder  der  Gesamtexekutive,  wie  aucli  die  deutsche  Lander- 
exekutive,  die  Reichskonferenz  der  deutschen  Sozialdemokratie  und 
schließlich  die  Bezirkskonferenz  für  Favoriten  selbst  zu  dieser  Ent- 
scheidung kamen.  Bei  allen  diesen  Beratungen  wurde  eine  höchst 
eingehende,  zum  Teil  sehr  lebhafte,  aber  durchaus  sachliche  Dis- 
kussion geführt,  gelangte  jedoch  immer  wieder  zu  demselben  Er- 
gebnis. So  wurde  denn  die  Kandidatur  des  Genossen  Dr.  Victor 
Adler  definitiv  aufgestellt.  Die  tschechischen  Genossen,  die  in  ihrer 
Konferenz  am  27.  Jänner  neuerdings  beschlossen  hatten,  an  ihrer 
Forderung  festzuhalten,  erklärten  nunmehr  in  der  Bezirkskonferenz 
für  Favoriten,  daß  sie  über  ihr  weiteres  Verhalten  endgültig  in  einer 
in  nächster  Zeit  abzuhaltenden  Konferenz  schlüssig  werden  wrürden. 

Das  sind  die  dürren  Tatsachen,  an  die  die  Brünner  „R  o  v  n  o  s  V 
anknüpft  in  der  Form  eines  offenen  Briefes  an  Genossen 
Adler.  Da  dieser  Brief  die  Argumentation  der  tschechischen  Ge- 
nossen wiedergibt  und  auch  von  ihrem  Wiener  Organ  abgedruckt 
wird,  wollen  wir  ihn  in  vollem  Umfang  mitteilen;  er  lautet: 

Genosse  Dr.  Adler! 

Sie  entschuldigen,  daß  wir  uns  direkt  an  Sic  wenden  in  einer  An- 
gelegenheit, die  die  tscheehischen  Genossen  allerorten  in  höchstem  Maße 
in  Aufregung  hält.  Wozu  sollen  wir  einen  allgemeinen  Artikel  schreiben 
und  von  den  deutschen  Genossen  und  der  deutschen  Partei  schreien, 
wenn  Ihre  Person  in  diesem  neuesten  Streite  im  Vordergrund  steht  und 
Sie  auch  der  Genosse  sind,  der  in  unseren  Reihen  von  allen  deutschen 
Genossen  das  größte  Ansehen  genießt. 

Die  „Delnicke  Listy"  haben  am  Dienstag  die  Geschichte  Ihrer  Kan- 
didatur im  20.  Wiener  Wahlkreis  dargestellt.  Sie  konstatieren,  daß  das 
Verlangen  der  tschechischen  politischen  und  gewerkschaftlichen  Organi- 
sationen, die  in  Wien  an  18.000  Mitglieder  zählen,  außer  den  Tausenden, 
die  in  deutschen  Organisationen  sind,  daß  ihr  Verlangen,  es  möge  in 
diesem  tschechischesten  und  zugleich  arbeiterreichsten  Bezirk  irgend- 
ein tschechischer  Genosse  kandidiert  werden,  abgelehnt  wurde.  Warum? 
Die  Wiener  Mandate  sind  zum  deutschen  Besitzstand  gerechnet  und  die 
deutschen  Genossen  befürchten,  daß  die  Kandidatur  eines  tschechischen 
Sozialdemokraten  einen  ungünstigen  Einfluß  auf  die  anderen  Wiener 
Bezirke,  vielleicht  auch  auf  Deutschböhmen  ausüben  würde.  Ein  anderer 
Grund  besteht  nicht,  und  wir  meinen,  daß  auch  die  deutschen  Genossen 
ihn  nicht  anführen  können.  Also  bloß  „taktische"  Rücksichten. 

Es  konnte  auch  keine  anderen  Gründe  geben.  Die  tschechischen  Ge- 
nossen in  Wien  bilden  einen  numerisch  und  moralisch  so  wichtigen  und 
ansehnlichen  Teil  der  Wiener  Bewegung,  daß  man  über  sie  nicht  still- 
schweigend hinweggehen  kann.  Eine  Organisation,  die  in  der  fremd- 
sprachigen Stadt  mit  größtem  Erfolg  ihr  Tagblatt  herauszugeben  ver- 
mag, die  imstande  war,  soviel  Beispiele  genössischer  Opferfreudigkeit 
und  Liebe  zur  proletarischen  Sache  zu  geben,  kann  nicht  nullifiziert 
werden.  Die  tschechischen  Arbeiter  bilden  in  Wien  einen  der  wichtig- 
sten Pfeiler  unserer  Wiener  Bewegung  und  tausende  tschechische 
sozialdemokratische  Stimmen  werden  in  einer  ganzen  Reihe  von  Wahl- 
kreisen den  Erfolg  oder  Mißerfolg  unserer  gemeinsamen  Sache  ent- 
scheiden. Auch  die  Vergangenheit  spricht  für  die  Forderung  unserer 
tschechischen   Genossen.     Die   Kandidatur   des    Genossen   Nemec   gegen 


Die  Kandidatur  Im  Wiener  Wahlbezirk  Favoriten  II.  293 


Lueger  im  Jahre  1897  war,  was  das  Verhältnis  der  Stimmen  bei  ienen 
Wahlen    betrifft,    für    unsere  Partei    prozentuell    am    günstigsten.    Die 
deutschen  Genossen  haben  also  die  Forderung  der  tschechischen  Q< 
nossen  vollständig  anerkannt. 

Gründe  der  Vernunft  und  der  Parteigenossenschafl  sind  also  vor- 
handen. Tausende  von  tschechischen  Arbeitern,  von  Genossen,  die  ihre 
Parteipflichten  erfüllen,  sind  da  es  gebührt  ihnen  also  das  Recht  der 
Vertretung.  Man  gibt  ihnen  nichts  umsonst;  ihre  Stimmen  und  ihre 
Arbeit  werden  diese  eine  Vertretung  reichlich  aufwiegen. 

Aber  die  Gründe  haben  nicht  entschieden,  auch  nicht  die  Prinzipien, 
die  einem  jeden  eine  Vertretung  zuerkennen,  sondern  die  Taktik, 
taktische  Rücksichten!  Die  Partei  muß,  insofern  sie  eine  poli- 
tische Partei  sein  und  politische  Macht  erringen  will,  gewiß  auch  tak- 
tische Rücksichten  beobachten.  Aber  wir  haben  es  uns  immer  zur  Ehre 
angerechnet,  daß  bei  uns  die  Parteigrundsätze  über  taktische  Rück- 
sichten gestellt   wurden. 

Sicherlich  ist  Ihnen  wohl  bekannt  unser  rücksichtsloses  Auftreten 
gegen  das  Staatsrecht,  unser  Verhalten  in  Prag  und  anderen  Orten  im 
Jahre  1897  bei  den  nationalen  Krawallen  —  damals  kannten  die  tsche- 
chischen Genossen  keine  taktischen  Rücksichten.  Die  Prinzipien 
Hingen  voran!  Unsere  Genossen  im  Reiche  haben  auch  lieber  Man- 
date geopfert,  ehe  sie  den  „Mitläufern"  Zugeständnisse  machten. 

Die  deutschen  Genossen  in  Wien  aber  haben  am  Beginn  der  neuen 
Zeit,  die  in  Österreich  angebrochen  ist,  bei  ihrem  ersten  Schritte  der 
„Taktik"  der  Partei  eine  bedenkliche  Konzession  gemacht.  Und  der 
Grund,  warum  wir  Sie,  Genosse  Adler,  apostrophieren,  ist  der,  daß 
gerade  Sie  von  der  deutschen  Partei  als  Kandidat  in  jenem  strittigen 
Bezirk  aufgestellt  wurden,  und  der  Grund,  warum  wir  uns  gestatten, 
auf  diesem  in  der  Partei  ungewöhnlichen  Wege  zu  sprechen,  ist  der, 
daß  Sie  im  vorigen  Jahre  der  Schiedsrichter  bei  den  Parteizwistigkeiten 
in  Brunn  waren. 

Sie  kamen  nach  Brunn,  um  Frieden  in  der  Partei  zu  schaffen,  um 
den  Streit  beizulegen,  der  deshalb  entstanden  war,  weil  die  deutsche 
Minorität  in  allen  Institutionen,  die  die  Partei  verwaltet,  herrschen 
wollte.  In  einem  Institut,  wo  von  25.000  Mitgliedern  kaum  ein  Viertel 
deutsch  ist,  wollten  sie  herrschen  und  in  einem  zweiten,  wo  das  Ver- 
hältnis dasselbe  ist,  herrschen  sie  noch  jetzt. 

Mit  Rücksicht  auf  den  Eindruck  draußen,  mit  Rücksicht  auf  die  poli- 
tischen Verhältnisse  stimmten  wir  damals  einem  Frieden  zu,  der,  das 
gestehen  wir  offen,  die  Verhältnisse  noch  lange  nicht  gerecht  regelte. 
Damals  haben  Sie  sich  auf  die  Gerechtigkeit  unserer  Majo- 
rität, auf  die  Gerechtigkeit  einer  Minoritätsvertre- 
tung berufen.  Wir  als  prinzipielle  Leute  sind  auf  diesen  Grundsatz 
eingegangen.  Heute  können  wir  aber  in  Konsequenz  dessen  verlangen, 
daß  mit  gleicher  Elle  auch  der  Minorität  der  tschechischen  Genossen 
in  Wien  gemessen  werde.  Die  „Taktik"  kann  doch  nicht  unsere  Grund- 
sätze in  den  Staub  treten!  Unsere  „Taktik"  in  Österreich 
bedeutet  nicht,  daß  man  alles  Deutsche  in  der  Partei 
so  begünstigen  muß,  wie  es  im  Staate  Österreich  ge- 
schieht! 

Sie  sind  aber  selbst  als  Kandidat  der  deutschen 
Genossen  im  2  0.  Wahlkreis  aufgestellt.  Gewiß  deshalb, 
weil  die  deutschen  Genossen  damit  rechnen,  daß  sich  Ihre  Person 
großer  Beliebtheit  bei  den  tschechischen  Genossen  erfreut.  Sie  haben 
immer  als  n  a  t  i  o  u  a  1  g  e  r  e  C  h  t  gegolten.  Sie  waren  immer  der  Vcr- 


294  Nationalismus  und  Internationalismus. 


mittler  bei  allen  Streitigkeiten  in  der  Partei  und  haben  mehr  als  einmal 
uns  reeht  gegeben. 

Nun  aber  ist  gerade  Ihre  Person  in  den  Vordergrund  dieses  Streites 
gestellt,  und  das  trifft  uns  um  so  schmerzlicher,  als  wir  gerade  in 
Ihnen  immer  einen  Genossen  gesehen  haben,  der 
streng  auf  den  Grundsätzen  der  Partei  steht,  einen 
Genossen,  der  immer  und  allein  auf  die  Interessen 
unserer  österreichischen  Internationale  Rücksicht 
nimmt.  Das  ist  Ihr  Lebenswerk,  das  man  im  Ausland  bewundert,  daß 
Sie  (allerdings  unter  der  tätigen  Mitwirkung  unserer  älteren  Genossen) 
es  vermocht  haben,  das  Proletariat  aller  Nationen  dieses 
sonderbaren  Staates  zu  gemeinsamer  Aktion  zu  ver- 
einigen. Und  gerade  wenn  dieses  Werk  damit  gekrönt  werden  soll, 
daß  das  österreichische  Proletariat  sich  rüstet,  ein  einflußreicher  Faktor 
im  Staate  zu  werden,  gerade  in  diesem  Augenblick  kommen  Sie  selbst 
und  versetzen  durch  Ihr  Auftreten  der  Einigkeit  unserer  Partei  einen 
schweren  Schlag. 

Niemand  von  uns  wünscht,  daß  das  gemeinsame  Vorgehen  der  öster- 
reichischen Arbeiterschaft  gefährdet  werd«,  aber  es  gibt  viele  bedenk- 
liche Zeichen,  die  uns  zwingen,  daß  wir  uns  für  die  Zukunft  vorbereiten. 
Wir  können  nur  als  Gleiche  neben  Gleichen  gehen,  als  v  o  1 1- 
berechtigte  Faktoren  der  sozialistischen  Inter- 
nationale, aber  ganz  entschieden  werden  wir  nicht  dulden,  daß  aus 
„taktischen"  Rücksichten  unsere  prinzipiellen  Anschauungen  nieder- 
getreten werden.  Hinzutreten  und  hier  ein  entschiedenes  Wort  zu  sagen, 
sind  wir  unseren  Grundsätzen  und  unserer  Zukunft  schuldig,  selbst 
Wenn    wir  unseren  eigenen  Weg  gehen  sollten. 

Wir  hoffen,  daß  Sie  alles  erwägen  werden.  Sie  haben  immer  zur 
rechten  Zeit  den  rechten  Weg  gefunden. 

Briin  n,  7.  Februar  1907. 

Die  Redaktion  der  „R  ovnos  V. 

Der  Brief  der  „Rovnost"  wendet  sich  an  mich  persönlich,  und  so 
muß  ich  wohl  auch  selbst  darauf  antworten.  Allerdings  finde  ich, 
daß  die  Adresse  dieser  Erörterung  durchaus  nicht  richtig  gewählt 
ist.  Denn  die  Aufstellung  dieser  Kandidatur  in  Favoriten  II  ist  nicht 
meine  persönliche  Angelegenheit,  sondern  der  Wille  und  das  Werk 
der  deutschen  Sozialdemokratie  in  Wien  und  Niederösterreich  und 
ist  der  Beschluß  der  Vertrauensmänner  jenes  Wahlbezirkes  selbst. 
Persönlich  kommt  nur  das  einzige  Moment  in  Frage,  daß  ich  in 
Favoriten  stets  kandidiert  habe,  solange  sich  die  Partei  überhaupt 
an  Wahlen  beteiligt.  Da  ich  aber  annehmen  darf,  daß  auch  die 
tschechischen  Genossen  mich  nicht  als  einen  ungeeigneten  Kandi- 
daten überhaupt  ansehen,  sich  ihr  Widerspruch  also  nicht  gegen 
meine  Person,  sondern  gegen  die  Ablehnung  ihrer  Forderung 
richtet,  kann  und  muß  alles  Persönliche  aus  der  Erörterung  aus- 
scheiden. 

Und  nun  zur  Sache.  Nichts  ist  uns  deutschen  Sozialdemokraten 
begreiflicher,  als  daß  unsere  tschechischen  Genossen  in  Niederöster- 
reich den  Wunsch  hegen,  als  nationale  Organisation  eine  politische 
Vertretung  in  den  parlamentarischen  Körperschaften  zu  erreichen. 
Sie  haben  sich  zu  unserer  Freude  eine  achtunggebietende  Organi- 
sation aufgerichtet,  haben  Seite  an  Seite  mit  uns  alle  unsere  Kämpfe 


Dil-  Kandidatur  im   Wienei    Wahlbezirk   Favoriten  11. 


geführt,  haben  sich  ein  heute  durchaus  lebensfähiges  lagblatl  ge- 
schaffen, und  wir  deutschen  Sozialdemokraten  haben,  diese1,  Zeug 

nis  werden  sie  uns  nicht  Versagen  wollen,  sie-  dabei  nicht  nur  nicht 
gehindert,  sondern,  so  weit  unsere  Kräfte  reichten,  auch  pflicht- 
gemäß unterstützt.  Wenn  es,  wie  unvermeidlich,  gelegentlich* zu 
Schwierigkeiten  und  Reibungen  gekommen  ist,  haben  die  ältesten 
und  erfahrensten  Genossen  alles  getan,  um  sie  zu  beseitigen  und  den 
Frieden  aufrechtziihalten.  Die  nationale  Scheidung  der  Organisation 
war  am  wenigsten  die  Sehnsucht  der  deutschen  Sozialdemokraten: 
aber  wir  haben  uns  der  Notwendigkeit  ohne  Widerstand  gefügt  und 
sie  ehrlich  durchzufüreu  geholfen.  Als  es  noch  Hindernisse  gab  für 
die  öffentliche  politische  Betätigung  der  tschechischen  Arbeiter,  als 
man  tschechische  Versammlungen  verbot,  haben  wir  geholfen,  diese 
Vergewaltigung  zu  beseitigen.' Wir  glauben  also  in  aller  Bescheiden- 
heit, unsere  Pflicht  internationaler  Solidarität  stets  redlich  erfüllt 
zu  haben.  Wir  sind  weiter  gegangen  und  daraus  wollen  merk- 
würdigerweise unsere  tschechischen  Genossen  eine  Waffe  gegen 
uns  mächen:  wir  haben  bei  den  Wahlen  im  Jahre  1897  im  dritten 
Wiener  Wahlkreis  einen  Kandidaten  tschechischer  Nationalität  auf- 
gestellt, den  Genossen  Nemec,  und  wir  haben  auch  sonst  gelegent- 
lich tschechische  Genossen  als  Zählkandidaten  in  einzelnen  Be- 
zirken nominiert.  Aber  die  tschechischen  Genossen  sind  im  Irrtum, 
wenn  sie  insbesondere  aus  der  Kandidatur  Nemec'  ein  Präjudiz  ab- 
leiten wollen.  Damals  (1897)  war  die  Trennung  der  Partei  in  natio- 
nale Gruppen  kaum  noch  angedeutet,  geschweige  durchgeführt  wie 
heute;  Genosse  Nemec  war  Redakteur  eines  tschechischen  Partei- 
blattes, aber  er  arbeitete  in  der  Wiener  Gesamtorganisation  und, 
was  das  Wichtigste  ist,  seine  Aufstellung  war  nicht  das  Ergebnis 
einer  tschechischen  „Forderung",  wie  sie  heute  aufgestellt  wird,  er 
sollte  keineswegs  Vertreter  einer  tschechischen  Minorität,  sondern 
der  sozialdemokratischen  Gesamtheit  sein..  Damit  fällt  dieses  Argu- 
ment in  sich  zusammen  und  es  bleibt  davon  nichts  übrig  als  die  Tat- 
sache, daß  für  die  deutschen  Sozialdemokraten  die  Zugehörigkeit 
des  Genossen  Nemec  zum  tschechischen  Volke  kein  Hindernis  war, 
ihn,  den  sie  als  einen  tüchtigen  und  zum  Abgeordneten  wohlbefähig- 
ten Mann  erkannten,  in  den  Reichsrat  zu  schicken.  Hoffentlich  wird, 
was  damals  in  Wien  nicht  gelungen,  jetzt  in  Böhmen  geschehen. 
Aber  aus  jenem  Vorgang  einen  Vorwurf  gegen  uns  zu  schmieden, 
wird  nicht  sehr  aussichtsvoll  sein. 

Die  ,-,Rovnost"  behauptet,  daß  wir  das  „P  r  i  n  z  i  p"  verletzen 
und  der  „Taktik"  unterordnen.  Da.  dürfen  wir  zunächst  fragen: 
Welches  ist  das  „Prinzip",  das  wir  verletzt  haben  sollen?  Die  neue 
Wahlordnung  hat  in  schweren  Kämpfen  dazu  geführt,  daß  die  Wahl- 
bezirke möglichst  national  abgegrenzt  wurden.  Es  wurden  nicht  nur 
für  die  Deutschen,  sondern,  ebenso  für  die  Tschechen  und  alle 
anderen  Völker  möglichst  national  einheitliche  Wahlbezirke  ge- 
schaffen. Ob  die.  Zuteilung  der  Mandate  an  die  einzelnen  Nationen 
gerecht  ist  oder  nicht,  ist  eine  Erage,  die  hier  nicht  mitspielt;  jeden- 
falls ist  die  Wählerschaft  außerstande,  das  (iesetz  zu  ändern,  was 
doch  nur  das  Parlament  kann.  Zuzugeben  ist,  daß  in  einzelnen  Wahl- 


296  Nationalismus  und  Internationalismus. 


kreisen  trotz  alledem  mehr  oder  minder  beträchtliche  nationale 
Minoritäten  existieren,  die  in  der  andersnationalen  Majorität  aufzu- 
gehen verurteilt  sind;  das  ist  nicht  nur  in  Niederösterreich  und  in 
Wien,  sondern  auch  in  Böhmen,  in  Dux  wie  in  Pilsen,  in  Hudweis, 
m  Prag  der  Fall;  das  passiert  den  Deutschen  auch  in  Kärnten,  den 
Slowenen  in  Steiermark  und  so  fort.  Diese  letzten  Ungenauigkeiten 
nationaler  Abgrenzung  könnten  nur  durch  ein  Proportionalwahl- 
system oder  durch  den  nationalen  Kataster,  wie  in  Mähren,  be- 
seitigt werden,  jedenfalls  nur  auf  dem  Wege  eines  neuen  Ge- 
setzes. Heute  gibt  es  in  Österreich  von  Gesetzes  wegen  nur 
national  abgegrenzte  Wahlkreise  und  die  Wählerschaft  L  s  t  a  u  8  er- 
stand e,  eine  Minoritätenvertretung  zu  schaffen, 
ohne  der  Majorität  ihre  Vertretung  zu  nehmen.  Ob 
in  Zukunft  eine  gesetzliche  Minoritätsvertretung 
auch  zugunsten  der  Tschechen  in  Niederösterreich  in  Wien  anzu- 
streben ist  und  wie  sie  aussehen  soll,  darüber  möge  die  sozialdemo- 
kratische Fraktion  und  unser  gemeinsamer  Parteitag  beraten.  Heute 
besteht  die  Tatsache,  daß  es  auch  in  Wien  nur  deutsche  Wahl- 
bezirke gibt,  in  demselben  Sinn,  wie  Budweis  ein  tschechischer 
Wahlkreis,  Ferlach  in  Kärnten  ein  slowenischer  Wahlbezirk  ist. 
trotz  ihrer  deutschen  Minoritäten.  Auch  Favoriten  II  ist  im  Sinne 
des  bestehenden  Gesetzes  ein  deutscher  Wahlkreis  trotz  seiner 
nicht  unbeträchtlichen  tschechischen  Minorität. 

Die  Tatsache,  daß  die  große  Majorität  der  Wählerschaft  von 
Favoriten  deutsch  ist,  wird  kaum  bestritten  werden,  und  ebenso- 
wenig die  weitere,  für  uns  sehr  wichtige  Tatsache,  daß  auch  die 
Majorität  der  Arbeiterschaft  deutsch  ist  und  daß  die  Zahl 
der  organisierten  deutschen  Arbeiter  in  diesem  Bezirk 
mindestens  dreimal  so  groß  ist  wie  die  der  organisierten  tsche- 
chischen Arbeiter.  Wir  fragen  nun:  welches  „P  r  i  n  z  i  p"  ist  es,  das 
die  tschechischen  Genossen  anrufen  können,  um  die  Forderung  zu 
begründen,  daß  in  einem  vom  Gesetz  den  Deutschen  zugeteilten  und 
wirklich  seiner  überwiegenden  Majorität  —  der  Bevölkerung  wie  der 
Sozialdemokraten  —  nach  deutschen  Bezirk  ein  der  tschechischen 
Organisation  angehöriger  Genosse  zum  Abgeordneten  gewählt 
werde?  Daß  die  Minorität  berechtigt  ist,  eine  gesetzlich  garantierte 
Vertretung  zu  fordern,  geben  wir  gern  zu,  aber  wenn  es  ungerecht 
ist,  die  Minorität  nicht  vertreten  zu  lassen,  um  wie  viel  ungerechter 
wäre  es,  der  Majorität  ihre  Vertretung  zu  nehmen?  Welches 
„P  r  i  n  z  i  p"  verlangt  von  uns,  so  frage  ich  noch  einmal,  die  Ver- 
tretung der  deutschen  Sozialdemokratie  um  einen  Mann  zu  ver- 
kürzen und  die  Vertretung  der  tschechischen  Sozialdemokratie  um 
einen  Mann  zu  vermehren?  Wir  wünschen  der  tschechischen  Sozial- 
demokratie ausgiebigste  Erfolge  und  was  an  uns  liegt,  um  ihr  dazu 
zu  helfen,  soll  ebenso  freudig  geschehen,  wie  wir  von  den  tschechi- 
schen Genossen  solidarische  Hilfe  erwarten  dürfen.  Aber  die  tsche- 
chischen Genossen  werden  selbstverständlich  ihre  Mandate,  wie  wir 
alle,  von  den  Gegnern  erkämpfen  müssen,  nicht  von  den  Freunden. 
Wir  deutschen  Sozialdemokraten  werden  überall,  wo  wir  in  der 
Minorität  sind  —  und  es  gibt  Bezirke,  wo  diese  Minorität  beträcht- 


Die  Kandidatin   im  Wiener  Wahlbezirk  Favoriten  II.  297 

Meli   ist   und   entscheidend   werden   kann  wie   ein    Mann    für  den 

anderssprachigen  Genossen  eintreten  und  das  scheint  mir  dieein- 
zigePraxiszu  sein,  die  das  Prin  /  i  p  d  e  r  i  n  t  e  r  n  a  t  i  o- 
n  a  1  e  n   Solidarität   z  u  I  ä  ß  t. 

Nim  könnte  man  die  Saclie  vielleicht  anders  beurteilen,  wenn 
dadurch,  daß  der  in  seiner  Majorität  deutsche  Bezirk  durch  einen 
deutschen  Sozialdemokraten  vertreten  wird,  irgendein  Interesse 
der  tschechischen  Minorität  unvertreten  bleiben  würde.  Aber  auch 
das  scheint  uns  nicht  der  Fall  zu  sein:  die  gemeinsamen  prole- 
tarischen Forderungen  wird  der  deutsche  Genosse,  mag  er  sein, 
wer  er  will,  ebenso  kräftig  und  wirksam  zu  vertreten  in  öi:r  Lage 
sein,  wie  es  ein  tschechischer  Genosse  könnte,  und  die  der  Ver- 
tretung speziell  nationalen  Forderungen  der  tschechischen  Sozial- 
demokraten werden  die  von  ihnen  in  Böhmen  und  Mähren  ge- 
wählten Abgeordneten  gewiß  nicht  schlechter  besorgen,  als  es  ein 
in  Favoriten  gewählter  zu  tun  vermöchte.  Also  auch  nach  dieser 
Richtung  ist  kein  Grund  da,  auf  eines  der  den  deutschen  Sozial- 
demokraten zukommenden  Mandate  zu  verzichten,  wobei  auch  der 
Umstand  erwogen  werden  wolle,  daß  wir  von  der  Wahlbezirks- 
einteilung sehr  stiefmütterlich  behandelt  worden  sind  und,  auch 
wenn  wir  vom  Wahlglück  begünstigt  sein  sollten,  nicht  annähernd 
die  der  deutschen  Arbeiterschaft  gebührende  Vertretung  haben 
werden. 

Nun  klagen  uns  die  tschechischen  Genossen  an,  daß  wir  das 
„Prinzip",  dessen  Nichtexistenz  wir  soeben  nachgewiesen,  den 
„taktischen  Rücksichten"  geopfert  hätten,  der  Rücksicht,  nicht 
unseren  Erfolg  in  einer  Anzahl  anderer,  niederösterreichischer  und 
böhmischer  Wahlkreise  zu  gefährden.  Es  war  kein  Prinzip  zu 
opfern,  das  sei  wiederholt;  aber  ohne  weiteres  sei  ganz  offen  zu- 
gestanden, daß  bei  den  deutschen  Genossen  neben  den  soeben  dar- 
gelegten Gründen  auch  die  Einsicht  obwaltete,  daß  es  eine  Torheit 
wäre,  unseren  deutschnationalen  Chauvinisten  eine  Waffe  in  die 
Hand  zu  geben,  mit  der  sie  die  indifferente  Masse  aufpeitschen  und 
als  Stimmvieh  gegen  uns  werben  könnten.  Ob  dadurch  Wahlkreise 
verlorengehen  könnten,  wissen  wir  nicht.  Wenn  es  aber  eine  solche 
Gefahr  gäbe,  dann,  glaube  ich,  müßten  auch  die  tschechi- 
schen Genossen  eine  solche  Gefahr  zu  vermeiden  suchen  und 
solche  „taktische  Rücksicht"  gelten  lassen.  Oder  nicht?  Wie  viele 
Mandate  deutscher  Sozialdemokraten  ist  es  wert,  den  Wunsch  zu 
verwirklichen,  in  Favoriten  anstatt  eines  deutschen  Genossen  einen 
tschechischen  Genossen  gewählt  zu  sehen?  Nein!  Ich,  der  ich  seit 
zwanzig  Jahren  mit  den  tschechischen  Genossen  in  engster  Fühlung 
stehe,  mit  ihnen  in  guten  und  in  schlechten  Zeiten  gemeinsam  ge- 
arbeitet habe,  ich  kann  nicht  glauben,  daß  sie  bei  ruhiger  Über- 
legung sich  der  Einsicht  verschließen  können,  daß  wir  deutschen 
Sozialdemokraten  gehandelt  haben,  wie  wir  handeln 
m  u  ß  t  e  n. 

Es  ist  uns  nicht  leicht  geworden,  den  Herzenswunsch  der  tsche- 
chischen Genossen  unerfüllt  zu  lassen.  Wir  verstehen  sehr  gut.  daß 
sie  den   schweren   Mangel   unseres  Wahlgesetzes,  das  ihnen   keine 


Nationalismus  und   Internationalismus 


Minoritätenvertretung  zugesteht,  schwer  empfinden.  Aber  sie 
werden  schließlich  begreifen,  daß  dieser  Mangel  der  Gesetzgebung 
nicht  auf  dem  Wege  gutzumachen  ist,  den  sie  sich  ausgedacht 
haben,  nicht  von  einer  einzelnen  Partei,  gewissermaßen  in  eigener 
Regie,  ausgeglichen  werden  kann.  Sie  werden  begreifen,  daß  wir 
sie,  die  tschechische  Sozialdemokratie,  darum  nicht  minder  „als 
Gleiche,  als  vollberechtigtes  Glied  der  Internationale"  betrachten, 
weil  wir  ein  Verlangen  nicht  erfüllen,  das  prinzipiell  und 
praktisch  gleichermaßen  unerfüllbar  ist.  Mag  heute 
manche  Bitterkeit  daraus  erwachsen,  mag  es  den  tschechischen  Ge- 
nossen schwer  werden,  die  durch  die  Diskussion  aufgeregten  Leiden- 
schaften zur  Ruhe  zu  bringen,  mag  auch  das  Schüren  der  bürger- 
lichen Hetzpresse  auf  manche  weniger  durchgebildete  Kreise  nicht 
ohne  Wirkung  sein:  schließlich  wird  die  Einsicht  siegen,  daß  wir 
der  deutschen  und  damit  auch  der  tschechischen 
Sozialdemokratie  einen  schlechten  Dienst  er- 
wiesen hätten,  würden  wir  uns  ihrem  Wunsche  gefügt  haben. 
Denn  jede  Schädigung  eines  Zweiges  der  Internationale  wirkt  auf 
alle  ihre  Zweige  zurück. 

Wir  dürfen  ruhigen  Gewissens  sagen :  Wir  haben  alles  er- 
wogen und  sind  uns  bewußt,  daß  wir  den  rechten  Weg  gehen. 

Victor  Adler. 

II. 

Die  Frage  der  tschechischen  Kandidatur  in  Favoriten  hat  durch 
den  Beschluß  der  Landeskonferenz  der  tschechischen  Genossen 
einen  vorläufigen  Abschluß  gefunden  und  ist,  soweit  praktisch  die 
bevorstehenden  Wahlen  in  Betracht  kommen,  erledigt.  Die  be- 
schlossene Resolution  zeigt  deutlich  die  Spuren  der  Erregung 
unserer  tschechischen  Genossen  darüber,  daß  ihr  Wunsch  nicht  er- 
füllt wurde  und,  wie  wir  hinzufügen,  nicht  erfüllt  werden  konnte; 
aber  sie  ist  auch  ein  Zeugnis  dafür,  daß  in  ihnen,  trotz  mancher 
Meinungsverschiedenheit  im  einzelnen,  das  Bewußtsein  der  prole- 
tarischen Solidarität  lebendig  ist.  Es  war  uns  auch  nicht  einen 
Moment  lang  zweifelhaft,  daß  die  Hoffnungen  unserer  Gegner,  aus 
dem  Streite  über  das  Favoritner  Mandat  zum  Schaden  der  Sozial- 
demokratie Profit  ziehen  zu  können,  an  dem  gesunden  Sinn  der 
tschechischen  Arbeiterschaft  zuschanden  werden  würden. 

Unter  diesen  Umständen  erscheint  eine  nochmalige  theoretische 
Auseinandersetzung  gegenwärtig  weder  notwendig  noch  ersprieß- 
lich. Unsere  tschechischen  Bruderorgane  „Prävo  Lidu",  „Delnicke 
Listy"  und  „Rovnost"*)  haben  an  meine  Ausführungen  über  diesen 
Gegenstand  eine  ziemlich  umfangreiche  und  zum  Teil  recht  heftige 
Polemik  geknüpft,  auf  deren  wesentlichen  Inhalt  in  ruhigeren  Zeiten 
zurückzukommen  sein  wird.  Es  wäre  ebenso  unklug  wie  ungerecht, 
jedes,  erregte  Wort,  das  in  der  Hitze  dieser  Diskussion  gefallen  ist, 
auf  die  (ioldwage  zu  legen,  und  nur  um  festzustellen,  wie  hoch  der 

*)  „Prävo  Lidu"  (Volksrecht)  in  Prag,  „Delnicke  Listy"  (Arbeiter- 
Zeitung)  in  Wien  und  „Rovnost"  (Gleichheit)  in  Brunn.  Alle  drei  Blätter 
erscheinen   noch  immer;   die   „Rovnost"   ist  aber  kommunistisch. 


indidatur  in  I      n  il   n  II. 

Qrad  dieser  Hitze  gelegentlich  gestiegen,  soll  angeführt  werden,  daß, 
um  ein  Beispiel  herauszugreifen,  die  „D&lnicke  Listy"  die  deutschen 
Sozialdemokraten  beschuldigen,  daß  sie  „um  Mandate  das  Prinzip 
in  i\v\\  Staub  treten".  Mit  diesen  Starken  Worten  ist  nichts  ;mderes 
bezeichnet  als  die  Tatsache,  dal.»  in  einem  seiner  großen  Majorität 
nach  deutschen  Wahlkreis  ein  deutscher  Sozialdemokrat  aufgestellt 
wird:  Ms  ist  selbstverständlich  ganz  unmöglich-,  im  gegenwärtigen 
Moment  die  tschechischen  Genossen  zu  überzeugen,  daß  eins 
„Prinzip",  das  sie  sich  zurechtgelegt  haben,  um  ihren  Anspruch  auf 
ein  tschechisches  Mandat  in  Favoriten  zu  begründen,  nichts  weniger 
als  ein  Prinzip  sei.  Aber  wenn  sie  meinen,  daß  die  deutschen  Sozial- 
demokraten die  Verpflichtung  hätten,  nicht  nur  die  fehlende  Minori- 
tätsvertretung aus  eigenem  beizustellen,  sondern  auch  die  Ver- 
kürzung, die  die  Tschechen  überhaupt  bei  Feststellung  der  Mandats- 
ziffern erfahren  haben,  gutzumachen,  so  überschätzen  sie  doch  ein 
wenig  unsere  Macht  und  unseren  Reichtum  an  Mandaten.  Wenn  dem 
tschechischen  Volke  zu  wenig  Mandate  zugebilligt  wurden,  ist  das 
etwa  zugunsten  der  deutschen  Arbeiter  geschehen?  Oder  sind 
diese  nicht  vielmehr  noch  weit  stärker  verkürzt  worden,  als  das 
tschechische  Volk  in  seiner  Gesamtheit?  Das  „Prävo  Lidu"  hält  uns 
vor,  daß  die  Deutschen  auf  39.363  Einwohner,  die  Tschechen  erst 
auf  55.118  Einwohner  ein  Mandat  erhalten  haben.  Das  ist  ein  durch 
nichts  gerechtfertigtes  politisches  Unrecht,  überdies  ein  politischer 
Fehler,  und  der  sozialdemokratische  Vertreter  im  Wahlreformaus- 
schuß  ist  den  übergreifenden  Ansprüchen  der  deutsch'böhmischen 
Chauvinisten  nach  Kräften  entgegengetreten.  Aber  was  beweist  das 
für  den  Favoritner  Fall?  Gehören  die  deutschen  Arbeiter  oder  gar 
erst  die  Wiener  Arbeiter  zu  den  Bevorzugten?  Wieviel  Mandate 
müßten  Favoriten  und  Ottakring  haben,  wenn  für  diese  proletari- 
schen Bezirke  die  Durchschnittsziffer  39.363  maßgebend  wäre?  Es 
ist  also  ein  Mißverständnis,  wenn  uns  zugemutet  wird,  daß  wir  ein 
Unrecht,  das  an  uns  selbst  in  mindestens  ebenso  starkem  Maße  ver- 
übt wurde,  im  eigenen  Wirkungskreise  gutmachen  sollen  oder  auch 
nur  können.  Das  Gesetz  muß  eben,  so  bald  als  nur  möglich,  geändert 
werden,  darum  haben  alle  Proletarier,  deutsche  wie  tschechische, 
das  gleiche  Interesse,  und  daran  werden  sie  gemeinsam  arbeiten. 

Damit  erledigt  sich  auch  der  Vorwurf,  daß  wir  das  ungerechte 
Gesetz  „anerkennen".  Wenn  ein  Gesetz  „anerkennen"  heißen  soll, 
es  für  gut  halten,  dann  sind  wir  weit  davon  entfernt  es  anzu- 
erkennen; wenn  „anerkennen"  aber  bedeutet,  mit  dem .  Gesetz  als 
einer  jetzt  und  bis  auf  weiteres  bestehenden  Tatsache  rechnen  und 
sich  darauf  einrichten,  dann  allerdings  „anerkennen"  wir  die  Tat- 
sache, daß  das  Gesetz  den  Deutschen  eine  Anzahl  von  Mandaten  zu- 
gemessen hat,  wovon  eine  möglichst  große  Zahl  für  die  deutsche 
Sozialdemokratie  zu  erobern  unsere  Pflicht  ist. 

Auf  eine  Bemerkung  der  Brünner  „RovuosT  muß  noch  ein- 
gegangen werden,  um  einer  Legendenbildung  vorzubeugen.  Die 
,,'Rovnost"  schreibt:  „Die  tschechischen  Genossen  in  Wien  haben 
eine  gesetzliche  Vertretung  angestrebt;  aber  es  war  gerade  Doktor 
A  dl  e  r,   der   von   dieser   Forderung   abriet,   damit  die   Wahlrefonn 


300  Nationalismus   und   Internationalismus. 

mein  gefährdet  werde.  Man  ging  schließlich  noch  weiter.  Der 
Widerstand  der  tschechischen  Bürgerlichen  gegen  die  Wahlreform 
wurde  durch  die  Versicherung  von  sozialdemokrati- 
scher Seite  verringert,  daß  die  tschechischen  Sozialdemokraten 
in  Wien  eine  Vertretung  erhalten  werden.  Darum  wurde  die 
Forderung  einer  Vertretung  der  tschechischen  Minorität  in  Wien 
nicht  bis  zum  Äußersten  verteidigt.  Vielleicht  ist  das  genügend..." 
Der  erste  Teil  dieser  Erzählung  ist  durchaus  richtig.  Als  es  sich 
in  einem  sehr  frühen  und  sehr  kritischen  Stadium  der  Wahlreform 
darum  handelte,  oh  die  Wiener  tschechischen  Genossen  die  Forde- 
rung einer  tschechischen  Minoritäten  Vertretung  in  Niederösterreich 
zum  Gegenstand  einer  Aktion  und  eventuell  von  Demonstrations- 
versammlungen machen  sollen,  mußte  ihnen  pflichtgemäß  gesagt 
werden,  daß  es  unklug  und  gefährlich  wäre,  die  Schwierigkeiten  für 
die  Wahireform  auf  diese  Weise  zu  erhöhen  und  den  sich  gegen  sie 
sträubenden  deutschen  Parteien  billige  Vorwände  zu  geben.  Dagegen 
ist  der  zweite  Teil  der  Geschichte  völlig  frei  erfunden  und 
wird  von  der  „Rovnost"  in  offenbar  gutem  Glauben  weitererzählt. 
Wer  ist  der  „m  a  n",  der  „weiter  gegangen"  ist,  und  wer  hat  wem 
was  „versichert"??  Daß  diese  angebliche  Versicherung  als  Grund 
dafür  aufgeführt  wird,  daß  die  Tschechischbürgerlichen  die  Forde- 
rungen der  Tschechen  nicht  bis  zum  Äußersten  verteidigten,  läßt  auf 
die  eigentliche  Quelle  des  ßrüuner  Märchens  schließen;  in  Wien  hat 
man  den  tschechischen  Genossen  wieder  vorerzählt,  die  deutschen 
Sozialdemokraten  hätten  das  Zugeständnis  des  zweiten  Favoritner 
Mandats  nur  gegen  das  Versprechen  erhalten,  es  werde  dort  kein 
Tscheche  gewählt  werden.  Selbstverständlich  sind  beide  Be- 
hauptungen gleichermaßen  erlogen  und  damit  ist 
diese  Sache  ein  für  allemal  abgetan,  die  nur  zeigt,  wer  ein  Inter- 
esse daran  hat,  Unfrieden  und  Mißtrauen  zwischen  deutschen  und 
tschechischen  Sozialdemokraten  zu  säen. 

Der  Streit  um  das  Favoritner  Mandat  ist  nun  zunächst  erledigt 
und  die  tschechischen  Genossen,  die  in  ihrem  Unmut  meinen,  sie 
hätten  ihr  „Recht"  der  „Macht"  der  Deutschen  unterordnen  müssen, 
werden  hoffentlich  bald  zur  Überzeugung  kommen,  daß  sie  sich  nicht 
der  Macht,  sondern  der  Notwendigkeit  und  der  Logik  der  Dinge  ge- 
fügt haben.  In  Wien  und  Niederösterreich  werden  wir,  wie  im  ganzen 
Reiche,  gemeinsam  in  den  Kampf  gegen  den  gemeinsamen  Feind 
des  Proletariats  eintreten.  Damit  aber  sollen  diese  taktischen  und 
organisatorischen  Schwierigkeiten,  für  die  das  Favoritner  Problem 
nur  ein  kleines  Symptom  ist,  weder  vertuscht  noch  umgangen  wer- 
den. Die  Durchführung  der  nationalen  Autonomie  ist  auch  in  unserer 
Parteiorganisation  keine  leichte  und  keine  einfache  Sache  und  wir 
werden  ernst  zu  arbeiten  haben,  um  sie  zu  bewältigen.  Dabei  die 
Einheit  und  vor  allem  die  Einigkeit  der  Sozialdemokratie  aller 
Nationen  aufrechtzuerhalten,  ist  das  wichtigste  Interesse  des  Prole- 
tariats ohne  Unterschied  der  Nation.  An  dieser  Einheit  und  Einigkeit 
haben  alle  nationalen  Organisationen  des  Proletariats  das  gleiche 
Interesse,  die  Deutschen  nicht  mehr  wie  die  Tschechen,  die  Tsche- 
chen nicht  minder  wie  die  Deutschen.  Wenn  diese  alte,  einfache  aber 


Internationale  Vei  bi  Liderung,  301 

entscheidende  Wahrheit  in  der  Hitze  der  Polemik  mitunter  ver- 
gessen zu  werden  scheint,  ist  das  Unglück  nicht  groß;  würde  sie  im 
Tun  vernachlässigt,  dann  würde  sieh  das  freilich  bitter  rächen.  Aber 
dafür,  daß  das  nicht  geschieht,  wird  die  Einsicht  in  die  lebendigen 
Notwendigkeiten  des  Proletariats  sorgen.  Nielit  wechselnde  Laune 
bestimmt  das  Verhältnis  /.wischen  deutscher  unil  tschechischer 
Sozialdemokratie,  sondern  die  eiserne  Not.  des  gemeinsamen 
Kampfes  erzwingt  und  wird  erzwingen  unsere  unzerreißbare  Soli- 
darität. V.  A. 

Internationale  Verbrüderung. 

Da  s  Fest  a  m  13 od  en  see,  ü.  Juli  I  905*). 

Jeder  ihü.u  sich  prüfen,  ob  er  das  Beste  und 
Letzte  bereits  getan  für  unsere  S  a  c  h  e,  o  b  e  r  b  e- 
r  e  i  t  ist,  nicht  nur  i  m  letzten  Kampf  e,  sonder  n 
li  e  u  t  e,  täglich  und.  stündlich  auf  dem  weiten  Wege, 
den  das  Proletariat  zu  seinem  Ziele  zurücklegen 
muß,  sich  selbst  in  i  t  j  e  d  e  in  N  e  r  v,  mit  jedem  Blut  s- 
tropfen  zu  opfern!... 

Ich  beneide  die  deutschen  Sozialdemokraten  darum,  daß  sie  eine 
noch  dümmere  Regierung  haben  als  wir.  (Heiterkeit.)  Schlimm 
genug,  daß  ein  Österreicher,  dessen  Staatsmänner  doch  gewiß  das 
Pulver  nicht  erfunden  haben,  das  sagen  muß!  (Heiterkeit.)  Eine 
europäische  Blamage  ist's,  was  in  Berlin  und  Konstanz  ge- 
schehen ist.  (Laute  Zustimmung.)  Aber  diese  Blamagen  sind  nur 
die  Folge  der  A  n  g  s  t  der  Herrschenden.  Die  Furcht  ist  ein 
schlechter  Ratgeber  und  mit  der  Vernunft  können  sie  es  nicht 
mehr  richten.  (Heiterkeit.)  Sie  fürchten  nicht  unsere  Arme  —  alle 
Gewalt  haben  ja  noch  s  i  e.  Aber  sie  fühlen  instinktiv,  daß  an  der 
sieghaften  Macht  der  Idee,  deren  Verkörperung  die  Sozialdemo- 
kratie ist,  ihre  Waffen  zersplittern  werden.  Gerade  die  letzten  Mo- 

*)  Für  den  9.  Juli  1905  hatten  die  Sozialdemokraten  der  am  Bodensee 
liegenden  Staaten,  Deutschland.  Österreich  und  die  Schweiz,  ein  inter- 
nationales Verbrüderungsfest  nach  Konstanz  einberufen.  Die  badische 
Regierung  hatte  das  Militär  in  den  Kasernen  konsigniert  und  jedem  Sol- 
daten 25  scharfe  Patronen  gegeben,  als  ob  die  internationale  Revolution 
drohte.  Ja  vom  Festplatz  war  zur  Kaserne  eine  eigene  Telephonleitung 
gelegt  worden.  Noch  vor  Beginn  des  Festes  überbrachten  zwei  Polizisten 
den  Einberufen]  Adler  und  Greulich  einen  Erlaß  des  großherzoglich 
badischen  Bezirksamtes,  daß  den  ausländischen  Sozialdemokraten  das  Auf- 
treten in  der  Versammlung  verboten  sei.  Nachmittags  kam  auch  noch  ein 
Telegramm  der  badischen  Regierung,  das  für  den  Fall  der  Zuwiderhandlung 
die  Ausweisung  androhte.  Nachmittag  sollte  am  Hussenstein,  wo  Johannes 
fi  u  ß  verbrannt  worden   war,  die  Versammlung  stattfinden. 

Dort  sprach  zunächst  August  B  e  b  e  1.  Nach  seiner  Ansprache  zogen  die 
Massen,  da  auch  der  geschlossene  Zug  verboten  war,  in  losen  Gruppen  zu 
einem  zehn  Minuten  entfernten  Haus,  das  bereits  zu  dem  Schweizer  Dorfe 
Kreuzungen  gehörte.  Auf  einer  Wiese  am  Haus  fand  nun  die  Ver- 
sammlung statt.  Nachdem  Hermann  Greulich  kurz  die  Erschienen  be- 
grüßt hatte,  sprach  Adler. 


302  Nationalismus  und  Internationalismus. 

nate  mit  den  entsetzlichen  Todeszuckungen  des  Zarismus  gemahnen 
sie  an  ihr  eigenes  Schicksal,  das  sich  erfüllen  wird.  Wir  wollen  i  n 
Friedet!  Revolution  machen  —  nicht  etwa  aus  prinzipieller  Ab- 
neigung  gegen  die  Gewalt.  Wüßte  einer,  daß  die  Anwendung  der 
(iewalt  den  Kapitalismus  beseitigen  koante  und  übte  nicht  Gewalt 
-  es  wäre  ein  Verbrechen  angesichts  des  Meeres  von  Blut 
und  Tränen,  in  dem  der  Kapitalismus  watet,  angesichts  der  un- 
geheuerlichen Verbrechen,  die  er  täglich  um  sich  häuft.  Wir  aber 
wissen,  daß  der  ein  Tor  ist,  der  an  die  Gewalt  appelliert,  ohne  daß 
er  sie  hat,  und  daß  sie  nur  angewendet  werden  kann,  wenn  eine 
Klasse  in  ihrer  Gesamtheit  sich  ihres  Willens  und  ihrer  Kraft  bewußt 
geworden  ist.  Darum  lehnen  wir  ihre  Anwendung  heute  ab.  Ist's 
aber  einmal  so  weit,  dann  wird  ihre  Anwendung  hoffentlich  über- 
flüssig sein.  Den  Unterdrückten,  den  Geknechteten,  denen,  die  am 
Boden  liegen  —  wir  geben  ihnen  Menschenwürde,  Hoffnung,  einen 
Willen  zu  gemeinsamem  Handeln.  Aus  der  Ohnmacht  der  einzelnen 
Proletarier  schaffen  wir  den  festen,  unbesiegbaren  Gesamtwillen 
des  Proletariats.  (Laute  Zustimmung.) 

Wir  Österreicher  kommen  so  gern  über  die  Grenze  —  wir  haben 
ein  Land,  aber  ein  Vaterland  haben  wir  nicht.  Es  gibt  keinen 
Staat  Österreich.  Ein  deutscher  Dichter  hat  zwar  einmal  gesagt: 
Der  Österreicher  hat  ein  Vaterland,  er  liebt's  und  hat  auch  Ursaclv, 
es  zu  lieben.  Aber,  Genossen,  der  das  gesagt  hat,  war  kein  Öster- 
reicher und  war  —  ein  Dichter.  (Stürmische  Heiterkeit.)  Ihr 
Deutschen  habt  es  gut!  Ihr  könnt  den  Staat  untergraben!  Wir  öster- 
reichischen Sozialdemokraten  aber  müssen  aus  dem  jammervollen 
Chaos  Österreichs  erst  schaffen,  was  wir  untergraben 
wollen.  (Stürmische  Heiterkeit.)  Wenn  ihr  von  Österreich  wahn- 
witzige Dinge  hört,  die  ihr  nicht  versteht  —  glaubt,  es  gibt  auch 
dort  vernünftige  und  einsichtsvolle  Leute,  sie  stehen  in  der  Sozial- 
demokratie! In  dem  wahnwitzigen  Hader  der  Nationalitäten  in 
Österreich  ist  es  eine  ruhmvolle  Tatsache,  daß  ich  heute  hier 
sprechen  darf  nicht  nur  im  Namen  der  Tschechen,  Italiener,  Slo- 
wenen, die  in  Reih  und  Glied  stehen  im  brüderlichen  Heere  der 
Sozialdemokratie.  Sie  haben  durchaus  ihr  nationales  Bewußtsein 
nicht  aufgegeben;  aber  derlei  Torheiten,  wie  der  Streit,  ob  auf  den 
Fahnen  ein  doppelköpfiger  Adler  oder  eine  andere  Mißgeburt 
(Heiterkeit)  stehen  soll,  sind  ihnen  fremd.  Die  Arbeiterklasse  Öster- 
reichs kennt  ihr  Banner  —  es  ist  das  rote  Banner  der  Befreiung! 

Was  wir  ersehnt,  seit  wir  denken,  die  russische  Revolution,  ist 
endlich  Tatsache  geworden.  In  Rußland  sind  Kräfte  lebendig  ge- 
worden, die  ankündigen,  daß  wir  vor  großen  Dingen  stehen.  Wohl 
wissen  unsere  Gegner,  wie  unsere  Kader  sich  füllen  —  nicht  aber 
wissen  sie,  was  noch  fehlt.  Lang  und  breit  ist  die  Straße,  die  wir 
gehen  müssen:  aber  wir  werden  sie  gehen  bis  ans  Ende,  so  gewiß 
die  Zukunft  der  Arbeiterklasse  und  das  Heil  der  Menschheit  davon 
abhängen . .  .*) 

;*)    Nachdem    Adler    geschlossen    hatte,    zogen    die    Teilnehmer    wieder 
zurück  nach  Konstanz,  wo  das  Fest  der  Verbrüderung  stattfand. 


I  >m   s;   23  des  östei  i  eii  hisi  heu  I *i  eßgi  ■  ■  tzi 


Der  Kampf   um   die  Preßfreiheit. 

Der  §  23  des  österreichischen  Preß- 
gesetzes. 

Von  Dr.  Victor  Adler, 
Herausgeber    der  „A r b e i t e r- Z e i t u n g"*). 

Einleitung. 

Wieder  einmal  steht  die  Reform  der  P  r  e  ß  g  e  s  e  t  z- 
g  e  b  u  n  g  auf  der  Tagesordnung.  Eine  Reihe  von  Anträgen  liegt 
dem  Abgeordnetenhaus  vor,  ein  eigener  Ausschuß  ist  mit  ihrer 
Vorberatung    beschäftigt,    und   die   Herren   Politiker   tun     so,    als 


*)  In  der  von  L.  A.  Bretschneider  herausgegebenen  „Wiener  Politischen 
Volksbibliothek'',  in  der  später  auch  die  im  zehnten  Band  abgedruckte 
Broschüre  über  das  allgemeine  Wahlrecht  als  viertes  Heft  herauskam, 
erschien  im  Jahre  1891  als  zweites  Heft  Adlers  Broschüre  „Der  §  23  des 
österreichischen  Preßgesetzes".  Der  §  23,  der  das  .Verbreiten  von  Druck- 
schriften außerhalb  der  hiefür  bestimmten  Räume  verbot,  war  von  allen 
Beschränkungen  der  Preßfreiheit  die  drückendste.  Wohl  wurde  er  meist 
ganz  offen  übertreten  und  wohl  kam  der  geklagte  Übertreter  meist 
mit  zwei  bis  drei  Gulden  Geldstrafe  davon,  aber  schon  deshalb,  weil  nicht 
jedes  Bezirksgericht  für  Preßübertretungen  zuständig  war,  sondern  nur 
das  am  Sitze  des  Kreisgerichtes,  das  sogenannte  delegierte  Bezirksgericht 
(in  Wien  nur  das  des  neunten  Bezirkes),  so  daß  also  der  Angeklagte 
stundenweit  fahren  mußte,  war  die  Prozedur  sehr  beschwerlich.  Auch 
war  die  Agitation  behindert,  da  Flugschriften  nur  geheim  verbreitet  Werden 
konnten  und  nach  jeder  Flugschriftenverteilung  Gendarmen  in  voller 
Adjustierung  in  die  Wohnungen  der  bekannteren  Sozialdemokraten  ein- 
drangen, als  ob  es  sich  um  gefährliche  Verbrecher  handelte,  und  die  "Ent- 
wicklung der  Arbeiterpresse  war  durch  das  Verbot  des  Straßen  Verkaufs 
behindert.  Dazu  kam  noch,  daß  auch  der  Verkauf  in  geschlossenen 
Räumen  an  eine  Verkaufslizenz  gebunden  war,  die  oft  ohne  jede  Be- 
gründung verweigert  wurde.  Von  den  weiteren  Beschränkungen  der  Preß- 
freiheit, die  in  der  Broschüre  erwähnt  werden,  seien  folgende  angeführt: 
Vor  allem  das  objektive  Verfahren,  wonach  sich  der  Staats- 
anwalt „damit  begnügte",  statt  den  Verfasser  eines  Artikels  oder  den  ver- 
antwortlichen Redakteur  zu  klagen  —  worüber  das  Schwurgericht  zu 
entscheiden  hatte  — ,  die  Zeitung  bloß  „objektiv"  zu  verfolgen,  das  [heißt 
sie  zu  konfiszieren  und  ihren  Verkauf  zu  verbieten.  Wohl  hatte  .auch 
darüber  dann  das  Gericht  zu  entscheiden,  aber  nicht  die  Geschwornen. 
sondern  ein  Senat  des  Gerichtshofes  und  dieser  entschied  fast  ausnahmslos 
im    Sinne    des    Staatsanwalts:    dann    die    Kaution,    die    für    häufiger    er- 


304  Der   Kampf  um  die  Preßfreiheit. 

wollten  sie  ernstlich  einen  Schritt  nach   vorwärts  machen.   Unter 

solchen  Umständen   erscheint  es  erwünscht,  daß  auch  wir  Sozial- 
demokraten sagen,  was  wir  wollen  und  was  wir  erwarten. 

In  unseren  Hainf eider  Beschlüssen  ist  es  allerdings 
deutlich  genug  gesagt,  was  wir  wollen.  Dort  wird  verlangt: 

,,1)  i  e  Aufhebung  aller  Beschränkungen  der  P  r  e  ß- 
freiheit  durch  die  verschiedenen  Formen  der  Zensur  und  Auf- 
scheinende Zeitungen  erlegt  werden  mußte,  und  der  Zeitungs- 
s  t  e  m  p  e  1,  der  einen  Kreuzer  für  jede  Nummer  einer  Zeitung  betrug.  AUc 
diese  Beschränkungen  wurden  allmählich  aufgehoben:  die  Kautionspflicht 
fiel  1894  (wo  auch  die  Verschleißbedingungen  [§  35]  gemildert  wurden), 
der  Zeitungsstempel  1899,  aber  der  §  23  erhielt  sich  bis  nach  dem  Um- 
sturz. Erst  das  Preßgesetz  vom  7.  April  1922,  das  am  1.  Oktober  1922  in 
Kraft  getreten  ist,  hat  im  §  9  bestimmt:  „Zeitungen  dürfen  auch  auf  der 
Straße   . . .   vertrieben   werden." 

Die  Unfreiheit  der  Presse  wurde  auch  von  der  oppositionellen  bürger- 
lichen Presse  um  so  drückender  empfunden,  als  die  Regierung  Taaffe  mit 
Hilfe  ihres  geheimen  Dispositionsfonds  eine  offiziöse  Presse  aushielt,  der 
sie  vielfach  sogar  die  Freiheit  von  den  Einschränkungen  des  Gesetzes  ver- 
schaffte. So  wurde  im  Laufe  der  Jahre  eine  ganze  Reihe  von  Anträgen 
auf  Reform  des  Preßgesetzes  eingebracht,  die  aber  alle  am  Widerstand 
der  Regierung  und  an  dem  geringen  Interesse  der  bürgerlichen  Parteien 
scheiterten. 

Die  Sozialdemokratie  entschloß  sich  daher,  ihre  Kraft  auf  die  Abschaf- 
fung des  §  23  und  des  §  3,  Absatz  5,  der  die  Bestimmungen  über  die  Not- 
wendigkeit der  Verkaufslizenz  enthielt,  zu  konzentrieren,  um  durch  einen 
Druck  auf  das  Parlament  wenigstens  diese  Reform  durchzusetzen.  In  ihrem 
Auftrag  brachte  Pernerstorfer,  der  zwar  offiziell  der  Partei  nicht 
angehörte,  aber  sich  als  ihr  Vertreter  im  Parlament  fühlte,  folgenden  An- 
trag im  Abgeordnetenhaus  ein: 

§  1.  Der  §  23  sowie  Absatz  5  des  §  3  des  Preßgesetzes  sind  auf- 
gehoben. 

§  2.  Wer  gewerbsmäßig  Druckschriften  oder  Bildwerke  öffentlich 
ausrufen,  verteilen,  feilbieten  oder  mit  ihnen  hausieren  will,  bedarf 
dazu  einer  Legitimation  der  Ortsbehörde.  Diese  Legitimation  kann  nur 
solchen  Personen  verweigert  werden,  welche  wegen  eines  gewinn- 
süchtigen Verbrechens  oder  Vergehens  ihrer  bürgerlichen  Rechte  ver- 
lustig oder  mit  einer  ansteckenden  Krankheit  behaftet  sind. 

Wenn  die  Verteilung  von  Druckschriften  nicht  gewerbsmäßig  ge- 
schieht, ist  eine  Legitimation  dazu  nicht  erforderlich. 

§  3.  Alle  Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  und  des  Gesetzes  über 
de))  Hausierhandel,  welche  den  gewerbsmäßigen  Vertrieb  von  Druck- 
schriften weiter  einschränken  als  dieses  Gesetz,  treten  außer  Wirk- 
samkeit. 

Außerdem  lagen  dem  Parlament  folgende  Anträge  vor: 
Ein  Antrag  des  Deutschnationalen  Dr.  Foregger  auf  Abschaffung 
der  Kaution,  Einschränkung  der  Pflicht  zur  Ablieferung  von  Pflicht- 
exemplaren an  die  Staatsanwaltschaft,  Einschränkung  des  Rechtes  auf 
Beschlagnahme  ohne  richterliche  Verfügung,  Beseitigung  des  §  23  und  des 
Zeitungsstempels,  Reform  des  Strafgesetzes,  soweit  es  die  fre'ie  Meinungs- 
äußerung einschränkt. 

Antrag  des  Jungtschechen  Dr.  P  a  c  a  k,  daß  die  Bewilligung  zu  ge- 
werbsmäßigem Verkauf  von  Druckschriften  unbescholtenen  Personen  nicht 


Der  §  23  des  österreichischen  PreßKeset/.es. 

hebung  des   Preßmonopols  i  n  r  die   Besitzenden  du 

Kaution,  Stempel  und  das   Verbot   der   Kolporl.r 

Aber  gibt  es  denn  in  Österreich  eine  Zensur?  Qlbt  es  ein 
Preßmonopol  für  die  Besitzenden?  Haben  wir  nicht  ein  Staats- 
grundgesetz und  in  demselben  einen  Artikel  13,  welcher 
lautet: 

.,.!  e  d  e  r  ttl  a  n  n  li  a  t  das  R  e  e  li  t,  d  u  r  e  h  W  0  r  t,  S  e  h  r  i  f  t. 
Druck  oder  durch  bildliche  I )  a  r  s  t  e  1  1  u  u  g  seine  M  e  i- 
i!  ll  n  g  i  n  n  e  r  h  a  I  b  d  er  gesetzlichen  S  e  h  r  a  n  k  e  n  frei  Z  U 
ä  u  ß  c  r  n. 

Die  Presse  darf  weder  unter  Zensur  gestellt  HOC  h 
durch  das  K  o  n  z  e  s  s  i  o  n  s  w  e  s  e  n  beschränkt  w  e  r  d  e  u. 
A  d  m  inistrative  P  o  s  t  v  e  t  b  o  t  e  finden  auf  i  n  1  ä  n  d  i  s  c  h  e 
Druckschriften    keine    A  u  w  e  n  d  u  n  g." 

Das  klingt  doch  außerordentlich  freisinnig,  und  da  es  ein 
Grundgesetz  ist,  in  welchem  die  Freiheit  der  Presse  fest- 
gestellt wird,  könnte  ein  Fremder,  welchem  die  spezifisch  öster- 
reichische Methode  der  Gesetzesfabrikätion  unbekannt  ist,  zur 
Meinung  verleitet  werden,  in  Österreich  bestände  wirklich  etwas, 
was  der  Freiheit  der  Meinungsäußerung  halbwegs  ähnlich  sieht. 
Aber  unser  Staatsgrundgesetz  ist  nicht  nur  ein  Prunkmöbel,  son- 
dern auch  ein  Raritätenkasten  mit  geheimen  Fächern  und 
doppeltem  Boden.  Es  enthält  ja  auch  andere  Prachtstücke:  die 
Gleichheit  aller  Staatsbürger  vor  dem  Gesetz,  die  unbeschränkte 
Freizügigkeit,  die  Unverletzlichkeit  des  Eigentums,  des  Haus- 
rechtes  und  des  Briefgeheimnisses,  die  Freiheit  der  Wissenschaft 
und  ihrer  Lehre  usw.,  aber  jedes  dieser  Grundrechte  trägt  seine 
eigene  Verneinung  an  sich,  und  in  bezug  auf  die  Rede-  und  Preß- 
freiheit sind  es  die  Worte :  „innerhalb  der  gesetzlichen 
Schranke  n",  welche  den  eigentlichen  Wert  und  Gehalt  dieses 
Grundrechtes  bestimmen  oder  vielmehr  auf  nichts  reduzieren. 

Die  gesetzlichen  Schranken  des  Preßgesetzes  wurden  auf- 
gerichtet schon  lange  vor  dem  Staatsgrundgesetz  in  dem  Preß- 
gesetz vom  17.  September  1862,  in  jener  ersten  Periode  des  öster- 
reichischen Liberalismus,  welche  durch  den  Namen  Schmerling  in 
ihrer  ganzen  Beschränktheit  genügend  gekennzeichnet  wird.  Die 
Aufstellung  des  Artikels  13  der  Staatsgrundgesetze,  die  prin- 
zipielle Anerkennung    des    Rechtes    der    freien  Meinungsäußerung 

untersagt,  daß  einzelne  Druckschriften  nicht  ausgeschlossen  werden  dürfen. 
daß  das  Hausieren  mit  Druckschriften,  ihr  Verteilen  an  öffentlichen  Orten 
nicht  untersagt  werden  darf. 

Wir    lassen   eine    Übersicht   folgen    über    den 

Inhalt  der  Broschüre: 

Einleitung      3Ö0 

A.  Die  Kaution KH 

B.  Der   Zeitun.^sstempcl 304 

C.  Das   objektive   Verfahren 306 

i»    Die    Verschleißlizenz 300 

Das  Verbot  der  Kolportage;  §  23  des  Preß^esetzes 310 

Die  Aussichten  der  Preßreform  und  unsere  Taktik 11  s 

Adler.  Briefe.    XI.   Bd.  20 


^06  Der  Kampf  um  diu  Preßfreiheit. 


hätte,  so  sollte  man  glauben,  logischerweise  zu  einer  gründlichen 
Reform  oder  besser  zu  einer  Beseitigung  jenes  Preßgesetzes  führen 
müssen.  Aber  die  politische  Logik  in  Österreich  hinkt  stets  auf 
beiden  Füßen,  und  so  wurde  im  Jahre  1868  nichts  weiter  getan,  als 
daß  einige  der  ärgsten  Schärfen  des  Gesetzes  beseitigt  wurden. 
Wurde  ja  doch  auch  durch  die  Staatsgrundgesetze  jenes  Erzeugnis 
der  ärgsten  Reaktionszeit,  die  kaiserliche  Verordnung 
vom  2  0.  April  185  4*),  welche  die  staatsgrundgesetzlich  garan- 
tierte freie  Meinungsäußerung  unter  polizeiliche  Aufsicht  stellt. 
keineswegs  beseitigt. 

Es  würde  uns  zu  weit  führen,  bei  dieser  Gelegenheit  wieder 
einmal  deutlich  zu  machen,  welches  der  eigentliche  Grund  der  so- 
genannten „Halbheit"  unserer  liberalen  Gesetzgebung  ist,  aber 
andeuten  wollen  wir,  was  sich  umständlich  beweisen  und  durch 
Tatsachen  belegen  ließe,  daß  der  entscheidende  Grund  der  Zwei- 
züngigkeit  und  Zwieschlächtigkeit  unserer  gesamten  politischen 
Gesetzgebung  nicht  nur  in  der  Furcht  nach  oben,  sondern  viel- 
mehr und  vor  allem  in  der  Furcht  nach  unten  zu  suchen  ist.  Das 
österreichische  Bürgertum  hat  die  Resultate  der  Revolution  von 
1848  erst  nach  der  Schlacht  bei  Königgrätz  einheimsen  können. 
Nicht  seine  eigene  Stärke  hat  ihm  zum  Siege  verholfen.  sondern 
die  Schwäche  der  anderen.  Als  es  aber  in  den  Jahren  1867  und 
1868  daranging,  seiner  Herrschaft  gesetzlichen  Ausdruck  zu  geben, 
war  es  längst  nicht  mehr  erfüllt  von  den  Idealen  des  „tollen'4 
Jahres.  Im  Jahre  1848  war  es  für  die  Gleichberechtigung  aller 
Menschen  auf  die  Barrikaden  gestiegen  oder  hatte  vielmehr  er- 
laubt, daß  die  Proletarier  dieses  gefährliche  Geschäft  besorgen. 
Aber  20  Jahre  später  war  das  Bürgertum  nicht  mehr  jener 
schlanke,  freiheitsbegeisterte  Jüngling,  dessen  Herz  alle  Menschen 
mit  gleicher  Liebe  umfaßt;  es  hatte  Fett  angesetzt  und  war 
„vernünftig"  geworden;  es  hatte  vom  Baume  der  Erkenntnis 
gegessen  und  entdeckt,  daß  die  Gleichberechtigung  aller  Staats- 
bürger eigentlich  zu  bedeuten  habe:  die  Gleichberechtigung  aller 
Besitzenden.  Der  Legionär  war  zum  Mastbürger  geworden.  Die 
alles  umfassende  Menschenliebe  hatte  dem  Klassenegoismus  Platz 
gemacht.  In  jenen  20  Jahren  hatte  in  Österreich  nämlich  eine  öko- 
nomische Umwälzung  begonnen,  welche  eine  Industrie  und  mit  ihr 
ein  Proletariat  schuf,  und  aus  den  Vorgängen  im  benachbarten 
Deutschland  sowie  aus  den  ersten  Anfängen  einer  proletarischen 
Bewegung  in  Österreich  selbst  entsprang  für  die  Gesetzgeber  das 
deutliche  Bewußtsein,  daß  die  liberale  Bourgeoisie  nicht  mehr 
allein  auf  der  Welt  sei  und  daß  die  politischen  Freiheiten,  welche 
sie  schaffe,  nicht  nur  ihrem  eigenen  Privatgebrauch  in  Handel  und 
Wandel  dienen,  sondern  auch,  und  zwar  in  sehr  ausgiebiger  Weise, 
von  der  Arbeiterklasse  ausgenützt  werden  würden.     Das  ist  der 


*)  Das  sogenannte  „Prügelpatent"  —  die  Verordnung  über  das  Straf- 
recht der  Polizeibehörden,  die  damals  noch  die  Prügelstrafe  vorsah  und 
deshalb  auch,  nachdem  die  Prügelstrafe  längst  abgeschafft  war,  im  Volks- 
mund  noch  den  Namen  des  Prügelpatents  behielt. 


Der  §  23  des  österreichischen  Preßgesetzi  3CH 

(inniU,  warum  der  Liberalismus  den  Mut  nicht  fand,  gegenüber  den 
dynastischen  und  feudalen  Bedürfnissen  mich  Reaktion  eine  ganze 
Tat  zu  tun.  Der  Liberalismus  selbsl  fürchtete  sich;  er  fürchtete  jene 
Freiheiten,  die  er  schaffen  sollte,  und  auf  Schritt  und  Tritt  ist  es 
sein  Bestreben,  dieselben  „vor  Mißbrauch  ZU  schützen",  das  heißt 
aus  ihnen  ein  Monopol  für  die  Besitzenden  zu  machen. 
Vielleicht  ist  dieser  für  die  liberale  Gesetzgebung  charak- 
teristische Zur'  auf  gar  keinem  (iebiet  deutlicher  aufzuzeigen  als 
auf  dem  der  Preßgesetzgebung. 

A.  Die  Kaution. 

Da  haben  wir  zunächst  die  schöne  Institution  der  Kaution 
für  Zeitschriften,  die  öfter  als  zweimal  im  Monat  erscheinen.  Jeder 
Mensch,  der  eine  Zeitung  herausgeben  will,  wird  im  vorhinein  als. 
verdächtig  angesehen,  strafbare  Handlungen  begehen  zu  wollen; 
es  scheint,  daß  der  Gesetzgeber  selbst  einsieht,  es  sei  schwer, 
öffentliche  Verhältnisse  in  Österreich  zu  besprechen,  ohne  „zu  Haß 
oder  Verachtung  aufzureizen"*).  Nur  „anständige  Leute"  sollen  Zei- 
tungen herausgeben,  wie  nur  „anständige  Leute"  das  Wahlrecht 
haben  sollen.  Der  Befähigungsnachweis  für  die  politische  Be- 
tätigung liegt  —  im  Geldbeutel.  Wer  nicht  einmal  einige  tausend 
Gulden  Kaution  aufbringen  kann,  ist  ein  Lump,  der  das  Maul  zu 
halten  hat.  Das  sind  die  „gesetzlichen  Schranken"  für  das  im 
Artikel  13  der  Staatsgrundgesetze  „jedermann"  gewährleistete 
Recht  der  freien  Meinungsäußerung. 

B.  Der  Zeitungsstempel. 

Noch  empfindlicher  als  die  Kaution  ist  der  Z  e  i  t  u  n  g  s- 
Stempel.  Dem  Finanzgenie  österreichischer  Gesetzgeber  war  es 
vorbehalten,  Mittel  zu  finden,  sowohl  die  Dummheit  als  die  Auf- 
klärung zu  besteuern;  neben  dem  kleinen  Lotto  steht  würdig  der 
Zeitungsstempel.  Jedermann  hat  das  „Recht,  seine  Meinung  frei  zu 
äußern",  wer  aber  von  dieser  Meinungsäußerung  allwöchentlich 
Kenntnis  nehmen  will,  hat  jedesmal  einen  Kreuzer,  gewissermaßen 
als  Strafe,  zu  zahlen.  Denn  der  Leser  zahlt  den  Stempel,  nicht 
der  Herausgeber.  Die  Preise  der  österreichischen  Zeitungen 
würden  ohne  Stempel  3  bis  8  Kreuzer  betragen.  Der  Stempel  be- 
lastet den  Leser  also  mit  einer  indirekten  Steuer  von  1 2%  Pro- 
zent, einem  Achtel,  für  die  größeren  Blätter  und 
3 3 V»  Prozent,  also  einem  vollen  Drittel,  für  die 
kleineren  Blätter.  Das  ist  so  das  richtige  Ideal  einer  pro- 
gressiven Steuer;  je  weniger  einer  hat,  je  weniger  er  konsumiert, 
desto  mehr  muß  er  im  Verhältnis  zahlen.  Der  Leser  der  „Neuen 
Freien  Presse"  zahlt  für  Morgen-  und  Abendblatt  zusammen, 
welche    ohne    Stempel    8    Kreuzer    kosten    würden,    1    Kreuzer 

*)  Der  §  300  des  Strafgesetzbuches,  der  wegen  Vergehens  der 
„Aufwiegelung"  den  strafte,  der  „öffentlich  oder  vor  mehreren  Leuten 
...  zum  Haß  oder  zur  Verachtung  oder  zu  grundloser  Beschwerde- 
führung gegen  Staats-  oder  Gemeindebehörden  oder  gegen  einzelne  Organe 
der  Regierung...  aufzureizen  sucht". 

20* 


308  Der  Kampf  um  die  Preßfreiheit. 

Stempel,  also  12%  Prozent;  der  Bauer  oder  Arbeiter  muß  für  sein 
Wochenblättchen  3&]t  Prozent  entrichten,  also  im  Verhältnis  fast 
dreimal  soviel.  Daß  die  Verteuerung  durch  den  Stempel  die  Ver- 
breitung der  Zeitungen  (und  Kalender)  beeinträchtigt  und  dadurch 
sie  auch  wieder  mittelbar  teurer  macht,  ist  selbstverständlich  und 
eine  schätzenswerte  Nebenwirkung  dieser  famosen  Einrichtung. 

Der  Zeitlingsstempel  trägt  heute  1,300.000  Gulden:  was  er  dem 
Staate  einbringt,  ist  also  eine  wahre  Lappalie  im  Vergleich  zu  dem 
ungeheuren  Schaden,  welchen  er  der  geistigen  und  politischen  Ent- 
wicklung des  Volkes  zufügt.  Das  hindert  aber  nicht,  daß  dieselben 
Leute,  welche  auf  den  leisesten  Wink  der  Regierung  Millionen 
nach  Millionen  für  die  Militärauslagen  bewilligen,  genaue 
Rechner  werden  und  haarscharf  beweisen,  der  Staat  würde 
bankrott  werden  ohne  die  „elende  Million'4,  welche  für  den 
Zeitungsstempel  eingeht.  Gerade  der  Umstand,  daß  diese  „g  e  i- 
stige  Verzehrungssteuer"  wenig  empfindlich  ist  für  die 
Besitzenden,  eine  schwere  Last  aber  für  die  Besitzlosen,  gerade 
dieser  Umstand  verursacht,  daß  der  Kampf  gegen  den  Zeitungs- 
stempel trotz  allen  schönen  Worten  im  letzten  Moment  stets  jenem 
geduldigen  und  ergebenen  Opfermut  Platz  macht,  mit  dem  unsere 
„Volksvertreter"  die  Lasten,  welche  sie  dem  Rücken  des  Volkes 
aufladen,  zu  bewilligen  gewohnt  sind.  Der  Zeitungsstempel  ver- 
dankt seine  Einführung  in  der  heutigen  Form  nicht  einem  Gesetz, 
sondern  einer  Verordnung,  welche  1857  erlassen  wurde,  zur 
reaktionärsten  Konkordatszeit;  sie  war  eine  politische  Maß- 
regel zur  Niederhaltung  der  Presse;  das  fiskalische  Interesse  war 
bei  der  Geringfügigkeit  des  Ertrages  zu  jener  Zeit  gewiß  ganz 
nebensächlich.  Der  liberale  Schwung  der  neuen  Ära  aber  reichte 
nicht  einmal  dazu  aus,  dieses  Hemmnis  zu  beseitigen.  Unzählige 
Petitionen  wurden  im  Laufe  der  Jahre  eingebracht,  ganze  Ballen 
von  Papier  sammelten  sich  in  den  Papierkörben  der  verschiedenen 
Preßausschüsse.  Umsonst!  Es  geschah,  was  immer  im  öster- 
reichischen Abgeordnetenhaus  geschieht.  Sooft  eine  freisinnige 
Maßregel  in  der  harmlosen  Form  der  „R  e  s  o  1  u  t  i  o  n"  der  Regie- 
rung empfohlen  werden  sollte,  fand  sie  eine  große,  begeisterte 
Majorität.  Sobald  über  dieselbe  Sache  ein  Gesetzentwurf 
vorlag,  welcher  mehr  bedeuten  konnte  als  Sand  in  die  Augen  des 
Volkes,  wurde  er  auf  einen  Wink  der  Regierung  gehorsam  ab- 
gelehnt. Am  18.  Juni  1872  wurde  eine  Resolution  angenommen, 
„die  Regierung  werde  ersucht,  die  Aufhebung  des  Zeitungsstempels 
in  die  reiflichste  Erwägung  zu  ziehen".  Am  20.  Februar  1874  hat 
das  Parlament  selbst  Gelegenheit,  das  zu  tun,  um  was  es  die 
Regierung  vor  zwei  Jahren  ersucht  hat.  Der  Antrag  F  u  x  auf  Ab- 
schaffung des  Zeitungsstempels  kommt  zur  zweiten  Lesung;  eine 
Reihe  großer  Reden  wird  gehalten,  der  Kultur,  der  Wissens- 
verbreitung, der  Aufklärung,  der  Presse  werden  sehr  hübsche 
Komplimente  gemacht,  aber  der  Finanzminister  Pretis 
erklärt,  auf  die  Million  nicht  verzichten  zu  können,  und  mit  129 
gegen  114  Stimmen  lehnt  das  Haus  die  Erfüllung  seines  eigenen 
Wunsches     ab.     Kronawetter     hatte     die     namentliche     Ab- 


Der  §  23  des  österreichischen  Preßgesetzi  309 

Stimmung  beantragt,  und  diesem  Umstand  ist  es  zu  danken,  daß 
wir  es  heute  annageln  können,  daß  auch  Leuchten  des  Liberalismus 
und  des  Portschrittes,  wie  Eduard  Sueli  und  Ernst 
\ .    Plener    gegen    die    A  u  Mi  e  b un  g    des    Z e i t u n  g  s- 

S  t  e  m  p  e  I  s  g  e  s  t  i  in  in  t   li  a  h  e  n. 

Seitdem  ließ  man  es  nicht  mehr  ZU  einer  Diskussion  über  diesen 
Gegenstand  kommen.  Alle  diesbezüglichen  Anträge  kamen  ent- 
weder nicht  einmal  zur  ersten  Lesung  oder  verendeten  still  in 
irgendeinem  Ausschuß.  Dagegen  ist  es  sehr  bezeichnend,  daß  die 
Inseratensteuer,  welche  früher  bestand,  längst  aufgehoben  ist.  Auch 
sie  war  drückend,  insbesondere  für  die  großen  Zeitungen,  die 
„Weltblätter",  deren  größte  Rinnahme  neben  der  „Texteinschaltung" 
dem  Inseratenteil  entspringt.  Sie  störte  vor  allem  das  Geschäft; 
sie  war  eine  Last  für  die  Besitzenden,  darum  ist  sie  schon  1874 
gefallen.  Der  Zeitungsstempel  hindert  „nur"  die  politische  Bildung, 
er  fällt  „nur"  für  die  besitzlosen  Volksklassen  ernstlich  ins  Oewicht; 
darum  besteht  er  noch  heute*). 

C.  Das  „objektive  Verfahren". 

Aber  nach  dem  Staatsgrundgesetz  darf  die  Presse  auch  „nicht 
unter  Zensur  gestellt  werden",  und  das  bedeutet  in  der  Praxis 


&oit  fixiert ! 


Und  das  nennt  sich  „liberale"  Gesetzgebung**)! 

D.  Die  Verschleißlizenz. 

Wenn  von  „Meinungsäuljerung"  die  Rede  ist,  steht  deren  „r/rei- 
heit"  in  bezug  auf  ihren  Inhalt  erst  in  zweiter  Linie;  wie  es  mit  ihr 
aussieht,  haben  wir  kurz  angedeutet.  Noch  wesentlicher  ist  aber  die 
„Äußerung"  an  sich.  Der  Artikel  13  des  Staatsgrundgesetzes  ge- 
währleistet die  Freiheit,  seine  „Meinung  durch  D  ruck  frei  zu 
äußern".  Was  heißt  das?  Doch  nicht  etwa  nur  das  Recht,  seine 
Meinung  drucken  zu  lassen!  Damit  wäre,  wenn  selbst  alle  die 
Zwangsanstalten  nicht  beständen,  von  denen  bisher  die  Rede  war, 
gar  nichts  geboten.  Das  Recht  der  Meinungsäußerung  schließt: 
das  Recht  der  Verbreitung  der  Drucksache  in  sich.  Eine 
Meinung,  die  gedruckt  ist,  ist  darum  noch  lange  nicht  „geäußert". 
Das  ist  sie  erst,  wenn  sie  auch  dem  Leser  durch  den  Druck  mit- 
geteilt wird.  Die  schönste  Preßfreiheit  ist  ganz  wertlos,  wenn. 
die  Verbreitung  gehindert  wird,  wie  die  schrankenloseste  Rede- 
freiheit absolut  nichts  nützt,  wenn  niemand  zuhören  darf;  es  ist 
das  Recht  —  Monologe  zu  halten. 

Der  geneigte  Leser  ist,  an  dieser  Stelle  angelangt,  vielleicht 
geneigt,  den  Verfasser  wegen  Khrenbeleidigung  zu  belangen,  weil 

)   F.   v.   Lil.it,  Lehrbuch   des  österreichischen   Preürechts,   Leipzig,   1878„ 
S.    381.    (Anm.   von   v.   a.) 

')  Der  konfiszierte  Text  ist  in  seinem  Wortlaut  nicht  bekannt;  wir 
geben  daher  die  Stelle  so,  wie  sie  in  der  Broschüre  aussieht. 


310  Der  Kampf  um  die  Preßfreiheit. 

er  ihm  Dinge  auseinandersetze,  die  nicht  einmal  einem  Botokuden 
unklar  sein  können.  Aber  der  Leser  erwäge  gefälligst,  daß  es  sicli 
liier  um  die  österreichische  „Preßfreiheit"  handelt,  bei  deren  Er- 
forschung man  daran  irre  wird,  daß  man  seine  Muttersprache  ver- 
stehe. Denn  wenn  wir  bis  jetzt  darlegen  mußten,  daß  unsere  Preß- 
freiheit dem  berühmten  Messer  ohne  Klinge  gleiche,  so  kommen 
wir  nunmehr  zu  dem  Nachweis,  daß  dem  Messer  auch  der  Stiel 
fehle. 

Das  Recht  auf  Verbreitung  einer  Druckschrift  ist  nämlich  nach 
österreichischem  Gesetz  durchaus  nicht  ein  selbstverständlicher, 
integrierender  Teil  des  Rechtes  auf  Freiheit  der  Meinungsäußerung 
durch  den  Druck,  welche  durch  das  Staatsgrundgesetz  „jede  r- 
mann"  gewährt  ist.  Das  Recht  auf  Verbreitung  ist  nämlich  n  i e- 
mand  gewährt,  dem  sie  nicht  ausdrücklich  gestattet  ist.  Durch 
diesen  Umstand  werden  die  Fesseln  der  Verbreitung  der  Meinung 
noch  drückender  als  diejenigen,  welche  den  Inhalt  der  Meinung  be- 
treffen. 

Nämlich  —  „die  Presse  darf  nicht  durch  das  Konzessions- 
wesen beschränkt  werden",  heißt  es  im  Staatsgrundgesetz:  das 
bedeutet  in  der  Praxis :  Kaution  und  Verschleißlizenz. 
Von  der  Kaution  haben  wir  oben  gesprochen;  die  Verschleißlizenz 
bedeutet  aber  ein  ganz  anders  einschneidendes  Ding. 

§  3  des  Preßgesetzes  lautet: 

Das  Recht  zur  Erzeugung,  zum  Verlag  von  Druckschriften  und  zum 
Verkehr  mit  denselben  wird  durch  die  Gewerbegesetze  geregelt. 

Es  steht  aber  jedermann  frei,  von  ihm  allein  oder  unter  Mitwirkung 
anderer,  jedoch  nach  einem  von  ihm  entworfenen  selbständiger  Plan 
verfaßte  Schriften  in  Selbstverlag  zu  nehmen  und  in  seiner  Wohnung 
oder  einem  anderen  ausschließlich  dazu  bestimmten  Lokal  für  eigene 
Rechnung  zu  verkaufen. 

Von  der  Eröffnung  eines  solchen  Lokals  ist  jedoch  der  Sicherheits- 
behörde vorläufige  Anzeige  zu  erstatten.  Die  Nichtbeachtung  dieser 
Vorschriften  ist  als  Übertretung  mit  einer  Geldstrafe  von  zehn  bis 
hundert  Gulden  zu  ahnden. 

Das  Recht  zur  Herausgabe  einer  periodischen  Druckschrift  (§  10) 
schließt  auch  das  Recht  zum  Verlag  derselben  in  sich. 

Absatz  5. 

Übrigens  kann  die  politische  Landesstelle  den 
Verkauf  periodischer  Druckschriften,  die  Sicherheits- 
behörde des  Ortes  aber  den  Verkauf  von  Schulbüchern,  Kalendern. 
Heiligenbildern,  Gebeten  und  Gebetbüchern  bestimmten  Per- 
sonen für  einen  zu  bezeichnenden  Bezirk  auf  Wider- 
ruf bewilligen. 

Wenn  man  also  für  eine  Zeitung  Kaution  erlegt,  den  Stempel 
gezahlt  hat  und  sie  vom  Staatsanwalt  sündenfrei  erkannt  wurde, 
dann  hat  man  das  Recht,  sie  „in  seiner  Wohnung  oder  einem 
anderen  ausschließlich  dazu  bestimmten  Lokal"  zu  ver- 
kaufen; außerhalb  dieser  „ausschließlich  dazu  bestimmten  Lokale" 
darf  nicht  einmal  der  Redakteur  oder  Herausgeber  selbst  sein 
Blatt  zum  Verschleiß  bringen.     Aber  freilich,  neben  der  Peitsche 


Der  §  23  des  österreichischen  Preßgesetzes.  Hl 

gibt  es  auch  das  Zuckerbroi  Für  die  Kinder  wenn  sie  brav  sind. 
Die  politische  Landesstelle  darf  den  Verkauf  von  Zeitungen  be- 
stimmten Personen  „auf  Widerruf  bewilligen";  und  wirk- 
lich werden  gewisse  Zeitungen  ganz  allgemein  in  Tabaktrafiken, 
Papierhandlungen  usw.  zum  Einzelverschleiß  'zugelassen.  Die 
Regierung  hat  den  Schlüssel  zum  Eingang  in  das  Paradies  des 
Einzelverkaufs,  und  sie  Öffnet  nur,  wem  sie  wohl  will.  I)ie  Ver 
schleißlizenz  ist  ein  Machtmittel  in  der  Hand  der  Regierung, 
welches  noch  weit  wirksamer  ist  als  das  „objektive  Verfahren". 
Mau  lernt  schließlich  schreiben;  der  Leser  lernt  zwischen  den 
Zeilen  lesen.  Die  Übung  hat  die  Technik  in  der  Expedition  von 
Zeitungen  so  vervollkommnet,  daß  bei  Blättern,  welche  häufig  der 
Konfiskation  verfallen,  die  Staatsanwaltschaft  selten  viel  „er- 
wischt". Oder  aber  es  wird  der  Zensur  die  Maske  vom  Gesicht 
gerissen  und  der  Staatsanwaltschaft  ein  bloßer  Bürstenabzug  als 
Pflichtexemplar  überreicht,  an  welchem  sie  ihren  „objektiven" 
Gelüsten  ohne  Schaden  für  das  Blatt  frönen  kann;  mit  dem  Druck 
aber  wird  erst  begonnen,  bis  das  Blatt  die  Zensur  passiert  hat.  Eine 
erniedrigende,  beschämende  Methode  allerdings,  aber  unver- 
meidlich gegenüber  gewissen  Staatsanwälten.  Was  soll  man  aber 
gegenüber  dem  Verbot  des  Verschleißes  tun? 

Qanz  einfach,  ist  die  Antwort,  so  viele  „ausschließlich  dazu 
bestimmte  Lokale"  errichten,  als  man  für  notwendig  hält;  von  der 
Eröffnung  aber  der  Behörde  vorläufige  Anzeige  erstatten.  Von  den 
vielfachen  Schikanen,  die  mißliebigen  Blättern  bei  solchen  Anzeigen 
zugefügt  werden,  wollen  wir  ganz  schweigen.  Der  wichtigste  Punkt 
ist.  daß  kleine  und  billige  Tagesblätter  nicht  die  ungeheuren  Kosten 
für  solche  Verkaufslokale  zu  tragen  imstande  sind,  daß  die  gesamte 
heute  noch  verschleißfähige  Presse  vor  der  Zuchtrute  der  Ent- 
ziehung zittern  muß  und  daß  so  die  Regierung  dieselben  sicher  im 
Zaume  hält.  Ohne  Anklage,  ohne  Richterspruch,  ohne  Urteil  ist  die 
Regierung  in  der  Lage,  über  jedes  Blatt  eine  Geldstrafe  zu  ver- 
hängen, welche  es  ruiniert.  Und  vor  allem  kann  sie  das  —  ohne 
Verantwortung.  Sie  will  es.  das  genügt.  Sie  steht  niemand  Rede, 
und  niemand  hat  das  Recht  zu  fragen.  Wie  bequem  ist  das!! 

Freilich  ist  seit  dem  Jahre  1883,  wo  den  beiden  Blättern  der 
Steyrermühlgesellschaft  („Neues  Wiener  Tagblatt"  und  „Öster- 
reichische Volkszeitung")  der  Verschleiß  entzogen  wurde*),  gegen 

*)  Am  21.  .(äiiner  1883  hatte  die  niederösterreiclhsche  Statthaltern  unter 
Berufung  auf  §  3,  Absatz  5,  des  Preßgesetzes,  den  Zcitungsvcrsehleißern 
die  Erlaubnis  zum  Verschleiß  des  „Neuen  Wiener  Tagblattes"  und  der 
..Konstitutionellen  Vorstadt-Zeitung"  (der  späteren  „Österreichischen 
Volkszeitung"  und  nachmaligen  „Volkszeitung")  untersagt.  Der  liberale 
Abgeordnete  und  ehemalige  Justizminister  Dr.  Herbst  interpellierte  des- 
halb am  30.  Jänner  1883.  Darauf  erwiderte  Graf  Taaffe  am  16.  Februar 
18H3.  indem  er  die  oppositionelle  Presse  angriff,  die  Landesregierung  könne 
den  Verkauf  von  Druckschriften  bestimmten  Personen  gegen  Widerruf 
bewilligen,  demnach  auch  den  Widerruf  aussprechen  und  diese  Befugnis 
sei  an  keine  besondere  Bedingung  geknüpft.  Wenn  Blätter  mit  einer 
eraumer   Zeit    wahrgenommenen    Beharrlichkeit    durch    tendenziöse 


312  Der   Kampf  um  die  Preßfreiheit. 

kein  anderes  in  derselben  Weise  vorgegangen  worden.  Aber  es 
wurde  auch  keinem  neuen  Blatte  der  Verschleiß  bewilligt  und  da- 
durch ein  Monopol  geschaffen,  dessen  Wert  geradezu  un- 
berechenbar ist. 

Wen  aber  trifft  auch  diese  famose  Einrichtung  am  härtesten? 
Die  besitzlosen  Volksklassen.  Die  wohlhabenden  Leser 
der  großen  Bourgeoisblätter  sind  sehr  wohl  imstande,  den 
Abonnementsbetrag  für  ein  Quartal,  für  einen  Monat  zum  min- 
desten, auf  einmal  bar  auf  den  Tisch  zu  legen  und  sich  das  Blatt 
durch  den  Austräger  auf  den  Früh stückstisch  legen  zu  lassen. 
Anders  der  Arbeiter,  der  kleine  Beamte,  der  kleine  Handwerker, 
der  zur  Not  sich  täglich  für  seine  Zeitung  3  bis  4  Kreuzer  abkargen 
kann,  aber  selten  einen  ganzen  Gulden  dafür  ausgeben  kann.  Dazu 
kommt,  daß  natürlich  die  Kosten  für  die  Verschleißlokale  ebenso 
wie  für  den  Stempel  der  Leser  trägt,  nicht  etwa  das  Zeitungs- 
unternehmen. Das  Blatt  wird  um  so  teurer,  je  kostspieliger  seine 
Herstellung  und  Administration,  je  beschränkter  seine  Verbreitung 
ist.  Und  die  Last  trägt  der  Konsument.  Wie  die  Hauszins- 
steuer mit  allen  ihren  verschiedenen  Zuschlägen,  welche  angeblich 
eine  direkte  Steuer  ist,  nicht  den  Hausbesitzer  belastet,  sondern  den 
Mieter,  und  zwar  um  so  drückender  und  härter,  je  ärmer  dieser 
Mieter  ist,  genau  ebenso  wird  diese  ganz  besondere  Belastung  der 
Presse  nur  dem  kleinen  Mann  empfindlich. 

Die  Verschleißlizenz  steht  also  nicht  allein  im  Widerspruch  mit 
der  Preßfreiheit,  mit  dem  Staatsgrundgesetz,  sie  ist  auch  ein 
Machtmittel  in  der  Hand  der  Regierung,  ein  Hebel  der  politischen 
Korruption,  und  sie  befördert  ganz  außerordentlich  jede  andere  Art 
von  Preßkorruption.  Die  Blätter,  welche  „öffentliche  Meinung"  ver- 
schleißen, wie  der  Selcher  Würste,  erhalten  durch  die  Verschleiß- 
lizenz und  ihre  willkürliche  Handhabung  entweder  den  Antrieb, 
sich  der  Regierung  zu  verkaufen,  oder,  im  Falle  sie  glauben,  mit 
einer  oppositionellen  Haltung  ein  besseres  Geschäft  zu  machen, 
sich  um  so  schamloser  der  Bestechung  durch  Banken  und  Börsen- 
gruppen preiszugeben,    um    so  schamloser    ihre  Existenz  auf  der 

Schilderung  von  Vorgängen  auf  dem  Gebiete  des  öffentlichen  und  privaten 
Lebens  die  Leidenschaften  der  großen  Menge  aufregen,  wenn  Presseerzeug- 
nisse geradezu  Anstoß  erregende  Ankündigungen  und  Darstellungen,  die 
geeignet  seien,  auf  das  sittliche  Gefühl  weiter  Kreise  der  Bevölkerung 
schädigend  einzuwirken,  verbreiten,  so  sei  die  Regierung  nicht  nur  be- 
rechtigt, sondern  sogar  verpflichtet,  die  ihr  zur  Verfügung  stehenden 
Mittel  in  Anwendung  zu  bringen.  Herbst  beantragte  darauf,  diese  Ant- 
wort an  den  Ausschuß  zur  Prüfung  zu  überweisen  und  eine  authentische 
Interpretation  des  §  3,  Absatz  5,  zu  schaffen.  Der  Antrag  wurde  aber 
abgelehnt. 

In  der  Debatte  verwies  der  Alttscheche  Dr.  Zeithammer  darauf, 
daß  auch  Herbst  als  Justizminister  vor  elf  Jahren  vier  tschechischen 
Blättern  in  Prag  den  Einzelverschleiß  entzogen  habe.  Darauf  erwiderte 
wieder  Herbst,  das  sei  geschehen,  weil  diese  Blätter  die  kaiserlichen 
Beamten  „k.  k.  Lumpe  n"  nannten  und  das  kaiserliche  Patent  auf  weiches 
Papier  druckten  und  als  Flugschriften  in  die  Anstandsorte  werfen  ließen  . . . 


Der  §  23  des  österreichischen  PrcUgesctzcs,  113 


Pflege  von  Seh  windelinse  raten,  Anpreisung  von  üeheimmitteln  usw. 
aufzubauen.  So  zahlt  das  Volk  doppell  die  Zeche:  die  Verfälschung 
seiner  geistigen  Nahrung  wird  systematisch  und  offiziell  gezüchtet. 
und  diese  verfälschte  Nahrung  muß  es  teuer  kauten. 

Die    Praxis,    die    Gewährung    der    Verschleißlizenz     zu     einer 

„Gnade"  ZU  machen,  hat  es  so  weit  gebracht,  dal»  kein  Blatt, 
welches  Parteiinteressen  ernstlich  vertritt,  auch  nur  darum  ein- 
schreiten darf.  Das  Gesuch  wäre  aussichtslos,  gewiß;  wenn  aber 
durch  einen  unerhörten  Zufall  ein  Blatt  die  Verschleißlizenz  erhielte, 
dann  wäre  es  noch  ärger  daran:  es  wäre  gebrandmarkt  als  ver- 
kauft au  die  Regierung,  als  Verräter  au  seiner  Partei.  Das  sind  die 
Zustände,  welche  unser  Preßgesetz  mit  sich  führt. 

E.    Das  Verbot  der  Kolportage:    $  23  des  Preßgesetzes. 

In  Österreich  wird  also  die  Presse  behandelt  wie  ein  wut- 
verdächtiger Hund:  sie  unterließt  nicht  nur  dem  Maulkorbzwang, 
sie  wird  auch  au  der  Leine  geführt. 

Dieses  Mißtrauen  gegen  alles,  was  gedruckt  ist.  dieser  Wider- 
wille gegen  das  Lesen  bezieht  sich  durchaus  nicht  nur  auf  die 
Zeitungen,  auf  die  periodischen  Druckschriften.  „Man"  wünscht 
überhaupt  nicht,  dal.»  viel  gedruckt  werde,  und  läßt  sich  das 
Drucken  schon  nicht  verhindern,  so  soll  doch  wenigstens  so  wenig 
als  möglich  gelesen  werden.  Das  ist  der  Geist,  von  dem  unsere 
Preßgesetzgebung  erfüllt  ist.  Seine  erste  Fleischwerduug  erlebte  er 
bezeichnenderweise  unter  der  Ägide  des  Feldmarschalls  Fürsten 
W  indisc  hg  r  ä  t  z.  Noch  während  der  Belagerungszustand  in 
Wien  herrschte,  am  20.  Dezember  1848,  dekretierte  der  Minister 
des  Innern:  „Das  öffentliche  Anschlagen  von  Plakaten  und  Flug- 
schriften, das  Austeilen.  Ausrufen  und  Verkaufen  derselben  au 
öffentlichen  Orten  und  auf  der  Straße  sowie  das  Hausieren  mit 
denselben  ist  für  jedermann  unbedingt  verböte  n."  Und  nach 
dem  heiteren  Zwischenspiel  der  „Reichsverfassung"  vom  4.  März 
1849,  in  welcher  natürlich  „jedermann"  das  Recht  erhält,  „seine 
Meinung  frei  zu  äußern",  und  ebenso  natürlich  Gesetze  „gegen  den 
Mißbrauch  der  Presse"  in  Aussicht  gestellt  werden,  erschien 
endlich  am  27.  Mai  1852  die  berühmte  „Preßordnung".  Dieses 
während  der  Herrschaft  der  ärgsten  Reaktion  entstandene  Gesetz 
enthält  schon  voll  und  ganz  unsere  noch  heute  geltenden  Be- 
stimmungen über  die  Kolportage;  die  liberale  Gesetzgebung  der 
Jahre  1862  und  1867  hat  an  den  Prinzipien,  welche  Windischgrätz 
und  Bach  auf  die  Presse  anwendeten,  nicht  gerüttelt.  Ja,  es  liegen 
Äußerungen  vor,  welche  klar  beweisen,  daß  die  Erzväter  des 
Liberalismus  in  diesem  Punkte  nicht  anders  denken  als  die  Helden 
der  „finsteren  Reaktion",  welche  sie  sonst  nicht  genug  verdammen 
können. 

Sehen  wir  uns  einmal  das  Ding  an.  Vor  allem  ist  zu  bemerken, 
daß,  wenn  der  periodischen  Presse  gegenüber  die  im  Staatsgrund- 
gesetz ausdrücklich  aufgehobene  Zensur  unter  der  Verkleidung 
des  „objektiven  Verfahrens"  erscheint,  sie  in  bezug  auf  die  nicht- 
periodische  Presse   jede   Verhüllung  verschmäht.     §   17   des   Preß- 


314  Der  Kampf  um  die  Preßfreiheit. 

Gesetzes  bestimmt,  es  sei  „von  jeder  anderen  (nichtperiodischen) 

Druckschrift,  welche  nicht  mehr  als  fünf  Hosen  im  Drucke  beträgt, 
wenigstens  2  4  Stunden  vor  der  Austeilung  oder 
Versendung  bei  der  Sicherheitsbehörde  des  Ausgabeortes  und 
an  Orten,  wo  ein  Staatsanwalt  seinen  Sitz  hat,  auch  bei  diesem  ein 
Exemplar  zu  hinterlegen".  Der  Staatsanwalt  und  die  Polizei  haben 
also  24  Stunden  Zeit,  zu  überlegen,  ob  sie  die  Druckschrii' 
passieren  lassen  oder  mit  ihr  „objektiv  verfahren"  wollen!!  Und  d^ 
behauptet  man,  in  Österreich  gäbe  es  keine  Präventivzensur' 
Worauf  stützt  sich  diese  Behauptung?  Einzig  und  allein  auf  den 
Artikel  13  der  Staatsgrundgesetze;  es  gibt  auf  der  ganzen  Welt 
kein  geduldigeres  Papier  als  jenes,  auf  welchem  diese  Staatsgrund- 
gesetze gedruckt  werden.  Natürlich  kann  auch  da  die  Behörde 
milde  Praxis  üben  und  die  Austeilung  und  Versendung  auch  vor 
Ablauf  der  Frist  gestatten.  Diese  echt  österreichische  Methode 
macht  die  Sache  natürlich  nicht  besser,  sondern  schlechter  und 
erlaubt  die  Protegierung  „anständiger"  Personen  und  „anständiger" 
Parteien. 

Dazu  kommt,  daß  für  die  pünktliche  Ausführung  dieser  Be- 
stimmung nicht  der  Verfasser  oder  Herausgeber  der  Flugschrift 
oder  Broschüre,  sondern  der  Drucker  derselben  haftbar  ist,  daf> 
er  nicht  einmal  dem  Besteller  und  Eigentümer  der  Druckschrift  die- 
selbe vor  Ablauf  von  24  Stunden  abliefern  darf.  Diese  Bestimmung 
ist  es,  welche  verursacht,  daß  es  kein  Land  gibt,  in  welchem  so 
wenig  Broschüren  erscheinen  als  in  Österreich,  daß  man  bei  uns 
die  Flugblattliteratur  einfach  nicht  kennt.  „Um  so  besser!"  sagen 
natürlich  die  Mandarine  mit  zwölf  Knöpfen. 

Nun  aber  kommt  jene  Beschränkung  der  Presse,  welche  für 
Österreich  ganz  besonders  auszeichnend  ist.  Den  Zeitungsstempel 
hat  noch  ein  anderer  „Kulturstaat"  —  nämlich  die  Türkei;  das 
Verbot  der  Kolportage  existiert  nur  in  Österreicr 
einzig  und  allein. 

In  Frankreich,  Italien,  England,  Deutschland,  ja  in  Rußland 
werden  Zeitungen  an  jeder  Straßenecke  ausgerufen  und  feilgehalten. 
In  Österreich  ist  das  eine  Übertretung,  die  mit  Geldstrafe  von  5  bis 
200  fl.  bestraft  wird. 

Die  bezügliche  Bestimmung  lautet: 

§  23  P.-G. 

„Das  Hausiere  n  mit  Druckschriften,  das  A  u  s  rufe  n,  Ver- 
breiten und  Feilbieten  derselben  außerhalb  der  hiezu 
ordnungsmäßig  bestimmten  Lokalitäten  und  das  S  a  in- 
nre I  n  von  Pränumeranten  oder  Subskribenten  durch 
Personen,  welche  nicht  mit  einem  hiezu  von  der  Sicherheitsbehörde 
besonders  ausgestellten  Erlaubnisschein  versehen  sind,  ist  ver- 
boten. Ebenso  ist  das  Aushängen  oder  Anschlagen  von  Druck- 
schriften in  den  Straßen  oder  an  öffentlichen  Orten  ohne  beson- 
dere Bewilligung  der   Sicherheitsbehörde   untersagt. 

Dieses  Verbot  bezieht  sich  jedoch  nicht  auf  Kundmachungen  von 
rein  örtlichem  oder  gewerblichem  Interesse,  als:  Theaterzettel,  An- 
kündigungen   von    öffentlichen   Lustbarkeiten,    von    Vermietungen.    Ver- 


\)>j\-  S  23  des  österreichischen  Preßgesetzes. 

kaufen  und  dergleichen.  Doch  dürfen  auch  solche  Ankündigungen  nui 
an  den  von  der  Behörde  hiezu  bestimmten  Plätzen  angeschlagen  wer- 
den. Die  Verletzung  dieser  Vorschriften  wird  an  dem  Schuldtragenden 
als  Übertretung  mit  einer  Geldstrafe  von  Efi.nl  bis  zweihundert 
Gulden  bestraft.  Die  bei  urlgesetzlicher  Verbreifung 
ergriffenen  und  die  verbotswidrig  angeschlagenen  Druckschriften 
unterliegen  dem  V  e  r  f  al  I. 

Zwei.  Bestimmungen  sind  liier  fixiert.  Erstens  der  S  t:r  a  ß  e  n- 
verkauf  von  I  )ruckseliriften  ist  u  n  beding t  verboten  und 
damit  auch  das  Hausieren  mit  den  Zeitungen  (nicht  nur  in  den 
Häusern,  sondern  ebenso  in  öffentlichen  Lokalen,  in  Gast-  und 
Kaffeehäusern).  Zweitens  zum  Sammeln  von  Abonnements*)  ist 
eine  besondere  polizeiliche  Erlaubnis  nötig,  eine  Erlaubnis,  welche, 
wohlgemerkt,  nicht  ein  für  allemal  und  allgemein,  sondern  für  jede 
einzelne  Druckschrift  besonders  erworben  werden  muß.  §  12  der 
bezüglichen  „Amtsinstruktion"  sagt  außerdem,  daß,  wenn 
es  sich  um  „ausländische  Druckschriften  handelt,  die  Sicherheits- 
behörde  an  den  politischen  Landeschef  Bericht  zu  erstatten  und 
dessen  Erledigung  abzuwarten  habe".  Wie  aus  einer  Petition  des 
Wiener  Buchhändlergremiums  an  den  Reichsrat  hervorgeht,  lassen 
diese  „Erledigungen"  oft  so  lange  warten,  bis  das  ganze  Lieferungs- 
werk längst  erschienen,  wenn  nicht  längst  veraltet  ist.  Außer- 
gewöhnlich vorsichtige  „politische  Landeschefs"  verlangen,  daß 
man  ihnen  vor  der  Bewilligung  zur  Sammlung  von  Pränumera- 
tionen auf  ein  Lieferungswerk  —  das  ganze  Buch  vorlege,  was  sich 
zum  Beispiel  bei  Meyers  Konversationslexikon  und  derlei  größeren 
Werken  als  besonders  praktisch  empfiehlt! 

Wir  betreten  nämlich  jetzt  ein  Gebiet,  auf  welchem  der  Scharf- 
sinn aller  Behörden  die  höchsten  Triumphe  feiert.  Der  §  23  des 
Preßgesetzes  ist  eine  unerschöpfliche  Quelle  denkwürdiger  Richter- 
sprüche  und  kostbarer  Entscheidungen.  Es  ist  ja  ganz  natürlich,  daß 
ein  solcher  Paragraph  dem  Belieben  oder  sagen  wir  der  —  Einsicht 
des  Beamten  den  weitesten  Spielraum  gewährt.  Doch  davon  später; 
jetzt  sei  nur  festgestellt,  daß  der  §  23  von  allen  Ketten,  die  unsere 
Presse  fesseln,  die  schwerste  ist  und  daß  auch  diese  a  m 
härtesten  die  Presse  der  Arbeiter,  der  besitz- 
losen V  o  1  k  s  k  1  a  s  s  e  n  überhaupt  belastet. 

Billige  Literaturerzeugnisse  sind  eben  nur  möglich 
durch  Massenabsatz.  Massenabsatz  ist  aber  wieder  nur 
möglich,  wenn  die  Verbreitung  auf  alle  Weise  erleichtert  wird.  Der 
Arbeiter,  der  Bauer  hat  nicht  Zeit  und  Gelegenheit,  in  die  Buch- 
handlung zu  gehen  und  ein  Buch,  eine  Broschüre,  eine  Zeitung  zu 
kaufen.  Er  erfährt  gar  nicht,  daß  die  Literatur,  für  welche  er 
Interesse  hat,  existiert.  Ja  sein  Bedürfnis  kommt  ihm  nicht  einmal 
zum  Bewußtsein,  wenn  es  noch  so  dringend  ist,  wenn  er  aber  nie 

*)  Wenn  §  23  vom  „Sammeln   von  Pränumeranten  und  Subskribenten" 

spricht,  ist  das  Amtsstil  und  nicht  wörtlich  zu  nehmen.  So  weit  hat  sich 
die  Sammelwut  wohl  noch  niemals  vergessen,  daß  sie  gleich  die  prä- 
iiumerierenden  Personen  selber  mitnimmt;  auch  dem  eifrigsten  Verleger 
handelt  es   sich    nur   um   ihr   Qeld.   (v.   a.) 


316  Der  Kampt  um  die  Preßfreiheit. 


die  für  ihn  nützlichen,  ja  notwendigen  Schriften  zu  Gesicht 
bekommt.  Es  gibt  gar  kein  besseres  Mittel,  um  ein  Volk  in  Dumm- 
heit zu  erhalten,  es  politisch  wehrlos,  seine  Interessen  zu  verfolgen, 
ja  auch  nur  zu  verstehen,  unfähig  zu  machen,  als  wenn  man  ihm 
die  Literatur,  Presse,  Broschüren  und  Bücher  systematisch  fern- 
hält. Das  aber  erreicht  der  §  23  in  ganz  ausgezeichneter  Weise.  Es 
ist  gar  keine  Übertreibung,  wenn  wir  erklären,  daß  für  einen  sehr 
großen  Teil  unseres  Volkes  in  Österreich  die  Erfindung  Gutenbergs 
einfach  nicht  existiert.  Unser  Landvolk  verlernt  das  Lesen,  weil  es 
keine  Gelegenheit  hat,  es  zu  üben;  das  Gebetbuch,  dessen  Ver- 
breitung erlaubt  ist,  wissen  sie  auswendig.  Aber  gerade  das  wird  ja 
gewünscht.  Man  will  auch  solche  Druckschriften,  an  denen  der 
scharfsinnigste  Staatsanwalt  nichts  Gefährliches  finden  kann,  nicht 
unter  die  Leute  kommen  lassen.  Die  „Intelligenz"  der  wenigen  soll 
herrschen,  nicht  die  „brutalen  Instinkte"  der  Massen.  Es  ist  sehr 
charakteristisch,  daß  nicht  einmal  die  Gesetzbücher  in  billigen 
Volksausgaben  existieren,  und  gäbe  es  dergleichen,  §  23  würde  mit 
Erfolg  ihre  Verbreitung  hindern.  Für  öffentliche  Dinge  ist  der 
Beamte  da,  für  „wissenschaftliche"  der  Lehrer  und  für  religiöse  der 
Pfarrer;  wenn  der  Bauer  die  Steuerexekutionsbollette  lesen  kann. 
ist  das  genügend;  und  deren  Verbreitung  steht  kein  §  23  im  Wege. 

Am  schwersten  trifft  natürlich  der  §23  die  Arbeiter- 
presse. Für  Druckschriften  sozialdemokratischer  Tendenz  von 
der  Sicherheitsbehörde  einen  Erlaubnisschein  zur  Sammlung  von 
Abonnements  erwirken  zu  wollen,  wäre  natürlich  purer  Unsinn.  Die 
Behörde  ist  an  Gründe  nicht  gebunden,  und  keinesfalls  braucht  sie 
dieselben  mitzuteilen.  Der  §  12  der  „Amtsinstruktion"  sagt  aus- 
drücklich, es  sei  bei  der  Erteilung  jener  Scheine  „auf  die 
Beschaffenheit  jener  Druckschriften",  welche  verbreitet  werden 
sollen,  zu  sehen;  und  das  genügt  vollkommen.  Was  folgt  daraus? 
Zunächst,  daß  die  Verbreitung  der  Volksliteratur,  insbesondere  der 
Arbeiterpresse,  in  Österreich  eine  sehr  geringe  ist.  Das  erhellt 
schon  aus  folgenden  Ziffern,  die  wir  aus  den  Angaben  der  Hübner- 
schen  Tafeln  berechnet  haben.  Die  Zahl  der  Zeitschriften, 
welche  auf  eine  Million  Einwohner  entfallen, 
beträgt  in: 

England (im  Jahre  1865)  90 

Frankreich („        ..  1885)  114 

Deutschland     („        „  1891)  129 

Belgien      („        „  1888)  145 

Schweiz („        „  1886)  231 

Vereinigte  Staaten  von  Nordamerika  .  ( „        „  1889)  259 

Dänemark („        „  1884)  400 

Österreich 70 

Und  das  sind  Ziffern,  welche  nur  die  Zahl  der  Zeitschriften  an- 
geben; wenn  wir  die  Zahl  der  gedruckten  und  verbreiteten 
Exemplare  kennen  würden,  wäre  mit  noch  viel  größerer  Sicherheit 
zu  erkennen,  daß  Österreich  das  politisch  am  meisten 
rückständige    Land    ist.     Bei  den  Ziffern  für  England  und 


[)ei   $  23  des  österreichischen  PreßKesetzcs.  MI 

Frankreich  insbesondere  ist  ins  Auge  zu  lassen,  daß  Zeitungen, 
welche  Auflagen  von  ioo.ooo  und  200.000  Exemplaren  haben,  dort 

durchaus  nicli(  selten  sind,  wahrend  es  kaum  zwei  bis  drei  öster- 
reichische Blätter  gibt,  die  90.000  Exemplare  an  ein/einen  'lauen 
erreichen  oder  gar  übersteigen. 

Aber  ein  Zweites  ist  noch  die  Folge  dieser  gesetzlichen  Be- 
stimmungen. Insoweit  die  Volksliteratur  und  insbesondere  die 
Arbeiterpresse  in  Österreich  Verbreitung  findet,  geschieht 
das  in  g  a  n  z  b  e  w  u  ß  t  e  r  u  nd  p  I  a  n  m  a  ß  i  g  e  r  Li  m  g  e  h  u  n  g 
des  §  23  des  Preßgesetze  s.  Wir  erklären  ganz  offen,  daß 
die  vielen  Tausende  von  Zeitungsexemplaren,  welche  die  Sozial- 
demokratie allwöchentlich  unter  die  Massen  wirft,  zum  allergrößten 
Teil  mit  Übertretung  des  Verbotes  der  Kolportage  verbreitet 
werden;  wir  erklären  weiter,  daß  jede  andere  Partei,  welche  ihre 
Presse  wirklich  in  den  Massen  verbreitet,  vor  allem  die  klerikale 
Partei,  genau  dasselbe  tut  und  tun  m  u  ß. 

Solange  der  §  23  des  Preßgesetzes  besteht,  wird  er  von  uns 
systematisch  umgangen  werden;  wir  müssen  es  tun 
und  werden  es  tun.  Ein  Gesetz,  welches  einer  politischen  Partei 
verbietet,  ihre  Schriften  zu  verbreiten,  muß  es  sich  eben  gefallen 
lassen,  tagtäglich  verletzt  zu  werden,  genau  wie  eine  Verordnung, 
die  einem  Menschen  verbieten  würde  zu  atmen.  Und  was  wir  da 
sagen,  ist  keineswegs  ein  Geheimnis,  am  allerwenigsten  den 
Behörden.  Im  Polizeibezirk  Wien  allein  haben  die  Bezirks- 
gerichte alljährlich  über  zirka  300  Übertretungen  des  §  23  P.-G.  ab- 
zuurteilen, und  es  ist  der  Staatsanwaltschaft  sehr  wohl  bekannt,  daß 
das  lange  noch  nicht  ein  P  r  o  z  e  n  t  der  Fälle  ist,  in  welchen  diese 
„Übertretung"  wirklich  begangen  wird.  Die  Herren  Gesetzgeber 
und  ihre  Exekutivorgane  haben  die  Wahl,  entweder  die  öffentliche 
Kolportage  zu  gestatten  respektive  den  §  23  P.-G.  a  u  f- 
zuheben  -  oder  zu  sehen,  daß  das  Gesetz  täglich  und  stündlich 
auf  jede  mögliche  Weise  übertreten  wird.  Wenn  die  Herren  glauben, 
daß  auf  diesem  zweiten,  dem  bisherigen  Wege  „die  Achtung  vor 
dem  Gesetz"  in  der  Bevölkerung  wirksam  erhalten  und  verbreitet 
wird,  mögen  sie  es  ruhig  dabei  belassen.  Unsere  Sache  ist  es  ja 
nicht,  uns  darüber  zu  echauffieren.  Für  uns,  für  die  Arbeiterpresse. 
ist  es  einfache  Pflicht  und  Existenzbedingung,  uns  mit  diesem 
Gesetz  abzufinden.  Wir  tun  es,  indem  wir  die  Strafgelder  auf  das 
—  Spesenkonto  schreiben. 

Eines  wird  allerdings  erreicht;  es  wird  verhindert,  daß  die 
Arbeiterblätter  öfter  als  wöchentlich  erscheinen.  Dahin  wirken  ja 
schon  Kaution  und  Stempel,  aber  noch  entschiedener  der  8  33.  Denn 
die  ungesetzliche  Kolportage  erfordert  eine  gewisse  Zeit  zur 
Durchführung  und  läßt  sich  beim  besten  Willen  und  trotz  der 
bewundernswerten  Aufopferung  unserer  Parteigenossen  nicht  leicht 
öfter  als  wöchentlich  einmal  veranstalten.  Dabei  konstatieren  wir 
ausdrücklich,  daß  diese  Verbreitung  n  i  c  h  t  et  w  a  g  e  h  e  i  m  i  s  t, 
wohl  aber  ungesetzlich! 

Es  ist  nämlich  „ungesetzlich"  und  „verbotene  Kolportage",  wenn 
ein   Mann   in   unser  Expeditionslokal   kommt,  dort  zehn  Exemplare 


■"HB  per  Kampf  um  die  Preßfreiheit. 


kauft  und  sie  an  zehn  Arbeitsgenossen  in  der  Werkstatt  weitergibt 
Vielleicht  wird  ein  Freispruch  möglich  sein,  wenn  er  beweisen 
kann,  daß  jeder  der  zehn  Mann  ihm  im  vorhinein  sechs  Kreuzer 
gegeben  und  ihn  mit  der  Abholung  beauftragt  habe.  Aber  unter  zehn 
Richtern  werden  sicher  sechs  entscheiden,  selbst  wenn  dieser  oft 
schwer  zu  erbringende  Beweis  geliefert  wäre,  unser  Mann  habe 
„ohne  Erlaubnisschein  Pränumeranten  gesammelt"  und  sei  schuldig 
der  Übertretung  des  §  23.  Wird  der  Beweis  aber  nicht  erbracht, 
dann  hat  der  Angeklagte  Druckschriften  „außerhalb  der  hiezu 
ordnungsmäßig  bestimmten  Lokalitäten  verteilt  oder  feilgeboten" 
und  ist  um  so  sicherer  schuldig. 

Wir  behaupten  entschieden:  erstens,  daß  keine  Behörde,  von  der 
Polizei  aufwärts  bis  zum  Reichsgericht,  weiß,  wie  der  §  23  aus- 
zulegen sei;  zweitens,  daß  eben  darum  jede  Behörde  in  jedem  ein- 
zelnen Falle  ihn  auslegt,  wie  es  ihr  gerade  paßt;  und  drittens,  daß 
es  keinen  Menschen  in  ganz  Österreich  gibt,  der  nicht  den  §  23 
schon  übertreten  hätte. 

Als  klassischen  Zeugen  für  die  erste  Behauptung  gestatten  wir 
uns,  einen  k.  k.  Polizeikommissär  zu  zitieren,  Dr.  A.  R  o  s  e  n- 
b  a  u  m,  der  jahrelang  im  Preßbüro  der  Wiener  Polizeidirektion 
tätig  war  und  eine  eigene  Broschüre')  über  den  §  23  geschrieben 
hat,  in  welcher  die  Konfusion  sämtlicher  Behörden  sehr  zart  und 
respektvoll,  aber  nicht  minder  erbaulich  geschildert  ist.  Man  denke, 
wie  weit  es  gekommen  sein  muß,  wenn  ein  k.  k.  Polizeikommissär 
findet,  daß  diese  Dinge  „einer  tief  eingreifenden  Reform 
dringend  bedürftig  sin  d",  wenn  man  „den  immer  lauter 
werdenden  Forderungen  des  gewerblichen,  geselligen  und  geistigen 
Lebens  gerecht  werden  will". 

Für  unsere  zweite  Behauptung  werden  wir  einige  Fälle  aus 
unserer  eigenen  Praxis  anführen,  um  sie  aber  zu  beglaubigen, 
zitieren  wir  wieder  eine  unanfechtbare  Autorität.  Ein  öster- 
reichischer Richter,  der  k.  k.  Landesgerichtsrat  Dr.  O.  Granich- 
städten,  hat  vor  kurzem  eine  höchst  verdienstvolle  Sammlung 
von  gerichtlichen  Entscheidungen  in  Preßsachen**)  herausgegeben, 
welche  eines  Ehrenplatzes  in  jedem  Raritätenkabinett  würdig  ist. 
Es  ist  geradezu  ein  kulturhistorisches  Monument,  das  da  enthüllt 
wird.  Man  greift  sich  an  den  Kopf  und  sucht  vergebens,  sich  den 
Qehirnzustand  von  heute  lebenden  Menschen  vorzustellen,  in  deren 
Kopf  solche  Erwägungen  Platz  haben,  wie  sie  in  den  meisten  der 
186  abgedruckten  Urteile  als  „Gründe"  angeführt  werden.  Auch 
zum  §  23  ist  einiges  Material  zu  finden,  allerdings  nicht  sehr  viel. 
In  Nr.  109,  110  und  111  wurden  uns  Erkenntnisse  mitgeteilt,  welche 
dartun,  daß  es  eine  Übertretung  des  Verbots  der  Kolpor- 
tage ist,  wenn  Broschen  mit  eingefügten  Nachbildungen  ver- 
kleinerter  Staatsnoten     oder    Schnupftücher    mit    dem    Bilde    des 


*)   Über   den  nicht   buchhändlerischen   Vertrieb   von   Preßerzeugnissen. 
Wien   1888.  Manz.   (v.  a.) 

**)  Das  Urheberrecht,  Preßgesetz  und  das  objektive  Verfahren,  erläutert 
durch  gerichtliche   Entscheidungen.  Wien   1892.  C.  Konegen.   (v.  a.) 


Der  <$  23  des  österreichischen  Preßgesetzes,  319 

Kaisers  oder  Zigarrenspitzen  mit  dem  Bilde  Schönerers  verkauft 
werden;  das  sind  nämlich  lauter  „Preßerzeugnisse"  oder  „Druck- 
schriften"! Nach  dieser  Auffassung  macht  sich  jeder  Bierwirt, 
dessen  Deckelgläser  die  Aufschrift  führen:  „Wer  nicht  liebt  Wein. 
Weih  und  Gesang,  der  bleibt  ein  Narr  sein  Leben  lang"  oder  ähn- 
liches, der  Übertretung  des  §  23  schuldig,  Aber  die  ältesten  Richter 
und  Staatsanwälte  trinken  unbedenklich  aus  solchen  Glasern.  Jeder 
richtet  eben,  wie  es  jedem  jedesmal  einfällt. 

Recht  nett  ist  auch  der  Fall  Nr.  77.  Am  21.  November  18K0  wurde 
bei  einem  Feste  beim  Schwender  ein  Programm  verteilt,  da 
scherzhaft  abgefaßt  war  und  auf  dem  als  „v  e  r  a  n  t  w  o  r  1 1  i  c  h  e  r 
Redakteur  Niemand  Will  es"  angegeben  war.  Der 
Drucker  A.  wurde  von  der  Anklage,  er  habe  „wissentlich  einen 
falschen  Namen  angegeben",  freigesprochen,  weil  das  Programm  ja 
gar  keine  periodische  Druckschrift  sei.  Hingegen  der  B.,  der  dieses 
Programm  in  300  Exemplaren  an  die  Mitglieder  der  Festsektion 
behufs  Verteilung  an  die  Gäste  übergeben,  wurde  wegen  Über- 
tretung" des  §  23  v  e  r  u  r  t  e  i  1 1.  Und  dann  heißt  es  weiter:  „Der 
von  der  Verteidigung  ausgesprochenen  Ansicht,  daß  im  vor- 
liegen  den. Falle  die  oberwähnten  Restaurations- 
lokalitäten zur  Verteilung  der  Druckschriften 
ordnungsmäßig  bestimmte  waren,  weil  ein  Pflicht- 
exemplar der  k.  k.  Staatsanwaltschaft  drei  Stunden  früher  über- 
geben worden  sei,  bevor  die  Verteilung  der  Druckschriften  statt- 
fand, hatsichderGerichtshofnichtangeschlossen, 
da  das  Hinterlegen  eines  Pflichtexemplars  bei  der  Staatsanwalt- 
schaft allein  noch  nicht  hinreicht,  um  eine  Lokalität  als  zur  Ver- 
teilung dieser  Druckschriften  ordnungsmäßig  bestimmt  erscheinen 
zu  lassen." 

Wie  kann  man  auch  glauben,  daß  zur  Verbreitung  eines  Fest- 
programms der  Festsaal  „die  ordnungsmäßig  bestimmte  Lokalität" 
sei!! 

Selbstverständlich  aber  ist,  daß  auch  diese  absurde  Kautschuk- 
bestimmung des  §  23  gegen  verschiedene  Leute  verschieden  an- 
gewendet wird,  das  heißt  die  politische  Tendenz  bei  ihrer 
Handhabung  die  Hauptrolle  spielt.  Wir  möchten  zunächst  einmal 
wetten,  daß  der  zuletzt  erwähnte  Fall  (der  Name  ist  nicht  genannt) 
einen  Arbeiterverein  betroffen  habe.  Der  „Wiener  Männer- 
gesangsverein" hingegen  oder  eine  ähnliche  Heilanstalt  für  Knopf- 
lochschmerzen hat  gewiß  nie  einen  ähnlichen  Anstand  gehabt.  Dafür 
ist  uns  ein  Fall  bekannt,  wo  ein  Genosse,  der  Zettel  verteilte,  in 
welchen  nichts  als  die  bloße  Ankündigung  eines  Arbeiterfestes  ent- 
halten war,  verhaftet  wurde  und  wegen  Übertretung  des  §  23 
zwölf  Stunden  brummen  mußte,  obwohl  „Ankündigungen  von  öffent- 
lichen Lustbarkeiten"  ausdrücklich  erlaubt  sind.  Aber  es  stand 
darauf:  „Genossen,  erscheint  zahlreich!"  und  nicht  „Herein- 
spaziert, meine  Herren  und  Damen!!"  und  das  war  die  Begründung. 
Denn  wenn  unsere  Genossen  sich  versammeln,  sei  das  mehr  als 
eine  öffentliche  Lustbarkeit,  und  das  ist  freilich  wahr. 


320  Der   Kann'?   um  die  Preßfreiheit. 


Ein  anderer  Fall:  Kein  gewerbliche  Drucksorten  werden  vom 
§  23  nicht  getroffen,  zum  Beispiel  gedruckte  Rechnungen,  Quit- 
tungen usw.,  ebensowenig  wie  Fahrkarten  und  dergleichen.  Da  fiel 
es  dem  Brünner  „Volksfreund4'  ein,  zur  Deckung  seines  Defizits 
(welches  dem  Verbot  der  Kolportage  geschuldet  ist)  eine  Sammlung 
einzuleiten  und  kleine  Marken  als  Quittung  auszugeben,  von  denen 
jede  auf  5  Kreuzer  lautet.  Nebenstehend  ein  ziemlich  «— 
genaues  Faksimile  in  Größe  und  Form.  Sofort  war  die 
ßrünner  Polizei  bei  der  Hand,  beschlagnahmte  alle 
Quittungsmarken  und  klagte  die  Herausgeber  wegen 
„verbotener  Kolportage  von  Druckschriften,  §  23  P.-G."  l 
an;  vom  Polizeikommissär  wurden  sie  auch  wirklich  ver- 
urteilt; das  Bezirksgericht  sprach  sie  frei;  das  Gericht  zweiter 
Instanz,  an  welches  der  Staatsanwalt  appellierte,  hat  noch  nicht 
gesprochen!!  Alle  aber,  Richter,  Staatsanwälte,  Polizisten,  selbst 
der  Polizeikommissär  Dr.  R  u  e  b  e  r,  wissen  ganz  genau,  daß  eine 
Unzahl  Vereine,  zum  Beispiel  der  „Deutsche  Schulverein",  seit 
Jahren  solche  Marken  ausgibt,  daß  ein  „Schneeballen"  für  das 
Deutsche  Haus  in  Brunn  sich  ähnlicher  Drucksorten  bediente; 
aber  —  „gerade  wo  die  Paragraphen  fehlen,  da  stellt  der  §  23  zur 
rechten  Zeit  sich  ein!" 

Minder  harmlos  ist  es  auch,  wenn  jemand  angeklagt  wird,  das 
Verbot  der  Kolportage  übertreten  zu  haben,  weil  er  die  beim 
Bergarbeiterkongreß  vorgeschlagenen  Resolutionen  in 
hektographierten  Abzügen  an  die  Mitglieder  des  Kongresses  ver- 
teilt habe,  ein  Vorgang,  der  in  jedem  Klub,  in  jeder  wissenschaft- 
lichen oder  politischen  Gesellschaft  unter  den  Augen  der  Behörde 
tagtäglich  vorkommt.  Der  Freispruch  erfolgte,  weil  sich  nicht  er- 
weisen ließ,  daß  der  Angeklagte  der  Täter  sei;  daß  die  Tat  selbst 
jedoch  die  Übertretung  des  §  23  involviere,  stellte  der  Richter  aus- 
drücklich fest. 

Am  deutlichsten  wurde  aber  die  politische  Bedeutung  des 
§  23  bei  den  letzten  Wahlen.  Die  Verbreitung  des  Wahlauf- 
rufes der  Sozialdemokraten  hat  unsere  Partei  viele 
Hunderte  von  Gulden  an  Geldstrafen  und  viele  Monate  an  Arrest 
gekostet.  Die  Antisemiten  dürften  auch  einiges  von  Geldstrafen  zu 
erzählen  wissen,  vielleicht  auch  die  Klerikalen.  Jede  Partei,  welche 
sich  wirklich  an  die  Massen  wendet,  also  in  erster  Linie  die  Sozial- 
demokraten, muß  den  §  23  fortwährend  als  Hindernis  vorfinden 
und  —  umgehen.  Freilich,  die  Parteien  der  Geldprotzen,  die  geniert 
er  gar  nicht.  Sie  sind  in  der  Lage,  ihre  Kolportage  zu  be- 
zahlen, und  wer  bezahlen  kann,  der  darf  alles,  für  den  existiert 
auch  der  §  23  nicht.  Die  Parteien,  die  Geld  haben,  stecken  einfach 
ihren  Wahlaufruf  in  einen  Umschlag,  kleben  eine  Zweikreuzermarke 
auf  und  lassen  von  Diurnisten  die  Adressen  schreiben.  Die  k.  k.  Post 
übernimmt  die  Kolportage;  die  Wahlflugblätter  kommen  den  Wäh- 
lern pünktlich  zu  und  wandern  ebenso  pünktlich  in  den  nächsten 
Papierkorb.  Die  Verbreitung  der  Million  Wahlflugblätter  allein  in 
deutscher  Sprache  hätte  uns.  wäre  sie  auf  diesem  Weg  überhaupt 


Der  $  _;.<  des  österreichischen  Preßgesetzes.  321 

möglich,  mehr  als  20.000  El.*)  gekostet!  Da  ist  die  Übertretung  des 
§  JA  entschieden  noch  immer  billiger.  In  Wien  und  an  anderen 
Orten  wurden  einzelne  Genossen  verhaftet  und  verurteilt;  dagegen 
läßt  sich  schließlich  nichts  anderes  einwenden,  als  daß  das  Gesetz 
nicht  für  alle  Parteien  gleich  angewendet  wird,  daß  hei  Sozial- 
demokraten bestraft  wird,  was  „braven"  Leuten  erlaubt  ist. 
Wenige  Wochen  nach  den  Wahlen  zum  Beispiel  wurde  in  ganz 
Wien  auf  allen  Straßen  und  Plätzen  der  Text  der  Thronrede,  mit 
der  der  Reichsrat  eröffnet  wurde,  unter  den  Augen  der  Behörde 
verkauft.  Und  gelegentlich  des  Todes  des  Kronprinzen  Rudolf 
feierte  die  Kolportage  geradezu  Orgien;  Extraausgaben  aller 
Zeitungen  wurden  zu  Tausenden  am  Graben  und  Stephansplatz 
verkauft.  Die  Wächter  der  Sicherheit  waren  blind,  und  uns  loyalen 
Menschen  lief  es  kalt  den  Rücken  hinunter,  als  wir  so  schnöde 
Gesetzesverletzung  ohne  jede  Sühne  sahen! 

Aber  es  gibt  noch  ganz  andere  Auffassungen.  In  Nordböhmen, 
im  Reichenberger,  Gablonzer,  Friedländer  Bezirk,  da  schickten 
Bezirkshauptmann  und.  Gemeindevorsteher  ihre  Gendarmen  und 
Gemeindediener  von  Wirtshaus  zu  Wirtshaus,  aber  auch  von 
Privathaus  zu  Privathaus,  und  den  Leuten  wurde  das  Wahlflugblatt 
der  Sozialdemokraten  ohne  jeden  Schatten  eines  gesetzlichen 
Grundes  einfach  gewaltsam  weggenommen.  Der  Respekt  vor  der 
„Heiligkeit  des  Privateigentums"  ist  auch  seitdem  mächtig  ge- 
wachsen bei  den  hungernden  Hauswebern  und  Glasarbeitern  da 
oben  in  Nordböhmen! 

Das  Verbot  der  Kolportage  greift  tief  ein  in  das  politische,  ja 
das  gesamte  öffentliche  Leben,  und  wirkt  so  lähmend  wie  keine 
andere  Bestimmung  unseres  Knebelungsapparates.  Der  §  23  ist  der 
Feind  der  Verbreitung  von  Wissen,  von  Bildung  an  sich;  ohne 
jede  Rücksicht  darauf,  welche  Meinung  geäußert  wird,  hindert 
er  jede  Meinungsäußerung,  die  Meinung  der  „Gutgesinnten"  in 
der  Praxis  freilich  etwas  weniger  als  die  der  „Aufwiegler"  und 
„Hetzer".  Aber  schließlich  gibt  es  denn  doch  keine  Partei,  die  nicht 
wenigstens  vorgibt,  sich  an  das  Volk  wenden  zu  wollen,  welche 
nicht  gern  volkstümlich  werden  möchte,  und  die  nicht  An- 
strengungen macht,  es  zu  sein.  Darum  kann  es  keine  politische 
Partei  geben,  die  nicht  für  die  Aufhebung  des  §  23  eintreten  müßte 
und  keinen  Politiker,  der  es  wagen  könnte,  ihr  zu  widersprechen. 

Die  Aussichten  der  Preßreform  und  unsere  Taktik. 

Nachdem  wir  das  Labyrinth  unserer  Preßgesetzgebung  flüchtig 
durchstreift,  bleibt  uns  noch  übrig  zu  fragen,  was  von  der  nächsten 
Zukunft  zu  erwarten  sei.  Sicher  ist,  daß  es  keinen  Menschen,  und 
sei  er  selbst  Staatsanwalt  oder  Justizminister,  in  ganz  Österreich 
gibt,  der  es  wagen  würde,  sich  auf  der  Gasse  zu  zeigen,  nachdem 
er  von  unserem  Preßgesetz  auch  nur  ein  gutes  Wort  gesagt.  Alle 
sind  darüber  einig,  daß  es  nichts  gibt,  was  mehr  absurd  und  be- 

")  fl.  war  die  Bezeichnung  für  dulden  (ehemals  Florin).  Ein  üulden  war 
soviel  wert  wie  bei  Einführung  der  Kronenwährung  zwei  Kronen,  also 
etwa  drei  Schilling. 

Adler,  Briefe.    XI.  Bd.  21 


-■522  Der  Kampi  um  die  Preßfreiheit. 


schämend  wäre  als  unsere  Preßzustände,  nichts,  was  mehr  den 
geistigen  Fortschritt  der  Massen  hindert,  nichts,  was  mehr  das 
Niveau  der  politischen  Bildung  herabdrückt  und  niedrig  erhält.  Die 
in  Furopa  beispiellose  Versumpfung  unseres  öffent- 
lichen Lebens  hat,  soweit  nicht  tiefere  historische  Ursachen 
wirken,  zwei  Hauptgründe:  Die  Beschränkung  des  Wahl- 
rechtes und  die  Beschränkung  der  Verbreitung  der 
Presse.  Das  fühlt  jedermann,  der  jemals  die  politischen  Ver- 
hältnisse des  Auslandes  kennengelernt  und  sie  mit  denen  Öster- 
reichs verglichen  hat.  Was  das  Wahlrecht  angeht,  scheitert  zu- 
nächst jeder  Schritt  nach  vorwärts  an  der  Feigheit  der  besitzenden 
Klassen,  an  der  Angst,  mit  welcher  sie  sich  an  ihr  Monopol  klam- 
mern und  an  dem  Wunsche  der  Regierung  —  bequem  zu  regieren. 
In  Österreich  ist  eine  Oktroyierung  des  allgemeinen  Wahlrechtes, 
wie  sie  Bismarck  in  Deutschland  vornahm,  nicht  zu  erwarten.  In 
der  Psychologie  österreichischer  Staatsmänner  fehlt  jeder  Zug,  der 
irgendwie  nach  Mut  aussehen  würde;  ihre  Kunst  erschöpft  sich 
im  Durchfretten  und  Fortwursteln*).  Das  Wahlrecht  wird  darum 
vom  Proletariat  im  ernsten  Kampf  errungen  werden 
müssen. 

Und  nur  um  wenig  besser  steht  es  mit  der  Preßreform; 
aber  doch  immerhin  besser.  Unter  unseren  Preßzuständen  leiden 
freilich  am  meisten  die  besitzlosen  Volksklassen,  aber  die  Be- 
sitzenden doch  auch.  Jeder,  der  im  öffentlichen  Leben  steht  und 
nicht  geradezu  eine  neunzackige  Feudalkrone  im  Wappen  führt 
oder  einen  faustdicken  altliberalen  Zopf  mitschleppt,  leidet  emp- 
findlich darunter,  daß  er  seine  Meinung  nicht  verbreiten  kann.  Jede 
politische  Partei,  ausgenommen  die  in  jedem  Sinne  beschränktesten 
Aristokratien  der  Geburt,  des  Beamtentums  und  des  Qeldsackes, 
will  auf  die  Stimmung  des  Volkes  wirken,  und  jede  findet  an 
unserem  Preßgesetz  ein  schier  unüberwindliches  Hindernis.  Daher 
tauchen  in  jeder  Session  des  Parlaments  eine  ganze  Reihe  von 
Anträgen  zur  Preßreform  auf,  welche  in  mehr  oder  minder  gründ- 
licher Weise  alle  geschilderten  Übelstände  beseitigen  wollen.  Stets 
werden  sie  mit  größter,  allseitiger  Sympathie  aufgenommen  und 
stets  bleiben  sie  unerledigt.  Sie  scheitern  schließlich  immer  an  der 
Feigheit  der  herrschenden  Parteien,  welche  den  Widerstand 
der  Regierung  als  Sündenbock  benützen.  Jawohl,  es  ist 
den  „Liberalen"  aller  Nationen  ein  sehr  bequemer  Vorwand,  daß 
die  Regierung  nicht  will;  es  ist  eine  ihnen  außerordentlich  an- 
genehme und  vorteilhafte  Pose,  wenn  sie  vor  die  Bevölkerung  hin- 
treten können  und  pathetisch  erklären:  „Seht,  wir  sind  ja  die 
Männer  des  Fortschrittes,  w  i  r  wollen  ja  vorwärts  —  aber  leider, 
die  böse  Regierung  will  nicht,  sie  will  nicht!"  Dabei  blinzeln  sie 
während  ihrer  schönsten  Reden  ängstlich  nach  der  Regierungsbank, 
ob  dort  doch  nur  ja  die  Energie  zu  finden  sein  werde,  ihren  Reform- 
eifer zu  dämpfen.  „Halts  mich,  sonst  geschieht  etwas!!"  Das  ist 
ihre  Stimmung. 

*)  Die  Devise  des  Ministerpräsidenten  Grafen  Taaffe.  (Siehe  Bd.  X. 
S.  13*). 


Der  §  23  des  österreichischen  Preügesctzi  323 


Darum  sind  wir  um  so  mißtrauischer  gegen  jeden  Antrag  aui 
Reform  des  Preßgesetzes,  je  umfassender,  je  weitgehender  er  ist. 
Wir  wissen  ans  Erfahrung,  daß  alle  solche  Anträge  stets  mit  gul 
gespielter   Resignation  begraben  wurden,  daß  jeder  Scheingrund, 

den  ein  Minister  vorbrachte,  als  Vorwand  genügte,  um  hinter  den 
fadenscheinigsten  Erwägungen  den  feigen  Rückzug  zu  verbergen. 
Es  ist  kein  Zweifel,  dal.»  uns  auch  diesmal  eine  neue  Aufführung 
der  alten  Komödie  bevorsteht.  Eine  Reihe  umfassender  Preß- 
anträge sind  eingebracht.  Her  Antiag  Foregger*)  bringt  nur 
eine  Anzahl  von  „(i  r  u  n  d  s  ä  t  z  e  n"  zum  Ausdruck,  ist  also 
nicht  mehr  als  eine  Resolution  und  mithin  der  unverbindlichen 
Sympathien  aller  Parteien  des  Hauses  sicher;  er  bedeutet  die  — 
Verschleppung.  Der  Antrag  des  Jungtschechen  Pacäk  ist 
ernster  zu  nehmen;  er  legt  eine  Reihe  von  fertigen  Gesetzentwürfen 
vor,  welche  Kaution  und  Stempel  sowie  das  objektive  Verfahren 
aufheben,  die  24stündige  Frist  für  Einreichung  der  Pflichtexemplare 
nichtperiodischer  Druckschriften,  die  Beschränkungen  der  Ver- 
schleißlizenz und  der  Kolportage  aufheben**).  Diese  Anträge  sind 
einem  Preßausschuß  übergeben  worden,  nachdem  eine 
Generaldebatte  bei  der  ersten  Lesung  stattgefunden,  bei  welcher 
sich  niemand  gegen  die  Reform  erklärte.  Und  doch 
wird  aus  der  umfassenden  Reform  nach  unserer  festen  Über- 
zeugung nichts  werden. 

Wir  haben  den  Vorgang,  wie  er  kommen  wird,  in  der  „Arbeiter- 
Zeitung"  geschildert  und  erlauben  uns  zu  zitieren:  „Eine  Preß- 
reform aus  dem  Vollen,  dafür  ist  unser  Abgeordnetenhaus  nicht 
reif.  Das  »o  b  j  e  k  t  i  v  e  V  e  r  f  a  h  r  e  n«  ist  gewiß  eine  böse  Sache, 
aber  wenn  daran  gerührt  wird,  so  steht  der  Justizminister 
feierlich  auf  und  erklärt,  er  sei  auch  nicht  entzückt  davon,  aber  die 
Reform  des  Strafgesetzes,  des  Strafprozesses  müsse  in  einem 
Stücke  geschehen,  also  —  müsse  gewartet  werden.  Sämtliche 
Abgeordneten,  die  was  von  der  Sache  verstehen,  das  heißt  Juristen 
sind,  zwinkern  verständnisinnig  und  bleiben    sitzen    bei    der    Ab- 

*)  Siehe  in  der  Fußnote  am  Anfang  der  Broschüre  (Seite  301). 

**)  Außerdem  enthalten  diese  Anträge  aueh  Bestimmungen  über  das 
•ßerichtigungsverfahren.  Wir  gehen  darauf  ebensowenig  ein  wie 
auf  die  verschiedenen  Vorschläge  der  Antisemiten,  welche  der  Presse  das 
Lügen  abgewöhnen  wollen.  Alle  diese  Dinge  sind  kindisch;  solange  der 
Kapitalismus  herrscht,  wird  de  kapitalistische  Presse  ein  Geschäft 
sein  und  auch  dem  Geschäft  dienen.  Das  Geschäft  bringt  aber  mit  sich, 
daß  in  politischen  Artikeln  und  in  Inseraten  gleichermaßen  gelogen  wird. 
Daran  wird  kein  Gesetz  etwas  ändern,  sondern  jede  Beschränkung  wird 
eine  Fessel  für  die  Ehrlichen  sein,  ohne  die  Lügen  auch  nur  im  geringsten 
zu  behindern.  Gegen  die  Lüge  gibt  es  nur  ein  gründliches  Mittel:  laut, 
deutlich  und  unaufhörlich  die  Wahrheit  zu  sagen  und  sie  sagen  zu 
dürfen,  also  volle  „Preßfreiheit".  Alle  kleinbürgerlichen  Spielereien  sind 
nur  darauf  berechnet,  Gimpel  zu  fangen  und  sich  selbst  auf  den  Tugend- 
hold hinauszuspielen.  Wollen  die  Antisemiten  das  Lügen  in  der  Presse 
ernstlich  einschränken,  dann  haben  sie  „im  eigenen  Wirkungskreis"  ein 
weites  Feld  der  Betätigung:  sie  mögen  nämlich  nur  einmal  selber  aufhören, 
so  konsequent  und  ungeheuerlich  zu  lügen  wie  bisher,  (v.  a.) 

21* 


324  Her  Kampf  um  die  Preßfreiheit. 


Stimmung.  Wird  der  Zeitungsstempel  angegriffen,  so  wird 
der  Finanz  minister  sich  erheben  und  mit  vibrierender 
Stimme  versichern,  auch  er  sei  ja  wie  jeder  Gebildete  gegen  diese 
Besteuerung  der  geistigen  Nahrung  des  Volkes,  aber  —  leider  - 
er  könne  die  Million  nicht  entbehren,  die  sie  einbringt;  übrigens 
wolle  er  »reiflich  erwägen«  und  »seinerzeit«  selbst  die  Abschaffung 
beantragen,  etwa  zugleich  mit  der  der  kleinen  Lotterie.  —  Und 
wieder  wird  der  Opfermut  des  ganzen  Hauses  auch  diese  Million 
aus  den  Taschen  des  Volkes  auf  den  Altar  des  Vaterlandes  nieder- 
legen." 

Wir  fügen  hinzu,  daß,  wenn  die  Aufhebung  der  Kautions- 
pflicht beantragt  zur  Sprache  kommt,  der  Justizminister  haar- 
klein nachweisen  wird,  daß  der  Kautionsverfall  heute  ein  inte- 
grierender Teil  unseres  Preßstrafrechtes  sei,  daß  also  die  Kaution 
ebensowenig  „einseitig"  aufgehoben  werden  könne  als  das  „ob- 
jektive Verfahren". 

Weil  aber  alle  diese  Reformpläne  in  einem  Antrag  miteinander 
verknüpft  sind,  werden  sie  alle  miteinander  fallen,  und  die  Herren 
Abgeordneten  werden  ihre  Feigheit  w  i  e  bisher  hinter  einem  Wall 
von  mutigen  Redensarten  und  leeren  Ausflüchten  verbergen 
können. 

Einen  Punkt  der  Preßreform  aber  gibt  es,  bei  welchem  gar 
keine  Ausrede  auch  nur  gedacht  werden  kann:  das  ist  die  Auf- 
hebung des  Verbotes  der  Kolportage.  Es  gibt  absolut 
kein  noch  so  fadenscheiniges  Argument,  das  dagegen  vorgebracht 
werden  könnte.  Im  Gegenteil,  der  Finanzminister  wird  reichere 
Stempelerträge  haben,  der  Justizminister  seine  Richter  von  den 
albernen  Kolportageprozessen  entlasten.  Es  gibt  nur  einen  einzigen 
Grund  dagegen,  und  diesen  auszusprechen  wird  man  nicht  die 
Frechheit  haben :  man  will  nicht,  daß  gelesen  werde. 
Es  wird  ein  stummer,  passiver  Widerstand  geleistet  werden,  den 
zu  überwinden  wir  aber  selbst  unserem  Abgeordnetenhaus  zu- 
trauen. 

Denn  alle  Parteien  haben  ein  Interesse  an  der  freien  Ver- 
breitung ihrer  Druckschriften.  Zwei  Ausnahmen  gibt  es  allerdings: 
die  Großgrundbesitzer  (darunter  vor  allem  die  pol- 
nischen Magnaten,  welche  sich  damit  trösten  können,  daß 
sie  mit  Glück  ihre  armen  Hörigen  gehindert  haben,  lesen  zu 
lernen)  und  die  A  1 1 1  i  b  e  r  a  1  e  n,  deren  Typus  der  alte  Herbst 
ist,  welcher  als  Justizminister  im  Jahre  1868  sich  ausdrücklich 
gegen  die  Aufhebung  der  Kolportage  erklärte  in  folgenden  denk- 
würdigen Worten:  „Es  würde  dies  nicht  einmal  im  Interesse 
der  bedeutenderen  Journalistik  liegen  und  würde  viel- 
mehr die  Besorgnis  eintreten,  daß  es  mit  dem,  ich  möchte  sagen, 
berechtigten  Ansehen  und  der  Würde  der  Jour- 
nalistik nicht  recht  vereinbar  wäre,  wenn  die  Zeitungen  auch 
auf  öffentlicher  Straße  zum  Verkauf  angeboten  würden!" 

Herbst  hat  damit  aufgedeckt,  in  wessen  Interesse  die  Be- 
schränkung der  Kolportage  wirkt.  Es  sind  die  großen  „Weltblätter", 
die  Organe  der  Plutokratie,  welchen  sie  ein  Monopol  verschafft. 


Der  §  23  lies  österreichischen  Preügesetz« 


Die  „bedeutendere  Journalistik"  verliert  auch  heute  kein  Wort  für 
die  Freigebung  der  Kolportage  und  die  ..Nene  Freie  Presse" 

schweigt  sich  darüber  in  SO  auffallender  Weise  ans,  daß  auch  dein 
Harmlosesten    ihre    Motive     klar     werden     müssen.     Das     sind     die 

„Fackelträger  l\cv  Aufklärung". 

Trotz  dieses  Widerstandes,  trotz  der  Macht  und  des  Einflusses 
der  Protzenpresse  aber  meinen  wir,  daß  es  nicht  möglich  ist,  daß 
das  Parlament  dieser  Reform  ans  dem  Wege  geht,  wenn  sie 
isoliert  vor  dieselbe  gestellt  wird:  wird  die  Frage  klar  und  rein- 
lich gestellt:  „soll  das  Kolportageverbot  aufrechtbleiben  oder  be- 
seitigt werden?"  wird  jede  Möglichkeit  Flausen  und  Faxen  zu 
machen  beseitigt  dann  muß  selbst  unser  rückständiges  Parlament 
sich  für  die  Beseitigung  aussprechen. 

Die  Taktik  der  Sozialdemokratie  in  der  Frage  der  Preisreform 
mußte  also,  wenn  ein  praktischer  Erfolg  erzielt  werden  soll,  darauf 
hinausgehen,  den  herrschenden  Parteien  jede  Gelegenheit  zum  Aus- 
kneifen zu  nehmen,  ihnen  den  erwünschten  Rückzug  abzuschneiden. 
Das  haben  wir  getan,  indem  wir  die  Freigebung  der  Kolportage 
von  allen  anderen  Fragen  abtrennten  und  als  besonderen,  allein  zu 
behandelnden  Punkt  aufstellten.  Wir  vergeben  uns  dadurch  gar 
nichts:  daß  wir  von  unseren  Forderungen  auch  nicht  ein  Jota 
preisgeben,  weiß  jedermann.  Wir  müssen  aber  hinabsteigen  bis  zu 
dem  Niveau  unseres  Parlaments,  wollen  wir  einen  Fortschritt 
durchsetzen.  Wir  müssen  die  Schönredner  aller  „fortschrittlichen" 
Parteien  zwingen,  endlich  einmal  Farbe  zu  bekennen.  Darum  haben 
wir  die  Frage  der  Kolportage  allein  auf  die  Tagesordnung 
gesetzt,  und  der  Abgeordnete  Pernerstorfe  r*)  hat  einen  dies- 
bezüglichen besonderen  Antrag  eingebracht,  welcher  dem 
Preßausschuß  vorliegt.  Er  enthält  die  Beseitigung  der  Verschleiß- 
lizenz (§  3,  Absatz  5,  P.-G.)  und  die  Aufhebung  des  §  23  Pr.-G. 
Der  Antrag  will  durchaus  nichts  Unerhörtes;  er  ist  den  Be- 
stimmungen, welche  im  Deutschen  Reiche  durch  die  Ge- 
werbeordnung festgesetzt  sind,  nachgebildet,  und  es  gehört  nicht 
der  geringste  Aufwand  von  Mut  für  unsere  Abgeordneten  dazu,  daß 
sie  ihn  annehmen.  Was  in  dem  Deutschland  der  Bismarck  und 
Puttkamer  möglich  ist,  sollte  doch  der  „Freiheit  wie  in  Österreich**) 
nicht  unerschwinglich  sein. 

Noch  eine  Bemerkung:  Es  liegt  dem  Abgeordnetenhaus  auch 
ein  Antrag  der  deutschnationalen  Antisemiten  vor,  welcher  nur  den 
§  3,  Absatz  5,  P.-G.,  also  die  Verschleißlizenz  aufhebt,  den 
Zeitungsverschleiß  aber  dafür  den  Bestimmungen  unserer  Ge- 
werbeordnung unterstellt.  Dieser  Antrag  ist  vielleicht  gut  gemeint, 
aber  halb  und  wertlos.  Aus  dem  Regen  unseres  Preßgesetzes 
kämen   wir   damit   unter   die    Traufe   der   Gewerbeordnung,  deren 


*)  Über  diese  Anträge  siehe  die  Fußnote  oben  (Seite  301). 
)  über  diese  Phrase  siehe  N  ä  h  eres  in  der  Fußnote  beim   Bericht  an 
den   Internationalen   Sozialistenkongreß  in   Brüssel  im   Jahre   1891   in  dem 
zehnten  Band  dieser  Sammlung:,  der  vom  K  a  m  p  f  u  rn  das  W  a  h  1  r  e  c  h  t 
handelt.  (Seite  81.) 


326  Der  Kann»!  um  die  Preßfreiheit. 


S  15  aus  dem  Handel  mit  Preßerzeugnissen  ein  „konzessioniertes 
Gewerbe"  macht,  das  dem  „Befähigungsnachweis"  unterliegt.  Im 
Antrag  Pernerstorfer  ist  mit  gutem  Vorbedacht  ausdrück- 
lich bestimmt,  daß  alle  Einschränkungen,  welche  Gewerbe- 
ordnung und  Hausier  Handelsgesetze  dem  Vertrieb 
von  Druckschriften  auflegen,  aufgehoben  sind.  Das  ist  wichtig,  denn 
die  Fußangeln  unserer  sauberen  Gewerbeordnung  sind  nicht  um 
ein  Haar  besser  als  die  Fallgruben  des  Preßgesetzes. 

Der  Antrag  Pacäk  sagt,  daß  die  Bewilligung  zur  Kolportage 
„unbescholtenen"  Personen  nicht  versagt  werden  darf.  Der 
Ausdruck  „unbescholten"  ist  durchaus  zu  verwerfen,  weil  er  viel- 
deutig ist  und  von  verschiedenen  Behörden  verschieden  aufgefaßt 
wird.  Zum  Beispiel  gibt  es  nach  Ansicht  mancher  Leute  überhaupt 
keine  „unbescholtenen"  Sozialdemokraten  oder  ist  doch  jeder,  der 
irgendeines  der  zahllosen  politischen  „Verbrechen"  sich  hat  zu- 
schulden kommen  lassen  oder  als  Arbeitsloser  mit  dem  Vaga- 
bundengesetz in  Konflikt  gekommen  ist,  nicht  mehr 
„unbescholten". 

Der  Antrag  Pernerstorfer  vermeidet  darum  diesen  zwei- 
deutigen und  schielenden  Ausdruck  und  macht  nur  gewinn- 
süchtige Verbrechen  und  Vergehen  zu  einem  Ausschließungs- 
grund. 

Wie  gesagt,  die  Zumutung,  welche  wir  an  unser  Parlament 
stellen,  ist  eine  sehr  bescheidene.  Aber  nicht  unsere  Forderungen 
sind  so  bescheiden,  sondern  unsere  Erwartungen  von  diesem  Parla- 
ment. Der  Antrag  Pernerstorfer  ist  die  bequemste  Eselsbrücke,  mit 
der  je  schwächlichen  Politikern  unter  die  Arme  gegriffen  wurde! 
Und  doch  ist  es  nur  wahrscheinlich,  aber  keineswegs  sicher,  daß  das 
Abgeordnetenhaus  sich  auch  nur  dieser  so  sehr  erleichterten  Auf- 
gabe gewachsen  zeigen  wird.  Wenn  nicht,  dann  wird  das  Urteil 
des  Volkes  über  diese  Herren  an  Klarheit  nichts  zu  wünschen 
übriglassen.  Sie  wissen  genau,  was  wir  wollen,  die  Resolution, 
welche  wir  zum  Schluß  abdrucken,  ist  jedem  einzelnen  von  ihnen 
mitgeteilt  worden.  Sie  mögen  sich  selbst  die  Folgen  zuschreiben, 
wenn  sie  auch  den  allerbescheidensten  Anforderungen  an  ihren 
Mut  und  ihren  Verstand  nicht  genügen.  Wenn  es  aber  gelingt, 
wenn  die  Beschränkung  an  der  Verbreitung  von  Druckschriften 
fällt,  dann  werden  wir  einen  Fortschritt  zu  verzeichnen  haben,  der 
für  die  gesamte  geistige  und  politische  Entwicklung  Österreichs 
entscheidend  sein  wird.  Nicht  am  wenigsten  aber  wrird  davon 
profitieren  unsere  Partei,  die  Sozialdemokratie.  Daraus  erklärt  sich 
der  Eifer  und  die  Begeisterung,  mit  der  allerorts  unsere  Partei- 
genossen diesen  Kampf  führen.  Sie  sind  sich  sehr  wohl  bewußt, 
daß  es  keine  sozialdemokratische  Forderung  ist,  die  wir 
vertreten;  daß  wir  jedoch  die  traurige,  aber  dringende  Pflicht 
haben,  das  Bürgertum  zu  zwingen,  wenigstens  seine  eigenen 
Forderungen  durchzusetzen;  daß  wir  durch  den  gewaltigen  Druck 
der  Bewegung  des  Proletariats  ersetzen  müssen,  was  ihnen  an 
Mut  fehlt.  Und  wir  tun  das  nicht  um  ihretwillen,  sondern  um 
unsertwillen.   Auf  der  Arbeiterpresse  lastet  das  Verbot  der 


Der  Zeitungsstempel  imii  das  Parlament. 


Kolportage  am  allerschwetsten;  sie  wird  sich  ganz  anders  großartig 

entfalten,  und  mit  ihr  unsere  Bewegung,  wenn  es  Wegfällt. 

Die  Resolution,  welche  eine  Volksversammlung,  einberufen  vom 
politischen  Verein  „(ileichheit"  in  Wien,  beschloß,  faßt  unseren 
Standpunkt  klar  und  präzis  zusammen,  und  mit  ihr  wollen  wir 
unsere  Ausführungen  schließen: 

R  es ol u  t  i  o  ii. 

„In  Erwägung,  daß  unter  allen  Einschränkungen  der  politischen  Frei- 
heit in  Österreich  unsere  durchaus  reaktionäre  und  kulturwidrige  Preß- 
gesetzgebung  die  drückendste  ist: 

daß  insbesondere  das  Verbot  der  Kolportage  im  8  2 3  d i e s e s 
Gesetzes  die  Verbreitung  von  Zeitungen  und  Büchern  zu  einem 
Monopol  der  Besitzenden   macht; 

in  Erwägung,  daß  von  einem  Parlament,  welches  weil  entfernt  davon 
ist,  eine  Volksvertretung  zu  sein  und  nur  einige  Interessenkreise  privi- 
legierter Schichten  vertritt  —  weder  der  ernste  Wille  noch  der  Mut  zu 
erwarten  ist,  einen  entscheidenden  Fortschritt  auf  dem  Gebiet  der  poli- 
tischen Freiheit  durch  Aufhebung  jeder  Preßknebelung  zu  machen; 

daß  voraussichtlich  alle  diesbezüglichen  Anträge  an  dem  Widerstand 
der  Regierung  scheitern  werden,  dem  das  Parlament  sich  gewohnheits- 
mäßig gehorsam  fügt, 

erklärt  die  heutige  Volksversammlung:  eine  gründliche  Reform  der 
Preßgesetzgebung  durch  Beseitigung  von  Kaution,  Stempel  und  jeder  Form 
der  Zensur  ist  allerdings  eine  politische  Notwendigkeit,  aber  von  dem 
reaktionären  Abgeordnetenhaus  nicht  zu  erwarten; 

es  ist  zu  befürchten,  daß  wie  üblich  unter  dem  Vorwand  mehr  zu 
wollen,  das  Parlament  auch  jene  Reform  unterlassen  wird,  welche  auch 
den  reaktionärsten  Parteien  als  selbstverständlich  erscheinen  muß:  die 
Freigebung  der  Kolportage,  die  Beseitigung  des  §  23  P.-G.,  welche  im 
Interesse  aller  Parteien,  welche  nicht  direkt  und  ausschließlich  groß- 
kapitalistische Interessen  vertreten,  liegt; 

fordert  die  heutige  Volksversammlung  darum  die  Abgeordneten  ins- 
gesamt und  jeden  einzelnen  insbesondere  auf,  einen  selbständigen  Dring- 
lichkeitsantrag, der  nur  die  Freigebung  der  Kolportage  enthält,  zu  stellen 
und  zu  unterstützen  und  so  alle  Vorwände,  Ausflüchte  und  Intrigen  gegen 
diesen  kleinen,  aber  bedeutungsvollen  Fortschritt  zu  beseitigen. 

Sollte  das  Parlament  sich  unfähig  erweisen,  auch  nur  diesen  kleinen, 
selbständigen  Schritt  zu  machen,  dann  würde  es  sich  in  den  Augen  de^ 
gesamten  Volkes  als  bar  jeden  guten  Willens  und  jedes 
Funkens  von  politischem  Mute  bloßgestellt  habe  n." 

Der  Zeitungsstempel  und  das  Parlament. 

Versammlung  im  Hern  aiser  Brauhaus  am 
2  5.  Jänner  1899*). 

Wir  sind  eine  revolutionäre  Partei,  das  heißt  eine  Partei,  die 
die  Gesellschaft  vom  Grund  aus  umgestalten  will,  und  wir  werden 
deshalb  oft  Utopisten  genannt.  Zugleich  aber  sind  wir  die  prakti- 

*)  Am  1.  Juni  1898  hatte  die  Regierung  eine  Vorlage  über  die  Auf- 
hebung des  Zeitungs-  und  Kalenderstempels  eingebracht.  Aber  sie  hatte 
es  ebensowenig  eilig  wie  das  Abgeordnetenhaus.  Auch  ein  Dringlichkeits- 


328  Der  Kampi  um  die  Preßfreiheit. 


scheste  von  allen  Parteien,  die  Partei  der  kleinen  Reformen.  Wir 
kennen  unser  letztes  Ziel  sehr  genau,  auf  dem  Wege  dahin  sind 
aber  noch  eine  Menge  Dinge  zu  erledigen,  die  gar  nicht  soziali- 
stisch sind,  die  aber  wir  machen  müssen,  weil  die  anderen  sie  nicht 
machen.  (Beifall.)  Wir  leben  in  einem  kulturell  und  wirtschaftlich 
rückständigen  Land,  aber  noch  weit  hinter  der  wirtschaftlichen 
Entwicklung  ist  die  politische  Entwicklung  zurückgeblieben.  Die 
Aufgabe  unserer  Vertrauensmänner  ist  es,  den  günstigen  Augen- 
blick ausfindig  zu  machen,  wo  wir  wieder  einen  Schritt  vorwärts- 
machen können,  wo  wir  am  leichtesten  in  den  alten  festen  Wall 
der  Vorrechte,  des  Unrechts  und  des  bürokratischen  Zopfes  eine 
Bresche  schlagen  können.  Da  handelt  es  sich  gar  nicht  darum, 
was  das  Wichtigste  ist,  sondern  um  das,  was  das  Möglichste  ist. 
Und  dieselben  Leute,  die  uns  sonst  Utopisten  und  Wolkenkuckucks- 
heimer  nennen,  die  schreien  dann,  daß  wir  Opportunisten  sind. 
Wenn  wir  heute  gegen  den  Zeitungsstempel  mit  solcher  Wucht  los- 
gehen, so  sind  wir  nicht  blind  dafür,  daß  auch  andere  Dinge  ge- 
ändert werden  müssen.  Aber  wir  meinen,  daß  der  Zeitungsstempel 
jetzt  schon  reif  ist;  nicht  reif  für  uns,  für  uns  ist  er  schon  lange 
reif,  aber  reif  für  die  anderen,  so  daß  er  selbst  jenen,  die  ihn  ver- 
treten, lächerlich  geworden  ist.  Die  Frucht  ist  reif,  und  darum 
schütteln  wir  den  Baum.  Der  Redner  besprach  hierauf  die  Ent- 
wicklung der  politischen  Verhältnisse  in  der  letzten  Zeit,  besonders 
das  Wiederaufleben  der  Obstruktion,  an  der  sich  die  Sozialdemo- 
kraten nicht  beteiligten.  Wir  sagten  den  beiden  Parteien:  Wir 
mischen  uns  nicht  in  eure  Streitigkeiten;  aber  das  verlangen  wir 
von  euch,  daß  ihr  den  Zeitungsstempel,  der  euch  allen  beim  Hals 
herauswächst,  erledigt.  Wir  dachten,  wir  würden  dabei  auf  keinen 
Widerspruch  stoßen.  Aber  wir  hatten  uns  gewaltig  geirrt.  Da  stand 
der  Graf  Dzieduszycki  auf,  ein  alter,  weiser  Herr,  der  in 
seinem  Vaterland  dafür  berühmt  ist,  daß  er  viel  Bücher  gelesen 
hat,  ich  glaube  sogar,  er  hat  viele  geschrieben,  aber  die  sollen 
nichts  nutz  sein  (Heiterkeit),  er  gilt  so  gewissermaßen  als  der 
Philosoph  unter  den  galizischen  Grafen.  (Heiterkeit.)  Und  dieser 
Mann  stand  nun  auf  und  hielt  eine  weise  Rede,  die  in  dem  Schluß 
gipfelte,  es  wäre  eine  Beleidigung  der  Presse,  wenn  man  den 
Zeitungsstempel  zu  schnell  abschaffen  würde.  Nun  mußte  man  er- 
warten, daß  nicht  nur  die  Linke,  sondern  auch  die  Rechte,  zu- 
mindest aber  die  Jungtschechen,  die  eine  Unmasse  Anträge  gegen 
den  Zeitungsstempel  eingebracht    haben,    energisch    für    unseren 

antrag  des  sozialdemokratischen  Abgeordneten  R  e  s  e  1,  auf  Aufhebung  des 
Kolportageverbotes  und  des  Zeitungsstempels,  vom  3.  Oktober  1898  blieb 
unerledigt,  ebenso  ein  Antrag  des  Jungtschechen  Dr.  P  a  c  a  k  auf  Ab- 
änderung der  die  Presse  betreffenden  Gesetze  und  ein  christlichsozialer 
Antrag  auf  Aufhebung  des  Zeitungsstempels.  Am  25.  Jänner  1899  ging 
der  Presseausschuß  wieder  daran,  die  Anträge  über  die  Presse  zu 
beraten.  Er  beschloß  neuerlich  die  Aufhebung  des  Zeitungsstempels.  An 
demselben  Tag  fand  abends  im  Hernalser  Brauhaus  eine  Versammlung 
statt,  in  der  Adler  über  das  Thema  „Der  Zeitungsstempel  und  das  Parla- 
ment" sprach. 


I  >ci   /.i  itungsstemp«  i  und  das  I  '.i i  lameut. 

Antrag  eintreten  würden.  Aber  die  Opposition,  die  froh  sein  sollte, 
der  Regierung  ein  Bein  zu  stellen,  hat  gesagt:  Wir  können  nicht 
den  Zeitungsstempel  als  ersten  Punkt  erledigen,  wir  sind  gebunden 
durch  den  Schwur  von  Eger!*)  Mas  Argument  ist  verblüffend:  Die 
Herren  sind  SO  begeistert  für  die  „heiligsten  Güter  der  Nation",  wie 

Herr  Schönerer  sagt,  verabscheuen  die  Regierung  so  sehr,  daß  sie 
ihrer  Sache  das  Opfer  bringen,  ^\cv  Regierung  die  Kastanien  aus 
dem  Feuer  zu  ziehen.  (Richtig!)  Wenn  der  Schönerer  nur  so  viel 

Übuilg  im  politischen  Nachdenken  hätte,  dal!  man  ihm  mit  Argu- 
menten kommen  könnte,  dann  müßte  er  sich  doch  sagen,  dal.»,  wenn 
die  Regierung  einen  Grund  hat,  l\c\\  Zeitungsstempel  nicht  abzu- 
schaffen, es  der  ist,  dal.-)  sie  die  oppositionelle  Presse  nicht  groß 
werden  lassen  will;  dann  müßte  er  sich  doch  sagen,  daß  der  natio- 
nalen Opposition  die  Aufhebung  des  Zeitungsstempels  zwanzigmal 
mehr  nützen  würde  als  hundert  namentliche  Abstimmungen.  (Hei- 
fall.) Und  wenn  der  Herr  Wolf  gerufen  hat:  „Das  ist  ein  Trinkgeld 
für  die  Sozialdemokraten!"  (Rufe:  Eine  schurkische  Verleumdung!) 
Nein,  das  ist  nicht  schurkisch,  denn  Herr  Wolf  hat  damals  wahr- 
scheinlich wieder  einmal  nicht  gewußt,  was  er  redet,  sondern  dumm 
ist  das!  Wir  wollen  den  Zeitungsstempel  aufheben,  und  die  Regie- 
rung will  das  nicht  zugestehen.  Und  der  Wolf  nennt  das  ein  Trink- 
geld. (Gelächter.)  Über  dem  Streit  der  nationalen  Parteien  steht 
für  uns  das  sachliche  Interesse  des  Volkes.  Wir  können  nicht 
warten,  bis  die  Herren  ausgerauft  haben,  und  während  dieser  Zeit 
Österreich  im  Dreck  ersticken  lassen.  Der  Spaß  hört  sich  auf,  wenn 
es  sich  um  ernste,  in  das  ganze  Kulturleben  tiefeinschneidende 
Fragen  handelt.  Dieselben  Herren  Obstruktionisten,  die  jetzt  so 
wild  sind,  daß  sie  von  ihrer  Obstruktion  nicht  lassen  können,  haben 
früher  gegenüber  anderen  Gegenständen,  die  ihnen  am  Herzen 
lagen,  ein  weiches  Herz  bewiesen.  Jetzt  plötzlich  beim 
Zeitungsstempel  geht  es  nicht.  Ich  glaube  nicht,  daß 
es  aus  Schlechtigkeit  geschieht,  die  Leute  sind  einfach  zu  dumm. 
Ihr  Gehirn  ist  so  verklebt  mit  diesen  nationalen  Phrasen,  daß  sie 
für  andere  Dinge  blind  sind.  Genosse  Adler  bespricht  sodann  die 
weiteren  Reden,  die  im  Preßausschuß  gehalten  wurden,  vor  allem 
die  des  Abgeordneten  P  a  c  a  k.  Diese  ist  so  recht  ein  Beispiel  für 
jene  Reden,  bei  denen  man  glauben  könnte,  nur  ein  Idiot  oder  ein 
Schurke  könne  so  sprechen.  Aber  es  stellte  sich  heraus,  daß  e  s 
nur  ein  Politiker  ist,  multipliziert  mit  einem 
Juristen;  ja,  da  findet  man  das  Ganze  begreiflich.  (Lebhafte 
Heiterkeit  und  Beifall.)  Gegenüber  den  Ausführungen  des  Abgeord- 
neten Rutowski**)  bemerkt  der  Redner:  Wir  reißen  uns  wahr- 


*)  Am  12.  Juli  1897  fand  im  Rathaus  in  H^er  ein  „Volkstag"  statt,  auf 
dem  der  heftigste  Kampf  gegen  Badeni  und  seine  Sprachenverordnungen 
beschlossen  wurde.  Der  deutschfortschrittliche  Abgeordnete  Dr.  Funke 
ließ  die  Anwesenden  schwören,  im  Kampfe  nicht  zu  wanken.  Das  war  der 
berühmte  „Schwur  von  Eger".  Als  die  Versammelten  das  Rathaus 
verließen,  wurden  sie  von  Polizei  auseinandergetrieben,  da  die  Versamm- 
lung trotz  des  Verbotes  abgehalten  worden  war. 

'*)    Dr.   Thaddäus   Rutowski,   ein    Pole. 


330  Der  Kampf  um  die  Preßfreiheit. 


haftig  nicht  um  den  Ruhm,  den  Dreck  wegzuräumen;  bei  uns  ist 
es  noch  keine  Großtat,  wenn  man  den  alten  Zopf,  der  stinkt  vor 
Alter  und  vor  Moder,  abschneidet;  das  bringt  der  Dzieduszycki 
auch  zusammen.  Aber  das  Geheimnis  ist  eben  das,  daß  er  es  nicht 
tut,  wenn  er  auch  weiß,  wie  dringend  notwendig  das  wäre.  Es  ist 
gar  nicht  wahr,  daß  diese  Reform  uns  am  meisten  nützen  würde. 
Von  den  2lA  Millionen,  die  der  Zeitungsstempel  einträgt,  zahlt  die 
sozialdemokratische  Presse  höchstens  150.000  fl.  Das  ist  sehr  viel 
für  uns,  aber  blutwenig  im  Verhältnis  zu  den  anderen.  Wenn  aber 
die  Aufhebung  des  Zeitungsstempels  uns  am  meisten  nützen  würde, 
so  können  ja  wir  nichts  dafür.  Das  ist  eben  das  Charakteristische, 
daß  man  überhaupt  keine  Reform  machen  kann,  die  nicht  der 
Sozialdemokratie  in  allererster  Linie  Profit  brächte.  Im  Grunde  ge- 
nommen beruht  ja  die  ganze  Siegessicherheit  der  Sozialdemokratie 
darauf,  daß  jeder  Fortschritt  in  der  Welt  ihr  nützt,  weil  sie  die 
Partei  jener  Klasse  ist,  der  die  Zukunft  gehört.  (Stürmischer  Bei- 
fall.) 

Das  Herrenhaus  und  der  Zeitungs- 
stempel. 

VierVolksversammlungenam2  0.  Dezemberl89  9*). 

Die  Arbeiterschaft  muß  es  als  tief  beschämend  empfinden,  daß 
man  über  eine  Sache,  über  die  in  der  ganzen  Welt  nur  gelacht 
wird,  unter  ernsten  Leuten  noch  ein  Wort  verlieren  muß.  (Stürmi- 

*)  Das  Abgeordnetenhaus  war  obstruiert.  Nachdem  die  deutsche  Ob- 
struktion das  Ministerium  Thun-Kaizl  gestürzt  hatte,  obstruierten  die 
Tschechen  wieder  die  Regierung  C  1  a  r  y,  die  am  1.  Oktober  1899  ins  Amt 
getreten  war.  Immerhin  gelang  es  der  Sozialdemokratie,  durchzusetzen, 
daß  die  Obstruktion  den  Gesetzentwurf  über  die  Aufhebung  des  Zeitungs- 
und Kalenderstempels,  den  die  Regierung  am  18.  Oktober  wieder  ein- 
gebracht hatte,  zur  Verhandlung  ließ.  Auch  der  sozialdemokratische  Ab- 
geordnete R  e  s  e  1  und  der  polnische  Abgeordnete  Dr.  v.  L  e  w  i  c  k  i  hatten 
ihre  Anträge  wieder  eingebracht.  Am  17.  November  wurde  das  Gesetz 
beschlossen.  Nun  setzte  jedoch  der  Widerstand  der  Herrenhäusler  ein.  Am 
14.  Dezember  hatte  das  Herrenhaus  eine  Sitzung.  Aber  der  Präsident  Fürst 
Windischgrätz  hatte  gerade  den  Beschluß  des  Abgeordnetenhauses 
nicht  auf  die  Tagesordnung  gestellt.  Da  setzte  der  Sturm  der  Sozialdemo- 
kratie ein.  Tag  für  Tag  schrieb  die  „Arbeiter-Zeitung"  einen  Artikel  — 
bald  beschwörend,  bald  drohend,  bald  an  die  Ehre  der  Herrenhäusler 
appellierend  —  und  zugleich  veranstalteten  die  Arbeiter  eine  Versamm- 
lung nach  der  anderen.  Am  20.  Dezember  sollte  die  Budgetkommission  des 
Herrenhauses  doch  die  Vorlage  beraten.  Aber  die  Mehrheit  wollte  sie 
kurzerhand  ablehnen.  Da  setzten  die  Anhänger  der  Vorlage  durch,  daß  die 
Minister  geholt  werden,  um  Aufklärungen  zu  geben,  ob  die  Finanzen  des 
Staates  die  Aufhebung  zuließen.  Aber  obwohl  der  Leiter  des  Finanzmini- 
steriums R.  v.  Kniazolucki,  ebenso  auch  die  Minister  des  Innern 
Dr.  v.  Koerber  und  der  Justiz  Dr.  v.  Kindinger  sich  für  die  Auf- 
hebung aussprachen,  vertagte  sich  der  Ausschuß  auf  den  nächsten  Tag, 
wo    er   kurz   vor   der   Haussitzung    noch   einmal   beraten   wollte.   Für   den 


Zehn  fahl 

sehe  Zwischenrufe;  Eine  Schande,  die  wir  nicht  länger  tragen! 
Weg  damit!)  Durch  unsere  unermüdliche  und  kraftvolle  Agitation 
in  Massenversammlungen  und  im  Parlament  haben  wir  es  dahin 
gebracht,  daß  es  heute  keinen  Menschen  in  Österreich  gibt,  der 
die  Notwendigkeit  der  Abschaffung  des  Zeitungsstempels  nicht  be- 
griffe. Seihst  unser  Parlament*  das  zu  keiner  Arbeit  kommt,  in  dein 
alles  stockt,  alles  verstopft  und  erstarrt  ist,  seihst  dieses  Parla- 
ment hat  in  dieser  Sache  einen  ein s  t i  m  m  i  k  c  ii  Beschluß  ge- 
faßt. Das  Herrenhaus  aber  hat  gestern  einen  Beschluß  gefaßt,  nach 
dem  es  ganz  den  Anschein  hat,  als  sollte  uns  diese  Schande  er- 
halten werden.  (Stürmische  Unterbrechung.)  Ja,  wenn  die  Herren 
Kavaliere  dazu  beitragen  wollen,  daß  man  nicht  bloß  „Weg  mit 
dem  Zeitungss tempel!",  sondern  auch  „Weg  mit  dem 
Herrenhaus!"  ruft,  dann  mögen  sie  diese  kleine  Reform  hinter- 
treiben. (Lang  anhaltender,  brausender  Beifall.)  -  -  Dr.  Adler*)  be- 
richtet dann  in  seinem  Schlußwort,  daß  die  Kommission  des 
Herrenhauses  das  Parlament  bereits  verlassen  habe. 
Ob  die  Herren  und  wie  sie  ihre  Arbeit  beendigt,  das  werden 
wir  erst  morgen  erfahren.  Sie  sollen  es  haben,  wie  sie  es 
wünschen.  Ihre  Namen  sollen  nicht  vergessen  werden.  Das  kann 
unsere  Presse  schon  leisten.  Wenn  sie  die  Herren  Kavaliere  nicht 
gescheit  mache,  populär  können  sie  durch  uns  sicher  wer- 
den. (Hundertstimmige  Rufe:  Pfui  Stadnicki!)  Die  kleine. 
Reform,  die  sie  jetzt  verhindern  wrollen,  kann  der  Ausgangspunkt 
einer  großen  Bewegung  werden.  Die  Arbeiter  wrerden  auch  dann 
ihre  Pflicht  tun,  wie  immer.  (Rufe:  „Weg  mit,  dem  Zeitungs- 
stempel!") 

Zehn  Jahre. 

Von  Viktor  Adler. 

„Ar  beit  er -Zeitung",   1,  Jänner   1905. 

Heute  vor  zehn  Jahren**)  haben  wir  den  ersten  Schritt  auf  einer 
schweren  Bahn  gemacht.  Die  Sozialdemokratie  Österreichs  bedurfte 

Abend  wurden  nun  vier  Versammlungen  einberufen,  in  denen  die 
Arbeiter  neuerdings  energisch  die  Aufhebung  des  Zeitungsstemptls  ver- 
langten. In  Favoriten  sprach  Adler. 

Am  nächsten  Tag  entschloß  sich  die  Mehrheit  der  Kammer,  unter  dem 
Druck  der  öffentlichen  Meinung  und  der  Erregung  der  Arbeiterschaft,  doch, 
der  Vorlage  zuzustimmen.  Das  Herrenhaus  beschloß  sogar  die  dringliche 
Verhandlung.  Als  Kompensation  hatten  die  Herrenhäusler  verlangt,  daß 
dafür  die  Kompetenz  der  Geschwornen  für  Presseehrenbeleidigungen  auf- 
gehoben werde,  begnügten  sich  aber  schließlich  mit  einer  Resolution,  in 
der  das  verlangt  wurde. 

Es  war  die  höchste  Zeit;  denn  au  demselben  Tag  trat  die  Regierung 
Clary  zurück  und  es  kam  die  Regierung  W  i  1 1  e  k,  die  sofort  mit  dem 
§-14-Regime  begann. 

Vom  1.  Jänner  1900  an  hörte  der  Zeitungs-  und  Kalenderstempel  auf, 
der  nicht  weniger  als   110  Jahre  die  Presse  bedrückt  hatte. 

*)  Nach  Adler  hatte  Schrammel  gesprochen. 

')   Am    1.   Jänner   1S05   ist   die   „Arbeiter-Zeitung'",   die   bis  dahin   dreimal 


•W2  Der   Kampf  um  die  Preßfreiheit. 


eines  Tagblattes,  sie  war  weit  hinausgewachsen  über  die  Zeit,  wo  sie 
mit  Wochenblättern  das  Werk  der  Agitation  und  Organisation  ver- 
richten konnte.  Der  Walilrechtskampf  hatte  aufgezeigt,  daß  die 
klassenbewußte  Arbeiterschaft  zu  einer  der  stärksten  politischen 
Triebkräfte  emporgediehen  war,  dieser  Kampf  selbst  entwickelte 
lag  für  Tag  mehr  ihre  Kräfte,  die,  sollten  sie  in  lebendig  wirksamen 
politischen  Einfluß  umgesetzt  werden,  mit  jener  Waffe  bewehrt 
werden  mußten,  die  die  wirksamste  ist  im  politischen  Kampfe.  Die 
absolute  Unmöglichkeit,  ein  sozialdemokratisches  Tagblatt  in  Wien 
zu  gründen,  war  soeben  erst  beseitigt  worden.  Der  jahrelange  Feld- 
zug, den  die  Sozialdemokratie  für  die  Preßreform  führte,  hatte  uns 
zwar  vom  Stempel,  Kolportageverbot  Und  objektiven  Verfahren  nicht 
zu  befreien  vermocht,  aber  die  karge  Preßnovelle  des  Jahres  1894 
beseitigte  wenigstens  jene  Bestimmung,  die  die  Erlaubnis,  eine 
Zeitung  öffentlich  zu  verkaufen,  von  der  Gnade  der  Regierung  ab- 
hängig gemacht  hatte.  An  demselben  Tage,  an  dem  diese  Preß- 
novelle kundgemacht  wurde,  erschien  der  Aufruf  der  Parteivertretung 
der  Sozialdemokratie,  der  die  Gründung  des  Tagblattes  ankündigte. 
„Weil  nun  ein  tägliches  Arbeiterblatt  möglich  ist,  ist  es  unsere 
Pflicht,  es  zu  schaffen."  Mit  offenem  Auge  traten  wir  an  die  fast 
verzweifelten  Schwierigkeiten  aller  Art  heran,  die  unserem,  wir 
wußten  es  nur  zu  genau,  tollkühnen  Unternehmen  im  Wege  standen. 
Wie  wir  sie  überwinden  würden,  konnten  wir  nicht  sagen;  daß  es 
gehen  werde,  weil  die  Partei  ein  Tagblatt  haben  müsse,  das  war 
unsere  durch  keine  Schwierigkeit  zu  erschütternde  Überzeugung. 

Und  heute,  nach  zehn  Jahren,  Jahren  des  heißen  Ringens  und 
vielfach  der  bitteren  Sorge,  heute  können  wir  vor  unsere  Partei- 
genossen und  Freunde  hintreten  und  ihnen  mit  freudiger  Genug- 
tuung sagen,  daß  nun  zum  guten  Teile  geleistet  ist,  was  unser  Auf- 
trag war,  daß  die  „Arbeiter-Zeitung"  das  schwerste  Stück  des  Weges 
hinter  sich  hat  und  daß  ihre  Zukunft  gesichert  ist.  Ein  wahres  Be- 
dürfnis ist  es  uns  heute,  allen  den  Organisationen,  allen  den  Hun- 
derten, ja  Tausenden  von  Genossen  aus  vollem  Herzen  zu  danken, 
die  uns  geholfen  haben,  unser  Blatt  zu  dem  zu  machen,  was  es  ge- 
worden ist,  und  den  Freunden  im  Inland  wie  im  Ausland  Dank  zu 
sagen,  die  uns  in  den  schwierigsten  Zeiten  opferwillig  mit  Rat  und 
Tat  zur  Seite  gestanden.  Das  aber  sei  unser  Dank,  daß  wir  dem 
heiligen  Amt,  das  wir  zu  verwalten  haben,  unsere  ganze  Kraft  und 
all  unser  Können  hingeben,  daß  wir  die  „Arbeiter-Zeitung"  immer 
mehr  würdig  machen  der  verantwortungsvollen  Ehre,  Bannerträger 
und  Wortführer  der  österreichischen  Sozialdemokratie  zu  sein. 

Da  wir  aber  beim  Danken  sind,  Dank  auch  unseren  Feinden.  In 
der  Tat,  so  sehr  wir  Kämpfende  der  Liebe  der  Freunde  bedürfen, 
nicht  mindere  Wohltat  ist  es,  daß  uns  die  Feinde  hassen.  Stolz  und 
Genugtuung  ist  es  uns,  daß  wir  mit  gutem  Gewissen  sagen  können, 


wöchentlich  erschienen  war,  in  ein  Tagblatt  umgewandelt  worden.  Ihre 
Vorgängerin  war  die  „Gleichheit"  gewesen,  die  im  Ausnahmszustand  ein- 
gestellt wurde,  worauf  vom  1.  Jänner  18  0  an  die  „Arbeiter-Zeitung",  und 
zwar   zunächst   als   Wochenblatt,  herausgegeben   wurde. 


Zehn  Jahre, 

daß  wir  ihren  Haß  redlich  verdient  haben,  denn  wir  führen  einen 
unerbittlichen  und  unversöhnlichen  Kampf  gegen  die  dumme  Impotenz 

und  l\c\\  bornierten  Übermut  der  Machthaber,  gegen  die  eigen- 
Süchtige  Brutalität  der  Ausbeuter,  gegen  die  lichtscheuen  Teufeleien 
der  Heuchler,  gegen  alle  Lüge  und  allen  Selbstbetrug,  der  in  diesem 

Lande  Trumpf  ist;  wenn  die  «eifernde  Wut  gegen  uns  aufzischt,  so 
nehmen  wir  das  als  Zeugnis  dafür  hin,  daß  wir  unsere  Pflicht  getan. 
Die  sozialdemokratische  Presse  hat  die  Politik  der  Arbeiterklasse 
zu  machen,  sie  ist  ein  wichtiger  Träger  der  Bewegung,  aber  sie  muß 
selbst   von  ihr  getragen   werden.   Das   unterscheidet   ein   wirkliches 
Parteiblatt  von  den  Zeitungsdruckunternehmungen,  mögen  sie  ein- 
gestandenermaßen  bloße  farblose   Nachrichtenblatter   sein    oder    ihr 
Geschäft   in   den   Mantel   einer  politischen   Absicht   hüllen:   die   Ge- 
schäftspresse, auch  die  verbreitetste,  redet    im  besten  Fall    in    die 
Leser  hinein,  die  Arbeiterpresse  spricht  vor  allem  aus  den  Massen 
heraus.    Unsere  Parteiorgane   dienen    gewiß    der   Verbreitung    der 
sozialistischen  Idee,  aber  vor  allem    sind  sie    das  Mundstück    des 
Willens  und  des  Interesses  der  Arbeiterklasse.  Der  begabteste  Jour- 
nalist kann  höchstens  heute    schreiben,    was    seine  Leser    morgen 
lesen  und,  wenn  er  geschickt  ist,  vielleicht  ihm  glauben  werden;  der 
sozialdemokratische   Schriftsteller    spricht    aus,    was   Überzeugung, 
mehr  oder  minder  bewußtes  Wollen  von  Hunderttausenden  ist.  In« 
dem  aber  die  Arbeiterpresse  den  Willen  des  Proletariats  formuliert, 
indem  sie  den  Inhalt  seiner  Empfindungswelt  ihm  selbst  zum  deut- 
lichen Bewußtsein  und  zum  Ausdruck  bringt,  wirkt  sie  zurück  auf 
diesen  Willen,  auf  diese  Empfindungen.  Weil  aber  die  sozialdemo- 
kratische Presse   nicht   zu   irgendeinem    amorphen  Publikum    ohne 
inneren  Zusammenhang  spricht,  weil  sie  zu  einer  organisierten  Masse 
redet,  die  zu  geordnetem  und  planmäßigem  Handeln  fähig  und  bereit 
ist,  darum  ist  sie  etwas  wesentlich  anderes  und  mehr  als  das  Organ 
irgendeiner  öffentlichen  Meinung,  die  selten  zur  Helligkeit  eines  ge- 
meinsamen Bewußtseins  anwächst.  Weil  dem  aber  so  ist,  so  ruht  auf 
unserer  Parteipresse  auch  eine  um  so  höhere  Verantwortung,  deren 
sie  sich  zu  jeder  Stunde  voll  bewußt  sein  muß.  Wie  ihre  beste  Kraft 
aus  den  Tiefen  quillt,  so  ist  ihre  Leistung  ernster  Wirkung  sicher: 
das  ist  die  Würde  der  sozialdemokratischen  Presse,  das  ist  der  Grund 
des  Ansehens,  das  ihr  auch  der  Gegner  nicht  versagen  kann. 

Schwer  hat  oft  diese  Verantwortung  auf  uns  gelastet  in  diesen 
zehn  Jahren.  Es  ist  kein  leichtes  Stück  Arbeit,  die  Politik  der  Ar- 
beiterklasse in  Österreich  zu  machen:  in  diesem  Lande,  das  von 
allen  guten  Geistern  verlassen  scheint,  wo  der  Fuß  bei  jedem  Schritt 
in  den  Sumpf  versinkt,  dessen  herrschende  Schichten  kurzsichtig 
und  feige  den  Staat  im  Chaos  verkommen  lassen,  wo  die  mächtigen 
Gegner  der  Arbeiterklasse  fast  mehr  verächtliches  Mitleid  als  leiden- 
schaftlichen Haß  herausfordern,  wo  alles  weichlich  und  verludert,  wo 
Klarheit,  Festigkeit  und  Konsequenz  ganz  unerhört  und  fremdartig 
erscheinen.  Trotzdem,  oder  noch  mehr  gerade  darum:  Wer  dazu 
verdammt  ist,  mit  offenen  Augen  in  Österreich  zu  leben,  muß  ver- 
zweifeln,   wenn    er   nicht   Sozialdemokrat   ist,    wenn    er   nicht    seine 


334  Der  Kampi  uiii  die  Preßfreiheit. 


Hoffnung  setzt  auf  die  Arbeiterschaft,  das  einzige,  was  gesund  und 
kräftig  geblieben  ist  in  diesem  Lande.  Der  Adel  verkommend  in  Un- 
bildung und  Aberglauben;  das  Bürgertum  in  nationale  Gruppen  zer- 
rissen, bald  von  chauvinistischem  Rausch  gepackt,  bald  von  leidigem 
Katzenjammer  niedergedrückt;  die  Bauern  von  bitterer  Not  ge- 
schüttelt, aber  unfähig,  sich  aufzuraffen,  unfähig  auch,  sich  ihren 
klerikalen  Ausbeutern  zu  entziehen:  Nirgends  Selbstvertrauen, 
nirgends  fester  zielbewußter  Wille,  nirgends  auch  nur  der  Mut,  den 
Tatsachen  ins  Gesicht  zu  sehen.  Dabei  die  wirtschaftliche  Entwicklung 
gehemmt;  die  Verwaltung  im  Banne  verzopfter  Einrichtungen,  die 
abzuschütteln  mehr  noch  als  die  Einsicht  der  Mut  fehlt;  ein  Unter- 
nehmertum, dessen  Raubgierinstinkte  nicht  durch  Einsicht,  aber 
durch  Mangel  an  Wissen  und  Energie  im  Zaume  gehalten  werden; 
ein  Kleinbürgertum,  das  die  Beute  jesuitischer  Demagogen  geworden 
ist  und  dessen  einziger  Fortschritt  die  beginnende  Enttäuschung  ist, 
aber  ohne  die  Kraft,  sich  zur  Erkenntnis  zu  erheben:  Will  man  ein 
Gesamtbild  haben,  man  sehe  auf  das  Parlament  hin,  diese  Stätte  der 
Verzweiflung  und  der  Lächerlichkeit. 

Und  nun  blicke  man  auf  die  Arbeiterschaft  hin,  auf  die  Entwick- 
lung, die  sie  in  den  letzten  zwei  Jahrzehnten  unter  der  Führung  der 
Sozialdemokratie  genommen  hat.  Wir  sind  die  letzten,  die  blind  sind 
gegen  unsere  eigenen  Schwachen,  wir  empfinden  es  täglich  mit 
Schmerzen,  wie  auch  wir  mit  allen  Lastern  und  Erbübeln  des  öster- 
reichertums  geschlagen  sind;  das  Proletariat  ist  keineswegs  immun 
gegen  die  Verseuchung,  aber  es  ist  kräftig  genug,  den  Giftstoff  aus- 
zuscheiden, seine  Entwicklung  ist  traurig  gehemmt,  aber  nicht  unter- 
bunden. Diese  Arbeiterschaft,  die  von  der  hohen  Weisheit  unserer 
Regierenden  mit  dem  Polizeistock  geschurigelt,  mit  offener  Gewalt 
und  mit  allen  Niederträchtigkeiten  der  Korruption  systematisch  am 
Boden  gehalten  wurde,  hat  es  vermocht,  sich  zu  erheben  und  ihre 
Aufwärtsbewegung  wird  einst  als  der  einzige  große,  kulturelle  Fort- 
schritt, den  Österreich  in  diesen  Jahren  gemacht  hat,  erkannt  werden. 
Aus  Gedrücktheit  und  Verachtung  hat  sich  der  Arbeiter  erhoben 
zum  stolzen  Bewußtsein  seiner  Menschenwürde;  er  hat  den  Willen 
gefunden,  sein  Recht  in  Anspruch  zu  nehmen  und  es  in  langem, 
zähem,  opfervollem  Kampfe  zu  erobern.  Die  Mittel  der  politischen 
Betätigung,  Versammlungsrecht,  Vereinsrecht,  die  man  ihm  vor- 
enthielt, indem  man  das  Gesetz  mit  Füßen  trat,  hat  er  sich  erkämpft 
und  hat  den  alten  Kautschukparagraphen  jugendliche  Elastizität,  aber 
nun  zu  seinen  eigenen  Gunsten  zu  geben  gewußt.  Die  Fesseln  der 
Presse  hat  er  gelockert,  indem  er  sie  verächtlich  ignorierte,  über  die 
Albernheit  des  Kolportageverbots  hinwegschritt  und  den  Preßver- 
folgungen die  Stirne  bot.  Das  elende  Minimum  von  Koalitionsrecht 
hat  er  auszuweiten  verstanden  und  sich  eine  umfassende  gewerk- 
schaftliche Organisation  zu  geben  vermocht,  die  sein  berechtigter 
Stolz,  wie  die  Stütze  und  die  Hoffnung  seiner  Lebenshaltung  ist. 
Durch  genaue  Gesetzeskenntnis  und  unnachgiebigen  Kampf  für  sein 
Recht  hat  er  die  Willkür  der  unwissenden  und  frivolen  Bureaukratie 
gebrochen,  für  die  er  Freiwild  gewesen,  und  hat  sich  den  ihm  schul- 


Zehn  Jahre. 

digen  Respekl  in  aller  Ämtern  erstritten.  In  diesem  Österreich,  d 
an  der  Unfähigkeit  zugrunde  geht,  den  Nationen  ihr  Recht  zu  «eben 
und  ihr  Zusammenleben  vernünftig  zu  ordnen,  hat  die  klassenbewußte 
Arbeiterschaft  eine  große,  geeinigte  sozialdemokratische  Partei  auf- 
gerichtet, die  das  Proletariat  aller  Zungen  umfaßt,  die  nach  einem 
wohldurchdachten  umfassenden  Programm  ihre  politische  Arbeit 
planmäßig  und  gemeinsam  verrichtet  und  die  täglich  mehr  die  Hoff- 
nung und  die  Zuflucht  aller  ausgebeuteten  Klassen  wird.  Diese  Ar- 
beiterschaft hat  während  dieser  ganzen  Zeit  einen  unausgesetzten, 
opfervollen  Kampf  um  ihr  Wahlrecht  geführt  und  hat  jedes  Zuge- 
ständnis ausgenützt,  um  diesen  Kampf  wirksamer  zu  gestalten.  Auf 
diese  sozialdemokratische  Arbeiterschaft  sind  in  Hoffnung  oder 
Furcht  die  Augen  aller  politisch  Denkenden  gerichtet;  sie  dringt 
Schritt  für  Schritt,  langsam  aber  unaufhaltsam  vor,  wird  durch 
keinen  Sieg  übermütig  und  durch  keine  Niederlage  erschreckt. 

Zugleich  aber  mit  dieser  Erhebung  aus  der  Stumpfheit,  mit  dieser 
Aufrichtung  einer  gewerkschaftlichen  und  politischen  Organisation 
geht  eine  vielgestaltige  Entfaltung  proletarischen  Lebens.  Eine  an- 
sehnliche Frauenbewegung  wuchs  empor,  die  proletarische  Jugend 
sammelt  sich  unter  verständiger  Führung  und  sucht  sich  ernst  und 
würdig  auf  die  Aufgaben  des  erwachsenen  Arbeiters  vorzubereiten. 
Ein  wahrer  Heißhunger  nach  Wissen,  nach  Kunst,  nach  den  höchsten 
und  edelsten  Schätzen  der  Kultur  ist  im  Proletariat  erwacht,  und  die 
wenigen  Männer  der  Wissenschaft,  die  guten  Willens  sind,  diesen 
Hunger  in  selbstloser  Arbeit  zu  stillen,  haben  nicht  Hände  genug, 
um  ihre  Gaben  darzureichen.  Und  diese  ganze  gewaltige  Bewegung 
in  allen  ihren  Formen  ist  beherrscht  und  geleitet  von  dem  einen 
großen  Gedanken  der  Sozialdemokratie,  von  dem  Gedanken  der 
Emanzipation  der  Arbeiterklasse  durch  ihre  ureigene  Tat. 

Diese  Tatsache  der  Erhebung  der  Arbeiterklasse  ist  der  Trost, 
ist  die  Hoffnung  von  uns  allen.  So  sehr  man  das  völkerverwüstende 
Österreich  hassen  mag,  die  Völker,  die  auf  diesem  österreichischen 
Boden  leben,  sie  muß  lieben,  wer  sie  kennt,  wer  diese  Fülle  von 
reichster  Begabung,  von  Tapferkeit,  von  Fähigkeit  zur  Hingebung 
erkannt  hat.  Ganz  zu  ruinieren  vermochte  auch  Österreich  seine 
Völker  nicht;  sie  sind  unverwüstlich  und  sie  werden  emporblühen, 
wenn  sie  erst  die  Galeerenfessel  vom  Fuße  zu  streifen  vermocht. 

Dieser  österreichischen  Arbeiterbewegung  zu  dienen,  auf  vor- 
geschobenem Posten  zu  dienen  und  ihr  die  opferfordernde  Bahn  zu 
brechen,  das  ist  das  Amt,  ist  die  Ehre  unserer  Zeitung.  Wir  können 
unserer  Pflicht  nur  genügen,  wenn  wir  das  Vertrauen  der  organi- 
sierten Arbeiterschaft  Österreichs  haben,  wenn  wir  als  Soldaten  in 
der  internationalen  Kampfreihe  stehen.  Den  Wortführern  des  inter- 
nationalen Sozialismus  aber,  die  uns  an  diesem  Tage  des  feiernden 
Gedenkens  ihre  Grüße  gesendet,  danken  wir  herzlich.  Und  mag  uns 
auch  manches  ihrer  Worte  überschwenglicher  Anerkennung  fast 
noch  mehr  beschämen  als  rühren,  wir  wissen  ihnen  Dank  für  dieses 
Wort  des  Vertrauens,  der  Stärkung  zu  unserer  harten  Arbeit.  Den 
Genossen  und  Genossinnen   aber  diesseits   wie  jenseits   der  Grenz- 


33ö  Der   Kampf  um  die   Preßfreiheit. 


pfähle,   allen   den    armen,   ausgebeuteten    und   gedrückten   Menschen. 

denen  wir  in  Blutbruderschaft  verbunden  sind,  ihnen  erneuern  wir 
heute  das  Gelöbnis  der  Treue,  der  Hingebung  an  die  Sache  der  welt- 
umfassenden Kampfgemeinschaft,  an  die  heilige  Sache  der  internatio- 
nalen Sozialdemokratie! 

Nun  aber,  Genossen,  hinein  in  den  Kampf  des  zweiten  Jahrzehnts. 
Schwere  Zeiten  liegen  hinter  uns,  härtere  noch  stehen  uns  vielleicht 
demnächst  bevor.  Dieses  sieche  Österreich,  das  sich  wie  ein  Tod- 
kranker auf  dem  Lager  wälzt,  weil  es  nicht  den  Mut  zu  dem  Ent- 
schlüsse hat,  gesund  zu  werden,  scheint  wieder  einmal  vor  einer 
neuen  Wendung  zu  stehen,  die,  ach,  so  alt  sein  dürfte.  Die  sozial- 
demokratische Arbeiterschaft  hat  allen  Grund,  fest  zu  stehen  und  alle 
ihre  Kraft  zusammenzufassen,  um  der  Forderung  des  Augenblicks 
gewachsen  zu  sein.  Das,  was  da  kommt,  wird  kaum  eine  unserer 
Hoffnungen  erfüllen,  kann  aber  neue  Gefahren  heraufführen.  Und 
unsere  gefährlichsten  Gegner  machen  sich  bereit;  alle  schlimmsten 
Mächte  der  Vergangenheit  erheben  sich,  um  die  Quellen  der  Zu- 
kunft unserer  Völker  zu  verschütten.  Der  einzige  Schutz,  der  einzige 
kampffähige  und  kampfentschlossene  Hort  dieser  Zukunft  ist  die 
sozialdemokratische  Arbeiterschaft,  der  wir  als  Neujahrsgruß  zurufen : 
Bereit  sein  ist  alles!  Rüstet  euch! 


Dem  „Volksfreund"  zu  seinem  Feste. 

„Volksfreund",  189  1*). 

Ein  einziges  Fest  ist  es,  das  heute  in  Brunn  gefeiert  wird.  Der 
„Volksfreund"  hat  eine  Lebensdauer  erreicht,  die  noch  keinem  poli- 
tischen Arbeiterblatt  in  Österreich  beschieden  war.  Zehn  volle  Jahre 
dient  er  treulich  dem  sozialdemokratischen  Gedanken,  und  es  waren 
sämtlich  Kriegsjahre,  welche  doppelt  zählen.  Welcher  Aufwand  von 
geistiger  Arbeit,  von  unbezwinglichem  Mute,  von  rastloser  Zähigkeit 
liegt  in  der  Leistung  dieser  zehn  Jahrgänge! 

In  jedem  Lande  ist  die  Leistung  eines  Arbeiterblattes  unaus- 
gesetzter Kampf:  Kampf  gegen  die  Ausbeuterklasse  und  ihre  Organe, 
Kampf  gegen  die  Übergriffe  einzelner  Ausbeuter,  Kampf  gegen  den 
Feind,  den  wir  am  tiefsten  hassen,  gegen  den  systematisch  gezüch- 
teten, mit  allen  gesetzlichen  und  ungesetzlichen  Mitteln  aufrecht- 
erhaltenen Unverstand  der  Massen. 


*)  Als  der  Brütiner  „Volksfreund"  im  Februar  1891  das  Fest  seines 
zehnjährigen  Bestandes  feierte,  schrieb  Victor  Adler  für  die  Jubiläums- 
ausgabe des  Blattes  einen  Aufsatz,  der  aber,  .wie  fast  der  gesamte  Inhalt 
der  Festnummer  des  „Volksfreundes",  konfisziert  wurde.  Der  zehnte 
Todestag  Victor  Adlers,  an  dem  auch  die  deutschen  Genossen  der  Tsche- 
choslowakei dankbar  seiner  engen  Verbundenheit  mit  der  Arbeiterbewe- 
gung der  Sudetenländer  gedachten,  erschien  der  dortigen  Parteipresse  als 
geeigneter  Anlaß  zur  Veröffentlichung  dieses  bisher  ungedruckten  Auf- 
satzes, der  auch,  nach  mehr  als  siebenunddreißig  Jahren,  noch  ungemein 
zeitgemäß  schien. 


Dem  „Volksfreund"  zu  seinem  Feste.  337 

In  jedem  Lande  erforderl  die  Führung  eines  sozialdemokratischen 
Blattes  nicht  nur  Qeisl  und  Wissen,  sondern  auch  Charakter  und 
Opfermut  in  einem  Grade,  welcher  eben  nur  in  unserer  Partei  zu 
linden  ist.  Der  Journalist,  welcher  seine  Dienste  der  bürgerlichen 
Presse  widmet,  genießt  Ansehen  und  Einfluß.  Vor  ihm  öffnen  sich 
alle  Türen:  mag  seine  Käuflichkeit  und  Ignoranz  weltbekannt  sein, 
alles  beugt  sich  vor  dem  „öffentlich  Meinenden".  Der  Redakteur 
eines  Arbeiterblattes,  der  zumeist  sich  aus  eigener  Kraft  hinauf« 
gearbeitet  hat  zu  Wissen  und  Urteil,  der  nichts  sein  nennt  als  das 
warme  Herz,  welches  die  Leiden  des  Volkes  empfindet,  die  unbe- 
stechliche Überzeugung  von  der  klar  erkannten  Wahrheit,  den 
stolzen  Mut  und  die  unüberwindliche  Siegessicherheit,  welche  dem 
Vorkämpfer  der  revolutionären  Klasse  Worte  des  schneidenden 
Hohnes  für  die  Mächtigen,  Worte  der  Aufklärung  und  Ermutigung 
für  die  Unterdrückten  in  den  Mund  legt  —  was  bietet  ihm  die 
heutige  Welt?  Ein  Proletarierleben  voll  rastloser  Arbeit  und  - 
den  Kerker,  vielleicht  die  Verbannung. 

Ein  Arbeiterblatt  in  Österreich  aber  hat  doppelte  Lasten  zu 
tragen.  Mitten  unter  Ruinen,  die  nicht  fallen  wollen,  muß  das  Banner 
der  neuen  Zeit  aufgerichtet  werden.  Mitten  unter  der  Verknechtung 
und  Knechtseligkeit  muß  das  freie  Wort  in  die  Welt  gerufen  werden. 
Wo  es  verpönt  ist  u  n  d  b  e  s  t  r  a  f  t  w  i  r  d,  die  Wahr- 
heit  zu   sagen,   muß   die   Wahrheit  gesagt   werden. 

Die  sozialdemokratischen  Schriftsteller  in  Österreich  müssen 
nicht  nur  schreiben  lernen  unter  polizeilicher  Aufsicht,  mit  der 
Kette  des  Galeerensklaven  am  Fuß  — ,  sie  müssen  ihre  Leser  auch 
das  lesen  lehren,  was  sie  nicht  schreiben  dürfen. 

Von  den  materiellen  Schwierigkeiten,  welche  sich  bei  uns  der 
Arbeiterpresse  entgegensetzen,  wollen  wir  nicht  erst  reden.  Es  ge- 
hört die  ganze  Opferfähigkeit,  welche  das  Proletariat  immer  und 
überall  bewiesen  hat,  dazu,  um  sozialdemokratische  Blätter  in 
Österreich  möglich  zu  machen,  um  ihnen  Bestand  und  Verbreitung 
zu  sichern. 

Als  vor  zehn  Jahren  der  „Volksfreund"  in  Brunn  gegründet 
wurde,  war  die  österreichische  Arbeiterbewegung  im  Ansteigen  an 
Ausdehnung  und  Bedeutung  begriffen.  Aber  schon  zeigten  sich  die 
ersten  Symptome  jener  unseligen  Spaltung,  welche  alles,  was 
gewonnen  war,  wieder  zerstörte.  In  weiterer  Folge  wurden  alle 
Organisationen  vernichtet,  Arbeiterblätter  eingestellt  und  eine  Reihe 
von  Jahren  hindurch  war  der  „Volksfreund"  das  einzige  deutsche 
sozialdemokratische  Blatt  in  Österreich.  In  dem  Kampf,  welcher 
unsere  Partei  zerfleischte,  stand  der  „Volksfreund"  auf  der  Se'te 
der  sogenannten  „Gemäßigten".  Nichts  liegt  uns  ferner,  als  die  Ge- 
spenster jener  bösen  Zeit  heraufzubeschwören,  als  alte,  heute  ver- 
narbte Wunden  aufreißen  zu  wollen.  Aber  wie  immer  man  darüber 
urteilen  mag,  auf  welcher  Seite  damals  Wahrheit  und  Recht  waren, 
jeder  Genosse  wird  heute  gerecht  und  objektiv  anerkennen,  der 
„Volksfreund"  hat,  was  er  für  recht  hielt,  mit  Geschick  und  Über- 
zeugung   verfochten    und,    was    die    höchste,    sehr    oft    aber    die 

Adler,  Briefe.   XI.  Bd.  22 


338  Der  Kampf  um  die  Preßfreiheit 

schwerste  Pflicht  jedes  Genossen  ist,  niemals  hat  er  über  dem  Streite 
der  Meinungen  im  eigenen  Lager  den  gemeinsamen  Kampf,  den 
gemeinsamen  Gegner  vergessen.  In  der  dann  folgenden  schweren 
Zeit  haben  die  Brünner  Genossen  das  getan,  was  sie  nach  bester 
Überzeugung  für  ihre  Pflicht  hielten,  haben  sie  die  Fahne  nicht 
sinken  lassen,  sie  rein  und  unbefleckt  erhalten. 

Wie  die  Aufgabe  der  Arbeiterpresse  in  Österreich  eine  weit 
schwierigere  ist,  als  überall  sonst,  so  ist  auch  ihre  Bedeutung  für 
die  Sozialdemokratie  eine  andere  und  größere.  Denn  nicht  nur  die 
Vertretung  unserer  Prinzipien  liegt  ihr  ob,  nicht  nur  den  politischen 
Kampf  hat  sie  zu  führen,  sie  hat  bei  dem  zurückgebliebenen  Zustand 
unseres  Vereinsrechtes  auch  den  Kern  zu  bilden  für  die  Organi- 
sationen. Und  diese  Aufgabe  ist  vielleicht  die  schwerste  und  ver- 
antwortungsvollste von  allen.  Der  „Volksfreund"  hat  gerade  in  der 
trübsten  Zeit,  wo  jedes  Band  fehlte,  gehindert,  daß  die  letzten  Fäden 
rissen,  er  hat  sehr  viel  dazu  beigetragen,  daß  die  Anknüpfung  wieder 
möglich  wurde,  als  die  sozialdemokratische  Bewegung  aufs  neue 
überraschende  und  große  Fortschritte  machte. 

So  ist  es  denn  kein  Wunder,  daß  wir  ihn  lieben,  den  „Volks- 
freund", und  daß  sie  ihn  hassen,  die  —  anderen.  Dankbare  An- 
erkennung, Zeichen  inniger  Freundschaft  werden  dem  Jubilar  von 
allen  Freunden  des  arbeitenden  Volkes  dargebracht  werden,  aber 
die  bittere  Galle,  die  kläffende  Verleumdung,  die  niedrige  Scheel- 
sucht der  Feinde  des  Volkes  wird  nicht  fehlen.  Das  eine  ist  zu  Ehren 
für  ihn,  wie  das  andere. 

Zehn  Jahre,  welcher  kleine  Zeitabschnitt,  aber  welchen  un- 
geheuren Fortschritt  umfaßt  er!  Die  ökonomische  Umwälzung  geht 
auch  in  Österreich  in  einem  rapiden  Tempo  vorwärts.  Die  Dinge 
werden  reif.  Und  dafür,  daß  die  Menschen  reif  werden,  dafür  hat  der 
„Volksfreund"  wacker  gearbeitet,  unzählige  Proletarierherzen  hat 
er  erwärmt,  unzählige  Proletariergehirne  erhellt  und  sie  reif  ge- 
macht, Kämpfer  zu  werden.  Kämpfer  zu  werben  für  die  heilige 
Sache  der  Menschheit,  für  die  internationale  Sozialdemokratie. 

Und  in  diesem  Sinne  bringen  wir  österreichischen  Sozialdemo- 
kraten den  Brünner  Genossen  heute  unsere  Glückwünsche  dar,  in 
diesem  Sinne  wünschen  wir,  daß  ihnen  vergönnt  sein  möge,  erfolg- 
reich wie  bisher  den  Kampf  zu  führen,  in  diesem  Sinne  hoffen  wir, 
daß  der  „Volksfreund"  den  Sieg  des  Volkes  erlebe. 

Dr.  Victor  Adler  (Wien). 

Das  Jubiläum  des  „Vorwärts". 

Berliner  „Vorwärts,  31.  März  1909*). 
Das  Jubiläum  des  „Vorwärts"  stellt  uns  die  ebenso  über- 
raschende  wie   unleugbare  Tatsache   vor   Augen,    daß    ein   volles 

*)  Dieser  Artikel  ist  unter  dem  Titel  „Vor  fünfundzwanzig 
Jahren"  zum  Jubiläum  des  Berliner  „Vorwärts"  erschienen.  Alles  Nähere 
zum  Verständnis  enthält  der  Artikel  selbst.  (Siehe  auch  Eduard  Bern- 
stein. „Die  Geschichte  der  Berliner  Arbeiterbewegung",  Band  II,  Seite  120.) 


I  ).is   Jubiläum   des    „Voi  w  äi  ts". 


Vierteljahrhunderf  verflossen  ist,  seit  wir  die  erste  Nummer  des 
„Berliner  Volksblatt"  in  Händen  hielten.  Das  war  ein  Ereignis  nicht 

nur  für  Berlin,  sondern  auch  für  Wien!  liier  hatte  wenige  Wochen 
vorher,  linde  Jänner,  die  Verhängung  des  Ausnahmezustandes  jeder 
sozialdemokratischen  Agitation,  jeder  Organisation  ein  jähes  Ende 
bereitet.  Unsere  Presse  war  dein  Tode  geweiht.  Es  war  die 
schlimmste  Zeit,  die  unsere  Bewegung  in  Österreich  durchzumachen 
hatte.  Um  so  größere  Bedeutung  hatten  damals  alle  Beziehungen 
zur  deutschen  Bewegung.  Der  Züricher  „Sozialdemokrat"  fand  in 
Österreich  seit  seinem  Bestehen  geschickte,  Verbreiter  und  vor 
allem  fleißige  Leser;  und  wenn  er  auch  nicht  in  die  breiten  Massen 
dringen  konnte,  so  hatte  er  doch  deutlichen  und  wertvollen  Einfluß 
auf  die  führenden  Genossen.  Kr  war  ein  starkes  Gegengewicht  gegen 
die  „radikale"  Strömung,  in  deren  Kreisen  die  Mostsche  „Freiheit" 
kolportiert  wurde.  Wenn  etwas  dazu  geholfen  hat,  in  Österreich 
der  Verführung  der  zügellosen  Demagogie  entgegenzuwirken  und 
später,  nach  dem  Zusammenbruch,  den  katzenjämmerlichen  Klein- 
mut zu  überwinden,  so  war  es  mit  in  erster  Reihe  das  Beispiel  des 
ebenso  unvergleichlich  heroischen  wie  bewundernswert  geordneten 
Kampfes,  den  unsere  deutschen  Genossen  gegen  das  Sozialisten- 
gesetz führten.  Die  heute  auf  der  Höhe  ihres  Wirkens  stehende 
Generation  —  Arbeitergenerationen  zählen  beträchtlich  weniger  als 
dreißig  Jahre  —  kann  sich  schwer  mehr  davon  eine  Vorstellung- 
machen, welche  Glut,  welcher  Trotz,  welche  Hingebung  die  Be- 
wegung von  damals  erfüllte,  hüben  in  Österreich,  wie  drüben  in 
Deutschland. 

Damit  soll  nichts  gegen  die  Methode  der  heute  im  Kampfe  stehen- 
den Jahrgänge  gesagt  sein,  so  wenig  das  Feuer  der  Jugend  ein 
Vorwurf  ist  für  die  besonnene  Kraft  des  Mannes.  Und  doch  weckt 
in  uns  der  Gedanke,  den  wir  in  jene  bitterste  und  schönste  Zeit 
zurücksenden,  sehnsüchtiges  Erinnern. 

Als  das  „Berliner  Volksblatt"  gegründet  wurde,  in  dem  Berlin 
des  kleinen  Belagerungszustandes,  zur  Zeit,  da  die  Puttkamerei  eine 
ihrer  wütendsten  Orgien  feierte,  wurde  das  kühne  Unternehmen 
auch  in  Österreich  mit  Spannung  verfolgt,  und  daß  es  so  glänzend 
gelang,  war  eines  der  Momente,  die  uns  den  Mut  gaben,  wenige 
Jahre  später  auch  in  Österreich  von  neuem  die  Parteipresse  auf- 
zurichten trotz  Ausnahmezustand,  trotz  blindwütiger  Sozialisten- 
hatz.  Freilich  waren  wir  in  völlig  anderer  Lage.  In  Deutschland  war 
es  der  Partei  gelungen,  ihre  Organisation  trotz  des  Sozialisten- 
gesetzes aufrechtzuerhalten  oder  vielmehr  sie  völlig  umzubilden 
und  neu  zu  schaffen,  straffer,  elastischer,  widerstandsfähiger  zu 
machen,  als  sie  je  war.  Sie  vermochte  das,  und  das  ist  einer  der 
merkwürdigsten  Züge,  ohne  Presse.  Denn  der  Züricher  „Sozial- 
demokrat", so  Großes  er  für  die  Gesamtorganisation  leistete,  den 
lokalen  Unterbau,  den  nur  die  lokale  Presse  fördern  kann,  ver- 
mochte er  nicht  zu  begründen.  Daß  trotzdem  diese  lokale  Organi- 
sation in  allen  Arbeiterzentren  so  bis  ins  Kleinste  und  Feinste  aus- 
gebaut werden  konnte,  dal.»  die  sozialdemokratischen  Arbeiter- 
in* 


340  Der  Kampf  um  die   Preßfreiheit. 

massen  auch  ohne  Presse  aktionsfähig  waren    und    täglich    mehr 

wurden,  ist  ein  Wunder  für  sich.  Das  „Berliner  Volksblatt"  war  eine 
Notwendigkeit  für  die  Politik  der  Partei;  die  Organisation  der  Ber- 
liner Genossen  hat  es  fertig  vorgefunden,  als  es  gegründet  wurde. 
In  Österreich  war  das  anders.  Von  jeher  sind  hier  die  Redaktionen 
der  Parteiblätter  die  eigentlichen  Zentren  der  Organisation  gewesen. 
Die  Brutalität  der  Reaktion  hatte  Presse  und  Organisation  nieder- 
getrampelt, und  als  von  Ende  1886  an  die  Parteipresse  wieder  auf- 
gerichtet wurde,  mußte  sie  zugleich  auch  die  Organisation  von 
(irund  aufbauen.  Es  würde  zu  weit  führen,  hier  ausführlich  zu  be- 
richten, wie  auch  die  Presseverfolgungen  in  Österreich  ganz  andere 
Formen  haben  als  in  Deutschland.  Es  genügt  festzustellen,  daß,  wenn 
wir  es  zuwege  gebracht  haben,  mit  den  Staatsanwälten  und  ihren 
Konfiskationen  fertig  zu  werden,  und  wenn  wir  heute  annähernd 
aussprechen  können,  was  die  Arbeiterschaft  will,  das  Verdienst  und 
der  Erfolg  ist  nicht  allein  der  Geschicklichkeit  und  Konsequenz 
unserer  Presse,  sondern  vor  allem  unserer  Organisation,  der  Aus- 
dauer und  des  Mutes  unserer  Genossen,  die  in  jahrelangen  Kämpfen 
verstanden  haben,  den  Bütteln  der  Preßpolizei  klar  zu  machen,  daß 
jede  Konfiskation  ein  Schlag  ins  Wasser  ist. 

Und  noch  eins  fehlte  uns  und  vielleicht  das  Wichtigste,  was  die 
deutschen  Genossen  besaßen;  das  allgemeine  Wahlrecht.  Wir  muß- 
ten erst  die  Waffe  erobern,  die  die  deutsche  Sozialdemokratie  so 
glänzend  zu  gebrauchen  wußte.  Der  glorreiche  Wahltag  des  20.  Fe- 
bruar 1890  hat  dem  Sozialistengesetz  ein  Ende  gemacht.  Für  uns 
Rechtlose  in  Österreich  hat  die  Maifeier  denselben  Wert,  das  gleiche 
Werk  geleistet.  Der  unvergeßliche  Tag  des  1.  Mai  1890  brachte  uns 
die  Entscheidung,  erwies  alle  Ausnahmezustände  und  alle  Polizei- 
knüppelei als  ebenso  nutzlose  wie  schändliche  Behelligungen  der 
großen,  unaufhaltsamen  Bewegung  . . . 

Genug  der  Erinnerungen.  Seitdem  ist  aus  dem  kleinen  „Berliner 
Volksblatt",  das  vorsichtig  tastend  sich  seinen  Weg  suchen  mußte, 
der  große  „Vorwärts"  geworden,  der  nicht  nur  der  deutschen  Partei 
dient,  sondern  ein  Weltblatt  ist,  wie  es  kein  zweites  gibt,  der  in 
gewissem  Sinne  die  Funktion  eines  Zentralorgans  der  sozialistischen 
Internationale  ausübt.  Möge  er  an  seinem  Jubeltag  den  Dank  emp- 
fangen für  das,  was  er  an  uns  allen  geleistet,  möge  er  blühen, 
wachsen  und  gedeihen,  zum  Nutzen  des  deutschen  Proletariats,  zum 
Heile  des  kämpfenden  Proletariats  aller  Länder. 


iitid  im  sei    l  ro 


Gewerkschaften  und  Genossen- 
schaften* 

Sie  sind  unser  Trost! 

V  e  r  b  a  n  d  s  t  a  g  der  Metallarbeiter,   1  ü.  Juli   1  9  0  4*). 

Wenn  man  in  Österreich  Politik  treiben  muß,  da  müßte  man 
verzweifeln,  wenn  man  nicht  seilen  würde,  wie  trotz  unseres  Elends 
unsere  Gewerkschaften  aufblühen.  Sie  sind  in  diesem  Niederrang 
unser  T  r  o  s  t  und  unsere  ranze  H  o  f  f  n  u  n  g  ist,  daß  in  der 
österreichischen  Arbeiterschaft  ein  Kern  von  Tüchtigkeit,  Intelligenz 
und  Kraft  steckt,  der  nicht  zu  vernichten  ist,  und  wenn  dieses  Reich 
noch  so  blödsinnig  und  noch  so  verbrecherisch  regiert  wird.  (Leb- 
hafter Beifall.)  In  politisch  wie  wirtschaftlich  schwerster  Zeit  haben 
Sie  ungeheure  Arbeit  geleistet  und  sämtlichen  Arbeitern  ein  Vor- 
bild gegeben.  Der  Schweizer  Genosse  hat  uns  gesagt,  daß  die  poli- 
tische Freiheit  für  die  Arbeiter  noch  nicht  wirtschaftliche  Freiheit 
bedeutet.  Aber  wenn  es  schon  schwer  ist,  in  einem  freien  Lande 
zu  kämpfen,  unser  Schweizer  Freund  hat  keine  Vorstellung,  wie 
schwer  es  ist  in  einem  Lande,  wo  man  die  Lebensluft  für  die  Orga- 
nisation erst  schaffen  muß.  Allerdings  hat  das  für  uns  wieder  den 
Vorteil,  daß  diese  harte  Arbeit  uns  lebendiger  und  energischer  ge- 
macht hat.  Wir  haben  harte  Lehrjahre  hinter  uns,  wir  Deutschen 
und  Österreicher.  Fin  Jahr  Schweizer  Luft  möchten  wir  haben  und 
wir  würden  euch  zeigen,  was  wir  aus  diesem  Lande  machen. 
(Heiterkeit  und  Beifall.)  Daß  jeder  Sozialdemokrat  Ihren  Arbeiten 
mit  größter  Aufmerksamkeit  folgen  muß,  halte  ich  für  selbstver- 
ständlich, ebenso  auch,  daß  wir  alle  uns  als  Ihr  Organ  betrachten, 
wir  sind  Fleisch  vom  selben  Fleisch,  Blut  vom  selben  Blut.  Des- 
halb freuen  wir  uns  Ihrer  Erfolge  und  wünschen,  daß  Ihr  Verband, 
was  er  so  gut  angefangen  hat,  auch  zu  Ende  führe,  zum  Besten 
der  österreichischen   Arbeiter.   (Lebhafter  Beifall.) 


)  Auf  dem  siebenten  Verbandstag  der  Metallarbeiter,  der  am  10.  Juli 
JV04  im  Favoritner  Arbeiterheim  zusammentrat,  erschien  auch  Adler  als 
Vertreter  der  Parteivertretung.  Fr  hielt  nur  eine  kurze  Ansprache,  aber 
;>ie  ist  für  seine  Schätzung  der  Gewerkschaften  bezeichnend. 


342  Gewerkschaften  und  Genossenschaften. 

Partei  und  Gewerkschaft. 

Ein  Nachwort  zum  Kölner  Gewerkschaftskongreß. 
„A  r  b  e  i  t  e  r  -  Z  e  i  t  u  n  g"  vom  11.  Juni  1905*). 

Die  Wichtigkeit  des  Kölner  Gewerkschaftskongresses  wird  man 
katim  hoch  genug  einschätzen  können.  Er  hat  mit  einem  Schlage 
der  Öffentlichkeit  die  ihr  fast  unbekannte  Tatsache  zum  deut- 
lichsten Bewußtsein  gebracht,  daß  die  gewerkschaftliche  Organi- 
sation der  deutschen  Arbeiter  in  einem  Aufschwung  von  unerhörter 
Kraft  und  Rapidität  begriffen  ist,  daß  diese  Organisation  dank 
ihrer  in  keinem  anderen  Lande  —  auch  in  England  nicht  —  er- 
reichten Zentralisation  eine  ganz  außerordentliche  Schlagfertigkeit 
besitzt  und  daß  ihre  Führung  auf  einer  Höhe  des  geistigen  Niveaus 
steht,  wie  sie  eben  nur  von  deutschen  Sozialdemokraten  erreicht 
werden  kann.  Aber  fast  mehr  noch  als  diese  mächtige  und  folgen- 
reiche Entwicklung  beschäftigt  die  Öffentlichkeit  und  insbesondere 
die  Parteipresse  das  Verhältnis  der  Gewerkschaft  zur  Sozialdemo- 
kratie, wie  es  auf  diesem  Kongreß  in  Erscheinung  getreten,  und 
es  verlohnt  sich,  dieser  Sache  einige  Betrachtungen  zu  widmen. 

Was  viele  sanguinische  Gegner  hofften,  was  manche  pessi- 
mistische Parteigenossen  fürchteten,  es  werde  ein  Gegensatz 
zwischen  Gewerkschaft  und  Partei  in  Erscheinung  treten,  hat  sich 
natürlich  als  Hirngespinst  erwiesen.  Das  erste  und  das  letzte 
Wort  des  Kongresses  wrar :  Gewerkschaft  und  Sozial- 
demokratie sind  eins.  Es  wäre  auch  geradezu  wider  die 
Natur  der  Dinge,  wenn  dem  anders  wäre.  Die  deutsche  Gewerk- 
schaftsbewegung hat  sich  nicht  neben,  sondern  i  n  der  Sozial- 
demokratie entwickelt.  Die  fünf  Viertelmillionen  deutscher  Gewerk- 
schafter sind  der  beste  Kern  der  drei  Millionen  sozialdemo- 
kratischer Wähler,  wie  sich  umgekehrt  der  Mitgliederzuwachs  um 
rund  eine  halbe  Million,  den  die  Gewerkschaft  seit  drei  Jahren 
erfahren,  fast  ausschließlich  aus  den  sozialdemokratischen  Massen 
rekrutiert.  Der  jetzt  in  Lob  und  Tadel  so  vielbeliebte  Vergleich 
der  deutschen  mit  den  englischen  Gewerkschaften  scheint  uns 
darum    durchaus   falsch.   Es   gibt   einen    durchschlagenden   Unter- 

*)  Der  Kongreß  der  freien  Gewerkschaften  Deutschlands  fand  vorn 
22.  bis  27.  Mai  1905  in  Köln  statt.  Vertreten  waren  lK  Millionen  organi- 
sierte Arbeiter  und  Arbeiterinnen  durch  213  Delegierte.  Dabei  kam  es  zu 
lebhaften  Debatten  über  die  Frage  der  Maifeier,  doch  wurden  schließ- 
lich alle  Resolutionen  zurückgezogen  mit  der  Begründung,  daß  die  Frage 
vom  Internationalen  Kongreß  in  Amsterdam  schon  geklärt  sei.  Auch  über 
den  Massenstreik  wurde  dort  verhandelt,  worüber  Bömelburg 
das  Referat  erstattete.  (Siehe  auch  Adlers  Artikel  „Die  Generalstreik- 
diskussion" vom  11.  September  1905,  besonders  den  Schluß,  wo  er  über 
den  Kölner  Gewerkschaftskongreß  einige  Worte  sagt.  Bd.  VII,  Seite  126.) 
Die  „Arbeiter-Zeitung"  hatte  außer  kurzen  laufenden  Berichten  auch  eine 
Berliner  Korrespondenz  über  die  Ergebnisse  des  Kongresses  veröffentlicht. 
Nun  kam  Adler  neuerlich  darauf  zurück,  zumal  da  auch  aus  Österreich 
nicht  weniger  als  sieben  Gewerkschaftsvertreter  in  Köln  gewesen  waren. 


Partei  inicl  Gewerkschaft.  343 


schied:  der  deutsche  Gewerkschafter  Ist  Sozialdemokrat  und  wat 
es  meist  lange  bevor  er  Gewerkschafter  geworden.  Die  Personal- 
union zwischen  Partei  und  Gewerkschaft  besteht  nicht  nur  bei 
den  Führern  der  Gewerkschaft,  die  fast  durchweg  sozialdemo- 
kratische Abgeordnete  sind,  sondern  umfaßt  jedes  ein/eine  Mit- 
glied, das  zugleich  Gewerkschafter  und  Sozialdemokrat  ist.  Wenn 
also  von  Konflikten  die  Rede  ist,  SO  nur  in  dem  Sinne,  wie  es 
eben  Konflikte  zwischen  den  sich  kreuzenden  Abstellten  und 
Funktionen  eines  und  desselben  Individuums  gibt.  Auch  der 
einzelne  kann  durch  den  Widerstreit  seiner  eigenen  Interessen  und 
Funktionen  in  innere  Kämpfe  geraten;  aber  es  sind  eben  innere 
Kämpfe,  die   nie  zum   Auseinanderfallen   führen   können. 

Damit    soll    gar    nicht    geleugnet    werden,    daß   solche   innere 
Kämpfe   bedenklich   und    hemmend    für    die    Bewegung    werden 
können.  Eine  gewisse  Rolle  spielt  dabei  die  durchaus  notwendige 
Teilung    der    Arbeit.    Partei    wie    Gewerkschaft    bedürfen    eines 
Systems  von  Vertrauensmännern,  Funktionären,  Beamten,  das  der 
Gefahr  unterliegt,   zu   einer   Bürokratie   auszuarten   und  damit  in 
gewissem  Grade  den  bürokratischen  Lastern  anheimzufallen:  der 
Einseitigkeit,  der  Selbstüberschätzung,  der  Routine  und  der  Ver- 
knöcherung.  Diese   Gefahr  besteht  nicht  nur  in  Deutschland,  sie 
besteht  überall,  und  es  sind  keineswegs  die  schlechtesten  Genossen, 
die  ihr  am  meisten  ausgesetzt  sind.  Ohne  fanatischen  Fleiß  und  rest- 
lose  Hingebung  an   die   besondere,   ihm  zugeteilte  Aufgabe  kann 
keiner  unserer  Funktionäre  seine  Pflicht  ganz  tun,  und  es  ist  kein 
Wunder,  wenn  er  hie  und  da  den  Blick  für  das  Ganze  verliert, 
wenn    ihm    der    richtige    Standpunkt    verlorengeht    für    die    Ab- 
schätzung des  Verhältnisses  seines  Tätigkeitskreises  zur  Gesamt- 
bewegung. Jeder  einzelne  von  uns,  mag  er  politischer  oder  gewerk- 
schaftlicher Funktionär  sein,  hat  alle  Mühe,  sich  vor  diesen  Ge- 
fahren zu  bewahren,  die  die  notwendige  Folge  des  Wachsens  und 
der  Differenzierung  der  proletarischen  Bewegung  sind.  Nun  haben 
in  Deutschland  einige  Umstände  dazu  beigetragen,  die  Träger  der 
gewerkschaftlichen  Organisation  als  eine  gesonderte  Gruppe  von 
Parteigenossen  herauszuheben.  Man  braucht  nur  daran  zu  denken, 
wie  die  Gewerkschaft  durch  die  rückständigen  Vereinsgesetze  zur 
Absonderung  gezwungen  wurde,  und  wie,  was  kaum  zu  leugnen 
ist,  die  ältere  Generation  der  Sozialdemokraten,    die    unter    dem 
Sozialistengesetz    groß    geworden,    dem    Erstehen    der    Gewerk- 
schaften mit  einer  gewissen  Reserve,  um  nicht  zu  sagen  Kälte, 
gegenüberstand.     Die     bekannte     Rede     Bebeis     (Gewerkschafts- 
bewegung und  die  politischen  Parteien  1900),  die  auf  weite  Partei- 
kreise überraschend  genug  wirkte  und  weit  aus-  und  übergreifend 
für  Neutralität  der   Gewerkschaften  eintrat,  hat  da  das  Eis  erst 
gebrochen.  Das  sind  nun  freilich  längst  überwundene  Dinge  und 
längst  ist  das  Bewußtsein  des  Verhältnisses  der  Gewerkschaft  zur 
Gesamtbewegung  den  deutschen  Sozialdemokraten  in  Fleisch  und 
Blut  übergegangen.  Aber  die  Spuren  davon,  daß  die  Gewerkschaft 
eine    Zeitlang    Mühe   hatte,   sich   innerhalb    der   deutschen   Sozial- 


344  Gewerkschaften  und  Genossenschaften. 

demokratie  geltend  zu  machen,  zeigen  sich  noch  heute  in  gewissen 
Stimmungen,  die  in  Köln  deutlich  zu  merken  waren.  Man  darf 
wohl  hoffen,  daß  diese  Stimmungen  im  Abklingen  begriffen  sind 
und  daß  sie  nicht  durch  überhitzte  Heftigkeit  der  Diskussion  zu 
ernsten   Verstimmungen   hinaufgetrieben  werden. 

Nun  hat  es  allerdings  in  Köln  Momente  gegeben,  die  recht  un- 
erquicklich waren.  Besonders  uns  Österreicher  hat  die  Art,  wie 
die  Maifeierdebatte  geführt  wurde,  geradezu  peinlich  berührt.  Die 
Nüchternheit  ist  eine  schöne  Tugend,  wenn  sie  aber  zur  platten 
Trivialität  wird,  ist  sie  ein  Laster,  und  so  lobenswert  der  Sinn 
für  das  Nächstliegende,  praktisch  Nützliche  ist,  so  schädlich  ist  die 
Kurzsichtigkeit,  die  blind  ist  für  alles,  was  nicht  vor  der  Nase  liegt. 
Ja,  nichts  ist  unpraktischer  als  der  allzu  praktische  Sinn,  der  nicht 
mehr  schätzen  kann,  was  sich  nicht  unmittelbar  wägen  und  zählen 
läßt.  Die  Genossen,  die  —  mit  Genugtuung  sei  es  festgestellt  — 
nicht  ohne  Widerspruch  in  recht  geringschätziger  Weise  von  der 
Maifeier  sprachen,  haben  als  Sozialdemokraten  unrecht  und  fast 
noch  mehr  Unrecht  als  Gewerkschafter,  Die  Gewerkschaft  ist 
keine  bloße  Versicherungsgesellschaft,  sie  ist  vor  allem  auch 
Kampfgenossenschaft;  sie  kann  der  Begeisterung,  sie  kann  der 
Symbole  nicht  entbehren.  Je  mehr  sie  in  der  Gegenwart  zu  wirken 
berufen  ist,  desto  weniger  kann  sie  des  Ausblicks  auf  zukünftige 
Ziele  entraten,  und  je  mehr  ihre  Tätigkeit  sich  fachgemäß  ab- 
schließen muß,  desto  weniger  kann  sie  des  Bewußtseins  des  Zu- 
sammenhanges mit  der  gesamten  proletarischen  Bewegung  ent- 
behren, der  proletarischen  Gesamtbewegung,  von  der  Gewerk- 
schaft und  Partei  nur  der  zur  vollen  Helligkeit  des  Bewußtseins 
erweckte  Teil  ist.  Wenn  ein  Redner*)  in  Köln  renommierend  ver- 
langte, man  möge  ihm  den  Gewerkschafter  auf  den  Tisch  des 
Hauses  legen,  der  durch  die  Maifeier  gewonnen  worden  sei,  so 
hat  er  sehr  töricht  und  gar  nicht  praktisch  geredet.  Jeder,  der 
wirklich  mit  den  Massen  Fühlung  hat,  kann  ihm  sagen,  wie  der 
gewaltige  Schwung  der  Maifeier  in  jenen  stumpfen  und  dumpfen 
Schichten  des  Proletariats  gewirkt  hat,  die  bis  dahin  jeder  auf- 
klärenden und  organisierenden  Arbeit  verschlossen  blieben,  wie 
durch  die  Maifeier  proletarisches  Urland  aufgebrochen  und  dadurch 
erst  der  sozialdemokratischen  und  gewerkschaftlichen  Saat  zu- 
gänglich gemacht  wurde.  Hunderttausenden  hat  erst  die  Maifeier 
die  erste  Ahnung  gebracht,  daß  sie  nicht  einsame  Opfer  unab- 
wendbarer Knechtung,  sondern  Glieder  einer  um  die  Befreiung 
ringenden  gewaltigen  Gemeinschaft  sind.  Solche  Dinge  können 
freilich  kein  Gegenstand  der  jetzt  mit  Recht  so  beliebten  Statistik 
sein;  aber  Tatsachen,  die  sich  nicht  ziffermäßig  erfassen  lassen, 
sind  darum  nicht  weniger  Tatsachen,  und  oft  die  wichtigsten  dazu. 

Aber  diese  Strömungen  und  Gegenströmungen  sind  unseres  Er- 
achtens  keineswegs  dem  deutschen  Gewerkschafter  eigentümlich, 
sondern  sie  sind  und  waren  stets  auch  in  der  deutschen  Partei  zu 


r)  Der  Vertreter  der  Zimmerer,  Bringmann. 


Partei  mul  Gewerkschaft. 


merken,  wenn  sie  auch  weniger  unangenehme  Formen  hatten.  Die 
Frage  der  Arbeitsruhe  am  1.  Mai  ist  in  Deutschland  mit  ans  diesem 
Grunde  und  nielit  ganz  ohne  Schuld  der  Partei  seihst  in  ein  un- 
richtiges Fahrwasser  geraten.  Wir  wissen  sehr  gut,  daß  dort 
manches  schwieriger  durchzusetzen  ist  als  in  Österreich,  aber  hei 
einer  von  Anfang  an  zielbewußten  und  konsequenten  laktik 
wäre  den  Genossen,  die  noch  ganz  andere  Hindernisse  über- 
w  nnden  haben,  auch  in  bezug  auf  die  Maifeier  manches  besser 
gelungen.  Auch  wir  sind  weit  entfernt  davon,  der  Durchsetzung 
der  Arbeitsruhe  ungemessene  Opfer  zu  bringen,  und  unsere  Organi- 
sationen wissen  ganz  genau,  daß  ihre  Taktik  auch  in  diesem 
Punkte  den  Verhältnissen  und  der  Konjunktur  angepaßt  werden 
muß.  Aber  so  sehr  lebt  das  Recht  auf  die  Maifeier  in  dem  Bewußt- 
sein jedes  österreichischen  Arbeiters,  daß  nicht  leicht  ein  Lohn- 
kampf  zum  Abschluß  kommt,  in  dessen  Friedensbedingungen  die 
Freigabe  des  1.  Mai  nicht  ihren  Platz  fände.  Wir  haben  eine 
Maifeier,  und  nicht  nur  in  Wien,  wie  Genosse  Robert  Schmidt  in 
Köln  sehr  fälschlich  behauptete,  wenn  sie  auch  in  Wien  —  und 
das  wesentlich  dank  der  Organisation  der  Zeitungssetzer,  Ehre, 
wem  Ehre  gebührt  -  für  die  gesamte  Öffentlichkeit  am  fühlbarsten 
zum  Ausdruck  kommt.  In  Deutschland  hat  man  leider  schon  1890 
die  Weste  beim  falschen  Knopfloch  zuzuknöpfen  angefangen  und 
kann  nur  schwer  damit  zurecht  kommen.  Man  hat  an  einigen 
Steilen  große,  geradezu  heroische  Kämpfe  geführt,  aber  sie  blieben 
vielleicht  mit  auch  darum  ohne  rechte  Frucht,  weil  der  richtige 
Schwung  nicht  auf  der  ganzen  Linie  zur  Wirkung  kam.  Mag  aber 
dem  sein  wie  immer,  gerade  in  den  letzten  Jahren  ist  die  Maifeier 
in  Deutschland  lebendiger  als  je  geworden,  die  alten  Fehler  sind 
gutgemacht  und  die  Gewerkschaft  würde  sich  sehr  ins  eigene 
Fleisch  schneiden,  wenn  sie  sich  einem  Gedanken  ernstlich  wider- 
setzen wollte,  der  Eigentum  und  Heiligtum  des  proletarischen  Be- 
wußtseins geworden  ist. 

Ein  wenig  anders  steht  es  mit  der  Diskussion  über  den  General- 
streik oder  politischen  Massenstreik,  die  man  in  Köln  ab- 
führte. Der  allgemeine  Satz,  daß  der  Massenstreik  ein  brauchbares 
Kampfmittel  des  Proletariats  sei,  wird  heute  wohl  ebensowenig 
mehr  bestritten  als  über  seine  Anwendung  im  besonderen  Falle 
theoretische  Einmütigkeit  herrscht.  Die  Utopie  des  Generalstreiks 
als  letztes  Mittel  des  letzten  Kampfes  ist  abgetan,  war  übrigens 
außer  in  romanischen  Ländern  nirgends  lebendig;  aber  der  Massen- 
streik zu  bestimmt  abgegrenztem  Zwecke  ist  nach  den  guten  und 
schlimmen  Erfahrungen  in  Belgien,  Holland  und  Italien  nicht  mehr 
von  vornherein  als  Unmöglichkeit  abzuweisen.  Nach  unserer  Mei- 
nung ist  für  seine  Anwendbarkeit  entscheidend  gewesen,  daß  der 
Massenstreik  in  Belgien  1902,  in  Italien  1904  in  voller  Ordnung  und 
durchgängiger  Disziplin  beendet  werden  konnte,  wie  man  auch 
sonst  die  Erfolge  dieser  beiden  Aktionen  bewerten  mag.  Daß  der 
Massenstreik  aber  gerade  in  Deutschland  und  so  außerordentlich 
rasch  so  sehr  begeisterte  Anhänger  gewinnen  konnte,  wie  sich  in 


34t>  Gewerkschaften  und  Genossenschaften. 


den  letzten  Monaten  zeigte,  muß  einigermaßen  überraschen.  Es 
war  schon  ein  Schritt  in  dieser  Richtung,  als  Genossin  Klara 
Zetkin  auf  dem  letzten  deutschen  Parteitag')  sagte:  „Geschichtliche 
Umstände  können  uns  zwingen,  den  politischen  Massenstreik 
nicht  a  priori  aus  der  Reihe  der  möglichen,  viel- 
leicht absolut  notwendigen  Kampf-  und  Aktionsmittel 
auszuscheiden."  Aber  nur  ein  paar  Monate  später,  am  Vorabend 
des  Kölner  Tages,  schrieb  Karl  Kautsky:  „Das  Bekenntnis 
zum  politischen  Massenstreik,  die  Erklärung,  in  ent- 
scheidenden Momenten  zu  dieser  letzten  und  äußersten  Krait- 
anstrengung  des  kämpfenden  Proletariats  entschlossen  zu  sein,  ist 
heute  die  notwendige  Voraussetzung  jeder  wirk- 
lichen proletarischen,  gewerkschaftlichen  wie 
sozialdemokratischen  Realpoliti k."  Dabei  ist  es  be- 
zeichnend, daß  ganz  ähnlich  nich  nur  Genossen  reden,  die  man 
zeichnend,  daß  ganz  ähnlich  nicht  nur  Genossen  reden,  die  man 
stein  so  spricht,  den  man,  so  schief  diese  Bezeichnungen  sein 
mögen,  als  „gemäßigt"  einschätzt.  Vielleicht  ist  die  Stellung  zum 
Massenstreik  die  einzige  Sache,  über  die  Kautsky  und  Bernstein 
gegenwärtig  mindestens  praktisch  einig  sind.  Ein  Teil  der  Partei- 
presse bringt  in  verschiedenen  Graden  der  Schärfe  ähnliche  An- 
schauungen zum  Ausdruck  und  auch  in  Versammlungen  lassen  sich 
Stimmen  in  gleichem  Sinne  vernehmen.  Diese  rasche  Bekehrung 
zur  Idee  des  politischen  Massenstreiks  auf  das  Gutdünken  einiger 
sozialdemokratischer  Schriftsteller  zurückführen  zu  wollen,  wäre 
flach  bis  zur  Dummheit.  Überdies  ist  es  ganz  klar,  daß  die  steigende 
Zuspitzung  der  politischen  Gegensätze  in  Deutschland,  die  Schande 
des  Hamburger  Wahlrechtsraubes**),  die,  wie  es  scheint,  immer 
drohender  werdende  Gefährdung  des  Reichstagswahlrechtes,  die 
täglich  brennender  empfundene  Justizschande  und  vor  allem  der 
Betrug  an  den  Bergarbeitern  geradezu  dazu  zwingen,  sich  nach 
Abwehrmitteln  gegen  entscheidende  Angriffe  der  Reaktion  umzu- 
sehen. Dazu  kommt,  daß  die  russische  Revolution,  deren  Folgen 
für  ganz  Europa  noch  nicht  abzusehen  sind,  die  Empfindung  weckt, 
daß  wir  vor  kritischen  Zeiten  stehen.  Trotz  alledem  mußte  es 
überraschen,  daß  so  sehr  plötzlich  das  „Bekenntnis  zum  Massen- 
streik" als  gewissermaßen  obligatorisch  für  jeden  ernsten  Genossen 
proklamiert  wurde. 

Jedenfalls   ist  der   bei   weitem   größte   Teil   der   in   Köln  ver- 


*)  Auf  dem  Parteitag  in  Bremen  1904,  wo  Karl  Liebknecht  beantragt 
hatte,  die  Frage  des  Generalstreiks  auf  die  Tagesordnung  des  nächsten 
Parteitages  zu  setzen.  (Siehe  Bd.  VII,  Seite  114,  zu  den  Ausführungen 
Kautskys,  Seite  124.) 

**)  Am  5.  Juni  1908  hatte  die  Hamburger  „Bürgerschaft"  (das  Parlament) 
die  vom  Senat  vorgeschlagene  Vorlage  genehmigt,  die  die  Wahlberech- 
tigten in  drei  Gruppen,  je  nach  der  Höhe  des  Eigentums,  teilte.  In  der  Be- 
gründung der  Vorlage  war  ausdrücklich  gesagt  worden,  es  solle  verhindert 
werden,  daß  in  kurzer  Zeit  die  niedrig  besteuerten,  unselbständigen  Ele- 
mente fast  alle  Mandate  an  sich  reißen. 


Partei  und  Gewerkschaft.  341 


sammelten  Gewerkschafter  noch  lange  nicht  so  weit,  heim  Genosse 
Bömeiburg  konnte,  ohne  Widerspruch  zu  finden,  aussprechen, 
daß  er  die  wohlerwogene  und  keineswegs  Irgendwie  utopistische 

Resolution  über  den  Massenstreik  als  „bedauerliche  Konzession 
an  den  Generalstreik"  ansehe,  was  sie  allerdings  in  keiner  Weise 
ist.  Vielmehr  hat  der  von  den  Anarchisten  propagierte  absolute 
Generalstreik  in  dieser  Resolution  die  schärfste  Ablehnung  ge- 
funden, während  vom  Massenstreik  gesagt  wird,  daß  er  „ein 
äußerstes  Mittel  sein  kann,  um  bedeutende  gesellschaftliche 
Veränderungen  herbeizuführen  oder  sich  reaktionären  Anschlägen 
auf  die  Rechte  der  Arbeiter  zu  widersetzen".  Man  kann  sich  kaum 
vorsichtiger  ausdrücken,  und  da  Bömeiburg  selbst  erklärt,  er  wolle 
nicht  sagen,  daß  der  Massenstreik  nie  angewendet  werden  wird, 
so  ist  seine  Polemik  gegen  die  Amsterdamer  Resolution  durchaus 
hinfällig.  Schlimmer  aber  noch  als  diese  Unklarheit  ist,  daß  der 
Kölner  Beschluß  die  Propagierung  des  politischen  Massenstreiks 
als  „verwerflich"  bezeichnet.  Wer  immer  das  Anathema 
durch  das  Wort  „verwerflich"  ausspricht,  hat  gewöhnlich  schon 
darum  unrecht,  weil  er  es  unternimmt,  den  in  diesem  Punkt  Anders- 
denkenden zu  brandmarken.  Wir  gestehen  offen,  daß  wir,  obwohl 
wir  den  politischen  Massenstreik  für  eine  nicht  allzu  fern  liegende 
Möglichkeit  in  jedem  industriell  entwickelten  Staate  halten  und 
seine  Anwendung  unter  Umständen  für  eine  Notwendigkeit  an- 
sehen, trotzdem  die  Propaganda  für  ihn  gegenwärtig  weder  für 
notwendig  noch  auch  für  nützlich  halten.  Wir  wollen  uns  be- 
scheiden und  diesen  Satz  auf  Österreich  beschränken.  In  Österreich 
wird  es  auch  ohne  vorhergehende  Propaganda,  wenn  die  Zeit  dazu 
kommt,  schwerer  sein,  den  Ausbruch  des  Massenstreiks  auf  den 
entscheidenden  und  richtigen  Moment  aufzuschieben,  als  ihn  mit 
ganzer  Wucht  in  Anwendung  zu  bringen.  Wir  geben  zu,  daß  die 
Psychologie  der  Massen  in  Deutschland  eine  andere  sein  mag.  Aber 
auch  dort  wird  die  psychologische  Möglichkeit  des  Massenstreiks 
nicht  von  der  vorhergehenden  Agitation,  sondern  von  der  sich  dem 
Bewußtsein  der  Massen  unwiderstehlich  aufzwingenden  politischen 
Notwendigkeit  erzeugt  werden.  Wir  begreifen  auch,  daß  eine  be- 
sondere Propaganda  des  Massenstreiks  den  Gewerkschaften  als 
eine  gefährliche  Ablenkung  erscheinen  mag,  wie  sie  auch  unter 
den  heutigen  Verhältnissen  in  der  Partei  selbst  auf  vielfachen 
Widerspruch  stoßen  wird.  Auch  hierin  unterscheidet  sich  nämlich 
die  Stimmung  der  Gewerkschafter  keineswegs  von  der  Stimmung 
der  Sozialdemokraten  überhaupt.  So  wenig  uns  also  die  Nützlich- 
keit einer  solchen  Propaganda  sicher  scheint,  so  sehr  halten  wir 
es  für  einen  Fehler,  sie  für  „verwerflich"  zu  erklären;  eine  Ver- 
dammung, die  notwendig  das  Gegenteil  von  dem  hervorrufen  muß, 
was  sie  bezwecken  will  und  die  überdies  die  Diskussion  zu  ver- 
bittern und  zu  vergiften  geeignet  ist. 

Das  Unbehagen,  das  Schwanken,  das  die  Gewerkschafter 
gegenüber  der  Frage  des  Massenstreiks  bekundeten,  scheint  uns 
wesentlich   andere   Gründe    zu    haben    als    den   Mangel   an   Ent- 


«i48  Gewerkschaften  und  Genossenschaften. 

sehlossenhcit  und  den  Überfluß  an  Ruhebedürfnis,  der  ihnen  zu- 
geschrieben wird.  Wenn  Bömelburg  sagte:  .,Auch  wenn  man  uns 
das  Wahlrecht  nimmt,  werden  wir  nicht  am  Ende 
unseres  Lateins  sei  n",  so  war  das  nicht,  wie  ihm  vorge- 
worfen wird,  eine  leere  Redensart,  so  wenig  es  eine  leere  Redens- 
art war,  als  die  Sozialdemokraten  im  deutschen  Reichstag  sagten: 
..Wir  pfeifen  auf  das  Sozialistengesetz*)",  obwohl 
auch  in  diesem  Satze  der  Weg  nicht  konkret  angegeben  war,  auf 
dem  das  Proletariat  das  Schandgesetz  vereiteln  werde  Auch  ist 
es  begreiflich,  wenn  die  Gewerkschaft  nach  Ruhe  verlangt,  nicht 
um  zu  versumpfen,  sondern  um  den  grandiosen  Bau  weiter- 
zuführen, den  sie  so  vielverheißend  begonnen.  Das  Diskutieren 
des  Massenstreiks  ist  ihnen  so  unbequem,  daß  sie  in  recht  un- 
vernünftiger und  deutscher  Proletarier  wenig  würdiger  Weise 
gegen  die  „Literaten"  losgehen,  die  von  ihm  jetzt  soviel  sprechen, 
die  ihn  aber  wahrhaftig  nicht  erfunden  haben.  Alles  das  scheint 
uns  mit  der  schiefen  Stellung  zusammenzuhängen,  die  der  Gewerk- 
schaftskongreß von  vornherein  zu  der  Frage  genommen  hat.  Der 
Massenstreik  ist  nämlich,  meinen  wir,  in  keiner  Weise  Sache  der 
Gewerkschaften  und  wird  es  nie  sein  können.  Er  ist  seiner  Natur 
nach  unabhängig  vom  Streikregulativ,  unabhängig  vom  Kassen- 
stand, er  liegt  gar  nicht  in  der  gewerkschaftlichen  Sphäre.  Sein 
Eintreten  kann  da  oder  dort  den  Vorwand  geben,  einen  Tarif- 
vertrag für  erloschen  zu  erklären;  aber  das  wird  nur  dort  ge- 
schehen, wo  er  ohnehin  demnächst  zum  Teufel  gehen  müßte.  Ein 
Tarifvertrag  ist  eben  kein  Schutz  gegen  Erdbeben.  Der  Massen- 
streik ist  eine  vis  major**),  wenn  es  je  eine  gibt.  Er  ist  nicht  der 
Gipfel  der  Gewerkschaftsbewegung,  sondern  ihre  Ausschaltung. 
Der  Gegenstand  gewerkschaftlicher  Kämpfe  ist  im  Wesen  der 
Lohnvertrag;  mit  ihm  aber  hat  der  politische  Massenstreik  nichts 
zu  tun.  Hier  tritt  nicht  mehr  eine  noch  so  große  Zahl  von  einzelnen 
Arbeitern  einer  behebigen  Zahl  einzelner  Unternehmer  gegenüber, 
um  von  ihnen  Zugeständnisse  zu  verlangen,  sondern  die  Arbeiter- 
klasse als  Klasse  stellt  Forderungen  an  die  herrschenden 
Klassen.  Es  ist  der  unmittelbare  Klassenkampf,  der  an 
Stelle  des  durch  die  parlamentarischen  Vertreter  vermittelten 
Kampfes  tritt. 

Was  kann  die  Gewerkschaft  als  Organisation  mit  diesem 
politischen  Massenstreik  zu  tun  haben?  Die  gewerkschaftliche 
Durchdringung  des  Proletariats  wie  die  politische  ist  die  Vor- 
bedingung seiner  Möglichkeit,  seines  Gelingens.  Aber  in  dem 
Moment,  wo  diese  durchaus  politische  und  in  keiner  Weise  gewerk- 
schaftliche Aktion  beginnt,  kann  die  Gewerkschaftsorganisation  nur 
zur  Seite  treten  und  erklären,  daß  ihr  Amt  hier  zu  Ende.  Oder 
glaubt  man,  daß  ein  Massenstreik  durch  Aussicht  auf  Streik- 
unterstützung zu  gewinnen  sei?  Aber  allerdings,  zur  Seite  zu  treten, 

*)   Ausspruch   Wilhelm   Brackes    bei    der    Beratung    des    Sozialisten- 
gesetzes. (Siehe  Bd.  VI,  Seite  46.) 
**)   Höhere  Gewalt. 


|)<  r  Qewerkschafts: 


das  ist  in  jenem  Moment  die  Pflicht  sozialdemokratischer  Gewerk- 
schaften Die  Q  e  w  e  r  k  s  c  h  a  f  t  w  i  r  d  Kein  I  i  i  n  d  e  r  n  i  s 
f  ü  r  d  e  n  M  a  s  s  e  ns  t  r  e  i  k  s  e  i  11,  wenn  er  notwendig  u  erden 
sollte,  das  war  das  einzige  Wort,  (Jas  unseres  Erachtens  in  Köln 

zu  SAxen  war.  Denn  wenn  es  je  dazu  kommt,  werden  die  Arbeiter 
in  den  politischen  Massenstreik  eintreten,  nicht  weil,  sondern 
obwohl  sie  in  gewerkschaftlichen  Verbänden  organisiert  sind, 
die  zum  Zwecke  ganz  anders  gearteter  Kämpfe  geschlossen  wur- 
den. Daß  ein  Massenstreik,  insbesondere  wenn  er  erfolglos  endet, 
für  einzelne  Gewerkschaften  empfindliche  Folgen  nach  sich  ziehen 
kann,  wenn  etwa  der  Übermut  der  siegenden  Gegner  d'e  Gelegen- 
heit zu  einem  Vorstoß  gegen  schwächere  Verbände  ausnützt,  das 
ist  eine  ganz  andere  Sache,  und  solche  Kalamität  kann  auch  durch 
andere  Ursachen  über  eine  Gewerkschaft  kommen.  Das  ändert 
aber  nichts  an  der  Tatsache,  daß  der  Träger  des  Kampfes  im 
Massenstreik  nicht  die  Gewerkschaft  sein  kann. 

Wenn  über  diesen  Punkt  erst  volle  Klarheit  geschaffen  ist,  dann 
wird  man  vielleicht  in  der  Gewerkschaft  gegen  die  Idee  des 
Massenstreiks  und  deren  Propagierung  nicht  mehr  Widerstand 
finden  als  in  der  politischen  Organisation  eben  auch.  So  wenig 
aber  der  Gedanke  grundsätzlich  abzuweisen  ist,  so  wenig  kann  es 
nützen,  seine  Propagierung  mit  einer  gewissen  aufdringlichen  Ge- 
waltsamkeit zu  betreiben.  Der  Gedanke  des  einzelnen  kann  und 
soll  den  Ereignissen  vorauseilen,  die  Stimmung  und  die  Tatenlust 
der  Massen  jedoch  sollten  nicht  abgebraucht  werden,  bevor  die 
Ereignisse  sie  mit  zwingender  Notwendigkeit  auslösen.  Man  kann 
auch  zu  zeitlich  kommen  und  doch  erst  recht  nicht  bereit  sein, 
wenn  es  am  nötigsten  wäre. 

Man  darf  zum  sozialdemokratischen  Proletariat  Deutschlands, 
weit  über  die  Gewerkschaft  hinaus,  aber  die  Gewerkschaft  mit  in- 
begriffen, das  feste  Zutrauen  haben,  daß  es  im  rechten  Augenblick 
für  seine  höchsten  Güter  auch  seinen  höchsten  Einsatz  zu  wagen 
wissen  wird,  ob  das  nun  in  der  Form  des  Massenstreiks  geschehen 
sollte  oder  mit  anderen  Mitteln,  die  von  den  Umständen  geboten 
werden.  Darum  darf  man  sich  auch  durch  die  mancherlei  unlieb- 
samen Erscheinungen,  die  der  Kölner  Kongreß  geboten  hat  wie 
andere  Versammlungen  und  nicht  nur  in  Deutschland,  die  Freude 
nicht  vergällen  lassen  an  dem  gesunden  und  kräftigen  Empor- 
wachsen der  deutschen  Gewerkschaftsorganisation.  V.  A. 

Der  Gewerksdhaftsstreit, 

Deut  s  c  h  b  ö  li  ii:  i  s  eher  Parteitag  in  B  o  d  e  n  b  a  c  h, 

2  5.  März  1  9  1  1*). 

Ich  begrüße  den  Kongreß  namens  der  deutschen  Parteivertretung 
auf  das  herzlichste.  Wir  sind  wieder  in  einem  Zeitpunkt  der  Krise  des 

)   Am  25.   März   1911   trat  in   Bodenbach  der  Lahdesparteitag  der 
deutschen  Sozialdemokratie  Böhmens  zusammen.  Er  beschäftigte  sich  vor- 


350  Gewerkschaften  und  Genossenschaften. 

Parlaments  zusammengetreten,  und  das  bedeutet  —  man  mag  das 
Parlament  so  hoch  oder  so  niedrig  einschätzen  wie  man  will  —  eine 
Krise  für  Österreich.  Wir  sind  weit  entfernt,  den  Schwerpunkt 
unserer  Partei  ausschließlich  in  das  Parlament  zu  verlegen.  Wir  sind 
uns  vollständig  dessen  bewußt,  daß  im  Parlament  nur  verhältnis- 
mäßig wenig  von  dem  geleistet  werden  kann,  was  wir  brauchen. 
Aber  wir  verkennen  nicht,  daß  die  Entwicklung  des  Proletariats  nicht 
nur  von  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  abhängig  ist,  sondern  auch 
von  der  Schaffung  günstiger,  erträglicher  Bedingungen  für  diese  Ent- 
wicklung, und  Sie  wissen  alle,  wie  diese  Entwicklung  fortwährend 
gestört  wird  durch  die  hysterische  Verrücktheit  unserer  Gegner.  Wir 
stehen  einer  Regierung  gegenüber,  die  in  der  kalten  Ablehnung  jeder 
eigenen  Initiative  ihre  eigene  Kraft  sieht,  die  dem  Parlament  gegen- 
über immer  darauf  sich  stützt,  daß  ihre  Existenz  nicht  von  ihm  ab- 
hängt, sondern  von  der  Krone.  Man  sollte  meinen,  daß  eine  Regie- 
rung, die  durch  Jahre  bewiesen  hat,  daß  sie  Österreich  und  seinen 
Problemen  ratlos,  tatlos  und  ideenlos  gegenübersteht,  selbst  zu 
gehen  hat  und  nicht  zu  verlangen,  daß  das  Parlament  gehe.  Aber 
im  gegenwärtigen  Moment  handelt  es  sich  gar  nicht  um  einen  prin- 
zipiellen Kampf,  sondern  nur  um  die  sehr  bescheidene  Frage,  ob  es 
einer  Gruppe  von  Abgeordneten  belieben  wird,  am  Montag  im 
Budgetausschuß  längere  oder  kürzere  Reden  zu  halten.  Und  wenn 
wir  genauer  zusehen,  so  kämpft  diese  Opposition  nicht  gegen  die 
wahnwitzigen  Forderungen  des  Militarismus,  die  das  Volk  ausbeuten, 
sondern  sie  kämpft  im  Grunde  nur  darum,  daß  man  ihnen  selbst  er- 
mögliche, diese  Forderungen  zu  bewilligen.  Gestern  wurde  gemeldet, 
daß  das  Subkomitee  für  die  Sozialversicherung  sein  Werk  so  weit 
beendet  hat,  daß  in  vier  Wochen  dieses  Werk  im  Hause  zur  Beratung 
gezogen  und  noch  in  diesem  Jahre  nicht  nur  im  Abgeordnetenhaus, 
sondern  auch  im  Herrenhaus  zu  Ende  beraten  sein  kann.  Ich  kann  es 
bis  jetzt  noch  nicht  glauben,  daß  es  den  Herren  Tschechischradikalen 
und  tschechischen  Agrariern  völlig  Ernst  ist,  bis  ans  Ende  zu  gehen, 
und  vielleicht  wird  ihnen  mit  ein  paar  Stunden  längerem  Aufenthalt 
im  Budgetsaal  gedient  sein.  Aber  wo  sieht  man  bei  unseren  Gegnern 
noch  Ernst  und  Vernunft  oder  gar  ein  Programm?  Da  unterscheiden 
sich  die  deutschen  Parteien  in  nichts  von  den  tschechischen  Parteien. 
Und  wenn  Wahlen  in  die  Nähe  kommen,  da  haben  sie  ja  nur  einen 
programmatischen  Wahlspruch:  Rette  sich,  wer  kann!  Und  das  heißt 
bei  unseren  Freiheitlichen  in  der  Praxis:  Rettet  euch  zu  den  Kleri- 
kalen! Ob  wir  jetzt  Neuwahlen  bekommen,  hängt  nicht  von  uns  ab, 
sondern  davon,  ob  die  Regierung  und  ihre  Parteien  gewissenlos 
genug  sind,  das  große  Werk,  das  nun  vollendet  werden  soll,  auf  das 
Spiel  zu  setzen.  Aber  wenn  aufgelöst  wird,  werden  wir  die  Verant- 
wortung dafür  schon  vor  den  Wählern  feststellen.  Und  darum  werden 


nehmlich  mit  dem  durch  den  Separatismus  hervorgerufenen  Gewerkschafts- 
streit. Schon  in  seiner  Begrüßungsrede  kam  Adler  darauf  zu  sprechen. 
Zu  der  Frage  des  Gewerkschaftsstreites  siehe  das  Kapitel  „Der  Separa- 
tismus" im  achten  Band  dieser  Schriften;  sowie  auch  das  Kapitel  von 
der  Gesamtpartei. 


I  )im    ( icw  erkschaftsstreit. 


wir  auch  mit  voller  Zuversicht  in  die  Wahlen  gehen.  (Lebhafter  Bei- 
fall.) 

Aber  dieser  Kongreß  tritt  nicht  nur  in  einer  Zeil  der  parlamen- 
tarischen Krise  zusammen.  Was  uns  mehr  berührt  w\)<.\  worauf  auch 
schon  der  Delegierte  der  tschechischen  Partei  hier  hingewiesen  hat, 
das  sind  die  Schwierigkeiten,  die  in  die  Partei  gebracht  wurden 
durch  den  Streit  innerhalb  der  tschechischen  Partei.  Diesen  Streit. 
der  nicht  nur  für  die  tschechische,  sondern  für  die  ganze  Arbeiter- 
schaft gleich  unheilvoll  ist.  Wir  wollen  hier  keine  Rekriiuinationen 
erheben,  aber  wir  müssen  den  Tatsachen  klar  in  das  Auge  sehen. 
Wir  stehen  unentwegt  und  unbeirrt  auf  dem  Boden  des  Kopen- 
hagener Beschlusses.  Für  uns  besteht  darüber  kein  Zweifel,  daß,  SO 
notwendig  in  der  politischen  Organisation  die  Autonomie  ist,  so 
grundsätzlich  notwendig  auf  gewerkschaftlichem  Boden  die  Ver- 
einigung, die  Zentralisation  ist.  Wir  sind  selbstverständlich  ohn- 
mächtig, eine  Entwicklung  aufzuhalten,  die  nicht  auf  dem  Boden 
unserer  Organisation  entstanden  ist,  die  in  ihren  Folgen  zwar  auch 
uns  schwer  trifft,  in  die  einzugreifen  uns  aber  versagt  ist.  So  wie 
das,  was  man  Separatismus  nennt,  politische  Wurzeln  hat,  so  hat  es 
auch  politische  Folgen,  und  darum  ist  es  notwendig,  daß  wir  auch 
darüber  sprechen.  Wenn  in  der  tschechischen  Partei  jemand  ge- 
glaubt hat,  daß  der  Separatismus  ihr  nützen  werde,  so  wird  er  jetzt 
wohl  schon  anderer  Ansicht  sein.  Wir  stehen  vor  der  Tatsache  der 
größten  Wirren  in  der  tschechischen  Partei.  Das  ist  auch  für  uns 
ein  schweres  Unglück,  denn  wir  sind  mit  dieser  tschechischen 
Sozialdemokratie  aufgewachsen  und  groß  geworden  und  jeden 
Schaden,  der  ihr  erwächst,  empfinden  wir  als  unseren  eigenen 
Schaden,  und  doch  stehen  wir  diesem  Prozeß  ganz  machtlos  gegen- 
über. Es  trifft  uns  vor  allem  deshalb,  weil  auch  in  unserer  Arbeiter- 
schaft nun  Zweifel  darüber  entstehen,  ob  die  Internationale  der 
Arbeiterschaft  ein  bloßes  Wort  oder  auch  Blut  und  Leben  und 
Wirklichkeit  ist.  (Lebhafte  Zustimmung.)  Aber  wir  können  das  nicht 
beseitigen  und  müssen  warten,  was  drüben  geschieht.  Aber  was 
wir  müssen  und  können,  ist,  unsere  Anstrengungen  verdoppeln,  um 
zu  vermeiden,  daß  der  Kampf,  wo  er  ausbricht,  widerwärtige 
Formen  annehme.  Der  Gewerkschaftsstreit  ist  ja  nicht  die  einzige 
Wurzel  der  Differenzen  zwischen  uns,  sondern  sie  haben  auch 
politische  Ursachen  und  alle  diese  Fragen  drehen  sich  um  das  natio- 
nale Problem  in  Österreich.  Vor  etwa  anderthalb  Jahren  haben  die 
tschechischen  Genossen  in  Prag  und  wir  in  Reichenberg  be- 
schlossen, den  Versuch  zu  machen,  zu  einem  gemeinsamen  detail- 
lierten nationalen  Programm  zu  kommen.  Nie  war  eine  Zeit  un- 
günstiger dafür  als  die  jetzige.  Ich  will  nicht  untersuchen,  wer  mehr 
schuld  daran  ist,  aber  da  es  so  ist  und  da  ein  solches  gemeinsames 
Programm  für  die  Einzelfragen  zunächst  unmöglich  ist,  werden  wir 
wohl  dazu  gelangen  müssen,  daß  die  deutsche  Sozialdemokratie  für 
sich  allein  die  praktischen  Konsequenzen  aus  dem  Brünner  Natio- 
nalitätenprogramm ziehen  muß  —  es  ist  selbstverständlich,  daß  wir 
das  im  proletarischen  und  im  internationalen  Geiste  tun  werden. 
Aber  es  ist  ebenso  selbstverständlich,  daß,  so  wie  wir  uns  unserer 


352  Gewerkschaften  und  Genossenschaften. 


internationalen  Pflichten  voll  bewußt  sind,  wir  uns  auch  unserer 
Pflichten  gegen  das  deutsche  Proletariat  bewußt  sind.  Wenn  der 
Brand  im  Hause  des  Nachbarn  wütet,  müssen  w  i  r 
zunächst  unser  eigenes  Haus  bestellen,  wenn  wir 
auch  alle  bereit  sind,  dem  anderen  Hilfe  zu  leisten  -  der  von  uns 
freilich  keine  Hilfe  haben  will. 

Der  Parteitag  wird  reiche  Arbeit  haben.  Wir  stehen  jetzt  wieder 
vor  der  aufsteigenden  Linie  auch  der  wirtschaftlichen  Konjunktur. 
Wir  stehen  politisch  in  einem  sehr  günstigen  Moment.  Sie  sollen  nur 
auflösen!  Die  Rechnung  wird  ihnen  präsentiert  werden!  Aus  den 
Sünden  unserer  Gegner  muß  für  uns  reiche  Frucht  erwachsen  und 
wann  immer  es  zum  Wahlkampf  kommt  —  sei  es  heute  oder  in 
sechs  Monaten  oder  noch  später  — ,  so  treten  wir  ein  in  den  Kampf 
mit  dem  Bewußtsein,  daß  wir  nicht  nur  die  letzten  Wochen,  sondern 
die  ganzen  Jahre  vorher  auf  dem  Posten  gestanden  haben.  (Leb- 
hafter Beifall.) 

Bericht  der  Landesparteivertretung. 

Die  Genossen,  die  wünschen,  daß  sich  die  Partei  in  den  Streit 
innerhalb  der  tschechischen  Partei  einmenge*),  verfallen  nur  in  einen 
ähnlichen  Fehler  wie  die  tschechischen  Genossen,  deren  Grundübel 
es  ist,  daß  sie  dem  Aberglauben  huldigen,  die  gewerkschaftliche  Or- 
ganisation müsse  den  Bedürfnissen  der  politischen  Partei  unter- 
geordnet sein.  Was  wird  denn  besser,  wenn  wir  uns  einmischend 
Glauben  Sie,  daß  die  Kämpfe  dann  rascher  zu  Fnde  sein  werden? 
Glauben  Sie,  daß  wir  den  tschechischen  Zentralisten  damit  auch  nur 
nützen?  Daß  fremdes  Dazutun  hier  etwas  entscheiden  kann?  Glauben 
Sie  mir,  wir  können  nichts  anderes  tun  als  den  Brand  ausbrennen 
lassen,  der  bei  den  tschechischen  Genossen  ausgebrochen  ist.  Wir 
können  in  den  Kampf  innerhalb  der  tschechischen  Partei  nicht  ein- 
greifen, ohne  diesen  Kampf  länger  dauern  zu  machen  als  er  natur- 
gemäß dauern  wird.  Man  wirft  uns  mit  Unrecht  vor,  daß  wir  etwas 
verschleiern.  Die  „Arbeiter-Zeitung"  hat  nichts  verschleiert,  sie  hat 
alle  Tatsachen  festgestellt;  allerdings  hat  sie  nicht  wie  das  „Prävo 
Lidu"  jede  Tatsache,  die  Aufregung  schaffen  kann,  noch  aufgebauscht 

*)  Den  Bericht  der  Landesparteivertretung  erstattete  Josef  Seliger. 
Er  beantragte  eine  Resolution,  die  alle  Absplitterungsbestrebungen  verurteilte, 
aber  erklärte,  daß  die  deutschen  Sozialdemokraten  doch  im  Kampfe  gegen 
Unternehmertum  und  Klassenstaat  die  treuen  Verbündeten  und  Helfer  wie 
der  Arbeiter  aller  anderen  Nationen  so  auch  des  tschechischen  Proletariats 
bleiben.  —  Kreibich  (Reichenberg,  der  nachmalige  Kommunist)  beantragte 
eine  Resolution,  der  Landesparteitag  verurteile  den  Separatis- 
mus auf  das  entschiedenste  und  forderte  die  Parteigenossen  auf,  ihn  überall 
auf  das  energischeste  zu  bekämpfen  und  die  tschechischen  Zen- 
tralisten in  jeder  Weise  zu  unterstützen.  Dazu  sprach  Adler  und  nach 
ihm  Bauer,  worauf  Kreibich  seiner  Resolution  noch,  um  ihren  Bedenken 
entgegenzukommen,  anfügte,  daß  die  Parteigenossen  auch  aufgefordert 
werden  sollen,  „alles  daranzusetzen,  um  die  tschechische  Arbeiterschaft 
über  die  Schädlichkeit  des  Separatismus  aufzuklären".  Darauf  wurde  sowohl 
die  Resolution  des  Referenten  als  auch  der  Antrag  Kreibieh  a  n  g  e- 
11  o  m  m  e  u. 


Genossen  und  Genossenschafter. 

und  die  Diskussion  vergiftet.  So  haben  wir  dem  Frieden  -cdicut. 
gut  wir  konnten.  Nim  sind  die  Verhandlungen  abgebrochen,  weil  die 
Separatisten  unentwegt,  ohne  jede  Konzession,  auf  ihrem  Standpunkt 
beharren.   Nim  werden  gewiß  Folgen   innerhalb  der   tschechischen 

Partei  eintreten  und  damit  auch  Folgen  für  uns.  Die  Resolution,  die 
hier  vorliegt,  schließt  mit  der  Frklärung  der  Solidarität  mit  dein 
tschechischen  Proletariat.  Nicht,  daß  wir  die  Verbündeten  der  tsche- 
chischen Separatisten  sein  wollen  steht  hier,  wie  es  behauptet 
wurde.  Aber  dal]  wir  das  tschechische  Proletariat  als  unsere  Brüder 
ansehen,  das  müssen  wir  hier  klar  und  deutlich  erklaren.  Mögen  also 
die  anderen  freveln,  wir  werden  gewiß  darunter  leiden,  aber  wir 
werden  trachten,  unsere  eigene  Partei  möglichst  davor  zu  schützen. 
Wir  werden  aber  trotz  allem,  was  an  uns  gefrevelt  wird,  nicht  ver- 
gessen, daß  wir  solidarisch  sind  mit  den  Proletariern  aller  Zungen, 
insbesondere  auch  mit  den  tschechischen  Proletariern.  Es  wurde 
von  der  Fraktion  gesprochen  und  davon,  daß  wir  dort  beisammen 
sitzen.  Die  Fraktion  ist  kein  Gerichtshof  und  mit  wem  ich  dort  bei- 
sammen sitze,  hängt  nicht  von  mir  ab.  Glauben  Sie,  daß  wir  den 
Verband  sprengen  sollen  und  dürfen?  Glauben  Sie,  daß  es  gleich- 
gültig ist  für  die  wichtigen  Arbeiterfragen,  die  im  Parlament  ver- 
handelt werden,  ob  wir  ein  einheitlicher  Verband*)  sind  oder  kleine 
nationale  Verbände?  Ich  begreife  Ihren  Unmut,  auch  Ihre  Leiden- 
schaft. Emil  Zola  sagte  einmal,  wenn  er  die  Morgenblätter  lese,  habe 
er  das  Gefühl,  jeden  Tag  eine  Kröte  schlucken  zu  müssen.  Auch 
wir  haben,  wenn  wir  gewisse  Preßstimmen  lesen,  oft  das  Gefühl, 
eine  Kröte  zu  schlucken.  Aber  wir  können  auf  unsere  persönlichen 
Empfindungen  keine  Rücksicht  nehmen,  wenn  es  sich  um  große 
Interessen  handelt,  und  ich  bitte  auch  Sie,  Selbstbeherrschung  zu 
üben  und  Ihrer  wenn  auch  noch  so  begreiflichen  Erregung  nicht  die 
Zügel  schießen  zu  lassen.  (Lebhafter  Beifall.) 

Genossen  und  Genossenschafter* 

Genossen  schafts  tag  am  3.  September  1904**). 

Wenn  ich  Sie  im  Namen  der  sozialdemokratischen  Partei- 
vertretung begrüße,  bin  ich  mir  bewußt,  daß  ich  damit  über  den 
gewohnten  Rahmen  Ihrer  Tätigkeit  hinausgehe.  Aber  ich  bin  mir 
zugleich  bewußt,  daß  ich  Sie  hier  begrüßen  kann  als  Genossen- 
schafter; und  wenn  Sie  Genossenschafter  sind,  sind  Sie  in 
jedem  Sinne  auch  Genossen.  Sie  haben  in  dieser  Ihrer  Funktion 
nichts  mit  der  Politik  zu  tun  und  was  der  Gast  aus  Deutschland 


)  Nach  den  Juniwahlen  1911  ist  dann  aber  doch  der  einheitliche  Verband 
nicht  mehr  geschaffen  worden. 

)  Den  Verbandstag  der  Arbeiter-Hrwerbs-  und  Wirtschaftsgenossen- 
schaften, der  am  3.  September  1904  im  Favoritner  Arbeiterheim  zusammen- 
trat, begrüßte  Adler  als  Vertreter  der  Parteivertretung.  Der  deutsche 
Vertreter,  dessen  Worte  Adler  zitiert,  war  Kaufmann  (Hamburg),  der 
Vertreter  des  Verbandes  der  deutschen  Konsumvereine. 

Adler,  Briefe.   XI.  Bd.  23 


354  Gewerkschaften  und  Genossenschaften. 


von  Ihrer  unbedingten  Neutralität  gesagt  hat,  dem  braucht  mau 
nicht  zu  widersprechen.  Bleiben  Sie  in  den  Konsumvereinen  so  „un- 
bedingt neutral"  wie  Sie  wollen.  Aber  wenn  Sie  Ihrer  Aufgabe 
nachkommen  und  Sie    kommen    ihr    nach     --,    die    Lebens- 

haltung der  Arbeiterklasse  zu  lieben,  wenn  Sie  der  Aufgabe 
nachkommen,  jeden  einzelnen  Arbeiter  und  die  Arbeiterklasse  in 
ihrer  Gesamtheit  tüchtiger  und  stärker  zu  machen,  so  machen  Sie 
sie  dadurch  auch  kampffähiger  und  befördern  so,  ob  Sie  wollen 
oder  nicht,  bei  der  unbedingtesten  Neutralität  einen  der  Faktorei? 
zur  Durchführung  unseres  Programms.  (Beifall.)  Denn  unser  eigent- 
liches Programm  ist  die  Hebung,  die  Kampffähigmachung  des  Prole- 
tariats. Wir  wissen  sehr  genau,  daß  Ihre  Organisation,  die  Organi- 
sation des  konsumierenden  Proletariats,  heute  formell  und  sachlich 
nichts  zu  tun  hat  mit  der  Organisation  des  produzierenden  Prole- 
tariats und  mit  der  Organisation  des  kämpfenden  Proletariats. 
Aber  wie  Sie  heute  bei  der  striktesten  Neutralität  für  dasselbe  Ziel 
arbeiten,  dem  auch  unsere  Arbeit  gewidmet  ist,  so  müssen  Sie 
auch  in  Ihrem  Endziel  zusammenkommen  mit  dem 
Endziel,  das  wir  uns  gestellt  haben:  Genossen- 
schaftliche Produktion  und  genossenschaftliche 
Regelung  der  Konsumtion!   (Lebhafter  Beifall.) 

So  können  wir  bei  der  vernünftigen  und  sachlichen  Beurteilung 
unseres  gegenseitigen  Verhältnisses  und  bei  dem  ehrlichen  Willen, 
einander  nicht  zu  schädigen,  sondern  zu  fördern,  sehr  gut  mit- 
einander auskommen.  W'ir  Sozialdemokraten  kommen  hieher,  nicht 
um  von  Ihnen  irgend  etwas  zu  verlangen.  Wir  verlangen  von  Ihnen 
nicht  die  Förderung  unserer  politischen  Ziele,  aber  Sie  werden  uns 
gestatten,  daß  wir  glauben,  als  Sozialdemokraten  unsere  Pflicht  zu 
tun,  wenn  wir  den  Arbeitern  Österreichs  sagen:  Hier  liegt  eine 
Pflicht,  hier  liegt  eine  Aufgabe  für  euch,  eine  Aufgabe,  die  ihr  er- 
füllen müßt  in  eurem  eigenen  Interesse  und  im  Interesse  eurer  Zu- 
kunft. Diese  Konsumvereine  bilden  einen  Kern  jener  sozialen  Ent- 
wicklung, der  wir  alle  dienen,  sie  sind  mit,  wie  der  englische  Dele- 
gierte gesagt  hat,  ein  wichtiges  Moment  jener  demokratischen,  alles 
Antisoziale  bekämpfenden,  also  sozialen  Organisation,  die  inter- 
national sein  muß  und  in  der  wir  alle  stehen.  In  diesem  Sinne  be- 
grüße ich  Sie,  überzeugt,  daß  Sie  wie  wir  und  wir  wie  Sie  der 
gemeinsamen  Sache  der  Arbeiterklasse  dienen.  (Lebhafter  Beifall.) 


i    I       er  der  W  eil 


Verschiedenes. 

Einige  Laster  der  Weiber. 

Vortrag,  2  3.  Jim  i  1  *9  6*). 

Als  erstes,  aber  noch  nicht  schlimmstes  Laster  nannte  Doktor 
A  d  1  e  r  den  „Fleiß  der  F  r  a  u  e  nu.  Die  Geschlechtsgenossinnen 
der  Anwesenden  würden  es  zum  Beispiel  als  Frevel  bezeichnen, 
daß  die  Frauen  hier  mit  müßigen  Händen  sitzen.  Die  Frauen  seien 
ja  wohl  heute  gezwungen,  jene  häuslichen  Arbeiten  zu 
verrichten,  die  die  Männer  nicht  machen  können,  und  in  denen  sich 
ein  so  großer  Teil  des  Fleißes  der  Frauen  verzehrt.  Der  Fleiß  der 
Frau  sei  ein  einseitiger,  ein  falscher  und  zumeist  überflüssiger.  Be- 
sonders das  Stricken  der  Strümpfe,  das  Nähen  der  Wäsche,  über- 
haupt die  weiblichen  Handarbeiten,  die  heute  alle  in 
Fabriken  billiger,  das  heißt  mit  einem  weit  geringeren  Aufwand  an 
Arbeitskraft  hergestellt  werden,  erklärt  Dr.  Adler  für  überflüssig. 
Die  Klatschsucht  der  Frauen  sei  die  gewöhnliche  Folge  dieser 
Beschäftigungen.  Genosse  Adler  führt  diesen  Gedanken  auch  in 
launiger  Weise  aus  und  kommt  sodann  auf  ein  anderes  Laster  der 
Frauen,  den  Idealisinus  zu  sprechen.  Aus  ihm  heraus  erklärt  Adler 
die  Liebe  der  Weiber  für  die  Literatur.  Sie  lieben  mehr  die  Per- 
sonen als  die  Dinge,  mehr  die  Erscheinung  als  die  Idee.  Ein  Ein- 
gehen auf  technische  Fragen  und  die  Beschäftigung  mit  Natur- 
wissenschaft wäre  nützlicher.  Die  Weiber  wissen  eher  die  feinsten 
Unterschiede  zwischen  dem  französischen  und  dem  russischen 
Realismus,  als  wie  eine  Maschine  in  Bewegung  gesetzt  wird  oder 
bei  welchem  Grad  das  Wasser  gefriert.  Genosse  Adler  erteilt  den 
Russinnen  und  den  Engländerinnen,  die  hierin  eine  Ausnahme 
machen,  ein  Lob  und  empfiehlt,  ihnen  nachzuahmen.  Zum  Schluß 
nennt  Genosse  Dr.  Adler  als  letztes  und  schlimmstes  Laster  der 
Weiber  die  Sparsamkeit.  Was  sparen  sie  und  wozu  führt  ihr 
Sparen?  Sie  sparen  —  und  es  handelt  sich  hier  um  das  Sparen  der 
Arbeiter  und  Kleinbürger  —  von  dem,  was  sie  brauchen  müßten  und 
sollten,  wenn  sie  mehr  hätten.  Ja,  wenn  sie  sparen  könnten  wie 
die  Rothschilds,  wie  die  Unternehmer  sparen!  Wenn  die  Weiber  den 
Hunger  ihrer  Kinder  betrügen  und  ihnen  den  Brei  verdünnen,  „weü's 
dann  mehr  ausschaut",  wenn  sie  um  zwei  Kreuzer  weniger  Fett 

•)  I)er  Lese-  und  Diskutierklub  für  Frauen  und  Mädchen  ,.L  i  b  e  r  t  a  s" 
hielt  am  23.  Juni   1896  seine  Generalversammlung  ab. 


35b  Verschiedenes. 


brauchen  oder  ein  paar  Deka  Fleisch  „ersparen",  glauben  sie  weiß 
Gott  was  geleistet  und  gespart  zu  haben.  Das  einzige,  was  die 
Arbeiter  haben,  ist  ihre  Muskel-  und  Nervenkraft.  Die  müssen  sie 
sparen.  Sie  sollen  sparen  wie  die  Unternehmer,  wie  der  Staat:  mir 
ihrer  Arbeitskraft.  Der  Unternehmer  spart  die  Arbeitskraft  seiner 
Arbeiter  auf  und  sperrt  sie  ein.  Der  Staat  spart  kreuzerweise  an 
den  Löhnen  der  Tabakarbeiterinnen;  er  entzieht  ihnen  die  paar. 
Gulden  Pension  und  kauft  sich  Kanonen  und  Gewehre  zur  Be- 
wachung seiner  Ersparnisse.  In  Bier  und  Petroleum  und  Salz  spart 
er  und  baut  sich  aus  den  Ersparnissen  Arsenale  und  kauft  sich 
Soldaten!  So  müßten  die  Arbeiter  ihre  Ersparnisse  in  die  Kampf- 
organisationen, in  die  Gewerkschaften  tragen,  damit  auch  sie  gleich 
dem  Staate  und  den  Unternehmern  eine  Wehr,  ein  Arsenal  und 
Soldaten  haben,  um  die  Arbeitskraft  ihrer  Kinder  zu  beschützen. 
Der  einzelne  kann  nicht  sparen.  Das  muß  die  Gesamtheit  tun.  Ge- 
nosse Dr.  Adler  schließt  seinen  mit  vielem  Beifall  aufgenommenen 
Vortrag,  weil  ihm  weiter  keine  Laster  der  Weiber  einfallen.  Es 
seien  nicht  viele,  die  er  aufgezählt,  aber  um  sie  zu  beseitigen, 
hätten  die  Frauen  genug  zu  tun.  Wegen  vorgerückter  Stunde  konnte 
^ine  Diskussion  nicht  mehr  stattfinden. 

Die  Studenten  und  die  soziale  Bewegung. 

Vortrag      in      der      „Freien      Verein  igun  g'\ 
16.    Oktober     189  6*). 

Ich  habe  sicherlich  nicht  ohne  Bedenken  Ihrer  Einladung  Folge 
geleistet,  denn  ich  fürchte,  daß  das,  was  ich  zu  sagen  habe,  Ihnen 
nicht  besonders  angenehm  sein  wird.  Aber  schließlich  war  es  doch 
gerade  dieser  Umstand,  der  mich  bewog,  Ihren  Wunsch  zu  erfüllen, 
um  einmal  ganz  nüchtern  darzulegen,  was  der  kämpfende  Sozia- 
lismus von  der  Studentenschaft  erwartet.  Die  soziale  Bewegung  ist 
eine  Klassenbewegung,  die  Studenten  aber  sind  Leute,  die  zunächst 
kein  Klasseninteresse  haben,  weil  ihre  Lebensstellung  ein  Über- 
gangsstadium und  ihr  Anschauungskreis  noch  kein  geschlossener 


*)  Die  „Freie  Vereinigun  g",  eine  Verbindung  Wiener  Hoch- 
schüler zum  Zwecke  sozialwissenschaftlicher  Studien  und  Diskussionen, 
hatte  eine  große  öffentliche  Studentenversammlung  einberufen,  in  der  die 
Stellung  der  Studentenschaft  zur  sozialistischen  Bewegung  diskutiert 
werden  sollte.  Dr.  Adler,  der  vom  Ausschuß  des  Vereines  ersucht 
worden  war,  einen  Vortrag  über  diesen  Gegenstand  zu  halten,  sagte  zu, 
in  der  Erwägung,  daß  es  vielleicht  nützlich  sei,  den  Studenten  zu  sagen, 
was  die  Arbeiterschaft  von  der  jungen  „Intelligenz"  erwarte.  Die  Ver- 
sammlung war  sehr  gut  besucht.  Christlichsoziale  waren  trotz  der  hoch- 
trabenden Ankündigung  der  „Reichspost"  nicht  gekommen.  Von  den 
Deutschnationalen  waren  einige  Dutzend  anwesend.  Dagegen  waren  die 
jüdischnationalen  Studenten  in  hellen  Haufen  erschienen,  allerdings  nur  um 
Krawall  zu  machen.  Sie  belästigten  diese  Versammlung,  indem  sie  nach 
Adlers  Vortrag,  statt  zum  Thema  zu  sprechen,  Reden  über  den  Zionismus 
hielten. 


I  lie  Studenten  und  die  soziale  Bev 

ist.  Auf  die  Hochschule  kommen  die  Studenten,  den  Kopi  voll  mii 

Idealen.   Bei   vielen    verbirgt   sieh   dahinter   bloß   der   Wunsch    nach 
Ehre,    Einfluß   und   Geld,    andere     aber   Sind    von    wirklichem   edlen 

Drang  nach  Wahrheit  beseelt.  Alle  aber  sind  voll  von  Unkennti 
der  wirklichen  Welt.  Ein  großes  Stück  des  sogenannten  Idealismus 
ist  nichts  anderes  als  Unwissenheit  über  die  Dinge  um  uns.  I 
gelingt  den  herrschenden  Faktoren,  einen  Teil  von  ihnen  in  voller 
Unwissenheit  der  gesellschaftlichen  Zustände  zu  erhalten,  und  das 
werden  die  gefügigen,  naiven  Werkzeuge  der  herrschenden 
Klassen,  so  sehr  sie  selbst  auch  Proletarier  bleiben  mögen.  I)ie 
Unwissenheit  dieser  Leute  bildet  förmlich  ein  Machtmittel  des 
Klassenstaates.  Obwohl  aber  die  Erziehung  zum  Nichtwissen  eine 

stematische  ist,  ist  es  nicht  möglich,  daß  nicht  die  besseren 
Elemente  unter  den  Studenten  sich  erfüllen  mit  dem  Wunsche, 
etwas  zu  tun  gegenüber  dem  Weltbrand.  Es  ist  ja  fast  unmöglich, 
da  kalt,  teilnahmslos  zu  bleiben.  Der  Student  sieht  bald,  daß  das 
treibende  Element  der  sozialen  Bewegung  die  Arbeiterschaft  ist, 
aber  nur  schwer  kann  er  zum  Verständnis  der  Klassenbewegung 
gelangen.  In  der  Bewegung  zieht  ihn  zunächst  das  Pathetische,  die 
Poesie  an,  aber  die  Prosa,  die  harte  Wirklichkeit,  stößt  ihn  ab.  Wie 
sollen  Sie  sie  nun  kennenlernen,  wie  soll  sich  der  Student  in  der 
sozialen  Wirklichkeit  betätigen?  Ich  werde  Sie  nicht  in 
die  politische  Betätigung  hineinhetzen.  Im  Gegen- 
teil, Sie  haben  als  Studenten  ein  großes  Mittel,  der  Arbeiterschaft 
zu  nützen,  Sie  müssen  —  studieren.  Studieren  in  jedem 
Sinne.  Das  Herunterblicken  auf  das  Berufsstudium  als  bloßes 
Brotstudium  ist  eine  traurige  Eigentümlichkeit  des  Studenten, 
während  der  Arbeiter,  der  von  der  Arbeit  erdrückt  wird,  sie 
respektiert  als  den  heiligen  Hebel  aller  Kultur.  Der  Student  glaubt 
immer,  zu  höheren  Dingen  geboren  zu  sein.  Nun  gibt  es  aber  nichts 
Höheres,  als  ein  tüchtiger  Arbeiter  in  seinem  Beruf  zu  werden. 
Sind  Sie  das,  dann  erst  können  Sie  einen  Teil  des  Dankes,  den  Sie 
der  Arbeiterschaft  schuldig  geworden  sind,  dadurch  abtragen,  daß 
Sie  auf  Kosten  der  Arbeiterklasse  sich  bilden  dürfen,  daß  Sie 
genießen,  was  die  Arbeiterklasse  entbehrt,  daß  Sie  Nutznießer  des 
Monopols  auf  Wissen  sind.  Als  Ärzte,  als  Beamte  mit  wahrhaft 
sozialpolitischer  Schulung  könnten  Sie  einen  Teil  Ihrer  Dankes- 
schuld abtragen,  und  es  ist  daher  vor  allem  nötig,  daß  Sie  sich  mit 
Eifer  auf  Ihren  Beruf  vorbereiten.  Einige  von  Ihnen,  die  erklären, 
daß  sie  Sozialisten  seien,  werden  aber  sagen:  Wir  können  nicht 
warten,  wir  wollen  uns  jetzt  schon  als  Sozialdemokraten  betätigen. 
Sie  sind  aber  noch  jung,  jünger  als  Arbeiter  in  Ihrem 
A  1 1  e  r,  denn  Ihre  Erziehung  hat  Sie  hermetisch  von  allem  Kon- 
kreten, Lebendigen  abgeschlossen.  Die  Arbeiterklasse  im 
Westen  Europas  ist  auf  die  Mithilfe  der  Stu- 
denten auch  nicht  mehr  angewiesen.  Aber  doch  soll 
jeder  einzelne  von  Ihnen  in  unseren  Reihen  willkommen  sein,  wenn 
er  dort  nichts  anderes  sein  will  als  ein  Soldat,  der  alle  Selbst- 
überschätzung von  sich  tut,  wenn  er  entschlossen  ist,  in  der  Be- 

igung   v.w  arbeiten,  prosaisch,  nüchtern  zu  arbeiten.  Es  fragt 


358  '         hiedenes. 


sich  nur,  mit  welcher  Vorbereitung  diese  Arbeit  eine  gedeihliche 
sein  kann.  Wer  von  Ihnen  zu  uns  kommen  wird,  nachdem  er 
etwas  gelernt  hat,  wird  willkommen  sein;  wer  zu  uns  kommen 
will,  anstatt  etwas  zu  lernen,  den  können  die  Arbeiter  nicht 
brauchen. 

Zwei  Zukunftsbilder. 

„Arbeit  er -Zeitung",   31.    März    19  0  3*). 

Vor  Jahresfrist  etwa  veröffentlichte  Karl  K  a  u  t  s  k  y  eine  kleine 
Schrift,  die  den  deutlichen  Titel  trägt:  „Die  soziale  Revo- 
1  u  t  i  o  n."  In  ihrem  ersten  Teile  untersucht  er  die  Frage,  ob  die 
Gesellschaft  auf  ihrem  Wege  zum  Sozialismus  eine  revolutionäre 
Phase  zu  durchschreiten  haben  werde  oder  ob  diejenigen  recht 
haben,  die  meinen,  die  Gesellschaft  wachse  allmählich  in  den  Sozia- 
lismus hinein,  die  fortschreitende  Sozialreform  habe  Triebkraft 
genug,  um  die  notwendige  Umwälzung  bis  zu  ihrem  Ende  zu  führen. 

Was  ist  soziale  Reform,  was  ist  soziale  Revolution? 

Das  Gemeinsame  der  beiden  Prozesse  ist,  daß  langsam  oder 
rascher  die  politischen  und  juristischen  Einrichtungen  den  Verände- 
rungen der  ökonomischen  Grundlagen  angepaßt  werden.  Das  Unter- 
scheidende ist  weder  das  Tempo  noch  das  Temperament  dieser  Um- 
wälzung, sondern  liegt  darin,  wer  ihr  Träger,  wer  ihr  Exekutor  ist. 
Wenn  die  herrschenden  Klassen  selbst,  gleichgültig  ob  ganz  frei- 
willig oder  halb  genötigt,  jedenfalls  aber  noch  im  Besitz  der  poli- 
tischen Macht,  den  Übergang  vollziehen,  so  ist  das  soziale  Reform, 
mag  der  Vorgang  sich  auch  noch  so  akut  und  dramatisch  gestalten. 
Wenn  die  bisher  unterdrückten  Klassen  die  politische  Macht  er- 
ringen und  nun  als  Sieger  die  ökonomischen  und  politischen  Not- 
wendigkeiten in  Gesetze  und  Einrichtungen  umsetzen,  so  ist  das 
soziale  Revolution,  mag  dieser  Prozeß  sich  noch  so  friedlich  und 
noch  so  weitläufig  abspielen. 

Man  mag  den  Wert  von  solchen  Definitionen  nicht  allzu  hoch 
veranschlagen,  und  es  ist  in  der  Tat  ein  wenig  dankbares  Geschäft, 
das  Lebendige  in  Abstraktionen  zu  zwängen,  von  denen  wir  uns 
wieder  mühsam  befreien  müssen,  wenn  wir  über  ihre  starren 
Grenzen  hinwegsehen  wollen.  Aber  hinter  dem  scheinbaren  Wort- 
streit steckt  eine  ernste,  sachliche  und  praktische  Frage,  die 
Kautsky  mit  seiner  unübertrefflichen  Schärfe  der  Analyse  gestellt 
und  beantwortet  hat:  Lassen  die  heute  sichtbaren  Tendenzen  zur 
Sozialreform  vermuten,  daß  die  heute  Herrschenden  auch  bis  ans 
notwendige  Ende  gehen  werden  oder  muß  das  Proletariat  sich 
rüsten,  nicht  nur  täglich  und  im  einzelnen  auf  die  Machthaber  Druck 

*)  Dieser  Artikel  ist  nicht  direkt  im  Zuge  der  Debatten  über  den 
Revisionismus  geschrieben,  aber  doch  wohl  im  Hinblick  auf  sie,  wobei 
daran  erinnert  werden  soll,  daß  der  Dresdner  Parteitag,  auf  dem  diese 
Fragen  zum  Austrag  kamen,  im  September  1903  stattfand.  Den  äußeren 
Anlaß  gab  aber  das  Erscheinen  der  Schrift  von  Anton  Menger  über  die 
neue  Staatslehre. 


Zwei   Zukunftsbilder. 

auszuüben,  sondern  auch  die  Macht  an  sich  zu  reißen,  um  zu  voll- 
enden, was  jene  nicht  lim  wollen,  nicht  (im  werden?  Es  wird  den 
Optimisten  schwer  sein,  kantsky  ZU  widerlegen,  wenn  er  nnchweisi. 
dal.»  (rot/,  aller  Encdensschahneicn  die  Klassengegensätze  sicll  nicht 
mildern,  sondern  verschärfen,  daß  allerdings  die  Macht  und  (\^v  Ein- 
fluß des  organisierten  Proletariats  Schritt  um  Schritt  wachsen,  dal; 
aber  mindestens  in  gleichem,  auf  den  meisten  Gebieten  aber  in  ver- 
stärktem Maße  die  Machtmittel  des  vom  Kapitalismus  beherrschten 
Staates  wachsen.  Mit  Recht  warnt  er  davor,  ans  der  Arbeiterfreund- 
lichkeit und  den  sozialistischen  Neigungen  der  bürgerlichen  Intelli- 
genz optimistische  und  voreilige  Schlüsse  zu  ziehen.  Denn  sie  bildet 
nur  jenen  Teil  der  Bourgeoisie,  der  in  ihrem  Namen  schreibt  und 
spricht,  nicht  aber  jenen,  der  ihr  Handeln  bestimmt;  Menschen  und 
Klassen  aber  muß  man  nicht  an  ihren  Worten,  sondern  an  ihren 
Taten  messen.  Die  Demokratie  aber,  das  Eindringen  von  Sozialisten 
ins  Parlament,  in  die  ( jemeindestube,  in  einzelne  Zweite  der  Ver- 
waltung, was  hat  sie  bewirkt,  was  kann  sie  bewirken?  Sie  bringt 
täglich  den  größten,  unentbehrlichsten  Nutzen,  sie  kann  helfen. 
Schritt  für  Schritt  die  Lebenshaltung  des  Proletariats  zu  heben,  sie 
kann  seine  Einsicht,  seine  Fähigkeit,  zu  verwalten  und  zu  herrschen, 
wecken  und  steigern,  aber  den  Einfluß  des  Proletariats  ent- 
scheidend machen  kann  sie  nicht,  wo  irgendwie  eine  Lebens- 
frage, das  ist  eine  Herrschaftsfrage  der  heutigen  Machthaber  be- 
rührt wird.  Ja,  der  nachgerade  unabsehbare  und  seiner  Natur  nach 
endlose  Streit  im  sozialistischen  Lager  entspringt  im  Grunde  ge- 
nommen aus  der  Antinomie,  daß  die  fortschreitende  Demokratie 
allerdings  einzelne  Funktionen  der  staatlichen  oder  gemeindlichen 
Verwaltung  in  die  Hände  von  Sozialisten  bringt,  daß  aber  diese 
sozialistischen  Funktionäre,  so  nützlich  sie  wirken  mögen,  mit  Not- 
wendigkeit Teile  der  Herrschaftsmaschine  werden,  der  sie  sich  in 
allen  entscheidenden  Dingen  ein-  und  unterordnen  müssen. 

Mit  einem  Worte:  Sozialreform  und  Organisation  können  das 
Proletariat  allerdings  zum  Kampfe  um  die  Macht  f  ä  h  i  g  m  a  c  h  e  n, 
aber  sie  können  ihm  diesen  Kampf  nicht  ersparen. 
Wann,  unter  welchen  Umständen,  in  welchen  Formen  dieser  Kampf 
kommen  wird,  das  wissen  wir  nicht;  aber  daß  all  unser  Tun,  all 
unsere  tägliche  Arbeit  nur  Rüstung  ist  zu  diesem  Entscheidungs- 
kampf, das  wissen  wir,  das  muß  unser  Bewußtsein  erfüllen. 

Der  zweite  Teil  von  Kautskys  Schrift*)  trägt  den  Untertitel:  „Am 
Tage  nach  der  Revolution",  und  er  hat  Verwunderung  erregt.  Ist 
Karl  Kautsky  unter  die  Utopisten  gegangen?  Er  selbst  verwahrt 
sich  natürlich  dagegen,  aber  er  hält  es  für  „eine  gute  Denkübung 
und  für  ein  Mittel,  politische  Klarheit  und  Beständigkeit  zu  fördern, 
wenn  wir  versuchen,  die  Konsequenzen  unseres  Strebens  zu  ziehen 
und  die  Probleme  zu  erforschen,  die  uns  aus  der  Eroberung  der  poli- 
tischen Macht  erwachsen  dürften".  Nun  muß  icli  allerdings  gestehen, 

i   Die  soziale  R  e  v  o  i  u  t  i  o  n.  Von    Karl   K  a  u  t  s  k  y.  Zwei   Hefte. 
56  und  48  Seiten.  40  Pfennige   und   30  Pfennige.    Berlin   1902.  Verlan   der 
hhandlung  „Vorwärts". 


360  Verschiedenes. 


daß  es  mir  vorläufig  zur  Denkgymnastik  ausreichend  erscheint,  dar- 
über nachzusinnen,  wie  wir  überhaupt  zu  dieser  Eroberung  der  poli- 
tischen Macht  gelangen  können,  aber  ohne  Zweifel  ist  es  im 
höchsten  Grade  interessant,  gerade  Kautsky  in  jene  transzenden- 
talen Gedankengänge  zu  folgen,  dem  nüchternen  Forscher,  dessen 
einziges  Laster  gelegentlich  ein  Exzeß  von  Klarheit  ist.  In  der  Tat 
ist  es  überaus  reizvoll  zu  sehen,  wie  bei  dem  Entwerfen  dieser  Zu- 
kunftspläne überall  mit  der  Leidenschaft  seines  revolutionären 
Willens  die  Vorsicht  seines  historisch  und  ökonomisch  geschulten 
Intellekts  ringt.  Kautsky  hat  es  sich  keineswegs  leicht  gemacht,  sich 
nirgends  mit  leeren  Worten  genügen  lassen  und  ist  überall  bemüht, 
konkret  zu  denken.  Man  mag  gegen  manche  seiner  Vorstellungen 
-  Vorschläge  wäre  in  seinem  Sinne  schon  zuviel  gesagt  —  Ein- 
wände erheben,  undurchführbar  und  unmöglich  wird  keine  einzige 
erscheinen,  denn  überall  steht  er  auf  dem  festen  Boden  der  heutigen 
Produktionsmöglichkeiten,  des  gegenwärtigen  geistigen  und  kultu- 
rellen Zustandes  des  Volkes.  Man  kann  zweifeln,  ob  seine  Konstruk- 
tion den  kürzesten,  gangbarsten  Weg  anzeigt;  daß  es  einer  der 
möglichen  Wege  ist,  weiß  er  mit  überzeugender  Kraft  darzulegen. 
Schade,  daß  Kautskys  Schrift  nicht  um  ein  Jahr  früher  erschienen 
ist  oder  Anton  Mengers  Buch*)  um  ein  Jahr  später**).  Nicht 
als  ob  erwartet  werden  könnte,  Menger  hätte  an  seiner  „Neuen 
Staatslehre"  deshalb  auch  nur  ein  Komma  geändert,  aber  vielleicht 
hätte  er  sich  doch  genötigt  gesehen,  sich  mit  dem  Standpunkt 
Kautskys  auseinanderzusetzen,  zu  dem  er  in  schroffstem  Wider- 
spruch steht.  Wenn  man  jede  Konstruktion  eines  zukünftigen  Gesell- 
schaftsbaues eine  Utopie  nennen  will,  so  hat  uns  Kautsky  eine  öko- 
nomisch-politische, Anton  Menger  eine  juristische  Utopie  gegeben. 
Und  darin  liegt  schon  das  Wesentliche  alles  dessen,  was  man  über 
Mengers  Werk  kritisch  sagen  kann.  Die  Frage  nach  der  sozia- 
listischen Zukunft  juristisch  beantworten,  das  ist  eine  Utopie  in  der 
Utopie. 

Es  ist  begreiflich,  daß  das  Mengersche  Buch  das  größte  Auf- 
sehen hervorruft.  Der  berühmte  Professor  des  Privatrechtes  hat 
vor  einigen  Jahren  sein  Lehramt  an  der  Wiener  Universität  völlig 
freiwillig  niedergelegt,  um  seine  ganze  Kraft  dem  Werke  widmen 
zu  können,  das  er  soeben  veröffentlicht  hat.  Und  dieses  Werk  ist 
ein  mutiges,  rückhaltloses  und  rücksichtsloses 
Bekenntnis  zum  Sozialismus.  Es  legt  die  Grundlinien 
eines  sozialistischen  Rechtssystems  dar,  durch  dessen  Annahme  er 
den  heutigen  „individualistischen  Machtstaat"  in  den  „v  o  1  k  s  t  ü  m- 
liehen  Arbeitsstaat"  hinüberführen  will,  dessen  erste  und 
wichtigste  Grundlage  das  Gemeineigentum  an  sämtlichen  Produk- 
tionsmitteln sein  wird.  An  revolutionärer  Entschlossenheit  läßt  das 
Buch  so  wenig  zu  wünschen  übrig  wie  an  unbarmherziger  Kritik 


*)    Neue    Staatslehre.    Von    Anton    Menger.    Jena.  Verlag  von 
Gustav  Fischer,  1903.  335  Seiten;  6  Kronen. 

**)  Das  bezieht  sich  darauf,  daß  die  „Neue  Staatslehre",  wie  aus  dem 
Vorwort  ersichtlich  ist,  im   Juli   1902  abgeschlossen  war. 


/w ei   /iikimiishilii»  i  *'»' 


der  heutigen  Zustände,  deren  Barbarei  und  Heuchelei  es  mit  feinei 
Ironie,  hinter  ^Wv  man  die  leidenschaftliche  Entrüstung  empfindet, 
brandmarkt.  Man  sieht,  es  ist  eine  merkwürdige  Spezies  von  Hol 

rar,  die  wir  da  vor  uns  haben. 

Das  Buch  ist  nach  dieser  Richtung  eine  Überraschung,  trotzdem 
man  wußte,  was  von  Anton  Me  n  ge  r  zu  erwarten  sei.  Hat  er  doch 
ein  Stück  Gegenwartsarbeit  geleistet,  die  wir  ihm  hei  aller  An- 
erkennung seiner  tapferen  Gesinnung  hoher  anrechnen  als  den  sozia- 
listischen Radikalismus  seiner  Endziele.  Als  linde  der  achtziger 
Jahre  der  Entwurf  eines  bürgerlichen  Gesetzbuches  für  das  Deutsche 
Reich  vorlag,  übte  er  daran  eine  schneidende  Kritik  in  jenem  be- 
rühmten Buche :  „1 )  a  s  b  ü  r  g  e  r  1  i  c  h  e  Recht  und  die  b  e- 
sitzlosen  Volksklassen",  eine  Kritik,  in  der  er  darlegte, 
daß  es  kein  zweites  Gesetzwerk  gebe,  „das  die  besitzenden  Klassen 
so  einseitig  begünstigt  und  diese  Begünstigung  so  unumwunden  zu 
erkennen  gibt".  Diese  Schrift  hat  eine  Bedeutung  gewonnen  weit 
über  ihren  Anlaß  hinaus,  und  wenn  Menger  den  Erfolg  erlebte,  daß 
wenigstens  einzelne  seiner  Anregungen  in  dem  definitiven  Gesetzes- 
werk Beachtung  fanden,  so  ist  es  noch  viel  wichtiger,  daß  seine 
Darstellung  des  heutigen  Privatrechtes  als  eines  Klassenrechtes, 
dessen  Handhabung  ein  Stück  Klassenjustiz  ist,  eine  dauernde  Wir- 
kung übte  und  übt.  Es  war  in  diesem  Sinne  eine  Tat,  durch  die  sich 
Anton  Menger  die  Anerkennung  und  den  Dank  der  Arbeiterklasse 
erworben  hat. 

In  der  Tat  ist  Anton  Menger  ein  zünftiger  Jurist  ganz  eigener 
Art.  Wie  seine  Kollegen  ist  er  eifrig  beflissen,  die  Macht  zu  stützen 
und  Stützen  der  Macht  zu  erziehen.  Nur  ist  die  Macht,  der  er  dient, 
nicht  die,  die  heute  in  Amt  und  Würden  thront,  sondern  er  hat  ein 
Ohr  für  die  kommende  Macht,  der  die  Zukunft  gehört,  und  ihr  dient 
er  mit  seinem  ehrlichen  Herzen  und  seinem  rastlosen  Fleiße!  Ihr 
will  er  die  Wege  ebnen  und  er  ist  überzeugt,  daß  dazu  nichts  not- 
wendiger und  dringender  sei  als  „die  künftigen  Rechtsgestaltungen 
vorzubereiten",  wie  er  es  in  seiner  Rektoratsrede  ausdrückte.  Denn 
es  sei  die  Aufgabe  der  Juristen,  die  „Kongruenz  zwischen  Recht  und 
Macht  zu  erhalten",  dann  würde  ihnen  „bis  zu  einem  gewissen  Grade 
das  Schiedsrichteramt  zwischen  den  verschiedenen  Klassen  der  Ge- 
sellschaft zufallen".  In  der  Tat,  wenn  der  Klassenkampf  friedlich 
schiedlich  zu  schlichten  wäre,  keinen  unbefangeneren,  gerechteren  und 
gewissenhafteren  Schiedsrichter  könnten  wir  uns  wählen  als  diesen 
k.  k.  Hofrat.  Vorläufig  muß  er  sich  freilich  damit  begnügen,  für  die 
arbeitenden  Klassen,  die  auf  dem  Wege  zur  Macht  sind,  ein  „ganzes 
System  von  neuen  Rechtsgestaltungen"  zu  schaffen,  und  dieses 
System  liegt  uns  nun  vor.  Seine  Grundlage  ist  die  politische,  vor 
allem  aber  die  wirtschaftliche  Freiheit  des  Individuums,  die  ver- 
wirklicht ist  durch  das  „R  echt  au  f  E  x  i  s  t  e  n  z"  und  die  ein- 
geschränkt ist  durch  die  allgemeine  Arbeitspflicht.  Jedes 
individuelle  Eigentum  an  Produktionsmitteln,  Grund  und  Boden 
natürlich  eingeschlossen,  fällt  weg,  wodurch  das  Erbrecht  praktisch 
entfällt.  Das  Obligationenrecht  verschwindet  fast  restlos,  soweit  es 
Verpflichtungen  zwischen  den  einzelnen  Staatsbürgern  betrifft.  Das 


362  schiedenes. 


Eherecht  wird  nur  insofern  berührt,  als  es  von  Vermögensrechten 
handelt.  Dagegen  wird  das  Straf  recht  natürlich  gründlich  geändert: 
der  Schutz  des  Eigentums,  der  heute  strengere  Strafen  zur  'Ver- 
fügung hat  als  der  Schutz  von  Leib  und  Leben,  wird  auf  ein  Mini- 
mum reduziert,  hingegen  wird  die  Arbeitspflicht  mit  Strafsanktionen 
zu  umgeben  sein.  Der  wesentlichste  Zug  des  neuen  Rechtes  ist,  daß 
das  „Privatrecht  sich  in  öffentliches  Recht  verwandelt",  daß  „alle 
privatrechtlichen  Unterwerfungsverhältnisse  verstaatlicht"  sind.  Das 
Ziel  des  Staates  ist  nicht  mehr  Macht  und  Glanz  der  Machthaber, 
sondern  die  Verwirklichung  der  wichtigsten  und  allgemeinen 
Lebenszwecke  aller,  die  heute  jeder  einzelne  innerhalb  der  Schran- 
ken des  Privatrechts  regelmäßig  mit  eigener  Kraft  und  auf  eigene 
Gefahr  zu  besorgen  hat.  Die  Verwaltung  wird  immer  mehr  einen 
technisch-ökonomischen  Charakter  annehmen,  und  wenn  auch  die 
meisten  Funktionäre  durch  Wahl  bestellt  werden,  so  wäre  doch, 
insbesondere  während  der  Übergangszeit,  eine  straffe  Zusammen- 
fassung der  Staatsgewalt,  eine  starke  Regierung  unerläßlich.  Nicht 
sehr  viel  erfahren  wir  darüber,  auf  welchem  Wege  der  volkstüm- 
liche Arbeitsstaat  herbeizuführen  sei.  Vom  Wege  der  revolutionären 
Gewalt  wird  abgeraten,  aber  nicht  etwa  wegen  der  Heiligkeit  der 
bestehenden  Rechtsordnung.  „Denn  die  herrschenden  Familien  und 
Parteien  haben  niemals  gezögert,  in  entscheidenden  Momenten 
selbst  die  besterworbenen  Rechte  zu  zerstören,  wenn  es  galt,  ihre 
Herrschaft  zu  begründen  oder  dauernd  zu  befestigen . . .  Oft  genug 
wurden  auch  Privatrechte  in  ungeheurem  Umfang  zugunsten  der 
politischen  Interessen  der  herrschenden  Familien  und  Parteien  auf 
gewaltsame  Weise  vernichtet.  Und  doch  handelte  es  sich  bei  diesen 
großen  Umwälzungen  nur  um  das  Interesse  enger  Lebenskreise, 
während  die  Einführung  des  volkstümlichen  Arbeitsstaates  das  Wohl 
des  gesamten  Volkes,  ja  der  ganzen  Menschheit  berührt."  Von  der 
gewaltsamen  Revolution  ist  also  nicht  etwa  darum  abzuraten,  weil 
sie  ungerecht  wäre,  sondern  weil  sie  unzweckmäßig,  ja  unmöglich 
ist.  Wie  also  sollen  wir  zum  Ziele  kommen?  Darauf  antwortet 
Menger  mit  wenig  mehr  als  einer  ziemlich  dunklen  Analogie  mit  der 
Einführung  des  Christentums  und  einem  nicht  minder  dunklen  Hin- 
weis auf  „das  Element  der  Auflösung",  das  jeder  militärische  Miß- 
erfolg für  den  Militärstaat  wrerden  müsse.  Gerade  aber  weil  die  Ge- 
walt unmöglich  ist,  meint  Menger,  ist  die  Möglichkeit  eröffnet,  daß 
die  Einführung  der  neuen  sozialen  Ordnung  in  engem  Anschluß  an 
die  überlieferten  Begriffe  von  Recht  und  Staat  erfolge . . . 

Alles  in  allem:  ein  durchaus  revolutionär  gedachtes  Buch  eines 
Juristen.  Allerdings  nur  eines  Juristen.  Und  damit  berühren  wir  die 
Schwäche  des  gedankenreichen  und  anregenden  Werkes.  Anton 
Menger  ermangelt  nicht  nur  jeder  ökonomischen  Schulung,  sondern 
er  lehnt  jede  ökonomische  Betrachtungsweise  mit  einer  Abneigung 
ab,  die  bis  zur  Idiosynkrasie  geht.  Schon  in  seinem  „Recht  auf  den 
vollen  Arbeitsertrag",  1886  erschienen,  hat  er  über  die  „national- 
ökonomische Verbrämung,  die  namentlich  bei  den  deutschen  Sozia- 
listen einen  so  breiten  Raum  einnimmt",  gespottet,  und  in  seinem 
neuen  Buche  kehrt  das  alte  Wort  wieder    und  die  „nationalökono- 


Zwei   Zukunftsbilder,  * 

mische  Verbrämung  des  Sozialismus"  wird  als  „verfehlt  und  &we< 
los"  erklärt.  Mit  dieser  Einseitigkeit  hängt  der  starke  Widerwille 
Mengers  gegen  }l\\l-  geschichtliche  Auffassung  de  ilen  Pro- 

blems zusammen.  Nur  nebenbei  erwähnen  wir  seine  echt  pro- 
fessorenhafte  Schrulle,  die  Ökonomischen  und.  historischen  Theorien 
von  Marx-Engels  bei  jeder  Gelegenheit  erstens  als  Plagiat  und 
zweitens  als  grundfalsch  zu  vermöbeln.  Der  moderne  Sozialismus 
kann  diese  freundnachbarliche  Feindseligkeit  aushalten.  Aber  um 
Menger  ganz  ZU  verstehen,  muß  man  wissen,  daß  er  der  beneidens- 
werte Besitzer  der  größten  sozialistischen  Bibliothek*)  ist.  Diese 
Bibliothek  hat  nun  die  seltene  Eigenschaft,  daß  ihr  Besitzer  sie  nicht 
nur  mit  vieler  Mülie  und  Liebe  gesammelt,  sondern  sie  sogar  benutzt 
hat.  Zuviel  benutzt  sogar.  Denn  die  vielen  toten  Bände  kann  er  nicht 
lebendig  machen,  sondern  schlagt  sich  mit  ihnen  herum,  gleichwie 
mit  Gespenstern.  Fr  kann  lesen  wie  kaum  ein  zweiter,  und  seine 
Fußnoten  weisen  mit  unergründlicher  Gelehrsamkeit  darauf  hin,  wo. 
wann  und.  von  wem  jedes  Wort  zuerst  ausgesprochen  wurde.  Doktor 
Menger  ist  ein  ungemein  gründlicher  Kenner  der  sozialistischen 
ßücher,  aber  er  weiß  wenig  von  der  sozialistischen  Bewegung,  von 
ihren  Wurzeln,  ihren  Triebfedern,  ihrem  innersten  Leben.  Auf  dem 
Druckpapier  ist  alles  gleich,  was  darauf  zu  lesen  ist,  aber  die  ge- 
schichtliche Bedeutung,  das  lebendige  Gewicht  jedes  Gedankens 
läßt  sich  nicht  durch  noch  so  sorgfältige  Textvergleichung  erkunden. 
So  ist  die  profunde  Gelehrtheit  Mengers  ihm  fast  zum  Hindernis 
geworden,  die  Dinge  richtig  zu  sehen,  an  denen  sein  ganzes  Herz 
hängt. 

Kautsky  sagt  in  seiner  Utopie:  „Die  Schwierigkeiten  für  das 
proletarische  Regime  liegen  nicht  auf  dem  Gebiet  des 
Eigentums,  sondern  auf  dem  der  Produktion."  Für 
Menger,  und  das  ist  für  den  schroffen  Gegensatz  der  beiden  Ge- 
dankengänge bezeichnend,  gibt  es  nur  Probleme  des  Eigentums,  das 
will  sagen,  der  Rechtsordnung;  das  wirtschaftliche  Problem  sieht 
er  nicht,  kaum  daß  er  gelegentlich  das  Wort  von  der  Organisation 
der  Produktion  in  den  Mund  nimmt.  So  fragt  er  auch  nicht,  wie  das 
eigentlich  kommt,  daß  die  arbeitenden  Klassen  nun  aufsteigen  und 
auf  dem  Wege  zur  Macht  sind.  Freilich:  Allgemeine  Schulpflicht, 
allgemeines  Wahlrecht  und  allgemeine  Wehrpflicht  haben  sie  er- 
weckt, auch,  merkt  er,  daß  das  Entstehen  der  großen  Städte  ein 
wichtiger  Faktor  sei  —  aber  diese  Dinge  mit  der  Entwicklung  der 
Wirtschaft  überhaupt  und  mit  der  der  Produktion  insbesondere  Zu- 
sammenhang haben,  das  gehört  bereits  zur  „nationalökonomischen 
Verbrämung".  Rechtseinrichtungen  wechseln  mit  dem  Machtver- 
hältnis; woher  kommt  aber  die  Änderung  der  Machtverhältnisse? 
Darauf  hat  Menger  keine  Antwort.  So  stellt  sein  glänzendes  Zu- 
kunftsgebäude  in  der  Luft. 

)  Diese  sozialistische  Bibliothek  ist  durch  die  Wiener  Universität  dann 
in  die  Sozialwissenschaftliche  Studienbibliothe  k  bei  der 
Wiener   Kammer   für   Arbeiter   und    Angestellte   gelangt. 


3i>4  \  erschiedenes. 


Trotzdem  wird  auch  Mengers  Werk  seine  fruchte  tragen,  wenn 
auch  nicht  in  dem  Sinne,  wie  sein  Optimismus  ihn  hoffen  läßt.  Nicht 
nur  beim  Endziel  kommt  er  in  sehr  vielen  Punkten  mit  dem  von  ihm 
so  wenig  geschätzten  Marxisten  Kautsky  zusammen,  sondern  auch 
die  Motive  für  die  beiden  Werke  sind  merkwürdigerweise  ähnliche. 
Kautsky  erklärt,  er  habe  seine  Zukunftkonstruktion  versucht,  weil 
nicht  nur  unsere  Gegner  behaupten,  wir  würden  durch  unseren  Sieg 
vor  unlösbare  Aufgaben  gestellt  werden,  sondern  weil  auch  in 
unseren  eigenen  Reihen  sich  Leute  erhoben  haben,  die  die  Folgen 
des  Sieges  nicht  schwarz  genug  malen  können.  Darum  sei  solche 
Konstruktion  von  Nutzen  für  die  Propaganda.  Menger,  auch  hier 
wieder  potenzierter  Utopist,  hat  schon  in  seinem  ersten  Buche  ge- 
meint, „die  Völker  werden  sich  nie  zu  einem  eingreifenden  sozialen 
Experiment  entschließen,  wenn  nicht  zuvor  eine  sozialistische 
Staatslehre  geschaffen  ist",  und  in  diesem  Sinne  soll  sein  neues 
Werk  den  sozialistischen  Gedankenkreis  den  herrschenden  und  ge- 
bildeten Klassen  näherbringen.  Wir  fürchten,  nicht  einmal  Kautsky 
wird  sein  bescheidenes  Ziel  erreichen.  So  interessant  und  belehrend 
sein  Büchlein  ist,  die  Widerstrebenden  wird  er  nicht  überzeugen  und 
die  Schwachmütigen  nicht  stark  machen.  Wenn  aber  gar  Menger 
vermeint,  die  mächtigen  Macher  der  Gesetze  zu  seinem  Staatsrecht 
verlocken  zu  können,  so  gibt  er  sich  einer  beneidenswert  kindlichen 
Illusion  hin.  Nicht  weil  ihnen  die  Zukunft  unsicher  ist,  sträuben  sie 
sich,  sondern  weil  sie  die  Gegenwart  sicher  und  fest  in  rauhen 
Händen  haben  oder  zu  haben  glauben.  Gegen  ihre  Macht  sind  alle 
Argumente  vergebens  und  wirksam  allein  ist  die  wachsende  Gegen- 
macht. Die  Verstärkung  der  Erkenntnis  und  der  Energie  des  Prole- 
tariats, nicht  die  Erleuchtung  seiner  Gegner  kann  allein  unsere  Hoff- 
nung sein.  Nur  insofern  Konstruktionen  des  Endziels  den  Zweck  er- 
füllen, unsere  Sache  in  neuem  Lichte  zu  sehen,  insofern  wir  das 
Heute  besser  verstehen  lernen  können,  wenn  wir  die  Gedanken- 
gänge bis  in  das  Morgen  verfolgen,  insofern  sind  solche  Konstruk- 
tionen nützlich.  Die  Ahnungen  der  Zukunft  sind  so  viel  wert,  als  sie 
uns  Kraft  geben  für  den  Kampf  der  Gegenwart.  V.  A. 


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*)  Dieses  Faksimile  ist  der  Anfang  des  Manuskripts  des  Artikels 
„Hoffnungsschimmer",  den  die  „Arbeiter-Zeitung"  am  14.  Februar 
1915  veröffentlicht  hat.  Der  Artikel  ist  auf  den  Seiten  263  bis  268  dieses 
Bandes  abgedruckt.  Alles  nähere  ist  in  der  Note  bei  diesem  Artikel 
angeführt.  Der  Name  Adlers  auf  dem  Manuskript  ist  vom  Chefredakteur 
Ansterlitz  dazugeschrieben. 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Vorwort       5 

Zur  Parteigeschichte. 

Gedenktag  des  Ausnahmszustandes  (Versammlung  29.  Jänner  1904)  .  7 

Vor  zwanzig  Jahren  (Landesparteitag,  liainfeld  (31.  Jänner  1904)    .    .  9 

Das  „Anarchistengesetz"  verlängert  („GL",  14.  April  1888) 10 

Zehn  Jahre  nach  Hainfeld  („A.-Z.",  25.  Dezember  1898) 13 

Das  Jubiläum  des  Arbciterbildungsvereines  (6.  Dezember  1902)    .    .  21 

Vierzig  Jahre  Arbeiterbildungsverein  (8.  Dezember  1907) 22 

Das  „Lied  der  Arbeit"  (Versammlung,  30.  Oktober  1898) 25 

Am  Sarge  Josef  Scheus  (14.  Oktober  1904) 27 

Das  Grabdenkmal  für  Josef  Scheu  (1.  April  1907) 28 

Zu  Ehren  Andreas  Scheus  (22.  Juni  1901) 30 

Am  Sarge  Julius  Popps  (21.  Dezember  1902) 31 

Am  Grabdenkmal  für  Julius  Popp  (10.  November  1903) 33 

Mein  erster  Mai  (Alaifcstschrift  1909) 33 

Zu  Kronawetters  sechzigstem  Geburtstag  (27.  Februar  1898)    ....  38 

Abschied  von  Friedrich  Engels  (19.  August  1895) 39 

Liebknecht  und  Österreich.  („Vorw.",  12.  August  1900) 46 

Pernerstorfers  letzte  Fahrt  (9.  Jänner  1918)      49 

Die  Eröffnung  des  Arbeiterheims  in  Favoriten  (7.  September  1907)    .  51 

Eröffnung  des  Ottakringcr  Arbeiterheims  (16.  Juni  1907) 54 

Am  Grabe  der  Märzgefallenen  (10.  März  1901) .55 

Die  Erinnerung  an  den  13.  März  1848  (12.  März  1902) 56 

Enthüllung   des   Hugo-Schmidt-Denkmals 5S 

K  1  e  r  i  k  a  1  i  s  m  u  s  und  Schule. 

Der  Liechtensteinsche  Schulantrag  (4.  Februar  1888) 62 

Die  Los-von-Rom-Bewegung  (11.  April   1899) 66 

Die  Maßregelung  der  Gewerboschullehrer  (12.  Oktober  1902)     ...  68 

Der  Landtag  und  die  Wissenschaft  (4.  November  1903) 70 

Gegen  die  klerikalen  Schulverderber  (7.  November  1904) 72 

Der  Fall  Wahrmund  (3.  Juni  1908) 78 

Terror  und  Qewissenszwan  g. 

Die  Subvention  des  Volksbildungsvereines  (Musikvereinssaal,  6.  Juli 

1896) 83 

Die  Maßregelung  des  Abgeordneten  Seitz  (2/.  März   1901) 86 

Die  Sozialdemokratie  und  die  arbeitende  Jugend  (26.  März  1902)  .    .  87 

Der  Gewaltstreich  gegen  die  Straßenbahner  (12.  März  1912)  .    .    .  '.  91 

Kampier  gegen^den  Geistesdruck. 

Giordano  Bruno   (14.   Juni    1889) 99 

Ludwig  Anzengruber  (13.  Dezember  1889) 101 

Die  Hinrichtung  in  Chikago  (12.  November  1887) 104 


ii  me n te  dei   Christiichs  o  /  i  b  I  e  n. 

Christliche  und  jüdische  Ausbeutung  (28.  Februar  1897) I0f> 

Sozialdemokratische  Wahlkosten  (28.  Februar  1897)     107 

Die  Jüdischen  Führer"  (2.  März  is(>7) los 

\  ii  ii  B  ;i  c!  e  ii  i  bi  s  T  li  ii  ii. 

Kampf  gegen  Badeni  {22.  September  1897) Mi 

Badenis  Bankerottpolitik  (18.  Oktober  1897) 113 

Nach  Badenis  Sturz  (29.  November  1897) 114 

Die  Schließung  des  Parlaments  (28.  Juli  1898)      115 

Absolutismus  und  Parlamentarismus  (6.  Februar  1899)      117 

\  d  1  e  r  i  m  L  a  n  d  t  et  g. 

Die  Verschleppung  der  Landtagswahl  (14.  Mai   1901) 120 

Der  christlichsoziale  Wahlreehtsraub  (12.  Juni  1901) 124 

Die  Arbeiter  gegen  die  Zeitungsstrolche  (5.  Juli  1901) 126 

An  die  Kinder  (7.  Juli  1901) 130 

Christlichsoziale  Schulverwaltung  (6.  Juli  1901) 130 

Die  Spitalsnot  in  Wien  (9.  Juli  1901) 136 

Kommunalsozialismus  und  Kommunalkapitalismus  (7.  Jänner  1902)  .  144 

Die  Landtagswahlen   (31.  März   1902) 151 

Die  Eingemeindung  von  Floridsdorf  (16.  Juli  1902)     155 

Dienstbotenordnung  auf  dem  Lande  (24.  Juli  1902) 164 

Kandidatenrede  für  den  Landtag  (1.  Oktober  1902) 170 

Am  Vorabend  der  Wahl  (4.  November  1902) 175 

Nach  der  Stichwahl  (7.  November  1902) 176 

Das  Denkmal  des  Polizeieinbruchs  (12.  Februar  1905) 178 

Die  Antwort  der  Favoritner  (12.  November  1902) 181 

Das  System  Bienerth. 

Reichenberg  (19.  September  1909) 185 

Die  neue  Regierung  Bienerth  (24.  Jänner  1911) 188 

Fin  Attentat  auf  das  Vereinsrecht  (8.  März  1911) 202 

Die  Regierung  im  Bunde  mit  der  Obstruktion  (3.  April  1911)  .    .   .    .  209 

Hunde  der  Regierung  Bienerth  (16.  Mai  1911) 216 

Siegesfeier  in  Wien  (28.  Juni  1911) 225 

Ohne  Bienerth  (18.   Juli   1911) 235 

Militarismus  und  Krieg. 

Der  Deutschmeisterrummel   (7.  September  1896)      242 

Haubitzen  und  Volksvertretung  (13.  Mai  1902) 246 

Militarismus  und  Geschäft  (24.  Mai  1904) 250 

Die  Triester  Konferenz  (21.  Mai   1905) 253 

Die  neuen  Dreadnoughts  (7.  Februar  1911) 255 

Der  Gedenktag  der  Internationale  (27.  September  1914) 260 

Hoffnungsschimmer  (14.  Februar   1915) 263 

Die  Sozialdemokratie  und  die  Friedensvorschläge  (28.  Dez.  1916)     .  268 
Die  russische  Revolution  und  die  Wiener  Arbeiter  (27.  März  1917)    .274 

Für  Demokratie  und  Frieden!  (26.  September  1917) 279 

Die  Vertagung  des  Reichsrates  (3.  Mai  1918) .  286 

Nationalismus   und    1  n  t  e  r  n  a  t  i  o  n  a  1  i  s  m  u  s. 

Das  Verbot  tschechischer  Versammlungen  (28.   Jänner   1894)  ....  288 

National  und  international  (28.  Februar  1897) 290 

Die  Kandidatur  in  Favoriten  II  (10.  Februar  und   10.  März  1897)    .    .  291 
Internationale   Verbrüderung    (9.    Juli    1905) 301 


Seite 

Der  Kampf    um    die  Preßfreiheit. 

Der  §  23  des  österreichischen  Preßgesetzes  (Broschüre,  189D    .    .    .  303 

Der  Zeitungssteinpel  und  das  Parlament  (25.  Jänner  1899) 327 

Das  Herrenhaus  und  der  ZeitUHgsstempel  (20.  Dezember  1899)  .    .   .  330 

Zehn  Jahre  („A.-Z.",  1.  Jänner  1905) 331 

Dem  „Volksfreund"  zu  seinem  Feste  („Volksfreund",  1891) 336 

Das  Jubiläum  des  „Vorwärts"  („Vorwärts",  31.  März  1909) 538 

Qewerkschaften  und  Genossenschafte  n. 

Sie  sind  unser  Trost!  (10.  Juli   1904) 341 

Partei  und  Gewerkschaft  (11.  Juni  1905) 342 

Der  Gewerkschaftsstreit  (25.  März  1911) 349 

Genossen  und  Genossenschafter  (3.  September  1904) 353 

Verschiedenes. 

Einige  Laster  der  Weiber  (23.  Juni  1896) 355 

Die  Studenten  und  die  soziale  Bewegung  (16.  Oktober  1896)  ....  356 
Zwei  Zukunftsbilder  (31.  März  1903) 358 

A  n  h  a  n  g. 

Faksimile     365 


Richtigstellungen. 

Ich  benütze  die  Gelegenheit,  um  einige  Irrtümer  der  letzten  Bände 
richtigzustellen,  Irrtümer,  die  zum  Teil  auf  Druckfehlern  beruhen,  und  auf 
die  mich  mein  Freund  Ludwig  B  r  ü  g  e  1,  der  Autor  der  Geschichte  der 
österreichischen  Sozialdemokratie,  aufmerksam  macht.  G.  P. 

Im  Bd.  VI,  S.  228,  soll  das  Datum  der  Ermordung  von  Rosa  Luxemburg 
richtig  mit  16.  Jänner  1919  angegeben  werden. 

In  Bd.  VIII,  S.  180,  soll  es  richtig  heißen  Josef  Maria  Baernreither, 
nicht  Franz  B. 

Zu  Bd.  VIII,  S.  256,  ist  zu  bemerken,  daß  die  Verletzung  am  Auge 
durch  den  Kaiser  Franz  Josef  nicht  Gautsch,  sondern  Wittek  zugefügt 
wurde. 

Bd.  IX,  S.  14.  Heinrich  Beer  wurde  nicht  1897,  sondern  erst  1907  zum 
Abgeordneten  gewählt  und  war  es  bis   1911. 


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