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I
Victor Adlers
Aufsätze, Reden und Briefe
Herausgegeben vom Parteivorstand der Sozial-
demokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs
Der Kampf um das Wahlrecht
X. Heft
der Reden und Aufsätze von
Victor Adler
gesammelt und zusammengestellt von Dr. Gustav Pollatschek
Wien 1929
Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien VI
VICTOR ADLER
DER PARTEIMANN
Reden und Aufsätze von
Victor Adler
gesammelt und zusammengestellt von
Dr. Gustav Pollatschek
5. Der \ Kampf um das Wahlrecht
Wien 1929
Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien VI
'4X
31-5
Ed. 5,
f-r -ii
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1929 by Wiener Volksbuchhandlung
F. Skaret-Dr. R. Danneberg
Wien VI, Gumpendorferstraße 18
936701
Druck- und Verlagsanstalt „Vorwärts", Wien V, Rechte Wienzeile 97
- or1 des Herausgebers.
Vorwort.
Wie im Vorwort zu dem ersten Band über VietorAdlerden
Parteimann angekündigt war, erscheint nun der Band über
den Kampf um das Wahlrecht. Es handelt sich dabei um
zwei Epochen des Kampfes: Die erste Epoche umfaßt den Kampf,
den das vom Wahlrecht vollkommen ausgeschlossene Proletariat
von den ersten Anfängen der Bewegung an für dieses wichtigste
proletarische Recht führte; ein Kampf, der in der Taaffeschen
Wahlreform einen Erfolg zu erreichen schien, bis sich zeigte, daß
die privilegierten Klassen ihre Privilegien nicht so ohne weiteres
preiszugeben bereit seien und durch die Koalition aller feinde des
gleichen Wahlrechtes den Grafen Taaffe, der im Besitz der kaiser-
lichen Huld unerschütterlich festzustehen schien, zu Fall brachten.
Man kann jetzt auch schon ruhig zugeben, daß die Art, wie Graf
Taaffe das Wahlrecht erweitern wollte, indem er die Bourgeoisie
— und das war damals vornehmlich die deutsche Bourgeoisie —
zwischen zwei Mühlsteine zwängen und sich damit Ruhe von der
deutschliberalen Opposition verschaffen wolte, eben wegen ihrer
Unehrlichkeit nicht zum Ziele führen konnte, und man wird die
Haltung der Sozialdemokratie, die dem Ministerpräsidenten des
Ausnahmszustandes nicht die ehrliche Absicht zutraute, wirklich
das gleiche Wahlrecht zu geben, und die darum auch zögerte, ihre
ganze Kraft für die Taaffesche Wahlreform einzusetzen, leichter
verstehen, als es damals von vielen Genossen geschah. Diese erste
Epoche endete mit der Badenischen Wahlreform, die, wie sie der
Arbeiterschaft das gleiche Wahlrecht schuldig blieb, dem Staate
statt der Klammer, die die auseinanderstrebenden Teile zusammen-
hielte — wie sie Bismarck dem deutschen Volke durch das allgemeine
Wahlrecht verschafft hatte — ein Sprengmittel in das Parlament
brachte, das mit dem Parlament schließlich auch den Staat in die
Luft sprengte. Wenn wir jetzt rückschauend fragen, warum es dem
Staate nicht gelungen ist, den nationalen Frieden zwischen den
Völkern oder wenigstens einen Modus für ihr Zusammenleben zu
schaffen, warum dem allgemeinen gleichen Wahlrecht, das ja dann
doch geschaffen wurde, die national ausgleichende Wirkung, die
man von ihm mit Recht erwarten konnte, versagt blieb, so müssen
wir erkennen, daß die vornehmlichste Ursache — gewiß nicht die
einzige, denn eine zweite liegt in der ungelösten ungarischen Frage,
die wieder mit der südslawischen Frage eng zusammenhängt — in
der fünften Kurie Badenis liegt, die die bürgerlichen Parteien
hinderte, miteinander den nationalen Frieden zu schließen, weil sie
Vorwort des Herausgebers.
Sie zwang, sich für den Kampf gegen die Sozialdemokraten in der
fünften Kurie eigene demagogische Schwindelparteien zu gründen,
die sich sowohl in nationalen wie in sozialen Fragen überradikal
gebärden mußten. Selbstverständlich konnte die fünfte Kurie, die
der Arbeiterschaft nur ein so schmähliches Stückchen Wahl-
rechtes gab, den Kampf um das Wahlrecht nur für eine kurze
Zeit unterbrechen. Und so brach ein Jahrzehnt nach dem Höhe-
punkt des ersten Wahlrechtskampfes der zweite Wahlrechtskampf
aus, der dann mit der Erringung des gleichen Rechtes endete.
Es mögen wohlmeinende Politiker und Gelehrte den „Volkskaiser"
Franz Josef als den Schöpfer oder gar als den Spender des
allgemeinen Wahlrechtes preisen. Wer diese Zeit miterlebt hat,
oder wer unvoreingenommen auch nur die Blätter dieses Buches
lesen wird, wird wissen oder erkennen, daß dieser Kampf um
das Wahlrecht ein wahrhaft revolutionärer Kampf war,
und daß ohne die Entschlossenheit der Arbeiterschaft, zum
äußersten Mittel, das ist vor allem zum Massenstreik, dann aber
auch zu weiteren Mitteln zu greifen, der Volkskaiser seinen Frieden
mit den österreichischen Grafen und mit den österreichischen
Kapitalisten geschlossen hätte, wie er ihn mit den ungarischen
Grafen und den ungarischen Nationalisten geschlossen hat. Das
allgemeine gleiche Wahlrecht ist der österreichischen Arbeiterschaft
nicht geschenkt, sondern von ihr erobert worden.
Freilich konnte die Arbeiterschaft, wenn sie einen Erfolg
haben wollte, weder ständig auf der Straße stehen, noch ständig
mit der Straße drohen. Selbstverständlich mußte sie den
bestehenden Machtverhältnissen, vor allem auch den
parlamentarischen, ganz besonders neben den Machtverhältnissen
der Klassen auch den Machtverhältnissen der
Nationen, ja. sogar der Parteien Rechnung tragen. So ist jenes
Wahlgesetz zustande gekommen, das wohl in seinem Prinzip
das allgemeine Wahlrecht statuiert, aber dieses sofort durch
die Seßhaftigkeit zuungunsten der Arbeiterschaft verkürzt; das
allerdings in seinem Prinzip das gleiche Wahlrecht festlegt, aber
dabei doch in dem Verhältnis nicht nur zwischen den Klassen,
sondern mehr noch zwischen den Nationen die Gleichheit des
Wahlrechtes stark einschränkt. So wurden die besitzenden Klassen
schon durch die Verschiedenheit der Wahlkreise wesentlich gegen-
über dem Proletariat begünstigt. Aber das Proletariat, das bisher nur
das klägliche Badenische Wahlrecht hatte, konnte da um des Prinzips
willen leicht der Mandatsgier der bürgerlichen Parteien, ja der
einzelnen bürgerlichen Parteiführer entgegenkommen. Schwieriger
war es schon in den Machtverhältnissen der Nationen einen
Ausgleich zu schaffen: einen Modus zu finden, der die deutsche
Bourgeoisie vor nationaler Überstimmung sicherte, indem er den
anderen, bisher benachteiligten Nationen wohl eine Annäherung
an das gleiche Recht brachte, aber nicht das volle Recht, weil das
die jetzt an der Macht befindliche deutsche Bourgeoisie mit ihren
Verbündeten zu verhindern stark genug war. Hier hat Friedrich
Vorwort des Herausgebt i s
A u s t c r 1 i t z, der Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung", unter
dem Pseudonym A. Friedrich in Pernerstorfers „Deutschen
Worten" die Lösung gefunden, daß man /war das gleiche Wahlrecht
für die einzelnen Bürger einführen, aber im Verhältnis zwischen
{\c\\ Nationen, was sich technisch im Verhältnis der Wahlkreise
ausdrückt, die Steuerkraft berücksichtigen solle. Diesem Gedanken
konnten auch die Tschechen zustimmen. So erst war es möglich,
über die theoretische Anerkennung des gleichen Wahlrechtes
hinaus, den praktischen Weg zu einem Kompro m i ß z w Ischen
den Nationen zu finden.
liier haben wir auch die (irenze zu ziehen, die wir für die
Tätigkeit Adlers als Taktiker und als Politiker ziehen müssen.
Während in der ersten Epoche die Wahlrechtsbewegung zum
größten Teil das taktische Werk Adlers ist — bis zur Taaffeschen
Wahlreform und auch noch bis zur Koalition ausschließlich, nach-
her vornehmlich — , kann man in der zweiten Epoche ihm dieses
Verdienst nur zum Teil zusprechen. Dagegen ist der pari a-
m entarische Teil des Kampfes von dem Zeitpunkt an, da er
in das Parlament gewählt wurde, ausschließlich sein Werk.
Bei der Sammlung des Materials hat sich nun die Schwierigkeit
ergeben, daß gerade für die erste Epoche das Material sehr
spärlich vorliegt, da die „Arbeiter-Zeitung" ja erst vom 1. Jänner
1895 an täglich erschien und vorher für Versammlungsberichte
nur sehr wenig Raum bot, auch bei den Artikeln der Autor nur
sehr selten verläßlich festzustellen ist. So kommt es, daß wir
für die erste Epoche nur sehr wenig sicheres Material haben, für
die zweite Epoche aber ziemlich viel. Eine andere Schwierigkeit
ergab sich für diesen Band auch dadurch, daß die Frage des
Generalstreikes, die ja mit der Taktik im Wahlrechtskampf
eng zusammenhängt, hier nicht mehr behandelt werden konnte,
weil sie schon im siebenten Band im Rahmen der internationalen
Taktik behandelt wurde.
Wenn man sich diese Schwierigkeiten, mit denen der Heraus-
geber, der diesen Band zusammenstellte, zu kämpfen hatte, vor
Augen hält, wird man den Fehlern, die er etwa beging, etwas
mehr Nachsicht angedeihen lassen und seine Arbeit vielleicht besser
zu würdigen vermögen.
Was etwa in diesem Bande noch übersehen wurde, soll in
einem weiteren Bande nachgetragen werden, der vielleicht auch in
absehbarer Zeit erscheinen wird, und der Ergänzungen und Nach-
träge auch zu den früheren Bänden bringen soll.
Wenn der Herausgeber also für den vorliegenden wie für die
früheren Bände um etwas Nachsicht bitten muß, so bittet er für
jenen angekündigten folgenden Band um eifrige Mitarbeit, damit
jeder, dem etwas in diesen Bänden fehlt, ihm ermögliche, es dann
nachzutragen oder richtigzustellen.
Wie bei den früheren Bänden, so muß auch bei diesem Band
besonders auf die Fußnoten aufmerksam gemacht werden. Die
8 Vorwort des Herausgebers.
Einzelheiten des Wahlrechtskampfes sind auch dem, der die letzten
Jahrzehnte Österreichs miterlebt hat, schon zu wenig mehr gegen-
wärtig, als daß er ohne Erklärungen diese Reden und Aufsätze
Adlers vollkommen und in jeder Anspielung verstehen könnte.
Aber auch darüber hinaus sollen die Fußnoten in groben Umrissen
eine Geschichte der österreichischen Wahlrechtsbewegung bieten
und damit der jungen Generation von heute ein Bild jener heroi-
schen Kämpfe des österreichischen Proletariats um seine Rechte
geben. Zugleich soll damit eine Vorarbeit für die (i e s c h i c h t e
der Wahlrechtsbewegung geliefert sein, die erst noch
von einem Berufeneren zu schreiben wäre, von einem, der selbst
aktiv und bestimmend in diese großen Kämpfe eingegriffen hat.
Wien, anfangs Mai 1929.
Dr. Gustav Pollatsche k.
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. '*
Von Taaffe bis Badeni.
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahl-
recht und das Wahlunrecht in Oesterreich*).
Vorwort.
Die vorliegende Broschüre soll Material für die Wahlrechts-
agitation liefern. Die Lücken und Mängel des Schriftchens erkennt
niemand mehr, als der Verfasser. Wenn aber auf Vollständigkeit kein
Anspruch gemacht werden kann, die schon durch die Notwendigkeit,
den Umfang zu beschränken, ausgeschlossen war, so ist die Richtig-
keit der angeführten Tatsachen, insbesondere der Ziffern, dadurch ge-
währleistet, daß sie sämtlich der amtlichen Statistik entnommen
oder aus derselben berechnet sind. Eine genaue Darstellung aber
des in Österreich geltenden Wahlunrechtes würde ein umfang-
reiches Buch erfordern.
Am 16. März 1893 brachte der Abgeordnete S 1 a v i k namens der
Jungtschechen einen Antrag auf Einführung des allgemeinen,
gleichen und direkten Wahlrechts ein, und zwar in
einer Form, welche nicht nur das Prinzip, sondern auch die Einzel-
bestimmungen soweit feststellt, daß die Grundlage für ernste Dis-
kussion gegeben ist. Der Antrag wurde wenig beachtet.
In der zweiten Woche des April erkämpfte das Proletariat Bel-
giens das allgemeine Wahlrecht.
Am 1. Mai zeigte eine gewaltige Demonstration der öster-
reichischen Arbeiterschaft, daß sie entschlossen ist, für das allge-
meine Wahlrecht zu kämpfen. Der Wahlsieg der deutschen Sozial-
demokratie am 15. Juni wurde am 18. Juni von Hunderttausenden
ihrer Genossen in Österreich in öffentlichen Versammlungen ge-
*) Am 1. August 1893 erschien als viertes Heft der von L. A. B r e t-
sch n eider herausgegebenen „Wiener Politischen Volksbibliothek" diese
Broschüre (Preis 20 Kreuzer). Der Staatsanwalt fand zunächst nichts
zu beanständen. Erst als sie bei der großen Wahlrechtsversammlung,
die am 20. August im Prater stattfand, stark verbreitet wurde, wurde sie
konfisziert, und zwar zuerst zur Gänze, dann an 32 Stellen. Gegen die
Konfiskation erhob Adler Einspruch. Über die Einspruchsverhandlung ist
im zweiten Heft dieser Schriften (Seite 305) berichtet. Selbstverständlich
wurde der Einspruch abgewiesen. Die weiteren Hefte der „Wiener Politi-
schen Volksbibliothek" enthielten folgende Abhandlungen: 1. Nutzen und
Bedeutung der Gewerkschaften, von Emil Kralik (1891); 2. Der Para-
raph 23 des österreichischen PreBgesetzes. von Dr. Viktor Adler ( 1«S91 )
10 Vom Taaffe bis Badeai.
feiert. In Prag und Brunn floli Blut; Blut, das freilieh nicht für die
Erringung des Wahlrechts, sondern zur Verteidigung des Versamm-
lungsrechtes vergossen wurde.
Am 9. Juli standen mehr als 50.000 Männer und Frauen in und vor
dem Rathaus zu Wien und verlangten das allgemeine Wahlrecht.
An diesem Tage hörten die Tauben den Ruf des Volkes, sahen die
Blinden ein, daß die Wahlreform von der Tagesordnung nicht mehr
verschwinden werde, bis Österreich statt seiner ständischen Ver-
fassung ein modernes, europäisches Wahlrecht hat, bis wenigstens
dieses eine politische Privilegium der Besitzenden verschwunden ist.
Statt jeder weiteren Vorrede wiederholen wir hier die
Resolution vom 9. Juli:
Die erste Vorbedingung jeden politischen und wirtschaftlichen Fort-
schrittes in Österreich ist die Beseitigung der heutigen, auf das
Monopol der Besitzenden gegründeten Verfassung. Großgrundbesitz
und Großkapital sind nicht nur im alleinigen Besitz des Herrenhauses,
sondern sie sind durch ihre Wahlprivilegien auch die eigentlichen Be-
herrscher des Abgeordnetenhauses. Die gesamte Gesetzgebungs-
maschine steht im Dienste einer kleinen Gruppe von Meistbesitzenden,
welche das arbeitende Volk nicht nur als einzelne Unternehmer wirt-
schaftlich . . .*), sondern es auch als Klasse politisch knechten.
3. Die Lebensmittelteuerung, von Karl Höger (1892): 5. Herr Alfred Eben-
hoch auf der Bauernjagd, von Dr. Wilhelm Ellenbogen (1894).
Um schon hier einen Überblick über den Inhalt der Broschüre zu
geben, sei das Inhaltsverzeichnis, das im Text nicht mitabgedruckt ist,
hier mitgeteilt: Seite
Vorwort 9
Allgemeines 12
Einiges über Geschichte und Wesen der Verfassung 18
Die Ausdehnung des Wahlrechtes 21
Die Verteilung des Wahlrechtes ... 2t
Statistik der Reichsratswahlen 1891 32
Die indirekten Wahlen in den Landgemeinden 34
Die Altersgrenze für die Wahlfähigkeit 37
Das Stimmrecht der Frauen
Dauer der Legislaturperiode 39
Das Gemeindewahlrecht 40
Die Wiener Gemeinderatswahlen im Jahre 1890 41
Die „Gefahren" des allgemeinen Wahlrechtes für die Sozialdemo-
kratie 42
Konservative Einwände 45
Liberale Einwände ... 46
Das „nationale Interesse" 48
Die „Steuerträger" 50
Bisherige Versuche einer Wahlreform . ... 52
Der „^ildungszensus" CO
Arbeiterkammern 61
Schlußwort 62
*) In der „Arbeiter-Zeitung" vom 14. Juli 1893, in der über die Ver-
sammlung vom 9. Juli berichtet wird, steht folgende Glosse, aus der man
auch erfährt, was in der Resolution fehlt:
Das allgemeine, Bleiche und direkte Wahlrecht. H
Die Versammlung erkennt das rückständige und ) Wahlsystem
Österreichs als Grundursache der politischen Versumpfung des Reiches
und als Wurzel des sinnlosen, maßlosen und fruchtlosen Nationalitäten-
haders und der kläglichen staatsrechtlichen Wirren.
Die heutige Versammlung protestiert gegen jenes Wahlsystem,
welches Österreich zu einer traurigen Ausnahmestellung in Europa ver-
urteilt. Sie protestiert gegen die Ausschließung von mehr als
zwei Dritteln des Volkes vom Wahlrecht in Stadt und Land
und Gemeinde, und verlangt als Grundlage und Vorbedingung einer
ernsten Geltendmachung der Volksinteressen die Aufhebung der politi-
schen Vorrechte aller privilegierten Interessengruppen und das all-
gemeine, gleiche und direkte Wahlrecht für alle Staatsangehörigen
ohne Unterschied des Geschlechtes vom 21. Lebensjahr an.
Die heutige Versammlung protestiert auch aufs entschiedenste
gegen jene **) und verhängnisvollen Einschränkungen des Ver-
sammlungsrechtes, die in Brunn und Prag zum Blutvergießen
führten, durch welche aber der Kampf um das Volksrecht wohl ver-
bittert, niemals aber verhindert werden kann.
Die große Masse der Besitzlosen hat es satt, sich
von einer verschwindenden Minderheit gängeln und übervorteilen zu
lassen. Die sozialdemokratische Arbeiterschaft insbesondere verlangt
das politische Wahlrecht als Grundlage der Organisation des Prole-
tariats, als das vornehmste Mittel politischer Bildung, als wichtigste
Konfisziert hat der Polizeikommissär im Arkadenhof die Ver-
rottung, die Ungesetzlichkeit und die Ausbeutung. (Die Unterstreichung
ist von uns.) Wir fürchten, daß diese Konfiskation so wenig helfen
wird als alle anderen und daß diese drei Mächte weiter bestehen wie
bisher. Amüsant ist, daß, was in deutscher Sprache konfiskabel er-
schien, in tschechischer Sprache erlaubt wurde. In der Volkshalle
wurde über unsere Resolution samt den drei Worten ohne Anstand
abgestimmt. Standen denn wirklich so wenige Detektivs zum Verkehr
zwischen Rathaus und Polizeipräsidium zu Gebote, daß man nicht
wenigstens eine Gleichmäßigkeit des Vorgehens erzielen konnte? Aus
Rücksicht auf die Aufrechterhaltung des Verkehrs wurde die Ver-
sammlung auf dem Rathausplatz bekanntlich untersagt. Die Möglichkeit
des Verkehrs wurde durch unsere Ordner aufrechterhalten, zugleich
aber kontrolliert, wie stark dieser Verkehr war. Nun denn, es fuhren
über den Rathausplatz in der Zeit von X»9 Uhr vormittags zwei Ein-
spänner, ein Sodawasserwagen, ein Postwagen und ein Radfahrer.
Diesen fünf Vehikeln zuliebe wurde das Versammlungsrecht von
tausenden Personen eingeschränkt.
Man erfuhr also schon aus der Zeitung, wenn man sich nur etwas an-
strengte, daß man in der Resolution nicht sagen durfte, daß die Besitzen-
den das arbeitende Volk als Unternehmer wirtschaftlich ausbeuten, daß
das Wahlsystem nicht nur rückständig, sondern auch verrottet war und
daß die Einschränkungen des Versammlungsrechtes, die in Brunn und
Prag zu Blutvergießen führten, nicht nur verhängnisvoll, sondern auch
ungesetzlich waren. So waren damals die Polizeikommissäre! Und so geist-
reich war der Staatsanwalt!
Das fehlende Wort hier soll also heißen ausbeuten.
Siehe übrigens später Adlers Rede in der Versammlung am 9. Juli, unter
dem Titel : „Das erste Wahlrechtsmeetin g."
*) verrottete.
) ungesetzlichen.
12 Von Taaffe bis Badeni.
Waffe im Kampfe gegen Ausbeutung« Rechtlosigkeit und Bevor-
mundung.
Die beutige Versammlung erklärt es als Pflicht jedes Rechtdenken-
den, mit aller Kraft dahin zu wirken, daß endlich die Verfassung den
Grundsatz: „Gleiches Recht für alle" auch wirklich zur Wahrheit
mache,
sie erklärt, nicht ruhen und vor keinem Opfer, das dem Volke auf-
erlegt wird, zurückschrecken zu wollen, bis das allgemeine,
gleiche und direkte Wahlrecht erkämpft ist.
Allgemeines.
Die politischen Zustände Österreichs waren immer unleidliche;
sie sind nunmehr unmögliche geworden. Das arbeitende Volk,
wie überall, wo der Kapitalismus herrscht, steht unter einem un-
erträglichen wirtschaftlichen Druck, preisgegeben der Ausbeutung
durch Grundbesitz und Kapital. Und das Bewußtsein dieses Zu-
standes wird täglich deutlicher, und täglich stärker der Wille, ihn
zu ändern. Aber während in allen modernen Staaten Europas die
Bestrebungen des Proletariats wie der untersinkenden Schichten des
Kleinbürgertums und der Bauernschaft einen politischen Ausdruck
gefunden haben, weiß die offizielle Politik in Österreich von diesen
Klassen nichts. Zwei Drittel des Volkes sind im Parlament
ohne Vertretung. Der Groll, die Unzufriedenheit, ja die Verzweiflung
wächst. Sie wird gefördert durch eine Klassengesetzgebung im ein-
seitigen Interesse der Besitzenden. Sie wird verbittert dadurch, daß
sie nicht jenen Ausdruck finden kann, den die heutige Auffassung
vom „Rechtsstaat" jedem Staatsbürger als heiliges, unantastbares
und unveräußerliches Recht zugesteht :die Teilnahme an Ge-
setzgebung und Verwaltung durch die Wahl von
Volksvertretern.
Die wirtschaftliche Ausbeutung ist allen vom Kapitalismus er-
griffenen Staaten gemeinsam; die politische Unterdrückung ist eine
notwendige Folge davon und geht überall mit der Ausbeutung Hand
in Hand. Das einzige Gegengewicht, die einzige Waffe gegen poli-
tischen und ökonomischen Druck ist das politische Recht.
In Österreich, und in Österreich allein unter allen modernen
Staaten, fehlt den Besitzlosen auch dieses. Die Besitzlosen
sind rechtlos in Österreich. Dadurch aber entsteht jener
unmögliche Zustand, daß in den unteren Klassen ein politisches
Leben voll Energie und Zielsicherheit anwächst, das stumm
bleiben muß, während eine Minorität der Bevölkerung höchst ge-
räuschvoll Politik macht, die aber unfruchtbar bleiben muß, und
fortwährend ins Stocken gerät. Jetzt eben steckt infolge der böh-
mischen Wirren*) der Staatskarren wieder im Sumpfe und alle Klein-
*) Am 17. Mai 1893 brach im böhmischen Landtag die Obstruktion der
Jungtschechen aus. Die Session wurde geschlossen. Am nächsten Tag
folgten tschechischnationale Straßendemonstrationen in Prag. Am 13. Sep-
tember wurde der Ausnahmezustand über Prag und Umgebung verhängt.
Dann folgten große Demonstrationen und Zusammenstöße mit der Polizei,
später, im Jänner und Februar 1894, der „Omladina-Prozeß", der mit der
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. I ■
künstc der Fortwurstelei und des Fortfrettens*) dürften ihn nicht so
leicht freimachen; Und wenn es gelingt, dann bleibt er beim nächsten
Schritt unrettbar wieder stecken. Der Nationalitätenstreit der oberen
Zehntausend, der angefacht und geschürt wird vom Großgrundbesitz,
welcher sich an demselben Feuer, das Österreichs Völkern unheil-
bare Wunden brennt, seine Suppe kocht; der Hader der einzelnen
Cliquen, in die sich die Besitzenden teilen, und der Vorwände
nimmt, wo er sie findet — , das gibt sich in Österreich für Politik aus,
während es tatsächlich das Hindernis aller ernstlichen politischen
Betätigung ist.
Aber nicht nur unfruchtbar ist der österreichische Parlamentaris-
mus, er ist auch, und vor allem, unwahr. Die Völker Österreichs
haben ganz andere Schmerzen, als den Kampf ums böhmische
Staatsrecht, den lächerlichen Zank um die Einteilung der Gerichts-
bezirke in Böhmen, die Amtssprache in Unter-Steiermark und Krain,
und was der „großen" Angelpunkte der österreichischen Politik
mehr sind. Wenn unser Parlament der Ausdruck der berechtigten
Masseninteressen sein wird, wie es heute nur das Sprachrohr der
unberechtigten Cliqueninteressen ist, dann wird es sich zeigen, daß
unter der täuschenden Oberfläche des elenden Gezänkes von heute
ganz andere Gegensätze sich entwickelt haben. Der Klassen-
kampf wird an Stelle der nationalen Quälereien treten, die ihn
heute verhüllen und fälschen. Der Klassenkampf aber ver-
einigt, was zusammengehört; er macht den partikularistischen
Lächerlichkeiten ein Ende, er macht ein Ende der tragikomischen
Maskerade und den unnatürlichen Bündnissen.
Als Bismarck im Jahre 1867 den norddeutschen Reichstag schuf,
das erste deutsche Parlament, da oktroyierte er das allgemeine,
gleiche und direkte Wahlrecht. Aber nicht aus Liebe zum Volke, aus
Neigung für demokratische Einrichtungen tat er es, er m u ß t e zum
allgemeinen Wahlrecht greifen, um den Partikularismus zu über-
winden, um ein gewaltiges Gegengewicht zu scharfen gegen die
egoistischen und kleinlichen Interessengruppen in den Einzelstaaten
und Stätchen. Dieses Gegengewicht sollte freilich die Dynastie
bilden. Bismarck wußte, daß sie das nicht kann, und vielleicht hat er
es in Österreich gelernt, wie wenig die „Loyalität gegen die Dy-
Verurteilung von dreizehn der sechzig Angeklagten zu je acht Jahren
schweren Kerkers endete. (Siehe Bd. VII, Seite 95, Note.)
*) Mit diesen beiden wienerischen Worten — Fortwursteln und Fort-
f retten — bezeichnete Graf Taaffe selbst die Art seines Regierens. Als
man ihm das im Parlament einmal vorwarf, sagte Graf Taaffe — am
9. März 1889 — , wenn er sich frage, was er mit dem geringen Betrag des
Dispositionsfonds, den man ihm bewillige, anfangen solle, so sage er mit
einem Ausdruck des Wiener Lokalwitzes: „Ich werde trachten, mich in
dieser Beziehung durchzufretten." Und er fügte hinzu: „Das ist ein Aus-
druck, auf den man sich berufen kann, nicht aber auf einen anderen Aus-
druck, den man mir nur in den Mund gelegt hat, jenen vom Fortwursteln."
— Nichtsdestoweniger sind diese beiden Ausdrücke für die Regierungs-
methoden Taaffes so bezeichnend, daß sie trotz seines Fiuspruches auch
weiter im Gebrauch geblieben sind.
14 Von Taaffe bis Badeni.
oastie" genügt, um ein Reich zu bauen. Alle triefen sie förmlich von
„Loyalität" und „dynastischer Treue", während sie einander in die
Haare fahren, die Vertreter der Kronlandsinteresseii, die Grafen, die
Pfaffen und die Advokaten der Bourgeoisie. Ein wirksames Gegen-
gewicht gegen die kleinen aber mächtigen Gruppen der Privilegier-
ten liegt nur in der Q e m einsamkeit der Interessen der
Massen des Volkes, freilich damit auch der Klassen. An
Stelle des kleinlichen Gezänkes von nebeneinander stehenden
und sich reibenden Volkssplittern mußte zum Bewußtsein kommen
die Schichtung der übereinander gelagerten Klassen; der iso-
lierende Landlpatriotismus mußte überwunden werden durch das
vereinigende Klasseninteresse. Die „Vaterlandsliebe" der Baiern,
Sachsen, Hannoveraner bis hinab zu dem Nationalstolz der Reuß-
Greiz-Schleiz-Lobensteiner*) konnte nur überwunden werden durch
die gemeinsamen Interessen der deutschen Bourgeoisie und die Soli-
darität der deutschen Arbeiterklasse. Freilich konnte Bismarck das
einigende Band der Klasseninteressen nicht zum Aufbau des
Deutschen Reiches verwenden, ohne zugleich den Klassenkampf zu
entfesseln. Die deutsche Sozialdemokratie, obwohl oder vielmehr
gerade weil sie eine internationale Partei ist, wurde die erste
„Reichspartei" in Deutschland; gerade sie, die so bald „reichs-
feindlich" heißen sollte. Kurz, den gemeinsamen Interessen der
Deutschen konnte nur ein Volkshaus auf Grund des allgemeinen
Wahlrechtes Ausdruck verschaffen. Darum mußte Bismarck dem
deutschen Parlament diese Grundlage geben, wollte er ein Deutsches
Reich schaffen. Hätte Österreich Staatsmänner, statt Wurstler und
Fretter, so hätten sie längst begriffen, daß es für Österreich aus den
nationalen und staatsrechtlichen Wirren nur einen Ausweg gibt:
das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht.
Aber überlassen wir den Stützen des Staates die Sorge um ihren
Staat. Wäre die heutige Wahlordnung Österreichs nur die Wurzel
der staatlichen Misere — was hätte das die Arbeiterklasse zu be-
kümmern, was ihre politische Vertretung, die Sozialdemokratie!
Denn das allgemeine Wahlrecht ist keine sozialdemokratische For-
derung, es ist eine Forderung des bürgerlichen Liberalismus, eines
seiner Grundprinzipien, das er in Österreich schmählich verriet, wie
*) Die beiden Fürstentümer Reuß ältere Linie oder Reuß-Greiz und
Reuß jüngere Linie oder Reuß-Schleiz-Lobenstein waren bis zum Umsturz
selbständige Fürstentümer und Bundesstaaten des Deutschen Reiches. Sie
waren unter die zwei Zweige des fürstlichen Hauses Reuß geteilt. Reuß-
Greiz war 316, Reuß-Schleiz 827 Quadratkilometer groß. Durch einige Jahr-
hunderte war Reuß j. L. in vier Teile geteilt, die erst 1848 vereinigt
wurden. Die Reuße mußten, weil ihr Ahnherr von Heinrich VI. belehnt
wurde, alle Heinrich heißen, und die Numerierung ging bei einzelnen Neben-
linien sogar bis zum 42. ja bis zum 74. Der letzte Reuß ä. L., Heinrich XXIV.,
war unheilbar geisteskrank und für ihn führte Heinrich XXVII. von der
jüngeren Linie die Regentschaft. Obwohl das Bestehen und die Trennung
der beiden Länder nur dynastischen Interessen entsprang, waren die beider-
seitigen Untertanen der „Zaunkönige" von überquellendem Landespatriotis-
mus erfüllt. Jetzt sind beide Länder Teile des Freistaates Thüringen.
D;is allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. I '
er das Recht der freien Meinungsäußerung feige im Stiche ließ.
Aber wenn das allgemeine Wahlrecht keine sozialdemokratische
Eorderung ist, SO ist es doch ein Lebensbedürfnis der
Sozialdemokratie, der politisch e n C n t w i ck 1 u n g
der Arbeite r k 1 a S S e. Es ist eine Waffe für den Klassenkampf,
die sie braucht und darum muß und wird sie sie erobern; darum auch
verlangt unser Hainfelder Programm:
„die Aufhebung des Monopols der Besitzenden auf das politische Wahl-
recht durch die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und
geheimen Wahlrechtes (und zwar ohne Unterschied des Geschlechtes und
vom 20. Lebensjahr an, wo für die Männer die Verpflichtung zur Blut-
Steuer beginnt) als eines wichtigen Mittels der Agitation und Organisation."
Wenn wir darangehen, für das allgemeine Wahlrecht einzu-
treten, ergreift uns Beschämung. Wir sollen mit vielen Argumenten
beweisen, was sonnenklar; wir sollen mit Eifer verfechten, was kein
Vernünftiger, kein Ehrlicher bestreitet. Das unveräußerliche Recht
jedes erwachsenen Staatsangehörigen, und zwar sowohl jedes
Mannes als jeder Frau — an der Gesetzgebung teilzunehmen, ist
selbstverständlich und nicht weiter zu beweisen. Die Last des Be-
weises hat, wer dieses Recht einem Staatsbürger nehmen will.
Die Gewährung des Wahlrechtes ist keine Wohltat; die Entziehung
desselben ist ein Verbrechen, für das es keine Entschuldigung,
höchstens eine geschichtliche Erklärung gibt. In Österreich aber ist
wie die Freiheit der Staatsbürger, so ihre „Gleichheit vor dem Ge-
setz" ein leeres Wort.
Das wichtigste für den Staatsbürger ist das Wahlgesetz. Ja, in
Wahrheit macht erst das Wahlrecht, das Recht, in irgendeiner Form
an der Gesetzgebung und der Kontrolle, der Verwaltung in Reich,
Land und Gemeinde teilzunehmen, aus dem „Untertanen" einen
Staatsbürger.
Wir wollen hier einem Manne das Wort geben, der keineswegs
Sozialdemokrat, sondern ein Vertreter des bürgerlichen Liberalis-
mus ist, dem Engländer John Stuart M i 1 1. In seinen „Betrachtungen
über Repräsentativ-Regierung" findet sich folgende Darlegung:
„Der Taglöhner, dessen Beschäftigung ein eintöniges Einerlei ist, die
seine Lebensweise mit keiner reichen Mannigfaltigkeit der Ideen, Verhält-
nisse und Eindrücke in Berührung bringt, erfährt durch die politische
Erörterung, daß tiefer liegende Ursachen und Ereignisse, die in weiter
Ferne stattfinden, eine sehr fühlbare Wirkung selbst auf seine persönlichen
Interessen äußern, und durch die politische Erörterung sowie durch gemein-
sames Handeln lernen alle diejenigen, deren Tagewerk sonst ihre Inter-
essen ausschließlich auf den nächsten Kreis ihrer Umgebung konzentrieren
würde, mit ihren Mitbürgern und für ihre Mitbürger fühlen und werden
bewußte Mitglieder des Gemeinwesens. Aber politische Erörterungen
werden wirkungslos an dem Ohre derjenigen vorbeischwirren, die kein
Stimmrecht haben und nicht darnach streben, es zu erwerben. Ihre Lage
im Vergleich zu den Wählern ist dieselbe wie die der Zuhörerschaft in
einem Gerichtshof im Vergleich zu der der zwölf Männer in der Loge der
Qeschwornen. Sie sind es nicht, von denen man die Entscheidung erwartet,
es ist nicht ihre Meinung, die mau zu beeinflussen sucht; die sie hören,
die Gründe, die geltend gemacht werden, sind an andere Personen
16 Von Taaffe bis Badeni.
gerichtet als an sie, nichts hängt von dem Urteil ab, das sie sich bilden,
und es liegt gar keine Notwendigkeit und sehr wenig Veranlassung für sie
vor, sieh überhaupt eins zu bilden. Jeder, der unter einer sonst volks-
tümlichen Regierung des Stimmrechtes entbehrt und keine Aussicht hat,
es zu erhalten, wird entweder zu den ständigen Malkontenten gehören,
oder wird sich als ein Mensch fühlen, dem die allgemeinen Angelegenheiten
der Gesellschaft gleichgültig sind, der sie durch andere für sich besorgen
läßt, der „mit dem Gesetz nichts zu schaffen hat, als ihm zu gehorchen'"
und der da, wo es sich um öffentliche Interessen und Geschäfte handelt,
die Rolle eines Zuschauers spielt. Was er von diesem Standpunkt aus von
ihnen wissen und beachten wird, kann man ungefähr nach dem bemessen, was
eine Durchschnittsfrau der mittleren Klassen im Vergleich mit ihrem Mann
oder ihren Brüdern von der Politik versteht oder daran interessant findet.
Ganz abgesehen von all diesen Erwägungen ist es eine persön-
liche Ungerechtigkeit, irgend jemand, sofern es nicht die Ver-
hütung größerer Übel gilt, das gewöhnliche Recht vorzuenthalten, bei der
Entscheidung von Angelegenheiten mitzusprechen, die ihn ebensosehr
interessieren wie andere Leute. Wenn er genötigt wird zu zahlen, viel-
leicht genötigt wird zu kämpfen, wenn man von ihm unbedingten Gehorsam
verlangt, so sollte er gesetzlich berechtigt sein zu erfahren, welchem Zwecke
er damit dient, sollte um seine Meinung gefragt werden und versichert
sein können, daß sie bei der Entscheidung für gerade so viel als sie wrert
ist, obgleich nicht für mehr mitgezählt werden wird. In einem voll-
entwickelten und zivilisierten Gemeinwesen sollte es keine Parias geben,
keine Personen, die ohne ihr Verschulden die politischen Rechte entbehren
müssen. Jedermann wird herabgewürdigt, mag er selbst es fühlen oder
nicht, wenn andere Leute, ohne ihn zu fragen, mit unbeschränkter Macht-
vollkommenheit über sein Geschick entscheiden. Und selbst in einem weit
fortgeschritteneren Zustande, als ihn der menschliche Geist bis jetzt
irgendwo erreicht hat, würde es nicht in der Natur der Dinge liegen, daß
derjenige, über den man in dieser Weise verfügt, dieselbe unparteiische
Gerechtigkeit zu erwarten hätte wie der, welcher mitzusprechen berechtigt
ist. Herrscher und herrschende Klassen sind genötigt, die Interessen und
Wünsche derjenigen zu berücksichtigen, die stimmberechtigt sind: ob sie
aber die der Ausgeschlossenen berücksichtigen wollen oder nicht, steht
ganz bei ihnen, und mögen sie auch noch so wohlmeinend sein, so sind sie
doch meistenteils durch das, was sie notwendig beachten müssen, zu sehr
in Anspruch genommen, um viel an das zu denken, was sie ungestraft
außer acht lassen können. Keine Anordnung des Stimmrechtes
kann deshalb dauernd befriedigen, bei der irgend-
welche Personen oder Klassen ein für allemal ausge-
schlossen sind, und bei welcher das Wahlrecht nicht
allen erwachsenen Personen zugänglich ist, die es zu
erhalten wünsche n."
Wir können es uns nicht versagen, hier festzustellen, daß das
eben zitierte Buch desselben J. St. M i 1 1 in einer Parlamentsdebatte
gegen das allgemeine Wahlrecht und für die österreichische
Ständeverfassung ins Feld geführt wurde. Diese freche Fälschung
wurde von niemand geringerem begangen, als vom Abgeordneten
Rud. A u s p i t z*) in der Sitzung am 28. Jänner 1881, welche S c h ö-
*) Dr. Rudolf A u s p i t z war liberaler Abgeordneter von Nikolsburg.
Seine Wahl war bereits einmal, am 27. März 1890, wegen krasser Wahl-
bestechungen annulliert worden.
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. 17
11 er eis') Antrag auf allgemeines Wahlrecht zu Grabe trug. Herr
Auspitz begnügte sich nicht damit, zu sagen: „Die Besitzenden
haben die Macht und wollen sie behalten! Basta!" I;r gehört zu den
„gelehrten" Klopffechtern des Liberalismus und verlangte mehr von
sich. Er mußte beweisen, dal.», wie die kapitalistische Wirtsehafts-
welt die beste aller Welten, so die österreichische Verfassung die
beste aller möglichen Verfassungen sei. Um das zu beweisen, zitierte
er Mill, welcher wünscht, dal.» das Wahlrecht an die Kenntnis des
Lesens und Schreibens gebunden sei; Mill meint, daß eine solche
Einrichtung sehr bald die Analphabeten verschwinden machen würde
und hat für ringland recht. Er hat (ializien nicht gekannt, wo bei
Einführung des Bildungszensus die Stanczyken einen (irund mehr
hätten, die Verbreitung der Volksbildung zu hindern.
Was folgt aber aus Mills Forderung? Doch natürlich: — Allge-
meines Stimmrecht mit Bildungszensus! — o nein, Herr Auspitz
sagt daraus folgt die Notwendigkeit der Ausschließung von zwei
Drittejn des Volkes vom Wahlrecht. Mill meint, höhere Einsicht in
die Staatswirtschaft sollte ein „mehrfaches" Wahlrecht bedingen.
Er schlägt vor, daß das Ablegen gewisser Prüfungen das Recht
geben soll, zwei oder selbst drei Stimmen abzugeben; begreiflicher-
weise ein reines Ehrenrecht. Denn Mill erklärt es für „d u r c h-
a u s u n z u 1 ä s s i g, die Überlegenheit des Einflusses von der Rück-
sicht auf das Vermögen abhängig zu machen" ; aber auch in
bezug auf das von ihm vorgeschlagene Pluralvotum für höher Ge-
bildete sagt er: „die an sich ganz gerechte Unterscheidung zugunsten
der Bildung darf nicht so weit gehen, daß sie dem Gebildeten möglich
macht, eine Klassengesetzgebung zu üben"; ja er betont ausdrücklich,
daß dieses Pluralvotum „jedem, auch dem ärmsten Indi-
viduum offenstehen müßte, sobald es nachzuweisen ver-
möchte, daß es sich trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse den
Bildungsgrad angeeignet hat, der dafür vorausgesetzt wird". Und
dieser Mann muß es sich gefallen lassen, von dem liberalen Fälscher
Auspitz für das österreichische Wahlsystem als Autorität ins
Feld geführt zu werden; denn, so meint dieser Herr, in Österreich
sei das Wahlrecht — ganz wie Mill es wünsche — „nach der
Intelligenz abgestuft!" Mögen sich die Millionen von Rechtlosen bei
dem liberalen Parlamentarier für das Kompliment bedanken und
ebenso die Millionen von Wählern in den Städten und Landgemein-
den. Er schätzte die Intelligenz der städtischen Wähler dreißig-
mal, die der ländlichen hundert achtundvierzigmal
geringer als die der Großgrundbesittzer, jener Klasse, bei welcher
das nicht allzu seltene Vorkommen von erblichem „standesgemäßen
Schwachsinn" der Prozeß W a 1 d s t e i n gerichtsordnungsmäßig
festgestellt hat.
*) Die Alldeutschen, die später das allgemeine Wahlrecht so fanatisch be-
kämpften, hatten in den achtziger Jahren selbst wiederholt Anträge für das
allgemeine Wahlrecht eingebracht; so auch Schönerer selbst, wie
weiter unten in der Broschüre noch dargelegt werden wird.
Adler, Briefe. X. Bd. 2
18 Von Taaffe bis Badeni.
Einiges über Geschichte und Wesen der Verfassung.
Es kann nicht unsere Absicht sein, hier auch nur im gedrängtesten
Abriß eine Geschichte der österreichischen Verfassung zu geben.
Aber es muß gesagt werden, weil es immer vergessen wird: Die
heutige Verfassung Österreichs knüpft an vormärzliche stän-
dische Formen an. Was 1848 mit dem Blute der Arbeiter
und Studenten erobert wurde, blieb preisgegeben und hat die Ver-
fassung Schmerlings nicht zurückerobert. Die am 25. April 1848
erlassene „Verfassungsurkunde des österreichi-
schen Kaiserstaates" verwies den Großgrundbesitz in die
erste Kammer, den Senat. Die zweite Kammer sollte auf Grund des
gleichen, freilich nicht des allgemeinen Wahlrechtes gewählt
werden. Der anfänglich geplante Steuerzensus wurde aufgegeben,
aber noch sollten alle vomTag-oderWochenlohnLeben-
d e n und die Dienstleute vom Wahlrecht ausgeschlossen bleiben.
Aber am 15. Mai rückte die akademische Legion auf den Burgplatz,
und Tausende von Arbeitern zogen aus den Vorstädten herein. Die
in dieser Form überreichte „Petition" wurde sehr rasch erledigt. Die
Beseitigung des Senats und der Beschränkungen des Wahlrechts
wurden sofort bewilligt. Die Wahlen zum konstituierenden
Reichstag wurden auf Grund eines nahezu allgemeinen
Wahlrechts (nur die Dienstleute blieben noch immer rechtlos)
durchgeführt. Kaum war aber dies Bürgertum zur Konstituante
versammelt, als es sein Werk mit der Ausschließung der Besitzlosen
vom Wahlrecht begann. Der Verfassungsentwurf des
Kremsierer Reichstages nahm wieder den Zensus auf; das Wahlrecht
für das „V o 1 k s h a u s" sollte nur jener 24jährige Staatsbürger
erhalten, der eine direkte Steuer in einem vom Wahlgesetz (aber
nicht höher als 5 fl. C. M.*) zu bestimmenden Minimum entrichtet
oder einen Pacht- oder Mietzins zahlt, von dem eine direkte Steuer
gleichen Betrages entfällt. Zudem sollte neben der Volkskammer
eine von den Landtagen und Kreistagen zu wählende Länder-
kammer stehen.
Während die Wiener Proletarier den Kanonen des W'indisch-
grätz gegenüberstanden, wurden sie ihres Bürgerrechtes beraubt.
Der Kremsierer Reichstag vernichtete, was der Maisturm erobert
hatte ; er fühlte sich als die Vertretung der Bourgeoisie, er wollte,
wie Violand**) sich ausdrückt, „den Besitz zum Regulator aller Ver-
hältnisse, zur alleinigen Herrschaft erheben". Aber immerhin, er war
) 5 fl. C. M. heißt 5 Gulden Konventionsmünze. Der Gulden war damals
in sechzig Kreuzer geteilt. Er war etwa 1 Gulden 5 Kreuzer (1 fl. 5 kr.)
österreichischer Währung wert, die bekanntlich später eingeführt wurde
und bis zur Einführung der Kronenwährung in Österreich bestand.
**) Ernst v. Violand, der bekannte Abgeordnete des österreichischen
Reichstages im Jahre 1848, der dann von der Reaktion aus Österreich
vertrieben und gleich Kudlich, Goldmark und Fuster steckbrieflich verfolgt
wurde. Er schrieb unter anderem das Werk: „Die soziale Geschichte der
Revolution in Österreich." Er ist im Jahre 1875 in Amerika gestorben.
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. 1()
konsequent; das g I c i c li e Wahlrecht wurde nicht angetastet; die
Stände- bliebe» begraben. Am 7. März L849 wurde der
Re Ic h s t a gig e s;p ren gt u n d d i e o k t r <vy i e r t e „R eich s-
v e r f a s s u n g f ü r das Kaiserin in ( ) s t e r r e i c h" k U n d-
g e m a c h t, w e 1 c li e das W a h I r e c h t f ii r d a s U n t e r h a U s
noch weiter einschränkte und den Zeus u s a u i
5 dulden, in den Städten über 1 0.0 00 Seelen aber
a u f 1 0 b i s 2 0 G u 1 d e n f e s t s e t z t e. Während aber die ( Gleich-
heit des Wahlrechtes für das Unterhaus unangetastet blieb, wurde
für das Oberhaus die „Interessenvertretung" ein-
geführt, das heißt, es wurde an die Höchstbesteuer-
ten ausgeliefert, die 130 Mandate gegenüber 40
von den Landtagen zu wählenden Mitgliedern erhalten sollten.
Diese Reichsverfassung trat nie ins Leben. Der
Fall der Revolution in Ungarn machte bald jede Maske überflüssig.
Das totgeborene Kind wurde am 31. Dezember 1851 mit einem
Patent begraben, welches sie zugleich mit den Grundrechten
außer Kraft setzte. Der Absolutismus war in aller Form
wiederhergestellt.
Als die Niederlage von Solferino 1859 den Ruin
des Reiches enthüllte und man Geld und Kredit brauchte,
dachte man wieder an „zeitgemäße Verbesserungen
in Gesetzgebung und Verwaltung" (Manifest vom
15. Juli 185 9). Der aus ernannten Mitgliedern bestehende
verstärkte Reichsrat wurde einberufen und bald erschien das O k-
toberdiplom (2 0. Oktober 186 0), welches eine Ver-
fassung ankündigte. Das Schwergewicht der Gesetzgebung
sollte in die Landtage fallen, welche 100 Delegierte in eine aus
einer einzigenKammer bestehende, im übrigen zu ernennende
Reichsvertretung zu entsenden hätten. Aber bevor noch dieses
föderalistische Experiment versucht werden konnte, fand abermals
ein Systemwechsel statt. Schmerling wurde Minister und er-
ließ das Februarpatent (26. Februar 1861), die eigent-
liche Grundlage der heute geltenden Verfassung.
Das Februarpatent zerlegte die vom Oktoberdiplom geplante
Reichsvertretung in zwei Kammern: das Herrenhaus, in
welchem aber nun neben den vom Kaiser zu ernennenden Mit-
gliedern die Vertreter des Großgrundbesitzes als erbliche Pairs
sitzen ; und das „Haus der Abgeordnete n", dessen Mit-
glieder von den Landtagen nach einem bestimmten
Verteilungsmodus aus den einzelnen Kurien der-
selben zu wählen sind. Das Haus sollte aus 343 Mitgliedern be-
stehen, wovon 223 den „engeren Reichsrat" der Länder des
späteren Zisleithanien bilden, 120 Mitglieder auf die Länder der
ungarischen Krone entfallen sollten. Da diese Verfassung von
Ungarn nie anerkannt wurde, kam nur der „engere Reichsrat"
zustande.
2*
20 Von Taaffe bis Hadern.
In bezug auf unseren Gegenstand liegt das Schwergewicht der
Sc h me r 1 i n g sehen Verfassung in den im Anhang an das
Februarpatent erlassenen Landesordnungen und Landtagswahl-
ordnungen. In diesen wird die noch heute bestehende Grundlage
des Wahlrechtes geschaffen, wird weit hinter die Verfassung vom
Jahre 1848, ja selbst hinter die vom Monarchen oktroyierte März-
verfassung von 1849 zurückgegriffen; die Beschränkung des Wahl-
rechtes durch den Zensus wird selbstverständlich aufgenommen,
aber auch die Gleichheit des Wahlrechtes wird aufgehoben und die
Privilegien der vormärzlichen Stände wieder hergestellt. Die
Wahlen in die Landtage geschehen in den Kurien des Großgrund-
besitzes, der Handelskammern, der Städte und der Landgemeinden.
Um eine „verfassungstreue" Majorität zu schaffen, werden Wahl-
kreise von ganz naturwidriger Gestalt herausgeschnitzelt und so
für das „Deutschtum", das heißt für die deutschliberale Bürokratie
und Bourgeoisie, eine künstliche Majorität hergestellt.
Der Widerstand der Ungarn gegen die zentralistische Ver-
fassung machte die feudalen Kavaliere stark genug, das Werk
Schmerlings zu beseitigen. Im Juli 1865 fiel Schmerling und am
20. September 1865 wurde von Belcredi die Verfassung
s i s t i e r t. Keine Hand rührte sich zu ihrem Schutz; wer hätte
auch für diesen Ausdruck engherzigsten Kastengeistes sich echauf-
fieren sollen? Die „Verfassungstreuen"? Die Bourgeoisie war
längst feige geworden und das Proletariat hatte wahrlich keinen
Grund dazu.
So gab es wieder einmal keine Reichsvertretung in Österreich,
bis die Schlacht bei Königgrätz die Nützlichkeit einer solchen Ein-
richtung nahelegte. Als dann der Ausgleich mit Ungarn zustande
gekommen war, schuf die Dezemberverfassung (Gesetz
vom 21. Dezember 1867) den österreichischen Reichs-
rat, welcher zunächst nichts anderes war als der durch den Ver-
lust der italienischen Provinzen auf 203 Abgeordnete zusammen-
geschmolzene „engere Reichsrat" Schmerlings. Der Widerstand
der Föderalisten, insbesondere die Abstinenz der Tschechen, legte
es nahe, den Reichsrat von den Landtagen unabhängiger zu machen
und im Jahre 1873 wurden endlich die direkten Reichsrats-
wahlen eingeführt. Die Zahl der Abgeordneten wurde auf 353
vermehrt, aber die Kurienwahl, das Prinzip der „Interessen-
vertretung", wurde unverändert aus den LandtagswTahlordnungen
herübergenommen. Unberührt blieb dieses Prinzip des österreichi-
schen Wahlunrechtes auch durch die Wahlreform des Jahres 1882,
welches für die Größten der Großen, für den böhmischen Fidei-
kommißadel, ein neues Monopol, einen besonderen Wahlkörper
schuf und, um diesen Vorgang dem größeren Publikum annehmbar
zu machen, den Zensus auf fünf Gulden herabsetzte.
Die „verfassungsmäßige Ära" in Österreich ist also in ihrer
Gesamtheit nichts anderes als eine Periode der Reaktion, welche
die Errungenschaften des Jahres 1848 preisgibt. Das verehrliche
Das allgemeine, Bleiche und direkte Wahlrecht.
Bürgertum macht seinen Frieden mit dem hohen Adel zum Schaden
der ungeheuren Mehrheit des Volkes, welches rechtlos bleibt.
So sehen wir denn, wie es in Österreich mit dem wichtigsten
Rechte des Staatsbürgers aussieht. Das heutige Wahlsystem mit
seinem hohen Zensus und mit seinen Gruppen macht ans dem
Wahlrecht ein höchst Ungleich verteiltes Monopol
der besitzenden. Es beraubt nicht nur zwei Drittel des
Volkes aller politischen Rechte, es liefert auch das bevorrechtete
Drittel in die Hände von ein paar tausend Großgrundbesitzern,
welche faktisch die Herrschenden sind in Österreich. Nicht nur,
daß die gesetzlich gewährleistete und traditionell geübte Macht
der Krone in Österreich eine so überwiegend große ist, wie in
keinem anderen konstitutionellen Lande, muß jedes (iesetz auch
noch das Herrenhaus passieren, jenen prompt wirkenden
Hemmungsapparat für jede volkstümliche oder auch nur frei-
sinnige Maßregel. Es genügt zu erwähnen, wie das Herrenhaus
zusammengesetzt ist, um zu wissen, was es leistet. Das Herrenhaus
besteht derzeit (nach einer Feststellung von 1891) aus 21 Erz-
herzogen, 66 erblichen Pairs und 125 lebenslänglichen Mitgliedern.
Daß die erblichen Mitglieder ausschließlich dem Feudaladel an-
gehören, versteht sich von selbst; aber auch unter den lebens-
länglichen, also ernannten Mitgliedern des Herrenhauses befinden
sich 4 Fürsten, 48 Grafen, 22 kirchliche Würdenträger; den Rest
bilden 51 Herren geringeren Ranges (Barone, Generale, Bankiers,
Professoren usw.). Da überdies die Zahl der Herrenhausmitglieder
unbeschränkt ist, kann jede Regierung eine beliebige Anzahl er-
nennen und jederzeit die Majorität durch einen „Pairsschub" in
die Minorität verwandeln. Das Herrenhaus bildet also nur eine
nochmalige Umschreibung der Macht der Regierung respektive
der Krone, welche ja durch Verweigerung der Sanktion stets in
der Lage ist, jedes vom Abgeordnetenhaus beschlossene Gesetz
am Inslebentreten zu hindern.
Die Gefährlichkeit des Herrenhauses für jeden Fortschritt tritt
aber in Österreich sehr wenig hervor, und zwar aus dem höchst
einfachen Grunde, weil das Abgeordnetenhaus nicht viel besser ist.
In Österreich kann das Herrenhaus das Volkshaus nicht hemmen,
weil es kein Volkshaus gibt. Dieselben Elemente, vornehmlich der
Großgrundbesitz, welche im Herrenhaus herrschen, haben die
Macht im Abgeordnetenhaus, und so ist das angeblich „konsti-
tutionelle4' Österreich tatsächlich eine Ständemonarchie
mit parlamentarischem A u f p u t z.
Die Ausdehnung des Wahlrechtes.
Will man sich eine deutliche Vorstellung von der Ausdehnung
des Wahlrechtes in Österreich machen, so gibt es dazu zwrei
Wege. Man kann das Verhältnis der Zahl der Wahlberechtigten
zur Einwohnerzahl vergleichen mit diesem Verhältnis in jenen
Ländern, welche das allgemeine Wahlrecht oder ein diesem nahe-
kommendes Wahlsystem besitzen. Dieses Verhältnis, die relative
Wahlberechtigung, zeigt folgende Tabelle:
22 Von Taaffe bis Badeni.
R
. e 1 a t i v e \Y a
l 1 b e i
* e c h t i g u ng.
Aui 1000 Be-
Staaten
lk\ ölkemng
Wähler
wohner
entfallen
ähler
Prankreich . . .
38,343.192 (1891)
10,387.330 (1889)
271
Schweiz (Kanton
Zürich*) . . .
337.183 (1888)
83.586 (1893)
24N
Griechenland . .
1,979.433 (1879)
460.163 (1881)
232
Deutschland . .
49,428.470 (1890)
10,145.877 (1890)
217
Belgien bisher
6,147.041 (1890)
135.236 (1891)
22
Belgien nach dem
neuen Gesetz .
6,147.041 (1890)
zirka
1,300.000
zirka
210
Großbritannien
und Irland . .
37,888.153 (1891)
6,173.668 (1891)
163
Dänemark . . .
2,185.335 (1890)
304.585 (1880)
139
Italien
30,158.408 (1891)
2,826.055 (1890)
97
Norwegen . . .
1,526.871 (1891)
139.690 (1891)
91
Österreich . . .
23,608.062 (1890)
1,732.057 (1892)
72
Ungarn . . . .
17,349.398 (1890)
zirka"
**) 840.000 (1890)
zirka
48
Dieser Vergleich wird natürlich dadurch erschwert, daß die Be-
dingungen der Wahlfähigkeit in verschiedenen Ländern ver-
schieden sind, wobei am meisten ins Gewicht fällt, daß das Lebens-
alter, mit welchem die Wahlfähigkeit beginnt, ein verschiedenes
ist. Während in Österreich das 24. Lebensjahr der Beginn der
Wahlberechtigung ist, ist es in Deutschland das 25., in Frankreich
das 21., in der Schweiz das 20. Auf 100 Einwohner entfallen in
Frankreich 27'1 Wahlberechtigte, in Deutschland 217, in England
mit seinem noch immer beschränkten Wahlsystem 163, in Öster-
reich aber nur 7*2 Wahlberechtigte. Das wahlfähige Alter kommt
in Deutschland dem Österreichs am nächsten, und wenn man an-
nimmt, daß der Aufbau der Altersklassen in Österreich und
Deutschland annähernd derselbe ist, so kommt man zum Schluß,
daß sich die Ausdehnung des Wahlrechtes in Österreich zu der
in Deutschland verhält wie 7*2 : 217, also ungefähr wie 1 : 3,
daß somit bei Einführung derselben Wahlgesetzgebung wie in
Deutschland sich die Zahl der Wähler in Österreich verdrei-
fachen würde.
Aber es gibt einen viel direkteren Weg. Aus den bisher ver-
öffentlichten vorläufigen Ergebnissen der Volkszählung des Jahres
1890 läßt sich die Zahl der Männer über 24 Jahren mit annähernder
Genauigkeit auf 5,716.000 berechnen. Die Zahl der Wahlberechtigten
bei den letzten Wahlen, im Frühjahr 1891, war 1,732.057. Hieraus
ergibt sich, daß von je 1000 Männern über 24 Jahren
das Wahlrecht in Österreich nur 3 03 hatten, also
erheblich weniger als ein Drittel.
Es ist somit ziffermäßig erwiesen, daß mehr
*) Die Ziffern für die Gesamtsehweiz konnten wir leider nicht erlangen:
die Ausdehnung des Wahlrechtes ist aber wesentlich dieselbe in allen
Kantonen und die für Zürich geltende Verhältniszahl darum auch für die
Eidgenossenschaft anzunehmen, (v. a.)
Wir konnten die genaue Ziffer nicht in Erfahrung bringen, (v. a.)
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht,
a 1 s zwei Drittel der B e v ö Ikcr u n g, 69 7 M ä n n e r v o n i e
1ÜOU, in Österreich politisch rechtlos sind.
Aber dieses an und für sich schon im höchsten Grade unge-
rechte Verhältnis wird von Jahr zu Jahr ungünstiger, und
zwar nach zwei Richtungen. Erstens wird die Zahl der
Rechtlosen größer mit der fortschreitenden Volksver-
mehrung, weil die besitzlosen Volksklassen erfahrungsgemäß sich
schneller vermehren als die Besitzenden. Zweitens aber, und dieser
Umstand gibt erst die rechte Beleuchtung für unser Wahlsystem,
das Wahlrecht ist ein Monopol und die Zahl der Monopo-
listen wird immer geringer, weil das Monopol an den
Besitz geknüpft ist, der Besitz sicli aber immer mehr in den
Händen von immer weniger Leuten konzentriert. Der Kreis der
Bevorrechteten im Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung wird ein
immer kleinerer, die Zahl der Rechtlosen eine immer größere. Wir
haben seit dem Jahre 1873 in Österreich direkte Wahlen; bis zu
jener Zeit wurden die Reichsratsabgeordneten aus den Landtagen
gewählt, und die Ziffern sind schwer zu erheben. Im Jahre 1873
und 1879 fanden Wahlen nach den alten Bestimmungen des Zehn-
gulden- beziehungsweise Zwranzigguldenzensus statt. Bei den
Wahlen im Jahre 1885 und 1891 wählten die Fünfguldenmänner mit.
Vergleicht man die ersten beiden Wahlen miteinander, so findet
man, daß auf 1000 Einwohner entfielen im Jahre 1873 63 Wahl-
berechtigte, im Jahre 1879 nur mehr 59. Vier früher Wahl-
berechtigte auf je 1000 Einwohner waren verschwunden. Im
Jahre 1885 entfielen auf 1000 Einwohner noch 73 Wahlberechtigte,
im Jahre 1891 nur mehr 72, wieder ist in sechs Jahren ein Wahl-
berechtigter auf je 1000 Einwohner verschwunden, und wir werden
diese Ziffern noch genauer würdigen können, wenn wir sie nach
den Wahlkörpern unterscheiden. Wir erfahren dann (auch diese
Ziffern beruhen durchweg auf offiziellen Angaben), daß in den
Städtewahlbezirken auf 1000 Einwohner im Jahre 1885 70 Wahl-
berechtigte kamen, im Jahre 1891 nur mehr 61; also 9 Wähler,
nicht weniger als 12*8 Prozent sind verschwunden; in den Land-
gemeinden ist das Verhältnis ein weniger ausgeprägtes, aber noch
immer deutliches. Die Wählerzahl auf 1000 Einwohner fällt von 77
im Jahre 1885 auf 75 im Jahre 1891, mehr als 2*5 Prozent der
Wähler sind verschwunden.
Auf 10 0 0 Einwohner kommen Wähler:
In den Städtewahlbezirken Landgemeinden
1873 48 71
1879 461 61*3
1885 70 77
1891 61 75
Auf 1000 Ein w ohner kamen Wähler überhaupt:
1873 63
1879 59
1885 73
1X91 72
24
Von Taafie bis liadcni.
1 n dem kurzen Zeitraum v o n nur s e e h S J a h r e n
li a b e n von hundert Wählern in den Landbezirke n
mehr als zwei, i.n den Stadtbezirken mehr als
z \v ö 1 f auf kr e li (") r t. \V ä h 1 e r zu sei n. sie sind ins Pro-
i e t a r i a t li i n a b g e s u n k e n.
Es gibt wohl nicht leicht eine Ziffer, die gleich klar und
handgreiflich zeigt, wie die Mittelstände im Zugrundegehen be-
griffen sind. Der Abfall in den Wählerzahlen vom Jahre 1873
bis 1879 wird von den offiziellen Statistiken auf die Folgen
des Krachs zurückgeführt. Aber der weitere Verlauf zeigt sehr
klar, daß es sich nicht um die Folgen eines einmaligen, ein-
schneidenden Ereignisses, sondern um einen chronischen, an-
dauernden Prozeß handelt, und dieser Prozeß ist kein anderer
als der der zunehmenden Proletarisierung, der Expropriation der
Mittelklassen. Das ist jedoch ein Gegenstand, der uns hier nicht
beschäftigt, wohl aber haben wir hervorzuheben, daß mit der Ent-
eignung durch die ökonomische Entwicklung auch die Ent-
rechtung durch unsere politische Gesetzgebung erfolgt. Der
Kreis derer, die noch soweit ihre wirtschaftliche Selbständigkeit
haben, daß sie auch nur 5 Gulden direkte Abgaben zahlen, wird
ein immer kleinerer und mit der wirtschaftlichen Selbständigkeit geht
das politische Recht verloren. Wie sich dieser Prozeß in den ein-
zelnen Kronländern äußert, zeigt folgende Tabelle:
Auf 1000 Einwohner entfielen Wähler:
Stadtbezirke Landbezirke
111 1873 1879 1885 1891 1873 1879 1886 1891
Niederösterreich ... 48 46 69 60") 78 77 78 84")
Oberösterreich .... 44 44 63 62 48 42 101 99
Salzburg 56 55 70 68 87 80 90 89
Steiermark 40 44 65 52 59 56 80 82
Kärnten 31 34 68 45 48 40 63 64
Krain 44 39 63 53 64 58 92 88
Triester Gebiet ... 50 58 50 47
Görz und Gradiska . . 44 53 45 52 40 38 66 65
Istrien 53 55 68 76 54 55 78 77
Tirol 46 48 55 59 69 65 68 67
Vorarlberg 105 109 102 85 80 79 97 106
Böhmen 47 49 74 68 42 38 57 59
Mähren 42 44 74 72 64 63 63 60
Schlesien 47 49 64 63 3S 43 54 51
Galizien 67 68 70 68 89 92 92 85
Bukowina 65 76 79 72 95 103 109 86
Dalmatien — 119 101 91 97 110 104
In ganz Österreich . . 48 46 70 61 71 61 77 75
*) Bei der Wahl 1S85 wählten die beiden Bezirke Sechshaus und
H e r n a 1 s noch mit den Landgemeinden, 1891 aber bereits mit den
Städten. Da in Sechshaus auf 1000 Einwohner nur 42, im Bezirk Hernals
gar nur 40 Wähler kommen, mußte diese Änderung die Verhältniszahl der
Einwohner zu den Wählern für die Städte Niederösterreichs stark herab-
drücken, für die Landgemeinden stark hinaufschnellen, (v. a.) Inzwischen
war nämlich die Eingemeindung der Vororte erfolgt.
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht.
Das Wahlrecht ist also in Österreich das Monopol eines i in ine r
kleiner werdenden, ein Drittel nicht erreiche n-
den Bruchteiles der Bevölkerung?.
Das Reichsratswahlrecht schließt sich an das Wahlrecht zum
Landtag beziehungsweise das Qemeindewahlrecht an und seine
Ausdehnung zeigt deshalb in den verschiedenen Kronländern ge-
wisse nicht unbedeutende Verschiedenheiten, die durch den ein-
heitlichen Zensus von 5 Gulden keineswegs gänzlich aufgehoben
werden, auf welche einzugehen aber hier ganz unmöglich ist*).
Seit dem Bestehen des gegenwärtigen Wahlsystems, seit 1862,
hat nur eine einzige und höchst bescheidene Erweiterung des
Wählerkreises stattgefunden. Die Einbeziehung der Eünfgulden-
männer 1882 hat die Zahl der Wähler auf je 1000 Einwohner nur
v o n 6 3 a u f 7 6 v e r m ehrt. Die absoluten Zahlen sind folgende:
Zahl der Wähler bei den Wahlen:
1873* ) 1879 1885 1891
Großgrundbesitzer 4.931 4.768 5.119 5.402
Handelskammern 499 515 593 583
Städte, Märkte usw 186.323 196.993 298.793 338.500
Landgemeinden .... . . . . 1,062.259 1,088.457 1,369.536 1.387.572
Zusammen . . . 1,254.012 1,290.733 1,674.041 1,732.057
Vergleichen wir mit diesem Schneckengang die Entwicklung
des Wahlrechtes in zwei Ländern, die auch ihrerseits noch heute
nicht beim allgemeinen Wahlrecht angelangt sind. In England
verdoppelte die Reformbill von 1867 die Zahl der Wähler:
aber schon 15 Jahre später führte die Wahlreform von 1884
(P e o p 1 e Act) eine abermalige Verdoppelung der Wählerzahl
herbei. Bis zur Reformbill kamen nur etwa 40 Wähler auf 100U
Einwohner, heute 162; das Wahlrecht hat in 25 Jahren den vier-
fachen Umfang gewonnen.
Wahlberechtigte in Großbritannien und Irland.
England Schottland Irland Venjljg. ^^
1846 845.000 93.000 129.000 1,067.000 38
1871 2,066.000 260.000 227.000 2,553.000 78
1881 2,538.000 310.000 229.000 3,077.000 87
1889 4,502.000 572.000 763.000 5,837.000 157
1891 4,838.080 593.877 741.711 6,173.668 162
) Es sei nur angeführt, daß beispielsweise in Qalizien die Wahlkörper
sowohl in dtn Städten als in den Landgemeinden auf folgende Art gebildet
werden: die zur Wahl des Oemeinderates Berechtigten werden nach der
Hohe der von ihnen gezahlten direkten Steuern, angefangen vom Höchst-
besteuerten, aneinandergereiht; die ersten zwei Dritteile dieser Liste haben
dann das Wahlrecht für Landtag und Reichsrat, gleichgültig, ob sie das
Minimum von fünf Gulden zahlen oder weniger. Die Erteilung des Wahl-
rechtes an die Fünfguldenmänner bewirkt darum in den galizischen
Landgemeinden keine Vermehrung der Wähler; im Jahre 1885 entfielen
wie 1879 auf 1000 Linwohncr 92 Wähler, (v. a.)
) Ohne Dalmatien, wofür die Angaben fehlen, (v. a.)
2f> Von Taaffe bis Badeni.
Und in Italien, das noch immer ein sehr beschränktes Wahl-
recht hat, ist die Wählerzahl seit 1870 beinahe verfünffacht
\\ o r d e n. Die Wahlreform von 1882 allein hat sie verdreifacht.
So engherzig der italienische Zensus ist, wenigstens hat das
Wahlrecht dort jeder Mann, der zwei Jahre unter der
Fahne gestanden ist. Man empfindet es dort als schreiendes
Unrecht, dem Manne, dessen Blut man fordert, sein Bürgerrecht
zu versagen.
Italien.
Jahr Zahl der Wahler Am" 1000 Einwohner Wühler
1870 530.018 19*8
1874 571.939 213
1876 605.007 20'9
1879 621.896 21*5
Gesetz vom 24. September 1882.
Jahr Zahl der Wähler Auf 1000 Einwohner Wähler
1882 2,144.159 741
1883 2,428.980 83"9
1885 2,480.897 87'5
1889 2,756.347 95'2
1890 2,826.055 97'6
Nur in Österreich rührt sich nichts. Aber das Beispiel
Belgiens hat jüngst gezeigt, daß die Völker mitunter in einer
Woche nachzuholen wissen, was die Herrschenden durch Jahr-
zehnte versäumten.
Die Verteilung des Wahlrechtes.
Das Wahlrecht soll das gleiche sein.
Diese Forderung bedeutet, daß jeder einzelne Wahlberechtigte
das gleiche Maß von Einfluß auf die Zusammensetzung des gesetz-
gebenden Körpers haben soll. Vollständig wird diese Forderung
nie, auch bei gesetzlicher Fixierung des gleichen und allgemeinen
Wahlrechtes nicht, erreicht werden. Die verschiedene Ausdehnung
der Wahlkreise bewirkt, daß in dem einen weit mehr Wahl-
berechtigte einen Abgeordneten wählen, wie in einem anderen.
Und nur eine jedesmalige Richtigstellung der Wahlkreise würde
diesem Übel insoweit abhelfen, daß wenigstens kein ein-
schneidender Unterschied bestünde. In Deutschland hat dieser
Umstand im Gefolge, daß das Maß des Wahlrechtes sich
immer mehr zuungunsten des Proletariats verschiebt. Die großen
städtischen Wahlbezirke, die schneller wachsen und in welchen
die Zahl der Wahlberechtigten rapid zunimmt, verlieren von
Jahr zu Jahr an dem Maße des Wahlrechtes für jeden einzelnen
Wähler. Immer mehr Wähler haben nach wie vor einen Ab-
geordneten zu wählen; im Gegensatz zu den ländlichen Be-
zirken, deren Bevölkerung abnimmt oder doch in geringerem
Grade wächst.
Was wir aber in Österreich an Ungleichheit des Wahlrechtes
sehen, ist mit diesen Mißständen, die alle Länder mehr oder weniger
aufweisen, nicht zu vergleichen. Die Ungleichheit und Ungerechtig-
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. ^
kcit des Wahlrechtes ist das eigentliche Grundgesetz des Staates, sie
ist seine Verfassung:. Viel mehr noch als die Ausdehnung des
Wahlrechtes auf jene zwei Drittel der Bevölkerung, die heute
rechtlos sind, wird die Beseitigung der Ungleichheit des
Wahlrechtes eine politische Umwälzung in Österreich bedeuten.
Das gleiche Wahlrecht fürchten die Privilegierten noch
weit mehr als das allgemeine.
Das Abgeordnetenhaus zählt 353 Abgeordnete; davon entfallen
Abgeordnete:
auf die Wählerklasse des Großgrundbesitzes 85
der Handelskammer 21
der Städte, Märkte und Industrialorte 1 IS
der Landgemeinden 12^
Die Wählerklasse des Großgrundbesitzes umfaßt in den meisten
Kronländern den land- oder lehentäflichen Grundbesitz, in Dal-
matien die Höchstbesteuerten, in Tirol den adeligen Großgrund-
besitz, in Vorarlberg und Triest existiert diese Gruppe überhaupt
nicht.
Auch für die Einreibung in diese Wählerklasse gibt es in den
verschiedenen Kronländern verschiedene Bedingungen.
Während in Böhmen nur Besitzer landtäflicher Güter, die min-
destens 250 Gulden Realsteuern (davon 200 Gulden Grundsteuer)
zahlen, genügt in Galizien eine Realsteuer von 100 Gulden, in
Görz und Gradiska gar von nur 50 Gulden. Dafür wird der
böhmische Grundadel aber auch anders behandelt und schon auf
je 19 dieser Fürsten und Grafen entfällt ein Abge-
ordneter, während sich die 444 Angehörigen des Görzer Groß-
grundbesitzerpöbels alle zusammen mit einem einzigen Ab-
geordneten begnügen müssen. Zudem aber hat das Gesetz
Zeithammer*) 1882 bestimmt, daß von den 452 berufenen Groß-
*) Da auf die Wahlreform vom Jahre 1883 immer wieder Bezug ge-
nommen wird, sei hier kurz ihre Geschichte erzählt: Am lü. Dezember 1880
brachten die Deutschnationalen (nachmaligen Alldeutschen) Schönerer
und Fürnkranz sowie die Demokraten Kronawetter und S t.eu d e 1
einen Antrag ein, der das Wahlrecht für jeden 24 Jahre alten Staatsbürger
verlangte. Der Antrag war zunächst nicht einmal genügend unterstützt und
fand erst auf die Anfrage des Präsidenten die genügende Unterstützung.
Ende Jänner 1881 lehnte es das Abgeordnetenhaus ab, den Antrag an einen
Ausschuß zu verweisen. Darauf brachte Kronawetter den Antrag ein.
jedem Steuerzahler — also auch denen unter zehn Gulden Steuer - - das
Wahlrecht zu geben und die indirekten Wahlen in den Landgemeinden
abzuschaffen. Zum Verständnis sei bemerkt, daß die Wiener Vororte damals
noch nicht mit Wien vereinigt, sondern gesonderte Landgemeinden waren.
(Die Vereinigung Wiens mit den Vororten erfolgte erst Ende 1890 gegen den
Widerstand der Christlichsozialen und namentlich Luegers.) Zur Leopold-
stadt (dem zweiten Dezirk) gehörte damals und noch lauge nachher auch
der heutige zwanzigste Bezirk, die Brigittenaii. (Siehe darüber die Be-
merkungen beim Artikel „Die Liberalen und das allgemeine
Wahlrecht" in der „Arbeiter-Zeitung" vom 31. Oktober 1890.) Zu
gleicher Zeit beantragte auch der Klerikale Hofrat Lieubacher das
28 Von Taaffe bis Badeni.
crtmdbesitzern Böhmens eine kleine Gruppe der allergrößten aus?
erwählt wurde: der f i d e i k o m m i s s a r i s c h e G r o B Grund-
besitz mit seinen jetzt 4 5 Mitgliedern wählt für sich
allein 5 Abgeordnete; auf 9 F i d e i k o m m i s s a r e
entfällt schon ein Abgeordneter. Als dieser Antrag
im Abgeordnetenhaus verhandelt wurde, jammerte der Minoritäts-
berichterstatter Dr. Herbst") von den damals 38 Fideikommiß-
besitzern Böhmens säßen 25 als erbliche Mitglieder im Herren-
haus, eine weitere Anzahl seien ernannte Herrenhausmitglieder
und nun wolle man ihnen noch so eine starke Vertretung im Abge-
ordnetenhaus geben! Mit Fug und Recht wurde seine Theorie ver-
lacht, welche den Großgrundbesitz nur als „ungeteilte K o r p o-
ratio n" als „historisch berechtigt" anerkennen wollte. Das
Privilegium des Großgrundbesitzes beruht nicht auf „historischem
Rechte", sondern auf historischem Unrecht und auf gehäuftem
dazu. Das aber anzuerkennen ist die liberale Bourgeoisie zu feig;
sie ist „verfassungstreu", das heißt untreu den Prinzipien
der Gleichheit, untreu den Interessen des Volkes, ja untreu aus
Feigheit den Interessen ihrer eigenen Klasse.
Der Großgrundbesitz nimmt also volle 24 Prozent, fast e i n
Viertel des Abgeordnetenhauses in Anspruch und dadurch ent-
Wahlrecht allen Bürgern zu Beben] die entweder fünf Gulden direkte
Steuer zahlen oder nach der Gemeindewahlordnung auch bei geringerer
Steuerzahlung wahlberechtigt sind. Am 10. Mai beantragte der Alttscheche
Zeithammer, um dem sogenannten verfassungstreuen, das ist zentra-
listisch gesinnten mit den Deutschen gehenden Adel in der Großgrund-
besitzerkurie im konservativen, mit den Tschechen gehenden Adel ein
Gegengewicht zu schaffen, die Großgrundbesitzerkurie in Böhmen in eine
Gruppe der Fideikommißbesitzer und in eine der Nichtfideikornmißbesitzer
zu teilen. Die Nichtfideikornmißbesitzer sollten überdies noch in fünf Wahl-
kreise geteilt werden. Alle Anträge blieben im Ausschuß liegen, bis die
Ergänzungswahlen für den böhmischen Großgrundbesitz nahten. Nun er-
klärte der Ministerpräsident Graf Taaffe, daß er den Antrag Zeithammer
akzeptiere, während er sich über den Antrag Licnbacher sehr unbestimmt
äußerte. Der Ausschuß beschloß nun die Wahlreform, die den böhmischen
Großgrundbesitz teilte und den Fünfguldenmännern das Wahlrecht gab,
womit der Einfluß der Konservativen sowohl in der Großgrundbesitzer-
kurie wie in der Städtekurie gesteigert wurde. Erst dadurch konnten auch
die Kleingewerbetreibenden auf die Gesetzgebung Einfluß gewinnen. Die
Neuwahlen des .lahres 1885, die zum erstenmal unter dem Fiinfguldenzensus
stattfanden, brachten den Liberalen einen Verlust von fünfzehn Mandaten.
In Wien siegten die Demokraten und auch ein Antisemit. In der Provinz
drangen neben klerikalen auch einige radikale Männer durch, so auch
P e r n e r s t o r f e r, Steinwender sowie mehrere Jungtschechen.
Auch L u e g e r wurde damals zum erstenmal — allerdings noch als Demo-
krat — gewählt. Herbst unterlag in zwei deutschböhmischen Wahl-
bezirken und mußte eine Wahl im ersten Wiener Bezirk annehmen.
Über die Anträge auf allgemeines Wahlrecht siehe weiter unten in der
Broschüre selbst.
*) Dr. Eduard Herbst, der Führer der Deutschliberalen, ehemaliger
Justizminister im „Bürgerministerium".
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. 29
Scheidet eine kleine Anzahl von leielit beeinflußbaren Herren über
die Majorität des Parlaments. Bald bewerkstelligt, wie I87.i eine
Finanzclique, ein „Gh a b r u s*)", durch einige Güterkäufe die Ver-
schiebung der Majorität; bald ist es, wie 1889, das Machtwort der
Krone, das die paar Dutzend Grundherren veranlaßt, die von oben
gewünschte Politik durch die Wahlen zu ermöglichen. „Das
Ministerium T aa f f e verdankt seine Majorität
einer schwachen Stunde de s b ö h mischen ( i r o 1.1-
grundbesitze sk\ erklärte der Abgeordnete v. Plener in der
Sitzung vom 14. Dezember 1880. Und trotz der so bezeugten
klaren Erkenntnis der Schmach für das Volk Österreichs, ja sogar
für die österreichische Bourgeoisie, die er vertritt, ist der Mann
noch heute „verfassungstreu" und zieht es vor, dal.» die Gesetz-
gebung und Verwaltung abhänge von der Laune von ein paar
Dutzend böhmischer Landlords, als von dem Willen der Mehrheil
des Volkes.
In der zweiten Kurie der Handels- und Gewerbekammern be-
steht wieder der Unterschied, daß die meisten von ihnen ihre Ab-
geordneten allein wählen, die von Wien, Prag, Reichenberg, Brunn
sogar je zwei; die Mitglieder anderer Handelskammern, zum Bei-
spiel Troppau, Laibach, Rovereto, Salzburg, Innsbruck usw..
wählen mit den städtischen Wählern, haben also auch ein doppeltes
Wahlrecht, welches aber natürlich noch lange nicht so ausschlag-
gebend ist, wie das der Mitglieder der erstgenannten Handels-
kammern. Wie wichtig es aber noch immer ist, ergibt sich daraus,
daß zum Beispiel bei der letzten Nachwahl in Troppau der ge-
wählte Kandidat nur eine Minorität von den städtischen Wählern
bekam, durch die Mitglieder der Handelskammer aber, welche ihr
zweites Wahlrecht ausübten, zur Majorität kam. Auch eine Sorte
von Pluralvotum!
Die Vertretung der Handels- und Gewerbekammern ist ein
besonderes Privilegium für die Großindustrie und das große Geld-
kapital. Denn diese beherrschen alle Kammern absolut, trotz der
Masse der Kleingewerbetreibenden und Kleinkaufleute, welche
'"') Vor den Wahlen zum böhmischen Landtag im Jahre 1872 (bis zum
Jahre 1873 wurde der Reichsrat aus den Landtagen gewählt) hatten sich
Gesellschaften gebildet, um landtäfliche Güter aufzukaufen, um so Stimmen
für die Regierungspartei — damals regierte das „liberale" Ministerium
Adolf Auersperg — zu gewinnen. Diese Gesellschaften nannte man mit
einem jüdischen Worte „Chabrus". Übrigens gab es neben den liberalen
„Chabrus" auch konservative, die wieder Güter für die Konservativen auf-
kauften.
Bei den Wahlen zum böhmischen Landtag im Jahre 1889 und bei den
weiteren Nachwahlen erlitten die Alttschecheu eine große Niederlage, so
daß die Jungtschechen, die früher nur wenige Mandate hatten, nun die
Mehrheit der tschechischen Abgeordneten bildeten. Die (iroßgruudbcsitzer-
kuric hatte nur Feudale gewählt.
Die Liberalen nannten sieh „verfassungstreu", weil sie für die Ver-
fassung vom Jahre 1867 und gegen das böhmische Staatsrecht waren.
30 Von I aaffe bis Badeni.
ihre Wählerschaft bilden. Als Abgeordnete der Handelskammern
werden auch häufig nicht Fabrikanten oder Kaufleute, sondern die
berufsmäßigen Politiker des Liberalismus, die Verfechter der
Kapitalistenklasse gewählt. (Plener, Neuwirth, Dumreicher usw.)
Es ist also auch ganz unrichtig, wenn die 21 Mandate der Handels-
kammern, wie das gewöhnlich geschieht, der Vertretung der
städtischen Bevölkerung zugerechnet werden. Sie vertreten viel-
mehr nur die oberste, reichste Schicht der Bourgeoisie und ver-
halten sich zur städtischen Bevölkerung ungefähr wie die Vertreter
des Großgrundbesitzes zur bäuerlichen Bevölkerung oder, wenn
man lieber will, wie der Hecht zum Weißfisch.
Die Wählerschaft der Städte, Märkte und Industrialorte ist
heute überall, mit Ausnahme von Triest, abgegrenzt durch die Zu-
gehörigkeit zum ersten oder zweiten Gemeindewahlkörper oder
den Steuersatz von wenigstens 5 Gulden. In Triest wählte der
erste Wahlkörper, dann der zweite und dritte Wahlkörper und
schließlich der vierte Wahlkörper samt den Wahlberechtigten des
Gebietes von Triest je einen Abgeordneten.
Daß auch hier große Verschiedenheiten bestehen, ist klar.
Neben Riesenbezirken (wie Hernais mit 268.445 Einwohnern und
10.890 Wählern) finden sich Zwergbezirke (zum Beispiel innere
Stadt Graz mit 15.604 Einwohnern und 917 Wählern); aber außer-
dem gibt es eine Anzahl von Wahlbezirken, die das Privilegium
haben, nicht einen, sondern mehrere Abgeordnete in einem Wahl-
gang zu wählen. Die Innere Stadt Wien wählt 4, Linz, Brunn,
Krakau und Lemberg je 2 Abgeordnete. Diese Auszeichnung ver-
danken jene Wählerschaften aber nicht etwa der Zahl ihrer
Einwohner oder Wähler (der I. Bezirk Wien rangiert mit 67.029
Einwohnern erst an siebenter Stelle, wenn man die neun
alten Bezirke nach der Volkszahl ordnet, und auch die Wählerzahl
8019 wird nicht nur von Hernais, Sechshaus, sondern auch vom
II. Bezirk übertroffen), sondern ausschließlich der Qualität
ihrer Wähler. Es ist die wohlhabende Bourgeoisie, die hier zu dem
bereits in Form der Handelskammermandate erhaltenen Über-
gewicht noch ein separates Präsent erhält.
In den Landgemeinden wird das Wahlrecht, welches bekannt-
lich ein indirektes ist, ebenso durch die 5 Gulden direkter
Steuern bestimmt. Auf je 500 Einwohner einer Gemeinde entfällt
ein Wahlmann. Eine Ausnahme bildet unter anderem Galizien.
und zwar nach zwei Richtungen. Erstens werden die Wahlmänner
von einem Wahlkörper gewählt, welcher ganz anders zusammen-
gesetzt ist, und zwar so: Es werden sämtliche Gemeindewähler
nach der Höhe ihrer in der Gemeinde gezahlten direkten Steuern,
angefangen vom Höchstbesteuerten, aneinandergereiht, und jene
Gemeindewähler, welche in die ersten zwei Drittel der gesamten
Liste hineinfallen, bilden den Wahlkörper für die Wahlmänner.
(In anderen Kronländern gilt diese Bestimmung nur für Gemeinden,
die weniger als drei Wahlkörper besitzen.) Zweitens aber haben
in Galizien, wie an anderer Stelle ausgeführt wird, die Besitzer
Das allgemeine, gleiche und duckte Wahlrecht. 3!
selbständiger Qutsgebiete, die nicht so hoch besteuert sind, um
in die (iruppe der Großgrundbesitzer zu gehören, das Recht, gleich
als W a 1) 1 m ä n ii e r zu fungieren.
Das indirekte Wahlsystem wollen wir an anderer Stelle
näher besprechen; seine Verwerflichkeit ist bereits ziemlich ein-
stimmig anerkannt; nur die „edlen Polen" weigern sich noch hart-
näckig, die Bauern aus ihrer Vormundschaft zu entlassen und die
liberale Linke scheint geneigt ihnen die Möglichkeit der Walil-
beeinflussung auch weiterhin garantieren und erhalten zu wollen.
Die Größe der Landeswahlbezirke variiert zwischen
Karoline nthal mit 263.930 Einwohnern und 1 1 .759 Wählern.
St anislau mit gar 300.685 Einwohnern und 26.929 Wählern auf
der einen Seite und C a 1 1 a r o mit 33.358 Einwohnern und 3856
Wählern, Gradiska mit 51.395 Einwohnern und nur 1386
Wählern auf der anderen Seite.
Dieser in sehr allgemeinen Zügen gehaltenen Darstellung wird
man schon zur Genüge entnehmen, wie verwickelt der Weichsel-
zopf der Wahlrechtsbestimmungen Österreichs ist. Und die Zahl
der Ausnahmen und Abstrusitäten ließe sich noch bedeutend ver-
mehren, wenn wir auf die künstlichen Abzirkelungen, die soge-
nannte Wahlkreisgeometrie, eingingen, welche die Schmer-
ling sehe Verfassung erfand, um den „Deutschen", das heißt der
deutsch-liberalen Clique, die Majorität in den Landtagen und dann
später im Reichsrat zu verschaffen.
Wichtiger als die einzelnen Bestimmungen sind für uns die
Folgen derselben für das Ausmaß des Wahlrechtes für die ein-
zelnen Gruppen der Wählerschaft. Die Intensität des Wahl-
rechtes, das Maß des politischen Einflusses, den der einzelne
Wähler faktisch ausübt, wird bestimmt durch die Zahl der
Wähler, auf welche ein Abgeordneter entfällt.
Versuchen wir uns hier zunächst einen Gesamtüberblick über die
Verhältnisse bei den letzten Wahlen zu verschaffen, so ergibt sich
die Tabelle auf nächster Seite, welche für jedes einzelne Kronland
zeigt, sowohl wie viele Einwohner als auch wie viele Wähler auf
einen Abgeordneten entfallen.
Diese interessante Tafel verdient von den glücklichen Be-
wohnern der einzelnen Kronländer genau studiert zu werden; sie
ist unerschöpflich an den interessantesten Einzelheiten. Wir
wollen aber nur die Hauptzahlen für das Reich zusammenstellen
und dabei die vier bisher vollzogenen direkten Reichsratswahlen
ins Auge fassen;
Ein Abgeordneter entfiel auf Wähler;
1868 1S79 1885 1891
Großgrundbesitz 58 56 60 63
Handelskammern 23 25 28 27
Landwahlbezirk 1606 1698 2.574 2.592
Stadtwahlbezirk Ö108 8309 10.454 10.918
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Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. 33
Hiebet ) ergibt sich also, daß £3 üroliKrundbesitzer denselben
politischen 1 int In L» haben, wie 29 IS städtische Wähler und wie
10.592 Wähler in den Landgemeinden, oder mit anderen Worten:
168 wahlberechtigte Bauern haben so viel politischen I intlnli wie
46 wahlberechtigte Städter oder wie ein einziger Großgrund-
besitzer.
In Österreich beherrschen durch diesen YVahlmodtis die 500')
Familien der Großgrundbesitzer nicht nur das Parlament, sondern
durch das Parlament die Verwaltung. Zwei Drittel der Bevölkerung
sind vollständig ausgeschlossen, von dem privilegierten dritten
Drittel aber muß die ungeheure Mehrzahl den Löwenanteil des
politischen Einflusses an die Großgrundbesitzer abtreten. Hieraus
allein schon kann man ermessen, mit welchem Recht sich die
Großgrundbesitzer heutzutage als die Vertreter des kleinen
Mannes, als die Vertreter der Bauernschaft aufspielen.
Noch ein Anderes aber ergibt sich aus den beiden letzt-
angeführten Tabellen, wenn man sie daraufhin betrachtet, wie sich
die beiden Gruppen von Wählern vor der Erweiterung des Wahl-
rechtes auf die Fünfguldenmänner und nach derselben zueinander
verhalten, Als im Jahre 1883 von Lienbacher namens der
Klerikalen und der feudalen Großgrundbesitzer der Antrag auf
Erweiterung des Wahlrechtes, auf Herabsetzung des Zensus bis
auf fünf Gulden gestellt wurde, da schlugen sich die Antragsteller
und Befürworter als Vertreter des Volkes, als Demokraten an die
Brust, und noch heute wollen sie mit jener Großtat renommieren.
Es ist eine der Hauptanklagen gegen die liberale Partei, daß sie
diese Maßregel durch allerlei Ränke zu hintertreiben suchte, und
die Feudalen rechnen sich ihre Befürwortung als hohes Verdienst zu.
Wenn nun auch der Vorwurf der Engherzigkeit gegen die Libe-
ralen vollständig mit Recht erhoben wird und sie sich bei dieser
Gelegenheit, wie stets, als ganz bornierte Politiker gezeigt haben,
so besteht anderseits keinerlei Verdienst auf seiten jener, welche
die Erweiterung des Wahlrechtes durchsetzten. Denn die feudale
Gruppe der Großgrundbesitzer hat bei dieser Erweiterung des
Wahlrechtes absolut nichts verloren; es war ein Präsent, welches
sie selbst nichts kostete, dagegen alle Aussichten bot, ihnen zu
nützen. Die Zahl der Wahlberechtigten hat durch diese Maßregel
in den Städten um zirka 100.000. in den Landbezirken um zirka
300.000 Wähler zugenommen. Die Zahl der Abgeordneten
der Städte sowie der Landgemeinden wurde aber
nicht vermehrt. Der überwiegende Einfluß des Großgrund-
besitzes in unserem Parlament ist also dadurch in gar nichts ver-
mindert worden, sondern — - es hat sich sein Ausdruck erheblich
) Die Gruppe der Handelskammer wollen wir aus dieser Betrachtung
vollständig ausscheiden, und zwar darum, weil sie einfach eine Form des
indirekten Wahlrechtes ist: die zu einer Handelskammer Wahlberechtigten
haben ein doppeltes Wahlrecht für den Reichsrat: eines, welches sie
direkt, und eines, welches sie indirekt, auf dem Wege über die Handels-
kammer ausüben, (v. a.)
Adler. Briefe. X. Bd. 3
34 Von Taaffe bis Badcni.
verschärft. Während bei der Wahl im Jahre 1879 200 Städter und
500 Bauern so viel Wahlrecht hatten wie ein Großgrundbesitzer,
hatten bei der Wahl im Jahre 1885 300 Städter und 800 Bauern
so viel Wahlrecht als ein Großgrundbesitzer. Die Intensität
des Wahlrechtes hat sich durch diese Maßregel zugunsten der
Großgrundbesitzer verändert. Zu gewinnen aber war für sie, daß
in einzelnen städtischen Wahlbezirken — und ihre Berechnung hat
sie nicht getäuscht — die unteren Schichten des Kleinbürgertums
gegen die Großbourgeoisie ausgespielt werden konnten. Will man
aber vollständig klar werden über die wirklichen Motive jener
großherzigen feudalen Reform, dann braucht man nur zu prüfen,
wie sich diese Parteien dem Gegenantrag, welchen der Abgeordnete
Georg Ritter v. Schönerer einbrachte und der auf das
allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht abzielte, gegenüber ver-
hielten. Sie stimmten ihn nieder, ohne auch nur den
Mund a u f z u t u n. Und auch der bescheidene Antrag Doktor
Kronawe'tters, das Wahlrecht wenigstens auf alle direkt
Steuer zahlenden auszudehnen, wurde von Liberalen und
Feudalen 'in holdem Verein niedergestimmt.
So haben wir denn in Österreich eine „Gleichheit vor dem
Gesetz", welche nicht nur zwei Drittel des Volkes vom Wahlrecht
ausschließt, sondern die im Durchschnitt 63 Großgrund-
besitzern dasselbe Maß von politischem Recht verleiht, das
eine s t ä d t i s che Bevölkerung von 44.854 Einwohnern oder eine
ländliche Bevölkerung von 142.754 Einwohnern besitzt. Die
45 Fideikommißbesitzer Böhmens aber wählen fünf Abgeordnete
und üben dadurch einen politischen Einfluß aus, der gleich schwer
in die Wagschale fällt, wie der, den die Bewohner von fünf
böhmischen Landbezirken zusammen, die, wie zum Beispiel
K a r o 1 i n e n t a 1, S m i c h o w, R a u d n i t z, J i c i n und Pilsen,
mit einer Gesamtbevölkerung von 923.814 Bewohnern und mit
50.201 Wählern haben. Mit dieser Tatsache, die zeigt, daß e i n
einziger hochgeborener Fideikommissar unserer „Verfassung"
so viel gilt, wie 1115 schwer arbeitende und mit dem Wahlrecht
begnadete Bauern, wollen wir unsere Betrachtung über das
gleiche Wahlrecht schließen.
Die indirekten Wahlen in den Landgemeinden.
Unserem famosen Wahlsystem genügt es nicht, den Bauern in
den Landgemeinden ein so verdünntes Wahlrecht zu erteilen, daß
dagegen sogar die städtischen Wähler als sehr bevorzugt er-
scheinen, die Landbevölkerung wird noch durch ein ganz be-
sonderes Wahlverfahren unter eine spezielle Kuratel gestellt. Sie
wählt nicht Abgeordnete, sondern Wahl mann er; es wird ihr
nicht die Klugheit zugemutet, zu erkennen, welcher Mann ihr
Interesse im Reichsrat vertreten wird, sondern eine doppelte
Siebung wird als notwendig erachtet. In jeder Gemeinde wird auf
je 500 Einwohner ein Wahlmann gewählt, und erst die Wahlmänner
des ganzen Bezirkes haben so viel Grütze zur Verfügung, daß sie
würdig erachtet werden, den richtigen Abgeordneten zu finden.
J
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht,
Dieses System ist anerkannt, und /war von allen Seiten anerkannt.
Jas schlechteste, das sieh überhaupt erdenken läßt. Es wagt ernst-
lich niemand mehr dafür etwas vorzubringen. Nur die polnischen
Großgrundbesitzer haben noch die Stirne, dafür einzutreten, unter
dem Vorwand, daß ihren Bauern bei der Größe der Wahlbezirke
der Weg zum Wahllokal ZU weit sei. Das allgemeine Wahlrecht
würde auch diesem Übelstand abhelfen, die Wahlbezirke würden
bedeutend kleiner und den galizischen Bauern würde es möglich,
die Schlachzizen, die ihre Interessen zu Tode vertreten, endlich
abzuschütteln. Ttraurig aber ist es und bezeichnend für die Kunze
Borniertheit und Feigheit der deutsch-liberalen Partei, daß sie wohl
nicht mehr wagt, sich der Beseitigung der indirekten Wahl zu
widersetzen, ja sie vielfach in ihrem eigenen Interesse rinden muß,
den galizischen Landlords aber die Konzession machen to ill, dal.»
für Galizien und Bukowina diese niederträchtige Institution aufrecht
bleibe.
Die indirekte Wahl hat vor allem jenen großen Nachteil,
wrelchem bereits vor vielen Jahren John Stuart M i 1 1 in un-
übertrefflicher Weise Ausdruck gegeben hat. „Durch die Zuteilung
der indirekten Wahl wird für die Urwähler einer der Hauptzwecke
vereitelt, um deretwillen sie überhaupt ein Wahlrecht besitzen. Die
politische Verrichtung, zu der sie dann noch berufen sind, ist nicht
mehr geeignet, Geist oder politische Einsicht bei ihnen zu ent-
wickeln, ihr Interesse für öffentliche Angelegenheiten zu erwecken
und ihre geistigen Fähigkeiten zu üben." In der Tat gibt es kein
geeigneteres System als das der indirekten Wahlen, um den
Stumpfsinn für öffentliche Fragen aufrechtzuerhalten. Und gerade
das wird gewollt. Kein System ist nämlich besser geeignet zu der
bei uns beliebten Methode der Wahlmache durch einige Bezirks-
größen und Drahtzieher in den Zentren. Die Gemeindevorsteher
in kleinen Orten sind willfährige Marionetten in den Händen der
Großgrundbesitzer und Großindustriellen, und in ihrer Hand liegt
der Ausfall der Wahlen. Anstatt, daß die großen Interessen des
Volkes bei der Entscheidung in den Vordergrund treten, wird die
Wahl zu einem Streit um lokale und persönliche Fragen. Machen-
schaften aller Art, persönliche Bekanntschaft, Freundschaft und
erzwungene Gefälligkeit spielen die Hauptrolle. Das geht so weit,
daß es selbst in hochentwickelten Wahlbezirken, wie in Böhmen,
möglich ist, daß die Urwähler in ihrer großen Mehrzahl gar
nicht wissen, daß sie ein Wahlrecht besitzen, daß es vor-
kommt, daß die guten Leute glauben, sie seien durch das
Gesetz verpflichtet, den Gemeindevorsteher, den Sekretär oder
etwa gar den Bezirkshauptmann, wenn einer da ist, als Wahl-
männer aufzustellen. Man kann sich vorstellen, wie erst die Dinge
in (ializien aussehen. Dort besteht noch eine ganz besondere Be-
stimmung, die Zeugnis gibt von der Unerschöpflichkeit unserer
Wahlordnung an Absurditäten. In den Landbezirken Galiziens
haben nämlich die Besitzer selbständiger Gutsgebiete die Be-
günstigung, ihr Wahlrecht, insofern die Höhe ihrer Steuerleistung
nicht ausreicht, um sie in die Wälllergruppe des Großgrundbesitzes
3*
36 Von Taafie bis Badeni.
einzureihen, in den Landgemeinden als Wahl mannet auszu-
üben; mit anderen Worten, ein solcher mittlerer Großgrund-
besitzer übt unmittelbar dasselbe Recht aus. welches 500 Ein-
wohner mit allen möglichen Beschränkungen und Erschwerungen
auszuüben haben. Nun meine man aber nicht, daß die Zahl dieser
Leute klein ist und daß das keinen Einfluß habe. Bei den Wahlen
des Jahres 1885 zum Beispiel betrug die Zahl solcher Wahlmänner
1570 und machte über 10 Prozent der sämtlichen Wahlmänner
(ializiens aus. Die Betrachtung der einzelnen Bezirke zeigt, wie
einschneidend die Sache ist. Es gibt allerdings Bezirke, wo nur
5 Prozent der Wahlmänner solche „Gutsgebietsbesitzer" sind, wie
Przemysl, Jaroslau, Kalusz usw., aber schon im Landbezirk Lem-
berg bilden sie 9 Prozent der Wahlmänner, im Landbezirk Sandec
über 12 Prozent, im Landbezirk Krakau 13 Prozent, im Landbezirk
Neu-Sandec 14 Prozent, im Landbezirk Bochnia 26 Prozent aller
Wahlmänner. Man kann sich denken, was da aus dem Wahlrecht
wird. Es braucht aber gar nicht eines so hohen Prozentsatzes dieser
eigentümlichen Wahlmänner, um die Tatsache zu erklären, daß in
Galizien jedes Mandat seinen Preis hat, einen Preis, welcher
durch Einführung der direkten Wahlen allerdings höher werden
würde. Wir meinen zwar, daß die galizischen Abgeordneten auch
bei Zahlung eines bedeutend höheren Preises mit ihren Mandaten
noch immer ein gutes Geschäft*) machen würden, aber sie sind so
schmutzig, ihn nicht zahlen zu wollen.
Ein weiterer Nachteil der indirekten Wahlen ist, daß die Wahl
faktisch keine geheime, sondern eine öffentliche ist. Sagt ja doch
die Reichsratswahlordnung selbst, daß die Wahl in den Land-
gemeinden mündlich oder mit Stimmzetteln stattfinden soll, je
nachdem die Gesetze des betreffenden Landes für die Landtags-
wahlen verfügen. Es gibt also auch eine Anzahl Kronländer, wo
die mündliche, also öffentliche Wahl im Gesetz vorgesehen ist.
zum Beispiel Kärnten, Krain, Galizien, Bukowina, Mähren, Ober-
österreich.
Aber auch wo die Wahl, wie in Böhmen, Niederösterreich usw..
gesetzlich eine schriftliche sein soll, ist sie keine geheime, und
zwar darum nicht, weil zunächst selbst in Böhmen die Bestimmung
der schriftlichen Wahl vielfach umgangen wird und einfach die er-
schienenen Wähler von dem Herrn Gemeindevorstand mit einer
kleinen Ansprache begrüßt werden, welche damit endet: „Ich
glaube, wir wählen halt die und die", worauf mit Akklamation die
bewährten Großbauern, welche auch sonst die Geschäfte der Ge-
meinde in Händen haben, zu Wrahlmännern gewählt werden. Aber
auch wo die Formalität der schriftlichen Wahl erfüllt wird, bleibt
die Wahl nicht geheim, weil die Zahl der Wählenden an dem be-
*) Die politischen Sitten in Galizien, das bekanntlich bis zu den
Friedensverträgen zu Österreich gehörte, waren derart, daß die Aus-
nutzung des Mandats zu persönlichen und geschäftlichen Zwecken bei
den galizischen Abgeordneten und. nachdem das Wahlrecht ausgedehnt
wurde, bei den bürgerlichen und adeligen galizischen Abgeordneten ganz
üblich war — was die vielen aufgedeckten Korruptionsaffären bewiesen.
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, ;7
treffenden Orte eine sein* geringe ist und sich der als Wahlniann
Kandidierende die Überzeugung zu verschaffen weiß* ob seine
freunde ilnn auch Treue gehalten haben. Die Beeinflussung der
Wähler bei der Wahl der Wahlmänncr ist eine ganz ungeheure.
Das Wichtigste ist aber, wie gesagt, daß der Wert der Wahl
als politisches Bildungsmittel verlorengeht und das Interesse an
der Ausübung des Wahlrechtes aufhört. Beweis dafür ist die ge-
ringe Wahlbeteiligung, welche die Landgemeinden auf-
weisen.
V o n 1 l) 0 W a li 1 b e r e c h t i g t e n übten ihr S t i m m recht
a u s :
im Jahre 1873 1879 1885 1891
Stadtbezirke . ... 60 57 635 66*8
Landbezirke - > 32 30'4 30*9
Wir sehen also, daß im Durchschnitt des ganzen Reiches n i c h t
einmal ein Drittel der Urwähler zur Urne geht, während
die direkt wählenden Städtebezirke immerhin eine fast doppelt so
große Wahlbeteiligung aufweisen.
Die Altersgrenze für die Wahlfähigkeit.
In Österreich beginnt das wahlfähige Alter mit dem vollendeten
24. Jahre. Hierin ist nur die deutsche Gesetzgebung und die
schwedische noch rückständiger als Österreich. In Deutschland
bildet das 25., in Schweden das 30. Jahr die Vorbedingung der
Wahlfähigkeit. Das sozialdemokratische Programm verlangt das
Wahlrecht vom 20. Lebensjahr an und hat hiezu seine guten
Gründe. Vor allem sagen wir mit Recht, daß der Mann, welcher
klug genug dazu ist, um die Flinte zu tragen, der reif genug dazu
ist, sich „für das Vaterland" zum Krüppel schießen zu lassen, auch
reif sein muß, sein Bürgerrecht auszuüben. Zweitens aber ist viel-
leicht das Bourgeoissöhnchen, das verwöhnt und verweichlicht auf-
wuchs und den Ernst des Lebens nicht kennenlernte, mit 20 Jahren
nicht reif und wird es vielleicht mit 24 ebensowenig sein. Der Prole-
tarier jedoch, der Arbeiter, der junge Bauer, der von Kindesbeinen
mitten im harten Kampfe steht, welcher sich von Jugend auf seiner
Haut wehren muß, ist tatsächlich mit zwanzig Jahren ein er-
wachsener Mann. Und schließlich konsumiert die Arbeiterklasse
ihr Leben in einer viel schnelleren Zeit als die Besitzenden. Mit
dem 20. Jahr ist der Arbeitende erwachsen, mit dem 40. ist er ein
Greis. Man bedenke, daß alle Staatswerkstätteu und die meisten
großen Fabriken im Privatbesitz Arbeiter nicht mehr aufnehmen,
die 36 Jahre alt sind; sie sind ihnen „zu alt", und nicht mehr
leistungsfähig. In einer jüngst veröffentlichten Broschüre „Zur Lage
der deutschen Drechslerarbeiter", welche die Verhältnisse von
2200 Arbeitern umfaßt, wird festgestellt, daß von ihnen nicht
weniger als 73 Prozent unter 30 Jahre alt sind, daß weitere
18 Prozent zwischen 30 und 40 Jahren stehen, und nur die rest-
lichen 9 Prozent ein höheres Alter erreichen. Die englische Berufs-
statistik hat festgestellt, daß das durchschnittliche Lebensalter in
) Wurde nicht erhoben, (v. a.)
38 Von Taaffe bis Badeni.
den höheren Klassen 44 Jahre, in den arbeitenden Klassen aber nur
22 Jahre beträgt, und Caspar*) hat gezeigt, daß von 1000 zu
gleicher Zeit geborenen Menschen 695 das 40. Jahr erreichen, wenn
sie wohlhabend sind, aber nur ,396 Arme; das 50. Jahr 557 Wohl-
habende, aber nur 28.^ Arme. Das Proletariat muß also mit der
Ausübung der politischen Rechte zeitlich beginnen, denn später
fällt sein Leben der Ausbeutung jener zum Opfer, die ihm nicht
nur das Leben, sondern auch sein Recht verkürzen.
Das Stimmrecht der Frauen.
Das Programm der Sozialdemokratie in allen Ländern verlangt
für die Frauen dieselben politischen Rechte wie für die Männer.
Line Begründung dieser Forderung ist eigentlich nicht nötig, eben-
sowenig wie für die Forderung des allgemeinen Wahlrechtes über-
haupt. Zu begründen wäre nur das Gegenteil, der heutige Zustand,
(legen das Stimmrecht der Frauen werden auch dieselben Schein-
gründe und Lügen vorgebracht wie gegen das Stimmrecht des
Proletariats. Die Frau sei nicht reif, die Frau sei nicht selbständig
und überdies gehöre die Frau nicht ins politische Leben, sondern
an den häuslichen Herd. Die Entwicklung der kapitalistischen Wirt-
schaft aber hat bewirkt, daß der Frau tatsächlich größere Lasten
auferlegt werden als den Männern. Millionen von Frauen werden
in den Fabriken ausgebeutet — in Österreich zählt man dreiein-
halb Millionen erwerbstätige Frauen — andere Millionen haben bei
der bloßen Führung ihrer engen Wirtschaft einen Scharfsinn auf-
zuwenden, den wir manchem Hofrat wünschen würden. Wenn die
Frau reif ist für die Ausbeutung, wenn die Frau reif ist für die
Fabrikarbeit, wenn sie reif ist für jede Pflicht, dann muß sie auch
reif sein für jedes Recht. Und wären die Frauen politisch unreif,
so müßten sie das Wahlrecht erhalten, um reif zu werden. Es wird
einer der größten Fortschritte in der politischen Erziehung des
Volkes sein, wenn alle Mütter mit dem Wahlrecht auch die Not-
wendigkeit des politischen Urteils und der Anteilnahme an poli-
tischen Interessen gewinnen.
Schließlich sagt man, die Frauen trügen die Blutsteuer nicht,
sie würden nicht Soldaten. Aber die Frauen haben eine Pflicht und
eine Last zu tragen, die mehr blutige Opfer von ihnen fordert als
der Krieg von den Männern. Wieviel Schmerzen, Krankheiten und
schließlich wieviel Leben der Qeburtsakt kostet, läßt sich kaum
ermessen, und das ist eine Bürde, die der Frau allein zukommt.
Wenn wir in Österreich heute die Forderung des Frauenstimm-
rechtes tatsächlich in zweite Linie stellen, so tun wir es nur darum,
weil wir eben in Österreich, in einem rückständigen Lande leben.
Nirgends in Europa und nur in einzelnen Staaten Nordamerikas
ist bis heute das Frauenstimmrecht durchgesetzt, obwohl eine ganz
bedeutende Agitation dafür, insbesondere in England, Frankreich
*) Diese Statistik zitiert Adler nach G. Fr. Kolb, „Statistik der Neu-
zeit', Leipzig 1883, Seite 403.
D::s allgemeine, deiche und direkte Wahlrecht. 39
Und Deutschland, existiert. Aber wir in Österreich müssen genüg-
sam sein; weit entfernt, von diesem Staat ZU verlangen, dal.» er
an der Spitze der Zivilisation marschiere, müssen wir zufrieden
sein, wenn er sich nicht im Nachtrab zu sehr verspätet. Wie oft
das der Fall ist, zeigt unsere ganze politische Gesetzgebung. Haben
aber die Männer das Wahlrecht erkämpft, haben die Krauen
redlich mitgeholfen, wie sie es tun werden, dann wird der nächste
Schritt die Erlangung des Stimmrechtes für die Frauen sein.
Dauer der Legislaturperiode.
In Österreich werden die Abgeordneten auf sechs Jahre ge-
wählt. Ihre Mandatsdauer ist länger als in irgendeinem anderen
Lande, mit Ausnahme von England. In England aber, wo sie sieben
Jahre dauert, erreicht sie fast niemals ihr gesetzliches Ende,
sondern das Haus wird aufgelöst und Neuwahlen vorgenommen,,
wenn seine Majorität mit der Regierung, die am Ruder ist, in
irgendeinem wichtigen Punkte in Widerspruch gerät. Dieser Fall
ereignet sich in Österreich so gut wie nie, weil erstens jede Regie-
rung in der Lage ist, sich ihr Parlament zusammenzusetzen, wie
sie es braucht, hauptsächlich durch die Einflußnahme auf die
Wahlen im Großgrundbesitz, zweitens aber, weil, wenn das Un-
mögliche geschieht, daß die Majorität des Hauses mit dem Mini-
sterium in Konflikt gerät, nicht die Regierung zu Kreuze kriecht,
sondern das Parlament. Die außerordentliche Länge der Mandats-
dauer hat eine Reihe von üblen Wirkungen. Erstens verliert das
Wahlrecht um so mehr an Wert, je seltener es ausgeübt wird.
Alle reaktionären Parteien wünschen allerdings möglichste Ruhe
und verabscheuen nichts so sehr als die Notwendigkeit, an die
Urne zu treten. Die Sozialdemokratie ist hingegen immer prinzipiell
für höchstens zweijährige Wahlperioden eingetreten, weil sie
in der Ausübung des Wahlrechtes in erster Linie ein erzieherisches
Mittel des Volkes sieht und weil sie ein Interesse daran hat, daß
der politische Schlaf der großen Masse so oft als möglich gestört
werde. Aber zweitens ist die lange Mandatsdauer auch eine Be-
einträchtigung des Wahlrechtes, welches nichts anderes ist, als
ein Ersatz für das dem Volke direkt zustehende Recht, Q e-
setze zu geben. Abgeordneten aber auf so lange Jahre hinaus
ein unwiderrufbares Mandat zu geben, heißt den Volkswillen an
eine kleine Zahl von Leuten abtreten und jedem Mißbrauch des
Vertrauens Tür und Tor öffnen. Die Erfahrung zeigt auch, daß die
Abgeordneten am Ende ihrer Mandatsdauer immer viel gewissen-
hafter ihre Pflicht zu erfüllen suchen als am Anfang derselben,
wo sie sich noch für lange Zeit ihrer Stellung sicher fühlen.
Bismarck hat, um sich einen gefügigeren Reichstag zu schaffen
ohne das Wahlrecht zu ändern, was er nicht wagte, sein Ziel er-
reicht, indem er die Mandatsdauer für die Reichstagsmitglieder
von drei auf fünf Jahre verlängerte. In Österreich, wo die Parla-
mente ausleben bis zur Altersschwäche, ist die Forderung nach
einer zweijährigen Legislaturperiode mit allem Nachdruck zu er-
heben.
40 Von Taaffe bis Badciii.
Das Gemeindewahlrecht.
Während das Wahlrecht zu den Landtagen annähernd
ähnlich gestartet ist, wie das zum Reiehsrat, zeigt das Gemeinde-
\v a hl r e c h t mit seinen drei Walilkörpern ein ganz besonderes
Bild, welches wohl einer eingehenden Schilderung wert wäre, zu
dessen liebevoller Ausführung aber an dieser Stelle Zeit und Raum
fehlen. Nur einige Ziffern von den Wiener Verhältnissen wollen
wir beibringen, um zu zeigen, wie liier das mit dem Besitz
wachsende Wahlprivilegium der Besitzenden unverhüllt von allen
„historischen" Flausen, die das Reichsratswahlrecht umgeben,
nackt und brutal auftritt.
Bei den 0 e m e i n d e r a t s w a h 1 e n im Jahre 1890*) be-
saßen von den in Wien anwesenden 209.666 Männern über 24 Jahre
das Wahlrecht — 53.948, also 25*84 Prozent. Genau ein Viertel
der Männer im w- ahlfähigen Alter hatten das Wahlrecht; drei
Viertel sind rechtlos in der Gemeinde, wie sie recht-
los im Lande, wie sie rechtlos im Reiche sind.
Das Wahlrecht ist an die direkte Steuer gebunden oder — was
in Wien in Betracht kommt — an die „Intelligenz"; Geistliche.
Beamte, Lehrer, Advokaten, Ärzte usw. haben ohne Rücksicht auf
Steuerleistung das Wahlrecht. In der allergrößten Zahl der Fälle
ist aber mit der „Intelligenz" ein Einkommen verknüpft, welches
größer ist als jenes Minimum, welches zur Zahlung direkter Steuern
verpflichtet und zum Wählen berechtigt.
Die Zahl der Wähler, die ihr Privilegium nur ihrer Bildung
oder Stellung verdanken, ist eine verschwindend geringe. Man
kann also auch in Wien sagen, daß der Besitz respektive das
Einkommen, das Wahlrecht bedinge.
Nun sehe man sich die letzte Rubrik der folgenden Tabelle an.
Man wird finden, daß die Zahl der Wahlberechtigten in den ein-
zelnen Bezirken in geradem Verhältnis zur Wohlhabenheit seiner
Bewohner steht. Während im ganzen 25'8 Prozent der Volljährigen
Wähler sind, also ein Viertel derselben, finden wir im I. Bezirk,
dem Sitz des Reichtums, daß die Wählerschaft 48*39 Prozent,
also fast die Hälfte der Volljährigen, ausmacht. Im X. Bezirk
hingegen gibt es unter 100 Volljährigen nur 10*85 Wähler, also
nur ein Zehntel!
Noch ärger erscheint die Sache, wrenn man die Zahl der Wähler
in den Wahlkörpern ins Auge faßt. Bekanntlich sind die Gemeinde-
wähler nach ihrer Steuerleistung in drei Wahlkörper gruppiert,
deren jeder nach der 1890 geltenden Wahlordnung zusammen
40 Gemeinderäte zu wählen hatte. Die 4350 Hausherren und
sonstigen Standespersonen des I. Wahlkörpers verfügen über eben-
soviel Stimmen im Gemeinderat wie die 36.286 Kleingewerbe-
*) Diese Ziffern beziehen sich also noch auf die alten zehn Bezirke
Wiens. Ohne Zweifel sind die Gegensätze im vergrößerten Stadtgebiet
noch krasser. Aber das im Jahre 1893 erschienene Statistische Jahrbuch
der Stadt Wien behandelt das Jahr 1890, und da wir prinzipiell nur offi-
zielles Material benützen, mußten wir uns mit den Daten von 1890 be-
gnügen, (v. a.)
Das allgemeine, gleiche umi direkte Wahlrecht.
41
Die Wiener (iemeiiuleratswahlen im Jahre I8WI.
Bezirk
Qesamtzahl der
bei der Volks-
zählung 1890 ge-
zählten Männer
über 24 Jahre
Zahl der Wahlberechtigten Im Wahlkörper
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entfallen Wahl-
berechtl
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II
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40.805
28.673
14.98(1
21.566
16.076
17.634
12.686
20.844
19.606
1318
408
423
418
193
383
515
277
323
92
279(;
1320
23 IS
1266
794
830
1139
1196
1236
414
383 1
(»341
4194
3273
3115
3781
4418
2504
3292
1537
7948
8069
6935
4957
4102
4994
6072
3977
4851
2043
4S'39
19*72
29*91)
32*47
19*28
31*57
34*13
30*80
24*22
10*85
I bis X
209.666
4350
13312
36186
53948
25*84
treibenden des III. Wahlkörpers; der reiche Mann hat also einen
neun m a 1 so großen Einfluß auf die Stadtverwaltung als der
vielumworbene „kleine Mann", der ja seinerseits auch schon zu
dem privilegierten obersten Viertel gehört. Die folgenden Tabellen
zeigen das im einzelnen, und aus der letzten ist zu ersehen, daß,
während die Gemeinderatsmandate innerhalb jedes Wahlkörpers
auf die zehn Bezirke nicht allzu ungleichmäßig verteilt sind, die
Abstufung in der Intensität des Wahlrechtes nach den Wahlkörpern
in allen Bezirken hervortritt. Überall und für ganz Wien ergibt
sich das Verhältnis 1:3:9, das heißt, der Wähler des I. Wahl-
körpers hat dreimal so viel Wahlrecht als der des II. Wahl-
körpers und neunmal so viel als der des III. Wahlkörpers.
Wahlkörper
I
II
III
Die Zahl der Gemeinderäte Wiens 189 0,
im Bezirke
I II III IV V VI VII VIII IX X
...11 4 5 42 3 52 31
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Zusammen
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Wahlkörpern
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II .
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537
III .
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579
838
495
IV .
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316
1091
450
V .
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264
778
455
VI .
. 127
276
945
499
VII .
. 103
286
1104
467
VIII .
. 138
299
834
441
IX .
. 107
309
823
441
X .
. 92
103
768
291
332
907
449
42 \ 011 Taaffe bis Hadern.
Wien — und das gilt von allen anderen Gemeinden Österreichs
ebenso — hat keine Gemeindevertretung, sowenig Österreich eine
Volksvertretung hat.
Dort wie liier läßt sich eine kleine, privilegierte Minorität das
.loch einer noch kleineren Zahl von Protzen gefallen, nur um ihr
Privilegium nicht aufgeben zu müssen.
Die Folgen sind in der Gemeindeverwaltung dieselben wie im
Staate: gänzliche Ohnmacht, rettungslose Versumpftheit, bornier-
testes Cliquenwesen, brutalster Egoismus.
Die „Gefahren" des allgemeinen Wahlrechts für die Sozial-
demokratie.
Fassen wir noch kurz die Einwürfe zusammen, die gegen das
allgemeine Wahlrecht gemacht werden. In erster Linie müssen
wir uns mit einem Standpunkt abfinden, der von Leuten geltend
gemacht wird, die insofern uns nahestehen, als sie, gleich der
Sozialdemokratie, Gegner der heutigen Wirtschaftsordnung sind.
die Herbeiführung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung
wünschen und sich einbilden, in viel mehr revolutionärer Weise
dazu beizutragen als wir. Wir schließen hier von vornherein die
verschiedenen Gruppen der Anarchisten aus, insofern sie mit ihren
Bestrebungen die Anwendung terroristischer Mittel verbinden oder
solche gutheißen. Der Terrorismus ist mit Recht aus der Mode
gekommen; er beruhte auf einer falschen Schätzung der Macht-
verhältnisse und einer falschen Beurteilung der geistigen Zustände
der Arbeiterklasse in Westeuropa. Aber außer den Anarchisten gibt
es bekanntlich Gruppen, die, auf dem Boden der Sozialdemokratie
emporgewachsen, sich von ihr losgetrennt haben und sich „Junge".
..unabhängige Sozialisten"*) und dergleichen nennen. Ihre Bedeutung
für die proletarische Bewegung ist eine ziemlich unerhebliche, aber
ihre Stimme ist laut und wird verstärkt durch die Resonanz, welche
ihr die bürgerlichen Parteien und deren Presse in ihrem wohl-
verstandenen Interesse an einer Zersplitterung des Proletariats zu
geben lieben. Hier müssen wir aber schon wieder unterscheiden.
Die „Unabhängigen" in Deutschland erklären sich gegen den parla-
mentarischen Kampf, also gegen die Teilnahme an den Wahlen,
insbesondere gegen die Teilnahme an den parlamentarischen Ver-
handlungen. Sie halten das alles für korrumpierend für die Partei,
wie es ja wohl nicht leicht ein Wort gibt, mit welchem ein ärgerer
Mißbrauch getrieben wird, als mit dem Wort „Korruption". Alles
mögliche, was einem oder dem anderen unangenehm oder ihm
nachteilig ist, wird kurzweg als „Korruption" bezeichnet. Aber
immerhin, diese deutschen „Unabhängigen" haben unseres Wissens
stets nur die Ausnützung des Wahlrechtes verworfen, niemals aber
das Wahlrecht selbst.
Die eigentümlichen Verhältnisse Österreichs haben aber einer
Richtung Raum gegeben, welche doktrinär und sonderbar genug
*) Siehe im Band VI dieser Schriften (Aufbau der Sozialdemokratie)
die Kapitel „Spaltungsversuche" und „Die Unabhängigen in Deutschland"
(Bd. VI. Seite 109 bis 175).
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. 4'*
ist, nicht nur die Teilnahme an den parlamentarischen Verhand-
lungen und die Ausübung des Wahlrechtes, sondern das Wahl-
recht selbst als etwas unserer Bewegung Schädliches zu erklären
und den Kampf für das Wahlrecht als ein die Sozialdemokratie
schwächendes, wie der hier gebrauchte Ausdruck lautet, „ver-
flachendes" und selbstverständlich „korrumpierendes" Moment zu
bezeichnen. Wenn wir auch die Entstehung dieser Anschauung ge-
schichtlich zu erklären wissen, ebenso wie ihr Verschwinden, so
müssen wir doch gestehen, daß von allen unklaren Behauptungen
diese wohl die unklarste ist. Es ist schließlich noch begreiflich,
wenn einer großen und mächtigen, nach Millionen zählenden Partei
als Mittel der Geltendmachung, als Protest gegen die heutigen Zu-
stände die Enthaltung von der Wahl empfohlen wird. Das Mittel
ist unserer Ansicht nach schlecht, führt nicht zum Ziel, aber man
kann sich immerhin vorstellen, daß es halbwegs vernünftige Leute
gibt, die auf einen solchen Plan verfallen. Anders liegt aber die Sache,
wenn es sich um die Erlangung des Wahlrechtes handelt. Auch
diejenigen, welche Wahlenthaltung predigen, suchen in der Wahl-
enthaltung nur eine besondere Form der Ausnützung des Wahl-
rechtes zur Agitation. Um das aber zu können, muß man es vor
allem haben. Und es gehört eine äußerste Begriffsverwirrung dazu,
das Recht zu wählen an sich als schädlich zu erachten, an sich
als verflachend anzusehen. Ein einziger Standpunkt ist es, der etwa
noch dafür spricht. In Österreich und in allen Ländern mit Zensus
bildet das Wahlrecht eine scharfe und in die Augen springende
Scheidung zwischen dem Proletariat und den Besitzenden. Der
Gegensatz in der ökonomischen Lage tritt auch für jedes Auge klar
in dem Ausmaß der politischen Rechte hervor. Es wurde zwar dieser
Standpunkt nie geltend gemacht, aber ein vernünftiger Verfechter
jener Theorie könnte sagen, daß nichts den Klassengegensatz dem
allgemeinen Bewußtsein schärfer einpräge, als die politische Recht-
losigkeit der unteren Schichten. Auch dieser Einwand aber wäre
falsch. Denn das Fehlen des Wahlrechtes ist zugleich die Ursache,
daß dieser Gegensatz nie ausdrücklich zum Bewußtsein kommt und
noch weniger sich zur Äußerung bringt; es läßt die Massen stumpf
und dumpf und vor allem vollständig verständnislos allen poli-
tischen Konflikten gegenüberstehen. Wenn wir aber in irgendeinem
Punkt einig sein müßten und wenn irgendein Punkt vollständig
über jeden Zweifel erhaben ist, so ist es der, daß unsere allererste
und wichtigste Aufgabe die Aufrüttelung der Massen überhaupt ist,
wobei es zunächst in zweiter Reihe steht, nach welcher Richtung
dies geschieht. Wir gehen darin so weit, daß auch jede Äußerung
des Klassenbewußtseins bei den Besitzenden, insbesondere aber bei
den Kleinbürgern uns erwünscht ist, vor allem darum, weil je
offener, ja, je brutaler der Klassenstandpunkt von unseren Gegnern
betont wird, um so rascher um so energischer das Klassenbewußt-
sein des Proletariats erweckt wird und zur Wirkung kommt.
Den guten Leuten und schlechten Musikanten jedoch, welche
gar so ängstlich besorgt sind, daß durch das Wahlrecht die Sozial-
demokratie zugrunde gerichtet würde, welche meinen, daß das
44 Von Taaffe bis Badeni.
Wählen von Abgeordneten, die parlamentarische Vertretung einer
Partei schade, denen mochten wir einen Vorschlag machen: Sie
mögen ihre Theorie, die so grau ist wie keine, nicht uns predigen,
wo sie praktisch gar kein Feld haben — denn wir haben ja das
Wahlrecht nicht . sondern sie mögen gefülligst zu den Groß-
grundbesitzern, zu den Liberalen, zu den Klerikalen gehen und
diese aufmerksam machen, wie sie durch ihr Wahlrecht sich
schädigen, und sie werden dort gewiß — ausgelacht werden. Das
Wahlrecht wird der Arbeiterklasse in Österreich gerade darum
hartnäckig vorenthalten, und es wird der allergrößten Energie und
einer ganzen Summe von begünstigenden Umständen bedürfen, um
es zu erlangen, weil die bürgerlichen Parteien sehr genau wissen,
welche schneidige und ausgezeichnete Waffe dieses Wahlrecht in
den Händen der Arbeiterklasse wäre. Sehen wir doch hinaus nach
Deutschland, wo Bismarck durch gewisse politische Motive ge-
zwungen war, das Wahlrecht zu oktroyieren. Nach zweiund-
zwanzigjährigem Bestand des allgemeinen Wahlrechtes zittern
sämtliche bürgerlichen Parteien vor der Sozialdemokratie und alle
zerbrechen sich die Köpfe, wie es zu machen wäre, der Sozial-
demokratie diese Waffe aus der Hand zu nehmen, das Wahlrecht
einzuschränken. Freilich wagen sie das nicht, weil es seine
Schwierigkeiten hat, einem mit scharfem Schwert ausgerüsteten
Gegner dieses Schwert wegzunehmen, wenn man auch noch so
sehr einsieht, daß gerade dieses ihn gefährlich macht.
Übrigens halten wir es für ausgeschlossen, daß in der öster-
reichischen Arbeiterschaft noch einmal sich ein Streit um das
Wahlrecht erhebt, wie es einst der Fall war. Die Überschätzung
des allgemeinen Wahlrechtes liegt nahe, wie man das Gut immer
überschätzt, welches man entbehrt. Aber gerade auch die Er-
fahrung an Deutschland hat uns gelehrt, das Wahlrecht weder zu
unterschätzen noch zu überschätzen. Und weil wir wissen, daß wir
an dem Wahlrecht nichts anderes haben als das beste Mittel der
Agitation, das beste Mittel, unsere Ansichten zu verbreiten, das
beste Mittel zur Organisation, das beste Mittel, die Genossen an-
einanderzufügen, aus einer dumpfen Masse eine kampfbereite und
kampffähige Armee zu machen, werden wir es mit aller Macht
zu erlangen trachten. Aber niemals werden wir uns einbilden, mit
dem Stimmzettel in der Hand den Kapitalismus aus der Welt
hinauswählen zu können, niemals werden wir uns einbilden, daß
eine parlamentarische Majorität an und für sich eine Macht
sei, der sich die Besitzenden fügen werden. Der Parlamentarismus
ist eine Form der Klassenherrschaft und wird mißbraucht zur
Täuschung des arbeitenden Volkes. Wir machen aus dem Parla-
mentarismus ein Mittel zur Befreiung und gebrauchen es zur Auf-
klärung des Proletariats. In klassischer Weise hat Engels das
ausgedrückt: „Und endlich herrscht die besitzende Klasse direkt
mittels des allgemeinen Stimmrechtes. Solange die unterdrückte
Klasse, also in unserem Falle das Proletariat, noch nicht reif ist
zu seiner Selbstbefreiung, solange wird sie, der Mehrzahl nach,
die bestehende Gesellschaftsordnung als die einzig mögliche er-
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht.
kennen und politisch der Schwanz der Kapitalistenklasse, ihl
äußerster linker Flügel sein. In dem Maße aber, worin sie ihrer
Selbstemanxipation entgegenreift, in dem Maße konstituiert sie sich
als eigene Partei, wählt ihre eigenen Vertreter, nicht die der Kapi-
talisten. Das allgemeine Stimmrecht ist so der Gradmesser der
Reife der Arbeiterklasse. M ehr kann undwird.es nie sein
im heutigen Staate; aber das g e n ü g t auch. An dem
Tage, wo das Thermometer des allgemeinen Stimmrechtes den
Siedepunkt bei den Arbeitern anzeigt, wissen sie sowohl wie die
Kapitalisten, woran sie sind."
Konservative Einwände.
Hauptsächlich von konservativer Seite wird das Wahlrecht,
wie wir es wünschen, bekämpft, nicht sowohl weil es ein all-
gemeines, sondern weil es ein gleiches Wahlrecht sein soll. Die
konservativen und reaktionären Parteien schelten die Zersetzung
der feudalen Stände in moderne Klassen als „Atomisierung" der
Gesellschaft, und sie wollen den einzelnen „Atomen", den Indi-
viduen, nicht das Recht einräumen, ihren Willen politisch zur
Geltung zu bringen. Hinter dieser Anschauung verbirgt sich aber
nichts anderes als der Ärger darüber, daß die Atome eben nicht
vereinzelt bleiben, sondern, vom Klassengefühl ergriffen, als
Klassen politisch handeln. Jene Theorie will den einzelnen Gruppen
der Gesellschaft, dem Großgrundbesitz, der Industrie, der Bauern-
schaft, den Handwerkern, einen abgezirkelten politischen Einfluß
geben, das Proletariat wird natürlich ignoriert. Es wird aber
weiters die Voraussetzung gemacht, daß jede dieser Interessen-
gruppen als solche ein gleiches Maß politischen Einflusses ver-
diene. Nicht das Individuum, sondern das „Interesse" soll vertreten
sein. Auf diese Weise wird die Brutalität und Ungerechtigkeit
eines Zustandes verschleiert und aufgeschminkt, in welchem der
Mensch als solcher, das Individuum, nichts gilt — er ist ein ver-
ächtliches „Atom" — , dagegen alles der Besitz, welchen er hat.
ein politischer Zustand, welcher seine ausschweifendsten Orgien im
österreichischen Wahlsystem feiert, wo eine Handvoll Großgrund-
besitzer mehr politischen Einfluß hat als Zehntausende von Bauern
und als Millionen von Arbeitern. Es wird von konservativer Seite
die entsetzliche Befürchtung ausgesprochen, die große Masse der
Individuen würde die kleine aber edle Gruppe der Großgrund-
besitzer majorisieren, und es wird dabei vorausgesetzt, daß der
Großgrundbesitz als solcher, daß das Großkapital als solches das
Recht einer politischen Vertretung hat. Dem ist entgegenzuhalten,
daß das Individuum als solches, abgesehen von seinem Besitz, ein
Interesse hat und darum auch ein Recht haben muß, es geltend zu
machen. Und wenn man dem Standpunkt der Gerechtigkeit über-
haupt Rücksicht gewähren will, dann müßte das Wahlsystem das
geradezu umgekehrte sein, als es heute in Österreich ist. Dem
Proletarier und dem Kleinbauer müßte ein mehrfaches Stimmrecht
eingeräumt werden gegenüber dem Großgrundbesitz und Kapi-
talisten; denn Großgrundbesitz und Kapital repräsentieren auch
46 Von Taaffe bis Badcni.
ohne Stimmzettel eine ganz gewaltige politische Macht, und es
bedarf sehr vieler Stimmzettel auf Seiten der wirtschaftlich Ohn-
mächtigen, um dieser Übermacht irgendwie das Gleichgewicht zu
halten. Wenn Herr Rothschild oder Seh w a rzenberg von
ihrem Stimmrecht niemals Gebrauch machten, ja wenn die Ver-
fassung sie ausdrücklich des aktiven und passiven Wahlrechtes
entkleidete, würden sie immer noch durch ihr ökonomisches Über-
gewicht mehr politische Macht haben als Zehntausende von Prole-
tariern. Also vom Standpunkt der Gerechtigkeit ist zum aller-
wenigsten zu verlangen : Jeder Mann eine Stimme.
Mitunter tritt der feudale .Junkeregoismus auch in moderner
Maske auf und versteckt sich hinter das Schlagwort des
„Schutzes der M i n o r i t ä t e n". Gewiß, wir haben allen
Respekt vor der Gerechtigkeit, welche hindern will, daß die
Minderheit von der Mehrheit vergewaltigt werde, welche ein W7ahl-
.system verlangt, welches der Minorität gestattet, im Parlament den
ihrer Zahl entsprechenden Ausdruck zu finden. Ein vernünftiges
Proportionalwahlsystem gehört mit zu den Forderungen
unserer Partei.
Aber man darf darüber nicht vergessen, daß wir in Österreich
leben, wo es sich zunächst nicht um diese Feinheiten handeln kann.
Vor dem Schutze des Rechtes der Minorität kommt noch der
Schutz des Rechtes der Majorität, und die Majorität,
die überwiegende Majorität, ist rechtlos in Österreich. Den zarten
Seelen, welche in den konservativen Zeitungen über die „rohe
Macht der Zahl" Krokodilstränen vergießen, sind wir gebunden
zu erklären, daß, wenn schon die Vergewaltigung einer Minderheit
durch die Mehrheit ein Unrecht ist, ein dreifach ärgeres Unrecht
die Vergewaltigung der Majorität durch eine
kleine Minorität ist, jenes System, auf welchem die öster-
reichische Verfassung sich aufbaut.
Alle jene Vorschläge, die Erneuerung einer ständischen Ver-
fassung auf „Berufsgenossenschaften" zu gründen, sind nichts als
Flausen, welche den eigentlichen Zweck, die Konservierung der
Privilegien der Krautjunker und Schlotbarone, hinter „sozial-
politischer" Wichtigtuern verbergen sollen.
Liberale Einwände.
Aber, heißt es, die heute vom Wahlrecht ausgeschlossenen
Klassen, das ländliche und das städtische Proletariat, sind nicht
..reif". Eigentlich muß man zugeben, daß dieses Schlagwort ziem-
lich verschwunden ist. So unverschämt unsere Gegner sind, sie
haben doch nicht Lust, sich lächerlich zu machen, und angesichts
der rettungslosen Versumpfung unserer bürgerlichen Parteien, an-
gesichts der unverkennbaren und allgemein anerkannten Klarheit
der proletarischen Bewegung wagt man nicht mehr von Unreife
zu sprechen. Übrigens wäre es gar nicht übel, sich darüber zu
erkundigen, was eigentlich politische Reife bedeute. Unreif werden
diejenigen Parteibestrebungen genannt und diejenigen Strömungen
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. 47
im Volke, die den Herren unangenehm sind. Legt man aber einen
anderen Maßstab an. \ erstellt man unter politischer Reife das klare
Erkennen des Zieles, das unverbrüchliche Festhalten an ihm und
seine energische Verfolgung, dann wird man zugeben müssen, daß
die Unreife in den besitzlosen Klassen verschwunden ist, daß aber
die Besitzenden sieh in einem Stadium der Überreife, der Fäulnis,
befinden.
Wenn man das Wahlrecht austeilen sollte nach dem Maße der
politischen Reife einer Klasse, dann würden gewiß die Arbeiter
nicht zu kurz dabei kommen, wohl aber würde ein sehr beträcht-
licher Teil des Bürgertums das Wahlrecht verlieren müssen.
Übrigens ist es selbstverständlich eine Heuchelei, wenn dieses
Argument angeführt wird, denn nicht nach der Reife, sondern nach
der Dicke des Geldsackes ist das Wahlrecht verteilt.
Als sich Herr v. P 1 e n e r zuletzt im Parlament über den jung-
tschechischen Antrag äußerte, hat er auch von der politischen
Reife nicht mehr offen gesprochen, hat die industrielle Arbeiter-
schaft außer Spiel gelassen und nur der Besorgnis Ausdruck ge-
geben, daß durch das allgemeine Wahlrecht ein Überwiegen der
Vertreter des ..ländlichen Taglöhners" zustande käme. Man muß
sich bei Herrn v. P 1 e n e r immer hüten, vorauszusetzen, daß
hinter seinen Worten konkrete Vorstellungen zu suchen seien. Wir
sind überzeugt, daß es sich ihm auch diesmal rein um ein Schema-
tisieren handelt, daß er sich die Tatsachen, von denen er spricht,
absolut nicht klargemacht hat. Vor allem könnte Herr v. P 1 e n e r
von Deutschland lernen, daß das Überwiegen des ländlichen
Arbeiters leider durchaus nicht Wahlen zuwege bringt, welche ihm
eine Vertretung sichern. Die Wahlbezirke östlich der Elbe schicken
nicht etwa Taglöhner in den Deutschen Reichstag, sondern Kraut-
junker, dieselben Krautjunker, die wir in unserem Reichsrat sitzen
haben ohne allgemeines Wahlrecht. Es ist vielmehr zu befürchten,
daß in jenen Bezirken, wo der Großgrundbesitz überwiegt, auch nach
Einführung des allgemeinen Wahlrechtes noch nach geraumer Zeit
das Resultat der Wahl ganz dasselbe sein werde wie heute. In
Galizien wird der Schlachziz, welcher den Ehrgeiz hat, Abgeord-
neter zu sein, möglicherweise anstatt wie jetzt zehntausend Gulden
deren zwanzigtausend aufwenden müssen, aber er wird einen
großen Teil seiner Wahlbezirke behaupten. Das wirtschaftliche
Übergewicht ist der Macht des Stimmzettels gewachsen. Wie man
also sieht, hat P 1 e n e r leider unrecht. Uns wäre der ländliche
Taglöhner im Reichsrat entschieden lieber als die Schwarzen-
berge und die polnischen Edelleute, deren ebenso bornierter wie
brutaler Kastenegoismus das größte Hindernis für jeden Fortschritt
in Österreich ist. Aus dem ländlichen Taglöhner kann ein tüchtiger
Vertreter der Interessen des Proletariats werden durch Aufklärung
und Aneignung von Wissen; aus dem Fürsten Schwarzen-
berg aber und aus allen den Herren auf ski wird niemals mehr
etwas Vernünftiges.
48 Von Taafie bis Badeni.
Das „nationale Interesse".
Herr v. P 1 e n e r hat auch gemeint, das allgemeine Wahlrecht
sei in Österreich unmöglich wegen der nationalen Verschieden-
heiten, und er hatte die Kühnheit, zu behaupten, das allgemeine
Wahlrecht würde den Nationalitätenzwist verschärfen. Die Wahr-
heit ist, daß nur die Ausschließung der großen
Mehrheit des Volkes von den politischen Rechten
den Nationalitätenkampf in seiner heutigen
Form und Hitze möglich macht. Die bevorrechteten
Klassen haben heute ein leichtes Spiel, sie provozieren einen
Streit um Dinge, die das Volk nicht interessieren. Die Frage, ob
die deutschen Bourgeois oder die tschechischen Bourgeois für ihre
Söhne mehr Beamtenstellen ergattern sollen, wird zu einer An-
gelegenheit aufgebauscht, welche die Kräfte des Staates lähmt. Der
Großgrundbesitz insbesondere lebt geradezu vom Nationalitäten-
streit, ebenso wie die Advokatenclique, welche der Bourgeoisie
parlamentarische Vertreterdienste leistet. Die Großgrundbesitzer
verkleiden sich als Deutsche oder als Tschechen, je nach Bedürfnis:
sie kompromisseln, brechen Verträge, erfinden neue Streitpunkte
und gebärden sich als die eigentlichen Vertreter des Volkes. Der
Krone gegenüber spielen sie sich als solche auf, und selbst den
breiten Schichten des Bürgertums Sand in die Augen zu streuen,
gelingt ihnen häufig. Ist das allgemeine Wahlrecht eingeführt, sind
die täuschenden Masken und Theaterkulissen beseitigt, dann
werden wir ein Volkshaus bekommen, in welchem allerdings noch
immer die Mehrheit des Volkes von einer Minderheit vertreten ist,
aber wo die eigentlichen Gegensätze und die eigentlichen Ziele des
Kampfes klar im Vordergrund stehen werden. Jedem Sehenden ist
es unzweifelhaft, daß dann der nationale Zwist, wie er ja heute
tatsächlich nur künstlich geschürt und auf der Höhe seiner Heftig-
keit gehalten wird, in den Hintergrund tritt*), sobald mit dem Einzug
der Vertreter der breiten Volksmasse ins Parlament der Kampf
um die Klasseninteressen auf die Tagesordnung gesetzt würde,
wie sich ja auch heute schon in allen wirtschaftlichen Fragen die
Parteien nicht nach Nationalitäten, sondern nach wirtschaftlichen
Gesichtspunkten gruppieren.
Wir wissen sehr wohl, daß das allgemeine Wahlrecht den
Nationalitätenstreit nicht sofort aus der Welt schaffen wird; aber
es bildet die notwendige Vorbedingung zum nationalen
) Wer etwa meint, daß Adler hier falsch prophezeit hat, der vergißt,
daß durch die Einführung der Badenischen fünften Kurie der Staat selbst
die bürgerlichen Schwindelparteien geschaffen hat, die das allgemeine
Wahlrecht verfälschten und den nationalen Kampf vergifteten (siehe u. a.
die beiden Parteitagsreden Adlers vom Jahre 1902 über den Zusammen-
bruch der Schwindelparteien [Bd. VIII, Seite 439] und über die bürger-
lichen Verfälschungen der Arbeiterbewegung fBd. VIII, Seite 444]); der
vergißt aber auch, was Adler immer wieder gesagt hat, daß das allge-
meine Wahlrecht nicht das Ende, sondern der Anfang der Reform sein
müsse (siehe Bd. VIII, Seite 243 f., 251, 290, 330 und viele andere Stellen).
Übrigens sagt Adler ja gleich selbst das Entscheidende dazu.
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht.
Frieden. Es wird ermöglichen, ja erzwingen, daß Angehörige aller
Volksstämme sich auf dem gemeinsamen Hoden ihrer politischen
und wirtschaftlichen, ihrer Klasseninteressen zusammenfinden und
gemeinsam ZU kämpfen lernen. In einer wirklichen Volksvertretung
wird trotz der nationalen Gegensätze sich zusammenfinden, was
zusammengehört und dadurch ein ehrlicher nationaler Friedens-
schluß möglich werden. Alle „Ausgleiche" der Volksverderber
werden aber niemals zum Frieden führen und wenn sie noch so
fein ausgetüftelt und der Pakt mit noch so feinem Champagner
begossen wird.
Es ist nicht zu zweifeln, der Nationalitätenstreit ist ein bewußtes
und mit größter Raffiniertheit gehandhabtes Mittel, um alle Völker
Österreichs zugleich zu unterdrücken. Es ist das „Divide et
impera", „Teile und herrsche", der alten Staatskunst. Die Völker
werden mit Absicht in hypnotischer Gebundenheit gehalten. Das
alte hypnotische Experiment erlebt hier seine groteske Wieder-
holung im großen. Man nehme ein Huhn, lege es auf den Boden,
ziehe ihm mit der Kreide einen Strich über den Schnabel und auf
dem Boden weiter und halte es nur eine halbe Minute fest, dann
kann man es ruhig auslassen; wie gelähmt liegt es da, rührt sich
nicht und sieht nur immer hin auf den Kreidestrich. Man kann es
stoßen und schütteln, man kann es sogar rupfen, es ist wehrlos,
es ist hypnotisiert. So werden die Völker Österreichs, Deutsche
und Tschechen, Italiener und Slowenen, Polen und Ruthenen, alle
miteinander hypnotisiert durch den dicken Kreidestrich des „natio-
nalen Gedankens", der ihnen über die Nase gezogen wird, und
während sie hinstarren auf dieses eine Phantom, sind sie wehrlos
und man kann sie rupfen alle miteinander — und man rupft sie.
Aber man vergißt bei der plumpen Nachahmung des alten
Scherzes nur ein Moment; die Hypnose ist wirksam, aber sie hat
eine zeitliche Begrenzung; endlich erwachen die Völker doch aus
ihrem Schlaf und erkennen, daß man sie getäuscht. Dann aber,
wehe den frivolen Hypnotiseuren!
Übrigens begreifen wir nicht, wie man wagen kann, die Kor-
ruption des heutigen Wahlsystems als ein nationales Interesse für
die Deutschen respektive für die Polen hinzustellen. Die Leute,
die das tun, haben die Frechheit, das Interesse ihrer Clique, das
Interesse einer verschwindenden Minorität des Volkes mit dem
Interesse der ganzen Nation zu verwechseln. WTas insbesondere die
Deutschen angeht, muß es jeden, der wirklich Liebe zu seinem
Volk empfindet, anekeln, wenn er ansehen muß, wie die brutalste
Gewalt entschuldigt und beschönigt wird, als ausgeübt in seinem
angeblichen Interesse. „Im nationalen Interesse der Deutschen"
werden zwei Drittel der deutschen Bevölkerung in Österreich vom
Wahlrecht ausgeschlossen und werden ihre Angelegenheiten aus*
geliefert den reaktionären Grafen, den Leuten von der Richtung
Chlumecky*), welche für alles, was Volksinteresse ist, weder
I Johann Freiherr v. Chlumecky, Abgeordneter des mährischen
Großgrundbesitzes, ein Führer der Liberalen, wurde nach dem Rücktritt des
Adler, Briefe. X. Bd. ■*
50 \ im Taaffe bis Butlern.
Verständnis noch Herz haben. Nein, gerade auch im nationalen
Interesse, welches kein anderes ist als das internationale, muß das
allgemeine Wahlrecht verlangt werden, denn die Nation umfaßt
nicht nur ein paar Privilegierte und Protzen, und sowohl Deutsche
wie Slawen bedanken sich schönstens dafür, ihre Interessen von
diesen vertreten zu sehen.
Ms ist ganz bezeichnend, daß die eigentlich nationalen Parteien.
weil sie volkstümliche Parteien sind, von dem allgemeinen Wahl-
recht so wenig befürchten, daß sie ganz energisch dafür eintreten.
Schönere r*), Pernerstorfer sind von jeher seine Vor-
kämpfer gewesen und die deutschnationale V e r e i n i-
g u n g (Steinwender) hat sich erst kürzlich dafür erklärt, ebenso
auf der anderen Seite die extrem nationalen Jungtschechen.
.1 ungpolen und Jungruth enen. Aber die „Verfassungs-
treuen", Schwarzgelben, wie die P 1 e n e r, J a q u e s und
A u s p i t z, entdecken ihr deutschnationales Herz, sobald das all-
gemeine Wahlrecht in Frage kommt, und treffen da mit den Alt-
tschechen, dem böhmischen Feudaladel und der galizischen
Schlachta in dem glühenden Wunsche zusammen, „nationale Inter-
essen" zu schützen. Wir denken, solche Maskenfreiheit gestattet
selbst der politische Karneval in Österreich nicht. Der Schwindel
ist denn doch zu durchsichtig.
Die Nationalitätenfrage in Österreich wird gelöst werden auf
Grundlage der gemeinsamen Interessen aller Völker, welche sich
vereinigen werden, um die Privilegien des Geldsackes und des
Großgrundbesitzes abzuschütteln. Heute schon existiert in der
klassenbewußten Arbeiterschaft eine nationale Frage nicht; es gibt
nicht einen Sprachstamm in Österreich, welcher nicht sein Kon-
tingent zur Sozialdemokratie stellte, und trotzdem gibt es keinen
Nationalitätenzwist, trotzdem stehen Sozialdemokraten aller Zungen
in Österreich geeint und fest gegen ihre gemeinsamen Feinde.
Die „Steuerträger".
Für den Zensus wird neben der politischen Reife der oberen
Klassen noch ins Feld geführt, daß sie die eigentlichen „Steuer-
träger" seien und daß das Maß ihrer politischen Rechte dem
Maße ihrer Leistungen für den Staat entspreche. Ist unser ganzes
Wahlsystem eine Fälschung, so ist diese Begründung desselben
die gröbste Lüge. Die ordentlichen Ausgaben des österreichischen
Staatshaushaltes bezifferten sich 1890 auf zirka 560 Millionen
Gulden**). Hievon werden im Wege direkter Steuern nur zirka
Polen Smolka am 20. März 1893 zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses
gewählt und war es bis zum Jahre 1897, bis zur Schaffung der fünften Kurie.
'"') Schönerer und die Deutschnationalen sind später, als die Sozial-
demokratie groß wurde, die heftigsten Feinde des allgemeinen Wahlrechts
geworden und haben das ebenfalls mit nationalen Interessen begründet.
Pernerstorfer ist später Sozialdemokrat geworden.
'*) Ein Gulden (1 iL), gleich später zwei Kronen. 1 K = etwa S 1'50.
Natürlich war die Kaufkraft eines Guldens weit höher als die von drei
Schilling.
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. r>i
1077 Millionen Gulden hereingebracht und hievon sind noch abzu-
ziehen der größte Teil der Gebäudesteuer und der Erwerbsteuer,
welche beide prompt auf die gesamte Bevölkerung Qberwälzt
werden. Nicht der Hausherr, welcher die Steuer aufs Steueramt
trägt, sondern der Mieter der Wohnung bezahlt die Steuer. I
bleiben dann nur etwa 66 Millionen übrig an direkter Steuer. Der
ganze Rest sind indirekte Abgaben und Erträgnisse aus den
Monopolen und Zöllen. Davon machen die Verzehrung s-
steuern allein über 94 Millionen aus. Dazu das Erträgnis des
Salzmonopols mit 17 Millionen, des Tabakmonopols
mit 51 Millionen gerechnet, kommen wir auf Abgaben von Dingen,
welche jeder konsumiert, welche die allerärmsten Klassen treffen
und den gesamten Ertrag der direkten Einnahmen um mehr
als das Doppelte überragen. Aber das ist noch lange nicht alles.
Es ist festgestellt, daß, je geringer das Einkommen ist, es um so
mehr mit indirekten Abgaben belastet ist, und hauptsächlich ist
das durch die Verzehrungssteuern bewirkt. Nach dem sogenannten
„Ernährungsgesetz", das der Statistiker Engel feststellte, werden
die Ernährungsausgaben einer Familie zu einem um so größeren
Teil der Gesamtausgaben, je kleiner ihre Einnahmen sind. Und es
ist eine weitere bekannte Tatsache, daß auch der Mietzins und mit
ihm die Steuern von demselben einen um so höheren Prozentsatz
von dem Einkommen der Familie in Anspruch nehmen, je geringer
dieses Einkommen ist. Während der Wohlhabende für Nahrung
und Wohnung etwa die Hälfte seines Einkommens verbraucht, muß
der Arbeiter 75 Prozent, ja in den am schlechtesten gezahlten
Schichten bis zu 90 Prozent dafür ausgeben und somit von
90 Prozent seines Einkommens indirekte Abgaben leisten. Ein
gewiß unverdächtiger Zeuge, der Sekretär des Industriellenklubs
in Wien, Herr Q. R a u n i g, hat in einem sehr wertvollen Aufsatz*)
aus den ihm vorliegenden Budgets einiger Arbeiterfamilien die
indirekten Steuern berechnet, die sie zu zahlen haben. Er kam zu
dem Resultat, daß eine sechsköpfige Familie mit dem außer-
ordentlich hohen Einkommen von 1200 Gulden an indirekten Ab-
gaben nicht weniger als 11 Prozent zahlt, daß aber eine Familie
von fünf Köpfen, die jährlich 626 Gulden 70 Kreuzer ausgibt, an
indirekten Abgaben 106 Gulden 13 Kreuzer oder etwa 17 Prozent
bezahle. Hievon zahlt diese Familie 38 Gulden 33 Kreuzer == 6 Pro-
zent allein an Verzehrungssteuern von ihrer Nahrung. Wieviel
müßte ein Rothschild verfressen, wenn er 6 Prozent seines-
Einkommens an Verzehrungssteuer zahlen sollte? Nun ist aber zu
bedenken, daß ein Einkommen von 600 Gulden noch lange nicht
die unterste Grenze des Einkommens einer Familie ist, sondern
daß man leider sagen kann, daß die Mehrheit der Arbeiterbevo.ke-
rung ein Jahreseinkommen von 300 Gulden nicht erreicht. In dem-
selben Maße aber steigert sich der Prozentsatz aller Beiträge zu
den Staatslasten noch weit über diese 17 Prozent hinaus.
*) Erschienen in Pernerstorfers „Deutschen Worten", Märzheft 1892,*
unter dem Titel: „fiin Wiener Haushalt in Beziehung zu den indirekten
Steuerlasten." (v. a.)
t
52 \ mi Taaffe bis Badeni.
Ist es schon aus dieser Darlegung klar, wer der eigentliche
„Steuerträger" ist, so muß eine weitere Betrachtung ergeben, daß
das arbeitende Volk nicht nur der bedeutendste, sondern auch der
ausschließliche Steuerträger ist. Denn jene direkten Abgaben,
welche der Grundbesitz und der Kapitalbesitz zahlt, sind ja tat-
sächlich nichts anderes als ein Teil des Arbeitsproduktes, welches
dem eigentlichen Produzenten abgenommen wurde. Was die Aus-
beuterklassen an Arbeit leisten, steht in gar keinem Verhältnis zu
ihrem Einkommen oder bestenfalls in dem Verhältnis des Ein-
kommens von Rothschild zu dem seines Bergwerkdirektors oder
des Einkommens des Fürsten Schwarzenberg zu dem seines Ver-
walters.
Wenn also tatsächlich die Deckung der Bedürfnisse des Staates
aufgebracht wird von der Arbeiterklasse im weitesten Sinne, so
ergibt sich, daß die Wahlgesetzgebung Österreichs der Gerechtig-
keit geradezu ins Gesicht schlägt. In demselben Maße, als eine
Klasse mehr beiträgt zu den Staatslasten, in demselben Maße ver-
liert sie an politischem Einfluß, und diejenige Klasse, die am meisten
leistet, ist vollständig rechtlos.
Aber es gibt noch eine Last, schwerer als alle anderen. Nicht
nur sein Gut schuldet das Volk dem „Vaterlande", sondern auch
sein Blut, und auch diese Last ist selbst heute, unter dem System
der allgemeinen Wehrpflicht, in höchst ungleicher Weise verteilt.
Für die Meistbesitzenden, für den hohen Adel und die Plutokratie.
ist der Militärstand eine Ehre, eine angenehme Ausrede für ihre
Existenz, jedenfalls ein Mittel, ihr Leben angenehmer zu machen.
Für die Sprößlinge unseres Geburts- und Geldadels sind die hohen
Offiziersstellen und die militärischen Sinekuren reserviert. Bei der
Arcierenleibgarde*) dient es sich entschieden angenehmer als beim
Infanterieregiment. Auch die Bourgeoisie hat eine Form gefunden,
ihren Söhnen den Militärdienst erträglich zu machen, die Ein-
richtung der Einjährig-Freiwilligen. Nur auf dem Arbeiter, dem
Bauer und einem Teil des unteren Mittelstandes lastet mit voller
Schwere die dreijährige Dienstpflicht. Dabei darf man nicht ver-
gessen, was das Opfer des Militärdienstes auch wirtschaftlich für
die Arbeiterfamilie oder Bauernfamilie bedeutet. Aber derselbe
Mann, der selbst gedient und vielleicht in einer Schlacht Wunden
davongetragen hat, der seine Söhne als Kanonenfutter zur Ver-
fügung stellen muß, ist unwürdig des Wahlrechtes. So wie er in
der Armee von dem geborenen Herrscher, dem adeligen oder gut-
bürgerlichen Offizier, sein Kommando erhielt, so empfängt er im
zivilen Leben vom Adel und von der Bourgeoisie seine Gesetze;
hier wie dort hat er zu parieren und zu kuschen.
Bisherige Versuche einer Wahlreform.
Das Wahlrecht in Österreich, dessen Schönheiten wir ge-
schildert haben, wurde von den rechtlosen Volksklassen stets als
ein drückendes Unrecht empfunden.
*) Die aus alten hohen Offizieren bestehende Leibgarde des Kaisers.
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht,
Mit dem Erwachen einer Arbeiterbewegung in Österreich hat
auch sofort die Agitation für das allgemeine Wahlrecht begonnen,
ist wiederholt zurückgetreten hinter drängenderen Forderungen
und Immer wieder stärker und allgemeiner geworden. Die Methode
war zu verschiedeneu Zeiten verschieden. Tausendc von Petitionen
mit vielen Zehntausenden von Unterschriften frißt der Staub des
Archivs im Abgeordnetenhaus. Heute freilich petitioniert die
Arbeiterschaft nicht mehr; sie hat gewußt, sich (iehör zu ver-
schaffen auch ohne dieses Mittel, und sie wird verstehen, ihren
Willen durchzusetzen, ob die Herren da drinnen gutwillig sich
fügen oder nicht.
Aber auch aus der Mitte des Parlaments selbst kamen wieder-
holt Reformvorschläge, deren Schicksale folgende Zusammen-
stellung erzählt:
1. Antrag Rechbauer*). Art. I. Der Reichsrat besteht aus dem
Länderhaus und Volkshaus.
Art. II. Das Länderhaus bestellt aus den kaiserlichen Prinzen.
Herrenhausmitgliedern und aus den vom Landtag zu entsendenden
Abgeordneten.
Art. III. Das Volkshaus wird gebildet durch unmittelbar direkte
Wahlen der sämtlichen steuerzahlenden Bevölkerung des
Reiches in der Art, daß auf 50.000 Einwohner ein Vertreter ent-
fällt und ein Drittel der sämtlichen Volksvertreter von den Be-
wohnern der Städte und Märkte, zwei Drittel von den übrigen
Bewohnern des Reiches direkt und unmittelbar gewählt werden.
In der 40. Sitzung der V. Session vom 30. März 1870 wurde der
Antrag der „geschäftsordnungsmäßigen Behandlung zugeführt",
das heißt er verschwand spurlos.
2. Antrag Schönerer, Kronawetter, Fürnkranz und
Steudl, eingebracht am 10. Dezember 1880: Das Abgeordneten-
haus soll aus 400 Abgeordneten bestehen, gewählt auf Grund des
allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes, vom
24. Lebensjahre an. Auf je 50.000 Seelen entfällt ein Abgeordneter,
unter tunlichster Berücksichtigung des Grundsatzes, „daß die Be-
wohner des Wahlkreises derselben Nation angehören". Der Antrag
kam zur ersten Lesung am 29. Jänner 1881 und wurde nach
längerer Debatte (Au spitz namens der Liberalen dagegen) mit
großer Majorität abgelehnt.
3. Antrag Kronawetter, S c h ö n e r e r, Fürnkranz und
Steudl (Gegenantrag zu Lienbachers Vorschlag der Ein-
beziehung der Fünfguldenmänner), am 28. Jänner 1881: Direkte
Wahlen; wahlberechtigt in der Wählerklasse der Stadt- und Land-
gemeinden ist jedermann, der eine direkte Steuer zu
entrichten hat. Frste Lesung am 18. Februar 1881, dem Wahl-
reformausschuß zugewiesen. Der Ausschußbericht (Hohen-
wart, Zeithammer) beantragt Übergang zur Tages-
) I)r. Karl Rechbauer war Abgeordneter von Graz, gehörte der
sogenannten deutschen Autonomistenpartei au: ein aufrechter Demokrat
gleich Fischhof.
54 Von Taaffe bis Badcni.
o r d n u ii g, der auch in der Sitzung vom 20. März 1882 beschlossen
wird.
I )em Antrag L i e n b a c h e r auf Einbeziehung der F ü n f-
g u 1 d e n m ä n n e r stellte die Linke ein Minoritätsvotum
(Berichterstatter Herbst) gegenüber, welches für die Städte
5 Gulden, für die Landgemeinden 2 Gulden (beides mit Einbeziehung
der Staatszuschläge) beantragte. Der Antrag fiel mit 150 gegen
167 Stimmen, während der Antrag Ze i th am nre r- L ie n-
bucher mit 178 gegen 118 Stimmen, in dritter Lesung mit 162
gegen 124 Stimmen, also mit einfacher Majorität a n-
g e n o m m e n wurde. (20. März 1882.) Die Ausdehnung des Wahl-
rechtes war in dem Antrag der Rechten mit der Teilung des
böhmischen Großgrundbesitzes in die Gruppen des fidei-
kommissarisclien und nichtfideikommissarischen verknüpft, und um
diesen Punkt handelte es sich eigentlich hauptsächlich.
4. Antrag Kronawetter, K r e u z i g, L u e g e r am 16. April 1886:
„Die Regierung wird aufgefordert, mit tunlichster Beschleunigung
einen Gesetzesvorschlag einzubringen über die Änderung der
Verfassung durch Bildung eines auf Grund des a 1 1-
g e meinen, gleichen und direkten W ahlrechtes
und die Beseitigung der privilegierten Kurien zu
wählenden Volks hause s." Kam nie zur ersten Lesung.
Am 12. Dezember 1888, gelegentlich der Annahme des Wehr-
gesetzes, verlangte Abgeordneter Lazansk y*), daß der An-
trag auf die Tagesordnung gestellt werde. Präsident Smolka er-
widerte: „Er werde den Augenblick wahrnehmen, wo dies wird
geschehen können." Dieser „Augenblick" ist nie eingetreten.
5. Antrag Plener, Exner, Wrabetz**), am 5. Oktober 1886:
auf Errichtung von Arbeiterkammern und von diesen zu
wählenden neun Reichsratsabgeordneten. Erste Lesung am
1. Februar 1887 (107. Sitzung), einem besonderen Ausschuß über-
geben; Enquete vom 23. bis 26. Februar 1889. Der Antrag wurde
in der letzten Session mit unwesentlichen Abänderungen wieder
eingebracht am 25. Mai 1891.
6. Antrag Fürnkranz, Schönerer, Fiegl und T ü r k am
8. Oktober 1886: Unter Belassung der Kurien Ausdehnung des
Wahlrechtes auf alle, die eine direkte Steuer ent-
richten und das 3 0. Lebensjahr zurückgelegt haben.
Direkte Wahlen. — Der Antrag wurde „geschäftsordnungs-
mäßig behandelt", verschwand also spurlos.
7. Anträge auf Einführung direkter Wahlen in den
Landgemeinden wurden eingebracht : Von T i 1 s e r***) am
20. April 1891, von P 1 e n e r an demselben Tage.
*) Graf Leopold L a z a n s k y, ein Jungtscheche. (Das z wird ge-
sprochen wie „j" im Wort Journal.)
**) Über diesen Antrag der Liberalen siehe später.
:!r) Dr. Franz T i 1 s e r, Obmann des Jungtschechenklubs, (s wird wie
„seh" gesprochen.)
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht.
F'titflkranz erneuert seinen Antrag (siehe oben) am 24, April
1891.
Am gleichen Tage bringt Qeßrtiann einen ähnlichen Antrag
ein.
s. Antrag Pernerstorfer am 8. Oktober 1891: Es sei ein vier-
undzwanziggliedriger Ausschuß aus dem ganzen Hause zu wählen,
welcher diesem Vorschläge zu erstatten hat bezüglich der Ände-
r u n g der V e r f a s S un g durch Bildung einer auf (irund des
allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrechte s
zu schaffenden Volksvertretung an Stelle des gegenwärtigen auf
Steuerzensus und Privilegien beruhenden Abgeordnetenhauses.
Kam nie auf die Tagesordnung.
9. Antrag Slavik*) am 16. März 1893 (Antrag der Jungtschechen).
Der Antrag der Jungtschechen beginnt mit der obli-
gaten „Rechtsverwahrung", welche zum jungtschechischen Zere-
monial gehört und lautet:
Die Vertreter des tschechischen Volkes haben wiederholt und ins-
besondere neuerdings in der ersten Sitzung dieser Sessionsperiode er-
klärt, daß die gegenwärtige Verfassung und die auf Grund derselben
bestehende Reichsvertretung den unverjährbaren Rechten der Länder
der böhmischen Krone, wie dieselben durch Krönungseide, grundlegende
Staatsakte und königliche Zusicherungen gewährleistet sind, durchaus
widerspricht, daher diese Verfassung für die Vertreter des tschechi-
schen Volkes keine rechtliche Geltung haben kann. Gestützt auf diese
Rechtsüberzeugung, welche auch in der a. h. Thronrede vom Jahre 1879
Anerkennung fand, und unter Wahrung der vollsten Aktionsfreiheit,
mit allen gesetzlichen Mitteln diese Verfassung zu bekämpfen und die
Restituierung der Rechte der Länder der böhmischen Krone in integrum
anzustreben, nehmen die Gefertigten an den Arbeiten der Reichs-
vertretung teil. Insolange aber jenes staatsrechtliche Ziel nicht erreicht
ist, halten es die Gefertigten für ihre pflichtgemäße Aufgabe, im Geiste
der fortschrittlichen Tendenzen, welche die tschechische freisinnige
Nationalpartei in ihren programmatischen Erklärungen bereits des
öfteren formuliert und veröffentlicht hat, wie in den Landtagen so nicht
minder in diesem hohen Hause zu wirken, also auch dahin zu streben,
daß zum mindesten der bestehende Wahlmodus auf
eine der Gerechtigkeit entsprechende Basis gestellt
werde. Diese Basis erblicken die Gefertigten in dem allgemeinen
Stimmrecht und stellen daher den Antrag: Das hohe Haus wolle
dem4 beiliegenden Gesetzentwurf seine Genehmigung erteilen.
In formaler Beziehung ist dieser Antrag dem Wahlreform-
ausschuß zuzuweisen.
Der Gesetzentwurf lautet:
„Gesetz, betreffend die Wahl der Abgeordneten in das Abgeord-
netenhaus des Reichrates.
Mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrates finde Ich anzuordnen
wie folgt:
Artikel 1, §§ 6 und 7 des (iesetzes vom 21. Dezember 1867, Nr. 141
R.-G.-Bl., werden hiemit außer Kraft gesetzt und es tritt an deren
eile nachstehende Bestimmung:
') „v" wird wie „w" ausgesprochen.
56 Von Taaffe bis Badeni.
§ 6. In das Haus der Abgeordneten kommen durch Wahl 400 Mit-
glieder, und zwar in der für die einzelnen Königreiche und Länder
auf folgende Art festgesetzten Zahl: Für das Königreich Böhmen 98,
für die Markgrafschaft Mähren 38, für das Herzogtum Ober- und Nieder-
schlesien 10, für das Königreich Galizien und Lodomerien mit dem
Herzogtum Krakau 110, für das Herzogtum Bukowina 11, für das
Königreich Dalmatien 9, für die Markgrafschaft Istrien 5, für die
Stadt Triest mit ihrem (iebiet 3, für die gefürstete Grafschaft Görz
und Gradiska 4, für das Herzogtum Krain 8, für das Herzogtum Steier-
mark 21, für das Herzogtum Kärnten 6, für die gefürstete Grafschaft
Tirol 14, für das Land Vorarlberg 2, für das Herzogtum Salzburg 3,
für das Erzherzogtum Österreich unter der Enns 45, für das Erzherzog-
tum Österreich ob der Enns 13.
Artikel 2. Die Reichsratswahlordnung vom 2. April 1873. R.-G.-Bl.
Nr. 41, samt deren Anhang sowie die sämtlichen Gesetze, wodurch
dieselbe abgeändert und ergänzt wird, treten außer Kraft.
Artikel 3. Reichsratswahlordnung.
§ 1. Aktiv wahlberechtigt im allgemeinen für das Abgeordnetenhaus
des Reichsrates ist jeder eigenberechtigte österreichische Staatsbürger.
welcher das 2 4. Lebensjahr vollstreckt hat und von diesem Wahl-
recht nicht ausgeschlossen ist.
§ 2. Vom aktiven Wahlrecht sind ausgeschlossen: 1. diejenigen,
welche unter Vormundschaft oder Kuratel stehen; 2. diejenigen, über
deren Vermögen der Konkurs eröffnet ist, solange derselbe nicht auf-
gehoben wurde ; 3. diejenigen, welche eine Armen Versorgung
aus öffentlichen Mitteln genießen oder in dem der Wahl
unmittelbar vorangegangenen Jahre genossen haben. Die
Bestimmungen des § 6 des Gesetzes vom 15. November 1867, R.-G.-Bl.
Nr. 31"), bleiben aufrecht.
§ 3. Für Personen des Soldatenstandes des Heeres und der Marine
ruht das aktive Wahlrecht so lange, als dieselben sich bei der Fahne
befinden.
§ 4. Jeder Wähler kann sein Wahlrecht nur persönlich und nur in
einem Wahlbezirk ausüben.
§ 5. Wählbar ist jeder in den Wahllisten eingetragene Wähler,
welcher das 30. Lebensjahr vollstreckt hat und seit mindestens drei
Jahren das österreichische Staatsbürgerrecht besitzt.
§ 6. Zum Zwecke der Wahl wird jedes der Königreiche und Länder
in Wahlbezirke geteilt, von denen jeder nur einen Abgeordneten zu
wählen hat. Die Stimmenabgabe geschieht womöglich in Ortsgemeinden,
bei volkreichen Ortsgemeinden in Unterabteilungen. Mit Ausschluß der
Enklaven müssen die Wahlbezirke zusammenhängend und geographisch
tunlichst abgerundet sein und haben mindestens 50.000, höchstens
70.000 Seelen der Bevölkerungszahl zu enthalten.
§ 7. Jeder Wähler kann sein Wahlrecht nur in dem Wahlbezirk
ausüben, in welchem derselbe zur Zeit der Wahl seinen W'ohnsitz hat.
§ 8. In jeder Ortsgemeinde, in welcher die Stimmenabgabe erfolgen
soll, sind Wahllisten anzulegen, in welchen die zum Wählen Berech-
tigten nach Zu- und Vornamen, Alter, Beschäftigung und Wohnort ein-
getragen werden. Diese Listen sind spätestens vier Wochen vor dem
zur Wahl bestimmten Tage zu jedermanns Einsicht aufzulegen, und
*) Dieses Gesetz enthält die Bestimmungen über die Folgen der Ver-
urteilung wegen Verbrechen.
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. 57
ist dieser zuvor unter Hinweisung am" das Reklamationsrecht bekannt-
zumachen.
§ 9. Die Wahl erfolgt geheim mittels Stimmzettel.
§ 10. Als gewählt erscheint derienige, welelier die absolute Majori-
tät aller in einem Wahlbezirk abgegebenen Stimmen hat. Stellt bei
einer Wahl eine absolute Stimmenmehrheit sieh nicht heraus, so ist
nur unter den Kandidaten zu wählen, welehe die meisten Stimmen er-
halten haben. Hei Stimmengleichheit entscheidet das Los.
§ 11. Über die Gültigkeit der Wahl entscheidet das Abgeordneten-
haus des Reichsrates. Einwendungen gegen die Wahl müssen längstens
binnen drei Tagen "ach dem Zusammentritt des Abgeordnetenhauses
des Reichsrates demselben überreicht werden.
§ 12. Die allgemeinen Wahlen sind in jedem einzelnen Königreich
oder Lande an einem Tage, und zwar an einem Sonntag, vorzu-
nehmen.
§ 13. Die Anordnungen bezüglich der Feststellung der Wahlbezirke,
des Verfassens der Wählerlisten, des Reklamationsverfahrens und der
Vornahme der Wahl werden im Wege der Landesgesetzgebung be-
stimmt.
§ 14. Das vorliegende Gesetz tritt erst dann in Kraft, nachdem die
im § 13 angeführten, von den Landtagen der im Reichsrat vertretenen
Königreiche und Länder geschlossenen Bestimmungen in Gesetzeskraft
erwachsen sind.
§ 15. Mit der Durchführung dieses Gesetzes wird Mein Minister des
Innern beauftragt.
Gewiß ist der vorliegende Gesetzentwurf keineswegs einwand-
frei. Er trägt alle Kennzeichen des Machwerks einer Bourgeois-
Partei. Vor allem haben die Jungtschechen natürlich das Alter der
Wahlfähigkeit auf derselben Höhe — 24 Jahre — belassen, welche
nicht den Verhältnissen der Arbeiterschaft, wohl aber den Bedürf-
nissen der Bourgeoisie angepaßt ist. Weiter ist der Punkt 3 des
§ 2 auf das entschiedenste zu verwerfen. Es ist eine richtige
Protzenidee, daß die armen Menschen, welche die Opfer der Wirt-
schaftsordnung sind und vom heutigen Staate mit einem elenden
Almosen, „Armenunterstützung" genannt, abgefertigt
werden, ihrer Rechte als Staatsbürger verlustig erklärt werden
sollen. Das Verbrechen der Gesellschaft, welches Tausende auf die
elende „öffentliche Wohltätigkeit" anweist, wird so nicht an den
Verübern des Verbrechens, sondern an seinen Opfern gerächt.
Wenn aber gesagt wird, diesen Leuten fehle die nötige „Unab-
hängigkeit", um frei und unabhängig zu wählen, so ist das
gedankenlose Faselei. Jeder „Vagabund", der heimatlos von Ort
zu Ort zieht um Arbeit zu suchen, ist politisch unabhängiger als
der erbgesessene Spießbürger, der nicht einmal einen Versuch
wagt, gegen die Gevatterschaft in Opposition zu treten, als der
wohlhabende Kaufmann, der Rücksicht auf seine Kundschaft nimmt,
und gewiß unabhängiger als der Staats- oder Privatbeamte, dessen
Chef sich den Stimmzettel zeigen läßt. Auch ist nicht einmal die
Befürchtung, daß das Ergebnis der Wahl durch die Stimmen der
ArmenunterstützLing Genießenden erheblich beeinflußt werden
könnte, das eigentliche Motiv dieser Bestimmung, sondern viel-
mehr der Hochmut der Besitzenden ist es, welcher sich sträubt,
58 Von Taaffe bis Badeni.
die politische Gleichstellung seiner werten Person mit dem „Armen"
anzuerkennen. Diese Bourgeoisie vergißt, daß sie selbst die eigent-
liche Klasse der „Pfründner" ist. und daß sie mitsamt dem hohen
Adel zum guten Teil das Wahlrecht verlöre, wenn jeder davon
ausgeschlossen wäre, der von fremder Arbeit lebt.
Aber der jungtschechische Antrag enthält noch eine Bestim-
mung, die gänzlich unannehmbar ist, weil sie geeignet erscheint,
den ganzen Entwurf, selbst für den Fall seiner Annahme, dazu zu
verurteilen, toter Buchstabe zu bleiben. Im § 13 werden alle
Einzelheiten über die Durchführung der Wahl, insbesondere aber
die Feststellung der Wahlbezirke den Landtagen
überlassen. Dann aber würde es von jedem der 17 Landtage ab-
hängen, wann und o b das allgemeine Wahlrecht in Kraft tritt.
Der Kampf um die Einteilung der Wahlbezirke würde gerade auf
jenen Schauplatz verlegt werden, wo er am hitzigsten sein muß,
weil sich die Parteien unmittelbar und allein gegenüberstehen. Es
würde aber auch eine so wichtige Sache gerade den Körperschaften
überlassen bleiben, die womöglich noch reaktionärer sind als der
Reichsrat, und schließlich gäbe es wahrscheinlich so viele Wahl-
ordnungen als „Königreiche und Länder" in unserem lieben Öster-
reich. Die Änderung der Reichsratswahlordnung würde in jeder
Session jedes Landtages wieder neu auf der Tagesordnung stehen
und die Einteilung der Wahlbezirke würde wechseln mit der
wechselnden Majorität. Nein, die Reichsratswrahlordnung bis in alle
Einzelheiten ist Sache der Reichsgesetzgebung, das ist so
klar, daß es selbst die Jungtschechen einsehen müssen. Wenn sie
das Gegenteil in ihrem Entwurf vorgesehen haben, so muß man
geradezu auf den Verdacht kommen, daß ihr Antrag für sie nur
ein Mittel der Agitation, nur ein Mittel, für sich im Volke Stimmung
zu machen, ist, daß sie es aber nicht ernst meinen mit dem all-
gemeinen Wahlrecht.
Nun denn, die Sozialdemokratie hat dafür gesorgt, daß der
Antrag auf allgemeines Wahlrecht mehr geworden ist, als ein
demagogischer Schachzug der Jungtschechen. Die Wahlrechts-
bewegung ist stärker angewachsen als ihnen lieb ist und alle ihre
„staatsrechtlichen" Schmerzen und der dazu gehörige Spektakel
treten dagegen in den Hintergrund und verblassen vollständig.
Schließlich ist an dem Antrag der Jungtschechen noch auszu-
setzen, daß die Zahl der Abgeordneten eine auf 400 fixierte ist.
Das richtige Prinzip, daß auf jeden Wahlkreis, welcher 50.000 bis
70.000 Einwohner umfaßt, ein Abgeordneter entfallen soll, wird
dadurch auf die Dauer unmöglich, weil in dem Maße, wie die Be-
völkerung wächst, und zwar in verschiedenen Kreisen mit un-
gleicher Schnelligkeit, dieses Verhältnis verschoben wird, wenn
nicht durch Vermehrung der Wahlkreise und der Zahl der Ab-
geordneten immer wieder eine gleichmäßige Verteilung hergestellt
wird. Wie die Handhabung in der im Antrag vorgeschlagenen Weise
wirkt, sehen wir in Deutschland, wo die Verschiedenheit der Wahl-
kreise eine so ungeheure ist, daß sie zu den größten Ungerechtig-
keiten führt.
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht.
9
So große Mängel aber der jungtschechische Entwurf haben mag,
SO sind sie durchaus leicht zu beseitigen, und wir verwahren uns
\on vornherein dagegen, daß der erprobte Pharisäismus der
Deutschliberalen und der Feudaler! sieh auf diese Mängel berufe,
um den Antrag abzulehnen. Auch wenn er in seiner heutigen Ge-
stalt angenommen würde, wäre es noch ein ganz ungeheurer
Fortschritt gegen das heute geltende Wahlsystem. Jeder Abgeord-
nete, der es irgendwie ernst meint mit dem Volksrecht, der sich
nicht der Anteilnahme an der Aufrechterhaltung der heutigen un-
gerechten, den Volksinteressen ins Gesicht schlagenden Zuständen
schuldig machen will, hat darum die Pflicht, zunächst für den jung-
tschechischen Antrag zu stimmen und hernach zu suchen, ihn
durch Beseitigung seiner Mängel zu verbessern.
Um dem jungtschechischen Antrag entgegenzutreten, verstecken
sich die Gegner des allgemeinen Wahlrechtes, insbesondere die
Deutschliberalen, hinter das Argument, daß einzelne Kronländer,
insbesondere aber Galizien, einen bedeutenden Zuwachs an Ab-
geordneten dadurch erhielten und ihr Übergewicht auf die Gesetz-
gebung zuungunsten der anderen Länder vermehrt würde. Wie
sich das stellen würde, ergibt folgende Tabelle:
Verteilung nach Kronländern und Kurien.
K r o n 1 a n d
i
■o
2.2
O
Sj
Hievon aus der
Bevölkerung
gewählt (abge-
rechnet Groß-
grundbesitz
und Handels-
kammern)
Nach dem
Antrag der
Jungtschechen
würden aufs
Kronland
entfallen
Niederösterreich .
Oberösterreich .
Salzburg ....
Steiermark . • -
Kärnten
Krain
Triest und Gebiet
Görz und Gradiska
Istrien
Tirol
Vorarlberg . . .
Böhmen
Mähren
Schlesien ....
Galizien
Bukowina ....
Dalmatien • . • •
Zusammen .
3
1
4
1
2
1
1
5
23
9
3
20
3
1
19
6
2
8
3
3
3
1
1
5
1
32
13
4
13
2
2
8
7
2
9
4
5
2
2
8
2
30
11
3
21
3
6
37
17
5
23
9
10
4
4
4
18
3
92
36
10
63
9
9
27
13
4
17
7
8
3
3
3
13
3
62
24
7
40
5
8
45
13
3
21
6
8
3
4
5
14
2
98
38
10
110
11
9
85 I 21
118
129
353
247
400
Es zeigt sich, daß allerdings die Zahl der Abgeordneten für
einige Kronländer vermindert und für Galizien erheblich vermehrt
würde. Den größten Zuwachs wird Galizien, Niederösterreich
und Böhmen erfahren, während sich für Oberösterreich, Steiermark
und Tirol eine Verminderung ergibt. Allerdings würde sich dem-
ich das Zahlenverhältnis zuungunsten der innerösterreichischen
60 \ oh Taaffe bis Hadern.
Länder verschieben. Wenn man aber bedenkt, daß nicht nur das
allgemeine, sondern auch das gleiche Wahlrecht eingeführt
werden soll, daß also die Gruppe der Großgrundbesitzer und der
Handelskammern wegfiele, die heute durchaus nicht die Vertreter
der Interessen der Bevölkerung des Kronlandes, sondern aus-
schließlich der Interessen ihrer kleinen Clique sind, so ergibt sich
ein ganz anderes Bild. Vergleicht man nämlich, wie wir in der
obigen Tabelle getan haben, die Zahl der Abgeordneten, welche
die Kronländer heute haben, ohne die beiden Kurien des Groß-
grundbesitzes und der Handelskammern dazuzurechnen, mit der
Zahl der Abgeordneten, die sie nach dem Antrag der Jungtschechen
zu bekommen haben, so ergibt sich ein ganz erklecklicher Zu-
wachs der Abgeordneten, die aus dem Volke gewählt sind. Dazu
kommt, daß, während die 40 Abgeordneten, welche heute Galizien
aus den Städten und Landgemeinden in den Reichsrat schickt, in
den Klauen der Großgrundbesitzer stecken und im Polenklub,
welcher mit seinen 63 Abgeordneten als eine geschlossene, reak-
tionäre Körperschaft dasteht, einfach Order zu parieren haben,
nach Einführung des allgemeinen Wahlrechtes die 110 galizischen
Abgeordneten naturgemäß nicht nur in Polen und Ruthenen,
sondern auch in Vertreter der städtischen und landwirtschaftlichen
Interessen zerfallen würden. Diese einzelnen Gruppen würden sich
an die verwandte Interessengruppe in anderen Kronländern an-
schließen und die Herrschaft der polnischen Delegation wäre ge-
brochen. Die Vermehrung der Abgeordneten aus Galizien bedeutet
also tatsächlich nicht eine Verstärkung des Einflusses der
Schlachta, wie uns die Liberalen glauben machen wrollen, sondern
eine Schwächung derselben, ja seine Vernichtung.
Der „Bildungszensus".
Einige deutschliberale Parteigänger hat die öffentlich an sie
gestellte Frage, wie sie sich zum allgemeinen Wahlrecht verhielten,
in arge Verlegenheit gebracht. Dafür einzutreten, erlaubt ihnen der
Plener nicht; dagegen zu sein, bringt sie in Gefahr, den Rest von
politischer Reputation zu verlieren, den sie etwa noch besitzen.
Sie wählten den Ausweg zu erklären, daß sie wohl mit dem all-
gemeinen Wahlrecht einverstanden seien, aber daß ihr Gewissen
nicht zulasse, den Reichsrat an die Analphabeten Galiziens,
der Bukowina, Dalmatiens usw. auszuliefern. Darum seien sie für
den „Bildungszensus", das heißt das Wahlrecht solle an die Kennt-
nis des Lesens und Schreibens gebunden sein.
Das klingt ganz hübsch und es ließe sich nicht viel dagegen
einwenden, wenn der Mann, der es nicht der Mühe wert hält, sich
diese einfachsten Kenntnisse zu verschaffen, der aus eigenem
Wollen Analphabet geblieben ist, als eine Art Selbstverstümmler
vom Wahlrecht ausgeschlossen bliebe. Stehen aber die Dinge so?
Keineswegs. Die Analphabeten sind die Opfer unserer Zustände
in Staat und Gesellschaft. Sie sind dem Fluch der Unwissenheit ver-
fallen aus denselben Gründen, aus welchen sie der Unterdrückung
und dem Elend verfallen sind. Unsere Volksschulgesetzgebung ist
Das allgemeine, Bleiche und direkte Wahlrecht. öl
überdies nur eine halbe Tat gewesen; sic hat die Lasten der Schule
den armen, von den ( irnndlierren ausgesaugten Dorfgemeinden
aufgewalzt und darum ist sie in (ializien und der Bukowina, in
Krain und Dalmatien zum großen Teile auf dem Papier geblieben.
Die polnischen Magnaten, die im Landtag regieren, sind schuld
an der Unwissenheit wie an dem Elend im Laude. Es wäre also
die größte Ungerechtigkeit, die armen Leute, die man gewaltsam
von den notwendigen Kenntnissen ausgeschlossen hat, auch noch
vom Wahlrecht auszuschließen, sie mit gebundenen Händen wehr-
los ihren Peinigern auszuliefern.
So notwendig übrigens die Volksschulbildung für das politische
Urteil ist, unentbehrlich ist sie durchaus nicht und mancher in
schwerer Lebenserfahrung geprüfte Bauer, der weder schreiben
noch lesen kann, wird seine Interessen vielleicht ganz gut verstehen
und gewiß vernünftiger wählen als sein Herr Graf, dem seine
..Bildung" ausschließlich dazu dient, die Liste der startenden Renn-
pferde und, wenn es hoch kommt, den Kurszettel zu studieren.
Leider würde aber die Erteilung des Wahlrechtes auch ohne
jede Einschränkung an der heutigen Vertretung dieses Landes
wenig ändern. Wir können die besorgten Liberalen beruhigen, ihre
Lieblinge, die polnischen Grafen, kämen ziemlich alle wieder in
den Reichsrat. Dafür spricht die Erfahrung in Ostpreußen und
Posen, wo trotz des allgemeinen Wahlrechtes genau dieselbe Sorte
von Leuten in den Reichstag gewählt wird wie in Galizien. Wir
haben also kaum Hoffnung, daß daran zunächst sich viel ändern
werde. Jede Änderung aber wäre ein Fortschritt. Der
analphabetische Bauer, der etwa gewählt würde, wäre gewiß ein
geringeres Hindernis für eine vernünftige Gesetzgebung als die
Gruppe von politischen Analphabeten und verbissenen
Gegnern jedes Fortschrittes, die heute im Polenklub das Parlament
beherrscht.
Wir finden es nur verwunderlich, daß die Herren, welche so
ängstlich die Analphabeten vom Wahlrecht ausschließen wollen,
auf diese Idee erst verfallen, wenn vom allgemeinen Wahlrecht
die Rede ist und warum sie diese Maßregel nicht längst für die
heutige Wahlordnung beantragt haben. Die Zahl der Analphabeten,
denen das Gesetz die politische „Reife" voll zuerkennt, ist nämlich
in den in Frage kommenden Provinzen auch heute eine sehr be-
trächtliche. Sehen wir einmal zu.
Von je 100 über 6 Jahre alten Personen konnten
weder lesen noch schreiben:
1880
männlich
Krain 4610
Küstenland . . . 52*63
Oalizien 74'24
Bukowina .... 84*22
Dalmatien .... 82*06
Das furchtbare Gewicht dieser Zahlen wird dadurch einiger-
maßen gemildert, daß die Zahl der Analphabeten in allerdings lang-
1890
weiblich
männlich
w eiblich
45*02
34*12
32*97
61*08
43*26
50*80
79'92
64*87
71*60
90*79
75*45
83*10
92*68
75*75
89*91
62 Von Taaffe bis Baduii.
samem Sinken begriffen ist und daß sie hauptsächlich die höhen
Lebensalter umfaßt.
Aus einer Tabelle des Österreichischen statistischen Hand-
buches für 1892 seht hervor, daß für das ganze Reich fast dic
Hälfte aller Männer, die 1890 schreiben und lesen konnten, unte r
2 4 Jahre alt waren, also noch nicht in wahlfähigem Alter
standen. Gerade für die analphabetenreichen Kronländer ist dieser
Prozentsatz gewiß ein noch höherer. Betrachten wir nun die
Ziffern, welche die letzte Volkszählung über die Zahl der des
Lesens und Schreibens Kundigen angibt und vergleichen wir sie
mit der Wählerzahl, so erfahren wir:
in Galizien Bukowina Dalffiatiei
gab es des Lesens und Schreibens
kundige Männer 736.333 61.344 51.145
davon in wahlfähigem Alter höch-
stens 368.000 30.000 25.000
Wahlberechtigte aber 550.000 54.438 53.400
an alphabetische Wähler
also mindestens 182.000 14.000 28.400
Wir finden also, daß bei dem heutigen Wahlgesetz in der
Bukowina mehr als ein Viertel, in Galizien mehr als
ein Drittel, in Dalmatien über die Hälfte der Wahl-
berechtigten Analphabeten sind, ohne daß es jemals
den liberalen Politikern eingefallen wäre, an der Vorzüglichkeit
dieser famosen Wahlordnung oder an der Tauglichkeit der von-
den Analphabeten gewählten Abgeordneten auch nur im geringsten
zu zweifeln.
Die angebliche Furcht vor den Analphabeten ist also erst auf-
getaucht, um als Ausrede zu dienen und die Wahlrechtsagitation:
zu verwirren. Was aber nicht gelingen wird.
Arbeiterkammern.
Die Bewegung für das allgemeine Wahlrecht hat auch wieder
ein halbverschollenes Schlagwort der Vergessenheit entrissen. Im
Jahre 1886 empfand die liberale Partei das Bedürfnis, sich billig
bei der Arbeiterschaft populär zu machen und die Herren
Plener, Exner und Wrabetz brachten einen Antrag auf
Errichtung von 26 Arbeiterkammern ein, welchen — allen zu-
sammen — 9, sage und schreibe neun Abgeordnetenmandate
gewährt werden sollten. Der Antrag wurde nach den Neuwahlen;
wieder eingebracht, die Christlichsozialen (Liechtenstein-Pattai)
stimmten ihm zu, aber man hörte nichts weiter von ihm. Am Tage
der Rathausversammlung in Wien verkündeten offiziöse Blätter,
daß die Regierung sich mit einem Gesetzentwurf über Arbeiter-
kammern beschäftige und seither spukt dieser Plan in allen mög-
lichen Formen in den Blättern.
Fs ist hier nicht der Platz, ausführlich darauf einzugehen,
welche Aufgabe „Arbeiterkammern", wie sie im Jahre 1872 von
der österreichischen Arbeiterschaft gewünscht wurden, haben und!
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht.
wie sicli die liberalen Vorschläge dazu verhalten. Gesagt sei nur,
daß der Antrag Plener-Exner* Wrabetz eine Einrichtung
vorschlägt, gebildet auf Grund eines engherzigen Wahlrechtes.
ausgestattet ausschließlich mit Scheinbefugnissen, kurz Einrich-
tungen, lediglich dazu bestimmt, den Arbeitern Sand in die Augen
zu streuen. Dies vom sozialpolitischen Standpunkt.
Vom eigentlichen politischen Standpunkt gesehen, als Wahl-
reform, würden diese Arbeiterkammeru eine lächerlich geringe Zahl
von Mandaten, aber kein Wahlrecht gewähren; der Wert des
Wahlrechtes iür die Agitation und Organisation ginge gänzlich
verloren. Dieser „Ausbau der Interessenvertretung", sofern er
überhaupt ernstlich gemeint ist, sollte nur dazu dienen, das gegen-
wärtige Wahlunrecht zu konservieren, indem seine gröbste Un-
gerechtigkeit wohl nicht beseitigt, aber überkleistert wird. Die
Arbeiter sollen ein „Wahlrecht" erhalten, ohne daß die Mandate
der heutigen Abgeordneten gefährdet werden, ja ohne daß sie um
sie mit den Arbeitern kämpfen müßten. Und überdies — die Mil-
lionen von Arbeitern sollen genau so viel Abgeordnete wählen
dürfen wie die 179 Großgrundbesitzer Mährens, ja fast doppelt so
viel als die 45 fideikommissarischen Großgrundbesitzer Böhmens!
Das ist ein Hohn, nicht einmal eine „Abschlagszahlung".
Dazu kommt noch, daß selbst dieser elende Schwindel von
Wahlrechtszuteilung nicht einmal politisch möglich ist. Von den
5,700.000 Männern im wahlfähigen Alter haben heute nur 1,730.000
das Wahlrecht. Vier Millionen sind rechtlos. Das Wahlrecht für die
Arbeiterkammern sollen männliche, versicherungspflichtige Arbeiter
im Alter von über 24 Jahren haben. Deren Zahl ist aber nach der
heutigen Sachlage geringer als eine Million. Es würden noch immer
über drei Millionen Männer übrigbleiben, die nicht einmal jenen
Schatten von Recht hätten wie die versicherungspflichtigen
Arbeiter. Unter diesen vollständig Rechtlosen befänden sich aber
die Bauern und Kleingewerbetreibenden, die wreniger als 5 Gulden
Steuer zahlen, und diese kämen somit, wenigstens dem äußeren
Anschein nach, in eine ungünstigere Lage als die Lohnarbeiter.
Das aber ist eine politische Unmöglichkeit, die sich weder durch-
setzen, noch gar festhalten läßt, und diese Konsequenz des Vor-
schlages, der heute von den Liberalen, den Christlichsozialen und
der Regierung mit vorgeblichem Ernst ins Auge gefaßt wird, ent-
hüllt ihn als politische Finte, die ebenso reaktionär als un-
geschickt ist.
Als im Jahre 1886 der Arbeiterkammerschwindel zum erstenmal
auftrat, faßte die Arbeiterschaft in mehreren Versammlungen ihr
Urteil in einer Resolution zusammen, welche noch heute alles
Nötige sagt und die also lautet:
„In Erwägung, daß eine korporative Vertretung der
Lohnarbeiter nur dann einen ausgedehnten Wert hat, wenn die-
selbe ausgerüstet ist mit ausgedehnten Befugnissen zur Erhebung
der Lage der arbeitenden Klasse, zur bestimmenden E i n-
i 1 n B nähme auf die Arbeit erschUtZ g e s e t z z e b u n g und
ihre ehrliche Durchführung, auf die Ernennung und Kon-
64 Von Taaffe bis Hadern.
trolle der Gewerbeinspektoren und mit der Machtvollkommenheit, sich
der Organe der staatlichen und kommunalen Verwaltung zu diesen
Zwecken zu bedienen;
in Erwägung, daß eine zielbewußte Vertretung der Arbeiterschaft
nur zustande kommen kann, wenn durch die vorbereitende Tätigkeit
von Qewe rkver einen und Arbeiterverbänden das
Klassenbewußtsein ein allgemeines und deutliches geworden ist:
in Erwägung, daß der von liberaler Seite eingebrachte Gesetz-
entwurf über die Errichtung von Arbeiterkammern diesen Voraus-
setzungen keineswegs entspricht, seine einzelnen Bestim-
mungen, sowohl was die Kompetenzgrenzen der Kammern, als was
das aktive und passive Wahlrecht in dieselben anbelangt, vom eng-
herzigsten Hourgeoisstandpunkt und von laienhaftem Dilettantismus
diktiert sind; daß Parteien, welche die bei uns geübte Handhabung
des Vereins- und Koalitionsgesetzes zustimmend oder stillschweigend
zulassen, der ernste Wille zur Ermöglichung einer Organisation der
Arbeiterschaft überhaupt nicht zuzutrauen ist:
in schließlicher Erwägung, daß das winzige Ausmaß von parla-
mentarischer Vertretung, welches der Gesetzentwurf den Arbeitern
gönnt, durch den indirekten Wahlmodus nicht geeignet ist, den wich-
tigsten und wesentlichsten Vorteil des allgemeinen Stimmrechtes —
die Ermöglichung der politischen Erziehung und der freien Diskussion
zu erfüllen;
erklärt die heutige Volksversammlung, daß der am 5. Oktober ein-
gebrachte Gesetzentwurf über die Errichtung von Arbeiterkammern in
keiner Weise den Anforderungen, welche an eine zweckdienliche Ver-
tretung der Interessen der Lohnarbeiter gestellt werden müssen, ent-
spricht und daß das Proletariat seine bestimmte, immer und immer
wiederholte Forderung nach dem allgemeinen, gleichen und direkten
Wahlrecht niemals für das Linsengericht eines dürftigen Zubaues an
die gegenwärtige Interessenvertretung aufgeben werde."
Schlußwort.
Welches Schicksal der jungtschechische Antrag auf allgemeines
Wahlrecht im Abgeordnetenhaus haben wird, läßt sich natürlich
nicht voraussehen. Soviel aber können wir mit Sicherheit vorher-
sagen: Das „objektive Verfahren", mittels welchem das
Präsidium gewöhnlich unangenehme Anträge konfisziert und dem
Papierkorb überantwortet, wird sich diesmal nicht an-
wenden lassen. Herr Baron Chlumecky wird den jung-
tschechischen Antrag auf die Tagesordnung setzen müssen, ob
es ihm genehm ist oder nicht. Und zwar bald. Noch wäre die
Schwierigkeit zu erörtern, ob nicht die Annahme des Antrages eine
Zweidrittelmehrheit erfordere. Die Wahlreform Zeithammer, welche
den böhmischen Fideikommissaren neue Privilegien gab, die Wahl-
reform Lienbacher, welche den Fünfguldenmännern das Wahlrecht
verschaffte, sie kam mit einfacher Majorität zustande. Wie die
Herren Staatsweisen darüber entscheiden mögen und ob sich dafür
innerhalb des Parlaments eine Mehrheit finde: Für das all-
gemeine, gleiche und direkte Wahlrecht gibt es
bereits eine Zweidrittelmehrheit außerhalb des
Parlaments, die Zweidrittelmehrheit des arbei-
Die Frage der Arbeiterkammern in Hainfeld.
t c ii d e n V o 1 k e s, d i e Z w e i dr i t tel m e h r h e i i der b i s-
li e r R e ch 1 1 0 se tl. Li n d diese Z w e i d r i t t e i m c h r li e i t
w i r d ihre S 1 1 in m e n gelten d Z u ffl a c li e n \v ls$e n. Das
allgemeine Wahlrecht wird auch in Österreich durchgesetzt werden.
so oder so.
Die Frage der Arbeiterkammern in
Hainfeld.
Parteitag Hainfeld 1 8 88*).
Über den vorliegenden Gegenstand der Tagesordnung haben
sich die Arbeiter Österreichs vor mehr als anderthalb Jahren in
ganz klarer und unzweideutiger Weise in Dutzenden von Ver-
sammlungen ausgesprochen. Die Arbeiter sind schon von vorn-
herein der Ansicht gewesen, daß die Arbeiterkammern nur dann
*) In dem Bruderkampf zwischen „Radikalen" und „Gemäßigten", der
durch die Einigung in Hainfeld ein Ende fand, hatte die Frage des Wahl-
rechtes eine große Rolle gespielt. Während die „Gemäßigten" das all-
gemeine Wahlrecht nach .den deutschen Erfahrungen als ein wichtiges
Mittel der Erweckung der Arbeiterschaft ansahen, wobei seine Bedeutung
gewiß oft übertrieben wurde, lehnten es die „Radikalen" entschieden ab.
Die Liberalen suchten nun die Arbeiter für sich zu gewinnen, indem sie
ihnen wohl das allgemeine Wahlrecht nicht bewilligen, aber statt dessen
eine Vertretung im Parlament durch „Arbeiterkammern" geben wollten,
die von den Arbeitern als eine Institution zur Vertretung der sozialen
Interessen der Arbeiter gefordert worden war. (Darüber ist in der vorher
abgedruckten Wahlrechtsbroschüre Adlers das wichtigste gesagt.) Auf dem
Parteitag in Hainfeld wurde sowohl in der Debatte über die Prinzipien-
erklärung wie in der über die „politischen Rechte" selbstver-
ständlich auch über das allgemeine Wahlrecht gesprochen. In der Prin-
zipienerklärung" ist ausdrücklich folgender Punkt enthalten:
3. Ohne sich über den Wert des Parlamentarismus, einer Form der
modernen Klassenherrschaft, irgendwie zu täuschen, wird sie das a 1 1-
gemeine, gleiche und direkte Wahlrecht für alle Ver-
tretungskörper mit Diätenbezug anstreben, als eines der wichtigsten
Mittel der Agitation und Organisation.
Selbstverständlich hat auch Adler in seiner Rede zur Prinzipienerklärung
vom allgemeinen Wahlrecht gesprochen, das er ja noch gegen die Argu-
mente der „Radikalen" verteidigen mußte. (Siehe darüber seine Rede im
Bd. VI, Seite 51 f. und besonders Seite 52 und 54.)
Auch beim nächsten Punkt: „Die politischen Rechte", wurde natürlich
über das allgemeine Wahlrecht gesprochen und es ist in der Resolution
üher die politischen Rechte folgende Forderung nach dem Wahlrecht ent-
halten:
4. Die Aufhebung des Monopols der Besitzenden auf das politische
Wahlrecht durch die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und
geheimen Wahlrechtes (und zwar vom 20. Lebensjahr an, wo die Ver-
pflichtung zur Blutsteuer beginnt), als eines wichtigen Mittels der Agi-
tation und Organisation, ohne sich jedoch über den Wert des Parla-
mentarismus irgendwie zu täuschen...
Adler, Briete. X. Bd. 5
66 Von Taaffe bis Badeni.
einen Wert haben, wenn sie einen Schritt in der Organisation der
Arbeiter bedeuten und daß sie, wenn sie diese Funktionen nicht er-
füllen, einfach wertlos sind. Freilich hat noch — und da möchte
ich ein Moment aus der Geschichte der Arbeiterkammern heraus-
greifen — zu jener Zeit, als der Gedanke der Errichtung derselben
in Österreich überhaupt aufgetaucht ist, die Idee einer Vertretung
der Arbeiterschaft im Parlament einen gewissen Reiz gehabt, und
es hat daher auch die Idee, Arbeiterabgeordnete auf dem Wege der
Arbeiterkammern dorthin zu entsenden, vielen Anklang gefunden.
Man hat zu jener Zeit eben noch den Parlamentarismus über-
schätzt, indem man erwartet hat, daß von diesen Abgeordneten bei
dem heutigen Parlamentarismus etwas für die Arbeiterklasse Ver-
nünftiges durchgesetzt werden könne. Heute wissen wir, daß für
Adler legte in seiner Begründung dieser Resolution seine Anschauungen
nur in einer kurzen Polemik dar. (Siehe Bd. VI, Seite 64 und 65.)
Aber daneben wurde auch noch ein eigener Punkt: „Arbeiterkammern",
auf die Tagesordnung gestellt, worüber Heinrich G e h r k e referierte. In
der Debatte dazu sprach auch Adler. Das nähere über diese Frage enthält
schon die Wahlrechtsbroschüre vom Jahre 1893, die wir oben abdrucken,
in dem Kapitel „Arbeiterkammern". Auch die dort abgedruckte Resolution
der Protestversammlungen gegen den am 5. Oktober 1886 eingebrachten
Antrag Plener ist im wesentlichen mit der von Gehrke beantragten Reso-
lution gleich. Adler hat übrigens schon 1886 über die Arbeiterkammern
eine eigene Broschüre geschrieben, „Die Arbeiterkammern und
die Arbeite r", die in dem fünften Heft dieser Adler-Schriften „Victor
Adler über Fabrikinspektion, Sozialversicherung und
Arbeiterkammern" (Bd. V, Seite 155 bis 181) abgedruckt ist. Dort
sind auch mehrere Artikel abgedruckt, die Adler in der „Gleichheit" über
diese Frage geschrieben hat, und zwar „Arbeiterversammlungen über die
Arbeiterkammern" („Gleichheit" vom 15. Jänner 1887), „Die erste Lesung
des Gesetzentwurfes" („Gleichheit" vom 5. Februar 1887), „Kritik der ersten
Lesung" („Gleichheit" vom 12. Februar 1887), „Die parlamentarische En-
quete über Arbeiterkammern" (1. März 1889) und schließlich der Artikel
„Konservative Utopien" vom 8. März 1889, der sich mit den christlich-
sozialen Anschauungen zu dieser Frage beschäftigte. Bekanntlich sind
nach der Revolution in der Republik Deutschösterreich von dem ersten
Minister für soziale Verwaltung, Ferdinand H a n u s c h, wirkliche Arbeiter-
kammern — „Kammern für Arbeiter und Angestellte" — in allen Bundes-
ländern geschaffen worden.
Die von Gehrke erwähnte Petition, auf die dann auch Adler zu sprechen
kommt, wurde am 26. August 1872 von einer großen Volksversammlung
beim Schwender beschlossen. Diese Petition verlangte aber wirkliche
Arbeiterkammern für sozialpolitische Aufgaben, nicht Wahlkorporationen.
Heinrich Gehrke, der der Reierent war, wurde 1835 in Hannover ge-
boren, kam 1854 als Sattler nach Wien, war nach 1867 in dem Arbeiter-
bildungsverein Ausschußmitglied; er gehörte damals der Lassalleschen
Richtung an. Bei der großen Demonstration vor dem Parlament am 13. De-
zember 1869, die der Arbeiterschaft das Koalitionsrecht brachte, gehörte
er der Deputation an den Grafen Taaffe an, wurde in dem großen Hoch-
verratsprozeß nach sieben Monaten Untersuchungshaft zu zwei
Monaten schweren Kerkers verurteilt. Am 8. März 1917 ist er, 82 Jahre alt,
gestorben.
Die Präge der Arbeiterkammern In Hainfeld. 81
uns nicht das Gewähltwerden, sondern nur das Wählen seihst einen
Vorteil bietet, und wenn man uns das Wahlrecht nehmen und etwa,
wie dies schon heute im Herrenhaus der Fall ist, eine Anzahl von
Abgeordneten einfach durch Ernennung in das Abgeordnetenhaus
berufen würde, so wäre uns das völlig gleichgültig. Uns handelt
es sich nur um die organisatorische Seite des Wahlrechtes, aber
nicht um diejenige Seite, welche vom Hoden des Parlaments viel
erwartet. Wenn aber die Arbeiterkammern zur Organisation der
Arbeiter etwas beitragen sollen, ist vor allem notwendig, daß die
Zusammensetzung und die Wahl in die Arbeiterkammern in einer
Weise erfolgt, welche eine solche Organisation ermöglicht. In
diesem Gesetzentwurf ist aber gerade dieser Punkt, ich möchte
sagen, mit den raffiniertesten Mitteln hinausgemaßregelt worden.
Alle Paragraphe, die etwa eine solche Organisation anbahnen
könnten, sind aus dem Gesetzentwurf entfallen. Derselbe stellt
weiters Bezirke von einer Größe auf, die eine ordentliche Wahl-
agitation unmöglich machen, er sprxht nämlich von einem Handels-
kammerbezirk, und weiter beschränkt er das Wahlrecht auf jene
Arbeiter, welche durch zwei Jahre fortwährend in Arbeit gewesen
sind, und Sie wissen am besten, welch eine Beschränkung das an
und für sich bietet. (Sehr richtig!) Es sind dadurch einfach alle un-
gelernten Arbeiter und von den gelernten sehr viele, die nicht zu
dem Stocke der Arbeiter gehören, die schließlich jede Fabrik
haben muß, einfach ausgeschlossen. In dem Gesetzentwurf ist in
keiner Weise dafür vorgesorgt, daß Arbeiterwählerversammlungen
sowie die W'ählerversammlungen für den Reichsrat unbehindert
tagen können.
Es können also auch solche Wählerversammlungen auf Grund
unseres famosen Versammlungsgesetzes verboten werden, so wie
dies mit allen unseren übrigen Versammlungen geschieht, und wenn
dies alles noch nichts wäre, so ist die Bestimmung des Gesetz-
entwurfes, daß die Wrahl in der Weise erfolgen soll, daß jeder
Arbeiterwähler seinen Wahlzettel mit seiner Namensunterschrift
einreicht, vollständig genügend, um den Gesetzentwurf zu charak-
terisieren. (Gewiß.) Man beruft sich hiebei auf die Handels- und
Gewerbekammer. Ja, dort geht er ganz gut, denn der Fabrikant
oder Gewerbsmann wird nicht gemaßregelt, ob er nun für einen
liberalen oder zünftlerischen Handelskammerabgeordneten stimmt.
Etwas anderes aber wäre es bei den Arbeitern, und es wäre eine
ganz famose Geschichte, wenn der Regierungsvertreter, der ja bei
dem Skrutinium dabei sitzt, eine Liste jener Arbeiter bekäme, die
für einen Kandidaten zu stimmen gewagt haben, der vielleicht nach
oben unangenehm ist. Außerdem könnte — und auch in dieser
Richtung ist nichts vorgesehen — ein solcher glücklich gewählter
Arbeiterkamrnerrat (Heiterkeit) auf Grund des Ausnahmsgesetzes
oder sonst eines unserer vielen Gesetze ausgewiesen werden und
diejenigen, die ihn gewählt haben, würden jedenfalls Unannehm-
lichkeiten haben. Wir kennen ja das, ich brauche das gar nicht
weiter auszuführen.
5*
Von Taaffe bis Badeoi.
Wie nun ein solcher Gesetzentwurf für unsere Organisation
irgendeinen Wert haben soll, ist absolut nicht abzusehen. Mit einem
solchen Gesetz kommen auf. einmal. jene Leute, die das Vereins-
und Versammlungsgesetz und die Ausnahmsgesetze gemacht haben.
dieselben Leute, die heute während aller parlamentarischen Ver-
handlungen nicht ein Wort für die Maßregelungen der Arbeiter
haben, und glauben, wir werden das ernst nehmen. Die Leute halten
uns geradezu für Kinder. (Heiterkeit.)
Nun ist es aber unbedingt nötig auszusprechen, daß wir diesen
( Gesetzentwurf nicht ernst nehmen, daß wir die Leute, die dahinter
stehen, klar durchschauen und wissen, was sie wollen. Sie glauben,
daß die Arbeiter heute noch so leicht zu gewinnen sind, wie vor
20 Jahren. Es ist kein Zweifel, wenn zur Zeit, wo die vom Genossen
(i e h r k e erwähnte Petition eingebracht wurde, ein solcher Gesetz-
entwurf unterbreitet worden wäre, würde man das immerhin als
eine bedeutende Errungenschaft und als ein Entgegenkommen der
betreffenden Partei gegenüber der Arbeiterschaft angesehen haben.
Aber warum wäre das geschehen? Weil die Arbeiterschaft Öster-
reichs zu jener Zeit weder die liberale noch die konservative Partei
in Österreich gekannt hat. Heute aber kennen die Arbeiter diese
Parteien, ihre Ziele — von Personen wollen wir gar nicht reden —
und wissen, was sie von ihnen zu erwarten haben. Heute ist daher
ihrer Liebe Müh' umsonst.
Ich möchte Ihnen auch mitteilen, in welcher Weise der Gesetz-
entwurf im Parlament behandelt wurde. Erst einige Monate oder
gar ein Jahr, nachdem der Gesetzentwurf eingebracht worden war,
wurde ein Ausschuß niedergesetzt, dieser Ausschuß hat binnen
einem Jahre ein Subkomitee gewählt, dieses Subkomitee hat einen
neuen Gesetzentwurf ausgearbeitet, hat wieder an den Ausschuß
referiert (Heiterkeit), und die Regierung, das muß ich konstatieren,
hat bis heute nicht den Mund aufgemacht. Bis heute hat sie noch
nicht gesagt, ob sie die Arbeiterkammern will oder ob sie sie nicht
will. Nun könnte uns das gleichgültig sein, aber wir leben in Öster-
reich und in Österreich geschieht vom Parlament nur das, was die
Regierung will. Wenn das Parlament der Regierung nicht paßt, wird
es nach Hause geschickt, das nennt man bei uns Parlamentarismus.
(Heiterkeit.) In anderen Ländern, wo noch eine ernstere Auf-
fassung auch über die bourgeoisparlamentarische Vertretung
herrscht, muß sich das Ministerium nach dem Parlament richten.
Bei uns hat jede Regierung es in der Hand, das Parlament sich so
zuzurichten, wie sie es braucht. Das wissen wir, und ob wir je
Arbeiterkammern haben werden, hängt einfach davon ab, ob die
Regierung sie will oder nicht. Darüber hat sie sich, wie gesagt,
noch nicht ausgesprochen. Sie hat nur gesagt, daß es schwer sein
wird, vor Durchführung der Krankenkassenorganisation heraus-
zubringen, wieviel Arbeiter überhaupt unter das Gesetz fallen. Als
nämlich das Subkomitee den Entwurf fertiggestellt hat und nun
die Möglichkeit vorgelegen wäre, die Sache vor dem Parlament zu
einer endgültigen Beschlußfassung zu bringen, hat ein Mitglied der
Die Frage der Irbefterkammern In Hainfeld. f>'>
Regierungspartei den schlauen Gedanken gehabt, den Handels-
minister zu ersuchen, ihm im Einvernehmen mit dem Minister des
Innern doch mitzuteilen, wieviel Tischler, Schuhmacher, Schlosser,
Spinner usw. es gibt, damit man doch klar wisse, was man
beschließe. Denn die Herren beschließen bekanntlich nie etwas,
bevor sie nicht klar wissen, welche Konsequenzen das hat. (Heiter-
keit.) Durch diese ausgezeichnete Idee war der Handelsminister
in der Lage, die einzige Erklärung abzugehen, die er überhaupt
abgegeben hat, daß er das nicht weiß (Heiterkeit), und das müssen
wir ihm aufs Wort glauben, Er hat gesagt, man muß warten, bis
das ganze Krankengesetz durchgeführt ist. (Rufe: Da können wir
lange warten!) Sie werden mir zugeben, wenn man nicht früher
Arbeiterkammern einführt, so brauchen wir uns mit unseren Ver-
handlungen gerade nicht sehr zu beeilen. (Heiterkeit.) Für uns ist es
aber ebenso notwendig zu sagen, daß die Arbeiterkammern in
dieser Form ein purer Schwindel sind. (Sehr richtig!) Wir haben
keinen Anlaß, uns zu genieren, die Herren genieren sich uns gegen-
über auch nicht. (Sehr gut!)
Notwendig ist es aber zu sagen, daß wir wohl wissen, w e 1 c h e
Arbeiterkammern wir wollen. Wir wollen Arbeiterkammern,
welche hervorgegangen sind aus dem Wahlrecht der Arbeiter in
den abgegrenzten kleinen Bezirken, welche aus geheimer Stimm-
abgabe hervorgegangen sind und in welchen nun die wirklichen
Interessen der Arbeiterschaft in ernster Weise erwogen und
bestimmt werden können. Wir wollen Arbeiterkammern, welchen
die Durchführung der Arbeiterschutzmaßregeln ernsthaft zu-
gewiesen ist.
Nicht der Bezirkshauptmann und die Statthalterei und das
Ministerium soll die Erlaubnis haben, unsere Arbeiterschutzmaß-
regeln nach ihrer Willkür einzuschränken, sondern wir wollen, daß
diese Funktionen den Arbeiterkammern zufallen. Wir wollen weiter,
daß von diesen Arbeiterkammern gewählte Inspektoren oder viel-
mehr Kommissionen im Verein mit vom Staate ernannten und
besoldeten Fachorganen — daß diese die Inspektion und Durch-
führung der Gewerbeordnung vornehmen. Wrenn man uns hierauf
— wir können da ja noch eine kleine Konzession machen — etwa
sagen sollte: man kann die Verlängerung des Arbeitstages nicht nur
von der Arbeiterkammer abhängig machen, die Unternehmer haben
auch Interessen dabei — da haben wir gar nichts dagegen, wenn die
Sache etwa so formuliert würde: Überschreitung der elf stündigen
Arbeitszeit ist nur dann möglich, wenn sowohl die Gewerbekammer
als die Arbeiterkaminer einverstanden sind. WTenn die
Arbeiterkammer einverstanden ist mit einer Verlängerung
und die Handels- und Gewerbekammer dagegen ist, dann soll sie
nicht geschehen. (Heiterkeit.) Aber wir dürfen auch nicht verkennen,
daß die Arbeiterkammern auf dieser Basis einen ganz außerordent-
lichen Wert für uns hätten. Ich möchte behaupten, sie hätten einen1
größeren Wert als alle übrigen politischen Rechte, die wir haben.
Wenn wir das Recht hätten, in einem Kreis von, sagen wir, 400.000'
70 Von Taaffe bis Badeni.
oder 500.000 Einwohnern eine Arbeiterkammer zu haben, in die
jeder Arbeiter alle Jahre — alle zwei Jahre wollen wir sagen —
wählt, die Versammlungen abhält, diese Arbeiterkammer mit ihren
Wählern in stetem Kontakt — dann hätten wir die Anbahnung einer
Organisation erreicht, welche um so wertvoller wäre, als unsere
Fachvereinsorganisation bis jetzt wenig ausgebildet ist. Hätten wir
eine bedeutende Fachvereinsorganisation, ließe sich über diese
Arbeiterkammern auch noch reden. Aber den zersplitterten, un-
organisierten Arbeitern gegenüber, die in öffentlicher Stimm-
abgabe in so großen Bezirken ohne ordentliche Wählerversamm-
lungen wählen sollen — eine solche Organisation hängt in der
Luft und ist zunächst wertlos.
Als im Jahre 1872 darüber im Abgeordnetenhaus debattiert
wurde, hat der Ausschuß über diese Petition, in dem Plener
Referent war, klar gesagt: Wir können die Sache nicht gut machen,
weil der Unterbau von Fachvereinen fehlt. Diesen Unterbau, den
verkürzen sie uns heute fortwährend, machen ihn ganz unmöglich,
und das müssen Sie zugeben: wrenn wir durch ausdauernde
Arbeit in der letzten Zeit wieder ein paar Vereine in die Höhe
brachten — sie können übermorgen alle mit einem Federstrich
weggestrichen werden — wer von uns kann das hindern? Aber
mit solchen Institutionen uns ernstlich einzulassen, ist ganz unmög-
lich. Ich glaube, wir werden einfach sagen, was wir wollen, ver-
gleiche man damit, was hier geboten ist, und daraus wird das
Urteil über ihre Institutionen klar hervorgehen.
Es wird nicht lange dauern, da wird eine Enquete im Abgeord-
netenhaus*) tagen — eine Anzahl Arbeiter werden berufen sein, ihr
Urteil abzugeben; über die Zusammensetzung der Enquete wollen
wir nicht sprechen. Wenn die Brünner Genossen noch da wTären —
wrenn die steirischen da wären, könnten sie erzählen, w i e da vor-
gegangen wurde**). Man hat für ganz Mähren, ganz Steiermark ab-
solut keine Vertretung zugelassen, und für Mähren einen Mann
zugelassen, der von den Arbeiterkammern so viel versteht, als ihm
der Graf Belcredi darüber erzählt — (Zurufe: Seine Stellung!)
seine Stellung zu charakteriseren, das kommt mir nicht zu — ein
Brünner Genosse könnte das tun — er soll in direkt abhängiger
Stellung von Belcredi sein. (Zurufe: Hat keine Fühlung mit der
Arbeiterschaft!)
Es wird der Enquete ein Fragebogen vorgelegt werden — wir
wollen den Mitgliedern der Enquete nicht vorgreifen — sie werden
"') Siehe den bereits zitierten Artikel der „Gleichheit" vom 1. März
1889: „Die parlamentarische Enquete über Arbeiterkammern" (Bd. V,
Seite 201).
r~) Für die steirischen Delegierten erzählte dann Gans (Graz), daß für
ganz Steiermark, Kärnten, Krain und Istrien als angeblicher Arbeiterver-
treter ein gewisser Kunz ernannt wurde, weil er im Jahre 1872, als die
Erage der Arbeiterkammern auftauchte, Arbeiter und Sozialdemokrat war,
der aber jetzt Meister und Christlichsozialer sei.
Die Frage der Arbeiterkammern In Hainfeld. 71
ihre Meinung schon sagen. Aber wir wollen hier sagen, wie w i r
es beantworten würden, wenn wir gefragt worden wären.
Da heißt es: Frste Frage: Erscheint die im Gesetzentwurf in
Aussicht genommene Institution als eine richtige und wünschens-
werte Form der Vertretung der wirtschaftlichen und politischen
Interessen der arbeitenden Klasse?
Darauf antwortete unsere Resolution: „Der Parteitag erklärt,
daß der Gesetzentwurf weder wirtschaftlich noch politisch ent-
spricht."
Damit ist die erste Frage erledigt und das ist die Hauptfrage.
Zweite Frage: Ist die zunächst ins Auge gefaßte Überein-
stimmung zu der Zahl und dem Gebietsumfang der bestehenden
Handels- und Gewerbekammern zu empfehlen?
Wir haben uns ja darüber geäußert, daß dieser Gebietsumfang
ein viel zu großer ist, mitunter ein ganz unvernünftiger, weil in
diesen Bezirken Industrien auseinandergerissen und nicht zu-
sammengehörige vereinigt werden in ganz überflüssiger, unklarer
und die Bedeutung einer solchen Institution geradezu fälschender
Weise.
Dritte Frage: Ist die Begründung des aktiven Wahlrechtes durch
die Mitgliedschaft in einer Krankenkasse zutreffend?
Ich glaube, ich meinerseits — die berufenen Genossen werden
es besser verstehen — ich meinerseits wreiß das nicht. Wenn das
Krankenkassengesetz vollständig ausgeführt ist, wird es dem un-
gefähr entsprechen.
Vierte Frage: Wie wäre eine Gruppierung nach Berufskategorien
durchzuführen?
Auf diesen Punkt möchte ich Sie aufmerksam machen, hier liegt
etwas darunter.
Im Ausschusse nämlich — ■ beide Parteien sind nämlich riesig
arbeiterfreundlich — wenn die Linke einen solchen Gesetzentwurf
einbringt, so ist es der Rechten von vornherein unmöglich zu
sagen: nein; nicht einmal die Linke hat zum Arbeiterschutzgesetz
absolut nein gesagt, sondern nur: man muß die Sache vernünftig
machen. (Heiterkeit.) Die Rechte sagte ebenso nicht gleich: die
Kammern passen uns nicht, sondern sie sagte: wir wollen das
Ding ordentlich machen; wir wollen die korporative Gliederung
der Gesellschaft hier ihren Anfang machen lassen — davon werden
Sie im „Vaterland" gelesen haben; „wir wollen die Genossen-
schaften benützen, eine Gruppierung nach Berufen." Da kommen
die Genossenschaften zu ihrer politischen Ausnützung. Sie wissen
nun, was das bedeutet. Wir sind ganz dafür, daß in den von uns
gewünschten Arbeiterkammern eine solche Gliederung auf Grund-
lage von Fachvereinen stattfindet. Aber diese Genossenschaften*)
) Gemeint sind hier die Zwangsgenossenschaftcn der Gewerbetreiben-
den, bei denen auch eine Gehilfenvertretung war. Die Gehilfcnversamm-
lungen und die Oehilfcnaussehiisse wurden unter dem Ausnahmezustand
oft ausgenützt, um einen Frsatz für die verbotenen Organisationen zu
bilden.
72 Von Taaffe bis hadern.
mit ihrer absoluten Rechtlosigkeit der Gehilfen gegenüber den
Meistern — die sind nicht geeignet, eine Basis dafür zu bieten. Sie
sind heute im Schlepptau von der Arbeiterklasse geradezu ent-
gegengesetzten Interessen. Es gibt allerdings auch Genossen-
schaften — wo die Arbeiterpartei überhaupt lebt, ist es auch mög-
lich, einzelne der Gehilfenversammlungen herüberzuziehen und
ihnen ihre wirklichen Interessen zu zeigen — aber im allgemeinen
ist das durchaus nicht der Fall.
Es gehört eine ungeheure Organisation unsererseits dazu, die
wir nicht haben, um die Genossenschaften für uns auszunützen.
Heute, wo alle Vereine zusammengeworfen sind, die Versamm-
lungen aufgelöst werden, sind wir oft gezwungen, eine solche
Gehilfenversammlung zu benützen, um für uns auch einmal zu
agitieren, wie wir eben alles, was wir haben, benützen.
Fünfte Frage: Empfiehlt sich für den Wahlakt das Listen-
skrutinium?
Eine zu spezielle Frage, auf die wir uns nicht einlassen. Aber
hiebei weisen wir auf die offene Wahl hin, die Zettel werden
ebenso viele Denunziationen an die Polizei sein.
Sechste Frage: Erscheint die vorgeschlagene Kompetenz der
Arbeiterkammern richtig begrenzt und sind die Bestimmungen
über die Bestellung der Funktionäre gutzuheißen?
Darüber haben wir gesprochen. Eine Kompetenz haben die
Arbeiterkammern nämlich überhaupt nicht.
Die Kompetenz der Arbeiterkammern ist, Dinge in Beratung
zu ziehen und darüber Resolutionen zu fassen — das können wir
in unseren Versammlungen auch — daß hernach irgend Jemand auf
diese gefaßten Beschlüsse irgend etwas gebe, das ist nirgends
gesagt und es wird darauf wahrscheinlich ebensowenig gegeben
werden wie auf unsere Resolutionen. Es ist weiter gesagt, die
Arbeiterkammern haben das Recht, Fragen zu stellen und Unter-
suchungen einzuleiten über die wirtschaftliche Lage der Arbeiter
— es ist aber nirgends gesagt, daß auch die Behörden und ihre
Organe darauf antworten müssen und daß die Fabrikanten darauf
antworten müssen, ist schon gar nicht gesagt. Und sie werden
auch keine Antwort erhalten, es wird also nicht möglich sein,
ordentliche Untersuchungen in dieser Richtung zu machen. Dann
weiter ist diesen Arbeiterkammern nirgends eine Exekutive
gegeben, es ist unmöglich, die Untersuchung irgendeines gewerb-
lichen Etablissements durchzuführen — wenn die Arbeiterkammer
nur eine Resolution darüber fassen kann, so nützt das absolut
nichts. Unsere Ausführungsorgane, die Gewerbebehörden, sind ja zu
dieser ihrer Funktion erst vor nicht gar langer Zeit gelangt, sie
verstehen daher davon so gut wie nichts und bei den meisten
fehlt auch der gute Wille — einzelne Ausnahmen wollen wir ja
gelten lassen. Auch sind sie viel zu sehr überbürdet mit Arbeiter-
angelegenheiten, sie haben fortwährend Untersuchungen über die
Zustände der Arbeiter zu pflegen, ob nicht etwa irgendwo die Ruhe
und Ordnung gestört wird, auch haben sie zu viel zu tun mit der
Die Frage der ^rbeiterkammern in tiainfeld. 73
Untersuchung des Arbeitsbuches*) das ist nämlich der einzig«
l>unkt unserer Gewerbeordnung, der durchgeführt wird, und zwar
drakonisch • als daß sie noch Zeit hätten für etwas die Arbeiter
wirklich Interessierendes. Nun, wie jeder von Ihnen weih1, fiel diese
Bestimmung, welche den Arbeiterkammern wirklich einen Werl
verleihen würde, im Entwurf, und man muß wirklich zu der Frage
gelangen, ob die Arbeiterschaft Österreichs nicht einfach sagen
soll: behaltet euch eure Arbeiterkanunern, wir pfeifen darauf.
Das wäre allerdings sehr einfach, wir sind aber verpflichtet.
nicht nur zu sagen, was wir nicht wollen, sondern auch zu sagen,
was wir wollen, verpflichtet, nicht etwa deswegen, weil wir glauben,
daß wir dann das erreichen, was wir angesprochen haben, sondern,
weil wir der Arbeiterschaft, die noch nicht organisiert ist, die sich
noch nicht in unseren Bahnen bewegt, auch beweisen und erklären
müssen, warum wir das gerade nicht wollen und weil wir auch
die Ziele angeben müssen, denen wir zusteuern. Eine solche Organi-
sation, die ich Ihnen früher nur in einzelnen Zügen geschildert habe,
ist in dem ausgezeichneten Arbeiterschutzgesetzentwurf, welchen
unsere Genossen im Deutschen Reichstag eingebracht haben, in
allen Einzelheiten ausgeführt; sie hätte für uns einen ungeheuren
Wert, und daß dies auch unsere Gegner anerkennen, beweist eine
Szene im Deutschen Reichstag, die etwa folgendermaßen verlief:
Abgeordneter Bebel, der auseinandersetzte, wie eine solche Organi-
sation beschaffen sein müßte, sagte unter anderem: das wollen
wir und sonst nichts von euch, worauf ihm Minister Böttcher zurief:
„das glauben wir, dann seid ihr fertig!" Dann sind eben die Vor-
bereitungen geschaffen, um alles zu erreichen, was wir wollen, wenn
wir in Bezirke abgeteilt sind, wenn wir unsere Angelegenheiten
selbständig verwalten, wenn wir Gelegenheit haben, unsere Leute
zu schulen in der Verwaltung und ihre Interessen mit einer gewissen
Autorität zu wahren — dann sollen sich die Gewerbebehörden und
andere darauf gefaßt machen, daß die Interessen der Arbeiterschaft
eine sehr gute Vertretung haben werden. Ich habe nur einzelnes
fragmentarisch angedeutet, aber das Eine glaube ich noch sagen zu
dürfen, daß alle diejenigen, welche unseren Verhandlungen bei-
gewohnt haben, die Überzeugung mitnehmen werden, daß diese
Frage von der Arbeiterschaft ganz objektiv und ruhig verhandelt
wird; der einzige Gesichtspunkt, der uns leitet, ist eben der, was
für die Organisation der Arbeiterschaft nützlich und förderlich ist,
alles übrige interessiert uns nicht. (Lebhafter Beifall.)
Ich möchte nur noch ein paar Worte dem beifügen, was Genosse
Körber aus Prag erzählt hat**). Ich zweifle gar nicht, und das
*) Ohne Arbeitsbuch durfte kein Arbeiter aufgenommen werden. Das
Arbeitsbuch wurde oft durch geheime Zeichen als Steckbrief gegen die
Arbeiter ausgenützt.
**) Nach Adler sprach dann Eduard Rieger (Kratzau), der nachmalige
Abgeordnete, dann Wilhelm Körber (Prag), der erzählte, daß die Jung-
74 Von Taaffe bis Badcni.
zeigt, wie es heute in unserem Parlament und mit unseren Parteien
aussieht, daß die tschechischen Abgeordneten, sowohl die Alt- als
die Jungtschechen ganz dafür wären, daß die Arbeiterkammern ein-
geführt werden, obwohl sie sich an der Debatte seinerzeit sehr
wenig beteiligt haben und ihre Wortführer nur allerlei Flausen
gemacht haben. Aber dem möchte ich entgegentreten, daß sich unter
den Genossen die Ansicht bildet, daß, wenn die Arbeiter zu den
Arbeiterkammern nein sagen, sie dann nicht eingeführt werden.
Wir werden uns durch solche Redensarten nicht bestimmen lassen.
Die Arbeiter sagen seit 20 Jahren nein zu unserem Vereinsrecht,
nein zu unserem Versammlungsgesetz und sie schreien nein zu
unseren Ausnahmsgesetzen, und trotzdem haben wir alle diese
Gesetze. Glauben Sie mir, es ist der Regierung völlig gleichgültig,
wie wir darüber urteilen. Den Parteien liegt ebensowenig wie der
Regierung an der Einführung der Arbeiterkammern, sie wollen nur,
daß sie sie in Vorschlag bringen, um unter der Arbeiterschaft für
sich eine günstige Meinung zu erzeugen. Es handelt sich also um
einen Gimpelfang. Es fehlen dazu eben nur die Gimpel. (Lebhafter
Beifall.)
So ist die Sache, und das muß auch, das soll auch gesagt werden.
Es ist nicht wahr, daß die Arbeiter einen Einfluß hätten auf die
Gesetzgebung, auch nur in der Weise, daß man ihre Wünsche
irgendwie berücksichtigte. Das ist nicht wahr. Wenn das wahr
wäre, dann müßte die Regierung nach unseren Versammlungen und
unserem Parteitag nicht sagen, wir wollen die Arbeiterkammern
nicht, sondern sie müßte sagen: dann werden wir den Arbeiter-
kammern einen ordentlichen Inhalt geben. Das tut die Regierung
nicht, und die Wünsche der Arbeiter haben auf sie absolut keinen
Einfluß.
Daß die Agitation in Prag so betrieben wird von den tschechi-
schen Abgeordneten, ist höchst interessant. Es zeigt, daß sie ebenso
wie die deutschen einen Brücke suchen, ein Mittel mit den Arbeitern
in irgendeine Berührung zu treten, und gerade in Prag ist das un-
geheuer wichtig — ■ ich hoffe, ich werde keinem der anwesenden
slawischen Arbeiter nahetreten, er wird wissen, was ich meine
und worauf ich anspiele — es ist wahr, daß die slawischen Arbeiter
gerade auch in Prag bis zu einem hohen Grade bis in letzter Zeit
im Schlepptau der jungtschechischen Partei waren (Körber:
wäre n). Gerade noch in Resolutionen der letzten Zeit ist ein
gewisses Vertrauen zur jungtschechischen Partei zum Vorschein
gekommen — noch immer die alte Illusion der Petitionen! — oft in
tschcchen wie die Alttschechen sich bemühen, die Arbeiter für die
Arbeiterkammern zu gewinnen, dann Dr. Adolf Brau n, der bekannte
Theoretiker und Praktiker des Gewerkschaftswesens, der Schwager
Victor Adlers, der schon an der „Gleichheit" mitarbeitete und später
Redakteur der „Arbeiter-Zeitung", dann Redakteur in Nürnberg und
schließlich, nach dem Umsturz, Mitglied des Deutschen Reichstags war.
Dann kam wieder Adler zu Wort.
Die Präge der \rbciterkammern in Hainfeld. 75
ganz merkwürdigen Formen — ich habe gelesen, daß eine Ver-
sammlung von Arbeitern beschloß, eine Petition an das Abgeord-
netenhaus zu richten, gelegentlich der Feier des 40jährigen
Jubiläums das allgemeine Wahlrecht einzuführen. (Körber: Das ist
eine Fälschung!) Also ist das erlogen gewesen.
Aber es kommen auch Züge von solch rührender Naivität vor, dal.»
wir uns darüber wundern müssen. Durch die rührige Agitation und
durch die energische Arbeit unserer slawischen Genossen fangen die
tschechischen Arbeiter an, sich der Fühlung mit den Jungtschechen
allmählich zu entziehen — sie verlieren allmählich die Fühlung, und
nach und nach gibt es eine selbständige tschechische sozial-
demokratische Partei, welche von den jungtschechischen Abgeord-
neten nichts wissen will, wie die deutschen Arbeiter nichts von
ihren Abgeordneten. Dies merken die tschechischen Abgeordneten
und benützen jedes Mittel, um sie wiederum in ihre Schlingen
hineinzubringen; es ist gut hier darauf aufmerksam zu machen.
•Genosse R e s e 1*) macht mich darauf aufmerksam, daß hier nicht
erwähnt wurde, daß auch ein Passus vorkommt: „daß diejenigen,
die in UntersuchuT^s- oder Strafhaft sind, von der Wählbarkeit
ausgeschlossen sind." Nun, Genossen, das ist ein sehr wichtiger
Paragraph. Sie wissen, daß man bei uns mit der Untersuchungs-
haft nicht viel Umstände macht. Es wäre sehr gut, besonders wie
es in Böhmen üblich ist. wie seinerzeit bei Verhängung des Aus-
nahmezustandes einfach a!!e Listen der Ausschüsse der Fach-
vereine hergenommen wurden und die Leute von A bis Z aus-
gewiesen wurden — ohne zu fragen, was sie getan haben — man
fragte einfach, ob er nach Wien zuständig ist, oder nicht; — ebenso
"können dann, wenn eine solche Liste aufgestellt wird, 25 bis 30
Leute in Untersuchungshaft gesteckt werden, wenn es gerade nicht
paßt, daß sie gewählt werden. (Sehr richtig!) Und ich bin über-
zeugt, daß wir noch Richter dafür finden werden; denn bei jedem
findet sich doch ein Anhaltspunkt. Vielleicht hat er eine Nummer
des »Rovnost« oder »Vek Svobody«**) bei sich. Dies genügt. Der
Geheimbund wird dann schon gesucht werden. Nach der Wahl
entläßt man sie wieder und das Recht ist wieder hergestellt. (Ge-
lächter.) Ich selbst bei meinem Geheimbundprozeß bemühe mich
jetzt, bei drei oder vier Vernehmungen zu erfahren, warum der
Prozeß gemacht wird; man nennt mir immer einen Paragraph. Ich
sage: Aber auf Grund welcher Tatsachen? Da erwidert man mir:
Ja, die Tatsachen, die suchen wir eben. (Heiterkeit.) Gerade
so gut könnte es da sein. Mich sperrt man nicht ein. Ich bin ein
Doktor, den sperrt man nicht gern ein. Aber da könnte man die
ganze Kandidatenliste einsperren. Daß sie überhaupt auf dieselbe
Liste geschrieben wurde, für eine Wahl, alle zusammen, das ist
schon ein sehr wichtiges Indizium, daß ein Geheimbund existiert.
) haus Resel, der nachmalige Abgeordnete von Graz, vertrat damals
noch St. Polten. Kr ist im Jahre 1928 gestorben.
I Zwei tschechische Parteiblätter.
76 Von Taaffe bis Badeni
Die Liberalen und das allgemeine
Wahlrecht.
„A r b e i t e r - Z e i t u n g" vom 31. Oktober 189 0*).
v. a. Es geschehen Zeichen und Wunder. Die Liberalen Öster-
reichs fangen an für das allgemeine Wahlrecht zu
schwärmen. Es ist noch nicht lange her, daß Herr von P 1 e n e r
offiziell und feierlich sich gegen jede derartige Ausdehnung des
Wahlrechtes ausgesprochen und seine Stellungnahme unter anderem
damit motivierte, daß in England gerade das „verrottetste
Wahlsystem" die größten Staatsmänner gezeugt. Herr von
P 1 e n e r rechnet sich offenbar darum zu den „größten Staats-
männern", weil er auch seinen Parlamentssitz einem so verrotteten
Wahlsystem verdankt**). Aber die ganze liberale Staatsmännerei
erlebt böse Tage. Gegen ihren Willen hat der Kleinbürger das
Wahlrecht bekommen und nützt es nun gegen sie aus. Ein städti-
scher Bezirk um den anderen geht an die „Antiliberalen" verloren.
Die letzten Landtagswahlen in Niederösterreich haben die Liberalen
eine erhebliche Anzahl von den Sitzen gekostet***), und wenn der
nationale Rummel in Böhmen, der zum letzten Male sein Spektakel-
stück aufführt, vorüber sein wird, werden auch dort die sozialen
Gegensätze in den Vordergrund treten.
Die nächsten Reichsratswahlen werden wahrscheinlich den
Liberalen noch mehr ernstliche Verluste bringen und einer ganz
erklecklichen Anzahl von „Antisemiten", „Antiliberalen", „Deutsch-
nationalen" oder „Christlichsozialen", oder welche Namen der
kleinbürgerliche Wurstkessel sonst noch führt, zu Parlaments-
sitzen verhelfen. Was nützt aber die Liberalen ihr Monopol auf
das Wahlrecht, wenn andere davon profitieren? Not lehrt beten,
in der Todesangst werden die Liberalen — liberal. Eine Anzahl
von Vereinen, von liberalen Zeitungen fängt an, das allgemeine
Wahlrecht zu erörtern, ja die „Neue Freie Presse" in höchsteigener
Person hat — so um die Zeit des 1. Mai herum — davon zu
sprechen nicht unter ihrer Würde gehalten. Der Arbeiter, der kluge,
*) Die Liberalen, die eigentliche Partei des Großbürgertums, die bei
jeder Wahlrechtserweiterung- Mandate einbüßten, waren die borniertesten
Feinde des allgemeinen Wahlrechts. Da sie aber auch die intellektuellen
Schichten vertraten, mußten sie manchmal so tun, als ob sie für das all-
gemeine Wahlrecht wären. Das taten sie gewöhnlich so, daß sie für die
Volksrechte in — anderen Ländern eintraten. Da mußte sie Adler an-
nageln. Siehe auch den Artikel vom 2. Juni 1893 über die gleiche Frage.
rvr) Ernst v. Plener war Abgeordneter der Handelskammer von
Eger. Die „Neue Freie Presse" nannte ihn im Februar 1889 bewundernd den
„Führer mit dem Helmbusc h". Das Wort blieb als Spottwort.
") Im Oktober 1890 fanden die Wahlen zum Landtag statt, bei denen
zum erstenmal die Fünfguldenmänner wählten. Die Liberalen behielten nur
noch 5 Mandate in den Landgemeinden, 18 in den Städten (von 28 Land-
und 29 Stadtmandaten) sowie die Mandate in den Handelskammern und
im Großgrundbesitz.
Die Liberalen und das allgemeine Wahlrecht. 77
der verständige, der aufgeklärte Arbeiter. Da diese Leute vom
ganzen politischen Leben nichts sehen als den „Antisemitismus",
genau wie das hypnotisierte Mulm einzig den Kreidestrich, ver-
gessen sie alles über der unleugbaren Tatsache, dal.» der Arbeiter
den Antisemiten ebenso feindlich gegenübersteht wie ihnen selber,
und sie suchen aus der gemeinsamen Gegnerschaft eine Freund-
schaft oder wenigstens die Möglichkeit eines Bündnisses heraus-
zutüfteln. Sie spüren in der Arbeiterbewegung etwas, was ihnen
gänzlich abgeht; Jugend, Mut, Kraft, Begeisterung — und sie
wären nicht abgeneigt, an diesem Feuer ihre Suppe zu kochen.
Nicht allein die Furcht der Liberalen aber ist es, was das all-
gemeine Wahlrecht nach und nach zum Gegenstand der öffent-
lichen Diskussion macht. Noch eine andere Tatsache wirkt mächtig
in demselben Sinne. Das Rumpfparlament, welches sich
österreichisches Abgeordnetenhaus nennt, war niemals eine Volks-
vertretung. Aber es hat Zeiten gegeben, wo es sich bei einiger
Phantasie wenigstens einbilden konnte, es zu sein. Heute aber ist
die Arbeiterklasse Österreichs erwacht. Mit Kraft und Entschieden-
heit tritt sie auf den Kampfplatz; die Sozialdemokratie macht täg-
lich gewaltige Fortschritte; der Klassenkampf fängt an, deutlich zu
werden und europäische Formen anzunehmen. Immer häufiger
wiederholt sich die Erscheinung, daß die parlamentarischen Rede-
übungen an Wichtigkeit im öffentlichen Bewußtsein weit zurück-
treten gegen das, was da draußen vorgeht; immer deutlicher wird
es, daß die Arbeiterklasse ein Machtfaktor im politischen Leben
Österreichs geworden ist. Immer klarer wird es also auch, daß die
Bezeichnung des Abgeordnetenhauses als „Volksvertretung" eine
heute von niemand geglaubte konventionelle Lüge ist. Das ist es,
was bei allen Parteien jenes Gefühl der Unsicherheit und Unbe-
haglichkeit erzeugt, woran sie alle kranken. Und diese Umstände
bringen auch das allgemeine Wahlrecht zur Diskussion und werden
es nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden lassen.
Dazu kommt noch, daß soeben in Belgien unter ganz eigentüm-
lichen Verhältnissen ein Teil der Liberalen sich mit den Sozialisten
verbündet hat, um gemeinsam die klerikale Majorität zu stürzen,
um das allgemeine Wahlrecht zu gewinnen. Da mag denn den
Liberalen Österreichs ein ähnliches Bündnis als Ziel vorschweben.
Das Wahlrecht ist ein Kampfmittel, welches die österreichische
Arbeiterschaft schmerzlich entbehrt. Für die sozialdemokratische
Agitation, für die Organisation der Arbeiterklasse wäre mit der
Erreichung des allgemeinen Wahlrechts sehr Erhebliches gewonnen,
und es verlohnt deshalb der Mühe, uns die Leute näher anzusehen,
die uns dieses kostbare Geschenk anbieten. Wir, für unsere Person,
gestehen offen, daß wir ein ehrliches, offenes und klares Bündnis
zur Erreichung ganz bestimmter politischer Ziele durchaus nicht
von vornherein verwerfen; dazu sind wir nicht doktrinär genug.
Es ist sehr wohl möglich, daß zwei verschiedene Parteien ein be-
grenztes Stück Weges zusammengehen, ohne ihrer Würde irgend
etwas zu vergeben.
78 Von Taaffe bis Badeni.
Aber zu einem politischen Vertrag, wie zu jedem anderen,
gehören vor allem zwei Dinge: jeder Teil muß überzeugt sein, daß
der andere ehrlich will, was er verspricht, und ebenso, daß er
leisten kann, was er verspricht.
Was nun die Ehrlichkeit anbelangt. Daß der österreichische
Liberalismus die verlogenste Erscheinung im modernen politischen
Leben ist, haben wir nicht erst zu beweisen, sondern nur in dem
einzelnen Falle darzutun. Seine Doppelzüngigkeit wird nur noch
von seiner Gedankenlosigkeit überboten. In demselben Augenblick,
wo die liberale Presse sich an die Arbeiterklasse heranbiedert und
vom allgemeinen Wahlrecht zu sprechen beginnt, tobt im böhmi-
schen Landtag der Kampf um den sogenannten „Ausgleich", der
nichts anderes zur Voraussetzung hat als die V e r e w i g u n g
der Vorrechte des Großgrundbesitzes, als die
feierliche Einsetzung einer Handvoll Feudalherren zu Schieds-
richtern zwischen zwei Völkern. Derselbe Liberalismus, der es
wagt, das allgemeine Wahlrecht im Munde zu führen, setzt sich
dort für das erbliche Privilegium des Grundadels ein, will es er-
weitern und kräftigen.
Aber Böhmen ist weit. Was geschieht in Wien? Hier wird ein
Gemeindestatut für die künftige Großkor:, mune ausgearbeitet*). Die
Regierung zeigt plötzlich ein sehr verdächtiges Bedürfnis nach
„Fortschritt".^ Die Liberalen „wittern Morgenluft" und die Regie-
rung verfolgt großartige militärische Pläne, worüber Lueger weis-
lich schweigt. Davon ein andermal. Aber das neue Statut bedingt
eine neue Wahlordnung. Und in denselben Blättern, die sich den
Schein geben, das allgemeine Wahlrecht zu befürworten, wird
schamlos und unverhüllt für die Beibehaltung der Wahlkörper und
für alle die wahlgeometrischen Künsteleien und Kniffe eingetreten,
welche den Liberalen die Majorität sichern sollen. Und da soll
irgendein Mensch an die politische Ehrlichkeit dieser Kumpane
glauben!
Aber nehmen wir einen Moment an, die liberalen Wortführer
wären ebenso aufrichtig als sie verlogen sind, sie wären politische
Naturburschen, die in ihrer Naivität ihre eigenen Widersprüche
nicht merken, und prüfen wir, was sie leisten könnten, wenn sie
wollten. Da wäre es denn eine gänzliche Verkennung der politischen
Verhältnisse Österreichs und ihrer Geschichte, zu glauben, die
liberale Partei hätte die Macht, eine so gründliche Veränderung im
Staatsleben herbeizuführen, wie sie die Einführung des allgemeinen
,r) Es handelte sich um die Vereinigung der Vororte mit den bisherigen
zehn Wiener Bezirken zu einer Gemeinde Groß-Wien mit neunzehn Be-
zirken. Am 14. Oktober 1890 haue die Regierung das neue Statut für Groß-
Wien dem Landtag vorgelegt. Am 20. Dezember wurde es sanktioniert.
Im Jahre 1899 wurde dann vom zweiten Bezirk (Leopoldstadt) die
Brigittenau als zwanzigster Bezirk losgetrennt und am 10. Jänner 1905
kam dann Floridsdorf als einundzwanzigster Bezirk zu Wien. (Siehe die
Rede in der Sitzung des niederösterreichischen Landtages vom 16 .Juli 1902
über die damals unterbliebene Eingemeindung von Floridsdorf.)
Die Liberalen und das allgemeine Wahlrecht. 79
Wahlrechtes bedeuten würde. Österreich wird nicht vom Parla-
ment regiert. Nicht das Parlament macht die Regierung, sondern
die Regierung, die jeweilig das „Vertrauen der Krone" genießt,
macht sich ihr Parlament znrecht. Und wer ist SO naiv, zu glauben,
irgendeine Regierung würde freiwillig auf ein so bequemes
Instrument verzichten, wie es der österreichische Parlamentaris-
mus mit seinen allzeit getreuen und zimmerrein gedrillten Groß-
grundbesitzern ist. Nein, die ohnmächtige Schwäche des Liberalis-
mus ist der einzige, aber allerdings schwerwiegende Milderungs-
grund, den er bei der Beurteilung seiner Verbrechen geltend machen
kann. Aber da dem so ist, welchen Wert haben die liebenswürdigen
Versprechungen der Liberalen? Was hat die Arbeiterschaft davon,
daß der Liberalismus plötzlich sein demokratisches Herz entdeckt
hat? „Was kannst du armer Teufel bieten?"
Nein, die Arbeiterklasse Österreichs muß die ganze Arbeit
allein besorgen. Sie, und sie allein wird sich das Wahlrecht
erkämpfen; sie wird zu einer Macht heranwachsen, der man die
Tore des Parlaments wird einfach nicht mehr versperren können.
Über die Trümmer der alten Parteien, der liberalen wie der anti-
liberalen, geht ihr Weg. Ihr Wachstum, ihr Erstarken wird der
Anlaß werden, daß endlich die leblosen Überbleibsel der ver-
gangenen Zeiten des Feudalstaates in die längst verdiente Rumpel-
kammer wandern und der Boden geebnet wird für den Kampf
unserer Zeit. Die Arbeiterschaft Österreichs wird sich politische
Rechte erzwingen müssen, niemals wird man sie ihr
gewähren.
Sollten aber die Liberalen wirklich das Bedürfnis fühlen, eine
Probe abzulegen von der Echtheit ihrer Gesinnung, so wollen wir
ihnen eine prächtige Gelegenheit dazu verraten. Wir hoffen, daß
Dr. Krona wette r*), der sich mit einigen mehr oder minder auf-
richtigen Schwärmern für die Ideale der alten, ehrlichen, bürger-
lichen Demokratie bemüht, seinen alten Antrag auf Revision
der Verfassung im Sinne des allgemeinen Wahl-
rechtes, den er vor jetzt fünf Jahren eingebracht, auf die
Tagesordnung wird setzen lassen. Da mögen denn die Herren ihre
Künste auf dem frischgespannten liberalen Seile zeigen. Aber wir
fürchten, Pleners Helmbusch weht dann — im Büffet.
Ist ihnen aber diese Probe zu hart, so gibt es weit billigere
(Methoden, die Waschechtheit des Liberalismus zu zeigen. Es gibt
eine Anzahl von Reformen, die so dringend sind, deren Notwendig-
keit so selbstverständlich und allgemein anerkannt ist, daß, wenn die
Liberalen ernstlich wollen, niemand zu widersprechen wagen wird.
Wir nennen nur : die Aufhebung der Ausnahme-
verfügungen, die Freigebung der Kolportage, die
Aufhebung des objektiven Verfahrens. Lauter Dinge,
die durchaus dem liberalen Programm entsprechen, und die selbst in
diesem Abgeordnetenhaus durchzusetzen sind, wenn sie wollen.
*) Über Kronawetter Näheres Seite 107, Fußnote.
SO Von Taaffe bis Badcni.
Ein wirksameres Wahlnianüver können wir den Liberalen nicht
empfehlen.
Berichte an die Internationale*).
An den internationalen Sozialistenkongreß zu Brüssel 1891.
Wenige Monate vor dem Internationalen Arbeiterkongreß zu
Paris, in den ersten Tagen des Jahres 1889, vollzog sich auf dem
Parteitag zu Hainfeld die Neukonstituierung der öster-
reichischen Arbeiterpartei. Nach einigen Jahren des Stillstandes, ja
des Rückganges, hatte die Partei sich wiedergefunden; die Spal-
tungen innerhalb der sozialistisch denkenden Arbeiterschaft hatten
wieder einer festen, einheitlichen Organisation mit klaren, genau
umschriebenen Prinzipien und einem wohldurchdachten Arbeits-
programm Platz gemacht. Der in einem politisch zurückgebliebenen,
despotisch regierten Lande so begreifliche und naheliegende Irrtum,
auf jede politische Tätigkeit zu verzichten und die ganze Hoffnung
auf den Ausbruch der durch äußersten Druck zur Verzweiflung ge-
steigerten Unzufriedenheit des Volkes zu setzen, war überwunden
und alle Elemente der klassenbewußten Arbeiterschaft hatten sich
auf dem Boden der sozialdemokratischen Prinzipien, welchen
Karl Marx die theoretische Grundlage gegeben, zusammenge-
funden. Eine politische Partei, welche wreiß, daß ihr revolutionäres
Endziel, der Übergang der Arbeitsmittel in den gemeinschaftlichen
Besitz der Gesamtheit des arbeitenden Volkes, der Abschluß einer
notwendigen geschichtlichen Entwicklung ist, deren Träger nui das
klassenbewußte Proletariat selbst sein kann, muß, wie unser H a i n-
felder Programm es ausdrückt, seine eigentliche Aufgabe
darin sehen, „das Proletariat politisch zu organisieren, es mit dem
Bewußtsein seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen, es geistig
und physisch kampffähig zu machen und zu erhalten".
Neben der eigentlichen prinzipiellen sozialdemokratischen Pro-
paganda ist also der Kampf um die Erringung von politischer Macht
*) Im Gegensatz zu dem Bericht an den Londoner Internationalen
Sozialistenkongreß vom Jahre 1896, der sich vornehmlich mit der Wahl-
rechtsbewegung beschäftigt, ist in diesen beiden ersten Berichten nach
Brüssel und nach Zürich vom Wahlrechtskampf direkt weniger die Rede.
Trotzdem aber sollen auch diese beiden Berichte hier ihre Stelle finden —
einmal, weil sie uns den Zustand Österreichs schildern, in dem die Arbeiter
in den Wahlrechtskampf eintraten, dann auch, weil da doch einiges vor-
weggenommen ist, was zum Verständnis des Kampfes später erklärt
werden müßte.
Der Internationale Sozialistenkongreß in Brüssel fand vom 16. bis
22. August 1891 statt. (Siehe den Artikel „Zum Brüsseler Kongreß" in der
„Arbeiter-Zeitung" vom 28. August 1891. Bd. VII, Seite 64 ff.) Der Züricher
Kongreß war vom 6. bis 12. April 1893. (Siehe Bd. VII, Seite 5 ff . und 11 ff.),
der Kongreß in London war vom 27. Juli bis 1. August 1896. (Bd. VII,
Seite 69 ff.)
Der Bericht an den Londoner Kongreß wird an seiner Stelle (Seite 186 ff.)
eingeschaltet werden.
Bericht an die Internationale. **i
durch das Proletariat und der Kampf für die bessere Gestaltung
der physischen Lebensbedingungen für die unmittelbare Gegenwart
zu führen und alle drei Momente sind untrennbar miteinander ver-
knüpft. In jeder dieser Richtungen begegnet die Sozialdemokratie
in Österreich Schwierigkeiten, die gewiß in keinem anderen Staat
Europas größer sind. Von der Verschiedenheit der Nationalität
wollen wir nicht sprechen; sie bewirkt nur eine technische
Schwierigkeit, welche in dem Grade überwunden ist, daß es heute
nur eine einzige österreichische sozialdemokratische Partei gibt,
in welcher die klassenbewußten Proletarier deutscher, tschechischer,
polnischer, italienischer und slowenischer Zunge brüderlich ver-
einigt sind. Nationaler Chauvinismus, der den Lebensinhalt der
Bourgeoispolitik Österreichs ausmacht, hat unsere Partei niemals
gehemmt; sie war stets eine internationale Partei im besten
Sinne des Wortes.
Größer ist die Schwierigkeit, welche in der Verschiedenheit der
Stufe ökonomischer Entwicklung liegt. Neben großen Gebieten, wo
die Ausbeutung mit den modernsten Formen großkapitalistischer
Produktion arbeitet, finden wir andere, in welchen noch der Feu-
dalismus seine patriarchalischen Ausbeutungsmethoden üben kann,
und solche, wo ein Bauernstand, der noch halb in der Naturalwirt-
schaft steckt, eben erst beginnt vom Kapitalismus bedrängt zu
werden. Dem entspricht der politische Zustand Österreichs. Neben
Elementen einer Bourgois-Konstitution liberalen Zuschnitts finden
sich feudale Reste von solcher Macht und Ausdehnung, daß Öster-
reich politisch nicht als moderner europäischer Staat bezeichnet
werden kann.
Die herrschenden Klassen, Feudaladel und Bourgeoisie, haben
zur Verteidigung ihrer Klasseninteressen gegen das erwachende
Proletariat nicht nur die Waffen des modernen Liberalismus, son-
dern ebenso das ganze Arsenal des Polizeistaates, wie die Fesseln,
in welchen die jahrhundertelange Herrschaft der Kirche das Volk
erhielt, zu ihrer Verfügung. Alle Mittel der Propaganda und Organi-
sation, Vereinsrecht, Versammlungsrecht, Preßfreiheit, Koalitions-
recht, sind nur in so beschränkter und überdies zweideutiger Form
gegeben, daß sie von der im Dienste der Ausbeuterklassen stehen-
den Verwaltung ohne weiteres aus einem Hebel der Befreiung in
Werkzeuge der Verknechtung umgefälscht werden können. In Ein-
zelheiten an dieser Stelle einzugehen, wäre gänzlich wertlos, da es
unmöglich ist, dem Ausländer die Kette von Polizeikniffen klarzu-
machen, als welche die berühmte „Freiheit wie in Österreich*)" sich
*) Der Spruch „Freiheit wie in Österreich" stammt aus dem
Jahre 1661, aus dem preußisehen VerfassuiiKskonflikt. Österreich hatte den
Krie^ in Italien und damit die blühende Provinz Lombardei verloren. Das
Budget für 1860 hatte ein Defizit von 280 Millionen Gulden. Franz Josef
suchte die Öffentlichkeit, die eine Verfassung verlangte, zuerst mit dem
Schwindel des verstärkten Reichsrates und seinen ernannten Mitgliedern
zu übertölpeln, dann mit dem Oktoberdiplom vorn 20. Oktober 1*60, <jas
den Schwerpunkt in die Landtage verlebte. Aber die Kapitalisten, die dem
Adler, Briefe. X. Bd. 6
32 Von Taaffe bis Badoni.
in Wirklichkeit darstellt. Dazu aber kommt, daß wir in Österreich
jenes wichtigsten Mittels der Agitation, jenes wertvollsten Mali-
stabes der eigenen Kraft entbehren, welches im Wahlrecht liegt. Das
Wahlrecht ist an eine direkte Abgabe von 5 Gulden geknüpft und
schließt den eigentlichen Lohnarbeiter vollständig aus. Dadurch wird
es notwendig, daß in dem Programm der österreichischen Sozial-
demokratie Forderungen Platz finden, die in anderen Ländern als
selbstverständliche und eingelebte Bedingungen des öffentlichen
Lebens längst verwirklicht sind.
Die fortwährend schwankende Politik der Regierung nahm der
Arbeiterbewegung gegenüber in den Jahren 1883 bis 1886 einen
grausamen, ja geradezu blutdürstigen Charakter an. Einige an-
archistische Gewaltakte, denen später mehrere kindische „Dynamit-
attentate" und dergleichen folgten, deren harmlose Verüber offen-
kundig die naiven Opfer von Lockspitzeln waren, gaben den Anlaß,
dem Parlament ohne namhaften Widerstand die Genehmigung von
zwei Ausnahmeverordnungen*) abzugewinnen, deren eine
alle „anarchistischen Delikte" den Schwurgerichten entzog und be-
sonderen Ausnahmsgerichtshöfen zuteilte, deren zweite für Wien
und die Industriebezirke Niederösterreichs alle politischen Rechte
suspendierte und insbesondere die Ausweisung ohne richterliches
Urteil, auf bloßen Ukas der Polizei hin, ermöglichte. In Wien, dem
einen großen Zentrum der Arbeiterbewegung, wurde nun die Or-
ganisation auf Grund dieser Regierungsverordnung mit einem
Schlage zertrümmert, Hunderte von Arbeitern ausgewiesen, die
Fachvereine aufgelöst oder zur freiwilligen Sistierung gezwungen.
In dem anderen größten Industriezentrum, in Böhmen, geschah ganz
dasselbe, ohne auch nur das Feigenblatt der „gesetzlichen" Be-
bankrotten Staate Geld borgen sollten, wollten, daß ihre Klassengenossen
die Finanzen Österreichs kontrollieren. Dazu kam, daß Franz Josef nach
dem Verlust der Lombardei wieder in Deutschland seine Macht zu ver-
stärken suchte. Um Preußen im Ansehen des deutschen Bürgertums zu
verdrängen, da im Jahre 1861 nach dem Tode des geisteskranken Fried-
rich Wilhelm IV. der neue König Wilhelm I. eine liberale Regierung be-
rufen hatte, entschloß sich Franz Josef, auch eine Regierung des Groß-
bürgertums einzusetzen. Am 4. Februar 1861 wurde Freiherr v. Schmer-
ling, der 1848 in Frankfurt Reichsminister gewesen war, Ministerpräsi-
dent und am 26. Februar wurde mit dem Februarpatent die Verfassung
kundgemacht, die einen von den Landtagen gewählten Reichsrat ein-
setzte und das Wahlrecht für die Landtage den vier Kurien übertrug,
die bis zur Badenischen fünften Kurie bestanden; nur war in den beiden
letzten Kurien das Wahlrecht an eine Steuerleistung von 10 bis 20 Gulden
geknüpft, so daß nur die großen Steuerzahler das Wahlrecht hatten.
Die österreichische Großbourgeoisie feierte Schmerling als Vater der
Verfassung, die preußische Bourgeoisie, die bald danach von Bismarck
im Verfassungskonflikt an die Wand gedrückt wurde, beneidete
ihre österreichischen Klassengenossen und sehnte sich nach der .,F r e i-
heit wie in Österreich" — die in Wirklichkeit eine Scheinfreiheit
auch für die Bourgeoisie war, wie die Verfassung eine Scheinverfassung.
*) Siehe im sechsten Bande dieser Schriften („Aufbau der Sozialdemo-
kratie") das Kapitel ..Der Kampf gegen den Terror", Seite 31 ff.
Bericht atl die Internationale. 53
Stimmungen für nötig ZU finden. Dort wurden 1 hinderte von Ar-
beitern, deren ganzes Verbrechen oft nur im Besitz eines öffentlich
erscheinenden Arbeiterblattes bestand, gefesselt nach Prag ge-
schleppt, um dort nach monatelanger Untersuchungshaft vor einen
Gerichtshof gestellt zu werden, der, trotzdem er von der noch heute
geltenden Fiktion eines über ganz Österreich sich erstreckenden
sozialistischen Qeheimbundes ausging, oft nicht imstande war, zu
verurteilen. Dabei wurden von Zeit zu Zeit größere „Anarchisten-
prozesse" arrangiert, deren Hauptheiden es gewöhnlich gelang,
rechtzeitig zu entfliehen, während ihre armen, verführten „Mit-
schuldigen", die sie ans Messer geliefert, ihre Leichtgläubigkeit
mit acht-, zehn-, zwölf-, ja zwanzigjähriger Kerkerstrafe büßen
mußten. Die Mehrzahl dieser Unglücklichen, die durchaus in dem
Glauben gehandelt, der Sache des Proletariats zu nützen, sind be-
reits an Gefängnisskorbut und Tuberkulose zugrunde gegangen. Es
gibt Leute, welche für den Versuch der Verbreitung aufreizender
Flugschriften auf diese Weise der trockenen Guillotine verfallen
sind.
Von den herrschenden Parteien war selbstverständlich nicht die
geringste Hilfe zu erwarten. Was in Österreich innere Politik heißt,
ist der Kampf der drei Faktoren: Hochadel, Kirche und Bourgeoisie,
um jenen Rest von Macht, welchen der alles übersteigende Einfluß
der Krone übrig läßt. Dabei werden die nationalen Streitigkeiten
als Maske benützt und durch zeitweilige Bündnisse die Sachlage
noch mehr verdunkelt. Die Bauernschaft ist politisch der Schwanz
der Klerikalen; das Kleinbürgertum befindet sich auf dem Wege
zur Proletarisierung in jener Phase, wo es, vor sich den Abgrund
sehend, Hilfe in der Vergangenheit sucht, reaktionär wird und
jedem reaktionären Schlagwort willenlos anheimfällt.
Alle diese Faktoren gebärden sich „arbeiterfreundlich", stehen
aber allen Forderungen der Arbeiter und insbesondere ihrer Or-
ganisation feindlich gegenüber. Untereinander in grimmigster Fehde,
bilden sie dem Proletariat gegenüber in der Tat nur „eine einzige
reaktionäre Masse". Die Sozialdemokraten Österreichs waren ganz
allein auf sich selbst angewiesen. Auch für die liberale Bourgeoisie
Österreichs bildet die politische Freiheit längst keinen ernstlichen
Programmpunkt mehr.
Unter solchen Umständen war die doppelte Aufgabe der Agi-
tation für das neu festgestellte Programm unserer Partei und die
Wiederaufrichtung und den Ausbau der Organisation der Arbeiter-
schaft eine schwere Aufgabe und wir dürfen mit freudigem Stolz
darauf hinweisen, daß wir ernstliche Erfolge aufzuweisen haben.
Wir wollen hier gleich den politischen Teil vorwegnehmen und in
ganz wenigen Strichen die Fortschritte kennzeichnen. Es ist uns vor
allem gelungen, indem wir durch breiteste Öffentlichkeit der ganzen
Agitation dafür sorgten, daß die Bevölkerung nicht nur unsere
Prinzipien, sondern auch unsere Taktik kennenlernte, die Aus-
nahmeverordntingen ad absurdum zu führen. Sie sind gefallen, weil
sie zum öffentlichen Gespötte geworden. Die früher zahllosen Ge-
6*
84 Von Taaffe bis Badeni.
hcimbundprozesse hatten jeden Anhaltspunkt verloren; es ging
einfach nicht mehr, Männer als Geheimbündler zu verurteilen, die
in Dutzenden von Zeitungen, in zahllosen Versammlungen öffentlich
ihr Programm aussprachen. Freilich ging das alles nicht ohne zahl-
reiche Opfer ab. Als der bekannte Tramwaystreik im Juni 1889*)
die Bevölkerung Wiens erregte, als die Sozialdemokraten es ver-
standen, die Tramwaybediensteten zu organisieren und ihnen trotz
aller ungesetzlichen Eingriffe der Behörden, der Polizei, des Mili-
tärs auch die Sympathien des Publikums und wesentliche Erfolge
zuzuwenden, wurde das Wiener Parteiorgan, die „Gleichheit", als
„anarchistisch" unterdrückt, ihr Redakteur als „Anarchist" pro-
zessiert und eingesperrt. Ebenso werden in Böhmen, in Steiermark,
in Triest, in Galizien, wo es sich zu regen beginnt, unausgesetzt
Verfolgungen inszeniert. Aber die Bewegung wird dadurch nicht
gehindert und die Behörden bequemen sich endlich dazu, fatalistisch
zu resignieren und einzusehen, daß auch in Österreich die sozial-
demokratische Partei als politischer Faktor existiert.
Am deutlichsten wird der Fortschritt an der Entwicklung
unserer Presse sichtbar. Neben der Zensur ist unsere Presse
auch noch durch dasVerbotderKolportag e**) belastet und
die Schwierigkeit der Redaktion wird überboten durch jene der
Verbreitung. Unter diesen Umständen gewinnen folgende Zahlen
an Wrert. Anfang 1889 hatten wir sechs politische Blätter
(wöchentlich und halbmonatlich erscheinend), davon erschienen
zwei in tschechischer, eines in polnischer Sprache. Sie hatten ins-
gesamt 15.4 00 Abnehmer. Dem Parteitag in Wien Ende Juni
1891, also zweiundeinhalb Jahre später, konnte berichtet werden,
daß wir 7 deutsche, 5 tschechische, 2 polnische, 1 italienisches,
1 slowenisches Blatt, zusammen 16 Zeitungen mit 5 6.0 0 0 Ab-
nehmern haben. Dazu kommen aber noch „Fachblätter", für
einzelne Branchen berechnet, aber durchaus auf sozialdemo-
kratischem Standpunkt stehend; dieselben haben sich in diesem
Zeitraum von 4 auf 19 (6 tschechische) vermehrt und ihre Abon-
nentenzahl ist von 6 0 0 0 auf 4 4.0 0 0 gestiegen. Insgesamt hat
heute die sozialdemokratische Presse Österreichs eine Auflage von
128.000 Exemplaren; 1889 betrug dieselbe 22.000 Exemplare; ihre
Verbreitung hat sich also in zweiundeinhalb Jahren versechsfacht.
Ein weiterer Beleg für die Entwicklung unserer Partei ist es,
daß wir die R e i c h s r a t s w a h 1 e n***) im März dieses Jahres zu
*) Der Streik begann am 4. April 1889. Siehe den dritten Band dieser
Schriften: „Victor Adler über Arbeiterschutz und Sozialreform", und zwar
das Kapitel „Die Auflehnung der Tramwaysklave n",
Seite 36 ff., sowie Julius Deutsch: „Geschichte der österreichischen
Gewerkschaftsbewegung", Seite 146.
**) Der § 23 des Preßgesetzes verbot die freie Kolportage. (Siehe die
im nächsten Band abgedruckte Broschüre „Der Paragraph 23 des
Preßgesetzes" aus dem Jahre 1891.
'***) Am 23. Jänner 1891 war der Reichsrat aufgelöst worden und die
sozialdemokratische Partei trat trotz dem bestehenden Zensuswahlrecht
Bericht an die Internationale. ^;>
wirksamer Propaganda benützen konnten. Wie erwähnt* ist das
Wahlrecht in Österreich an den Zensus geknüpft; es war also von
vornherein vollständig ausgeschlossen für uns, Mandate zu erlangen.
Aber wir ergriffen die Gelegenheit, das sozialdemokratische
Programm in unzähligen Wählerversammlungen auseinanderzu-
setzen, ein Wahlflugblatt in allen Sprachen des Landes in Millionen
von Exemplaren zu verbreiten und gewissermaßen, wenn auch als
höchst ungeladene Gäste, bei den bürgerlichen Parteien unsere
Visitkarte abzugeben. Die Sache hatte einen ausgezeichneten Erfolg.
Nicht die zirka 6000 Stimmen; welche für Sozialdemokraten abge-
geben wurden, kommen in Betracht, sondern die Wirksamkeit der
Propaganda in uns sonst fernstehenden Kreisen und das steigende
Selbstvertrauen unserer eigenen Parteigenossen. Wir haben damit
zugleich energisch gegen unser reaktionäres Wahlsystem protestiert
und das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht auf die Tages-
ordnung gesetzt, von der wir es nicht wieder verschwinden lassen
werden.
Indem wir nun zum Vereinswesen übergehen, verlassen wir das
eigentliche politische Gebiet. Das österreichische Gesetz unter-
scheidet strenge zwischen politischen und nichtpolitischen Vereinen.
Die ersteren dürfen mit anderen Vereinen nicht in Verbindung
treten, müssen ihre Mitglieder der Behörde anmelden usw. Und die
Polizei benützt diese sachlich ganz unmögliche Unterscheidung, um
unbequeme Organisationen zu beseitigen. Von einigen wenigen
jungen politischen Vereinen abgesehen, vollzieht sich die Organi-
sation der Arbeiterschaft also in nichtpolitischen Vereinen,
die mit der Sozialdemokratie an sich gar nichts zu tun haben und
deren Gründer, Vorstände und Mitglieder nur zufällig Sozialdemo-
kraten sind. Diese Vereine sind Fachvereine oder, was bei
uns dasselbe bedeutet, Gewerkschaften und Bildungs- und
Lesevereine. Nach einer, wohlgemerkt, unvollständigen
Statistik betrug ihre Zahl Ende 1838 104, Mitte 1891 230; in der-
selben Zeit stieg die Mitgliederzahl von 15.600 auf 48.000. Dabei ist
zu bemerken, daß unser Gewerkschaftswesen sich gerade jetzt im
raschesten Aufschwung befindet; fast jede Woche bringt die Grün-
dung neuer Vereine, die schnell an Mitgliedern zunehmen. Der Einfluß
der Organisationen reicht übrigens stets über die eigentlichen Mit-
gliedschaften hinaus, welche, wo es zum Lohnkampf kommt, nur die
allerdings entscheidenden Kerntruppen bilden. Für die öster-
reichischen Gewerkschaftsorganisationen ist charakteristisch, daß
sie mit großem Erfolg die weibliche n Arbeiter in die Bewe-
gung ziehen und ebenso, daß sie die ungelernten Arbeiter nicht
nur zulassen, sondern mit aller Kraft in die Organisation einzube-
in den Wahlkampf ein. Sie konnte zwar kein Mandat, auch nicht sehr viele
Stimmen erhalten, aber sie benutzte die WahlbewegUfig, bei der sie in
der politischen Agitation weniger gehindert war als sonst, zur Aufklärung
über ihre Ideen und zur Altfzeigung des Wahlunrechts.
Siehe übrigens zu den Angaben dieses Berichtes auch noch das
Referat, das Adler auf dem Parteitag 1891 über die Parteitätigkeit seit
Hainfeld erstattet hat. (Bd. VI, Seite 88 ff.)
•86 Von Taaffe bis Badeni.
ziehen suchen. Wie wichtig beides nicht nur für die näheren Ziele,
sondern auch politisch ist, liegt auf der Hand. Die eigentlichen
Unterstützungszwecke (Kranken-, Invalidenunterstützung usw.)
werden von den jüngeren Vereinen nicht mehr verfolgt und sind in
unserer Statistik die Arbeitervereine, die sich damit ausschließlich
befassen und deren Mitglieder nach hunderttausenden zählen, nicht
mit aufgenommen. Dagegen wird Arbeitslosen- und Reiseunter-
stützung gepflegt. Einen besonders schwierigen Punkt bildet die
Ansammlung von Widerstandsfonds, da die Behörden in Österreich
sich auch in die innere Organisation und Gebarung der Vereine ein-
mengen und ein größerer Barschatz stets für sie den Anreiz
bildet, unter irgendeinem Vorwand den Verein aufzulösen. Aber
auch diese Schwierigkeit wird umgangen. Sosehr in Österreich
die Notwendigkeit einer durchgängigen Zentralisation der Gewerk-
schaft anerkannt wird, so unpraktisch wäre eine solche, solange
die Gefahr besteht, daß die Behörde dann mit einem Streich den
ganzen Bau vernichtet. Wir sind also gezwungen, uns mit lokalen
Vereinen zu behelfen, die erst nach und nach in Provinzial-
organisationen zusammengefaßt werden, zwischen welchen
wieder eine regelmäßige Verbindung durch alljährliche
Kongresse („Tage")*) hergestellt wird. Solche Kongresse
haben Ende 1890 und Anfang 1891 mit größtem Erfolg abgehalten:
die Drechsler, Tischler, Hutmacher, Schuhmacher,
Textilarbeiter, Berg- und Hüttenarbeiter, Metall-
arbeiter, Gerber, Bäcker, Bauarbeiter, und dem-
nächst werden die Schneider zusammentreten.
In den Zielen aller dieser Organisationen steht voran: Die Ab-
kürzung der Arbeitszeit. Obwohl Österreich den gesetz-
lichen elfstündigen Normalarbeitstag, freilich mit zahlreichen Aus-
nahmen, bereits besitzt, wird er mangels genügender staatlicher
Inspektion noch immer nur mangelhaft durchgeführt. Überdies gilt
das Gesetz nur für die Fabrikindustrie und schließlich sind auch
elf Stunden ein viel zu großes Zugeständnis an die Ausbeutung der
menschlichen Arbeitskraft. Keine Forderung ist mehr lebendig in
der österreichischen Arbeiterschaft als die nach dem gesetzlichen
Achtstundentag, ihr und der Erhöhung der elenden Löhne gilt der
energischeste Kampf. Es ist auch in den letzten Jahren vielfach ge-
lungen, die Arbeitszeit in einzelnen Branchen zu reduzieren; aber
auch in der Metallindustrie, der überall am weitesten vorge-
schrittenen, wird noch nirgends weniger als zehn Stunden gear-
beitet und nur die Buchdrucker sind bis zu neuneinhalb Stunden
gelangt; ihre heroische Anstrengung im letzten Streik, bis auf neun
Stunden zu kommen, blieb leider vorläufig ohne Erfolg.
Ein weiteres Ziel der gewerkschaftlichen Organisation ist die
Verhinderung aussichtsloser Streiks, dafür aber die planmäßige und
machtvolle Anwendung dieses Kampfmittels, wo die Bedingungen
dafür vorhanden sind. Gerade das Jahr 1890 hat in Österreich wie
*) Siehe Deutsch „Geschichte der österreichischen Gewerkschafts-
bewegung", Seite 171 ff.
Bericht <m die Internationale. Kl
überall eine Reihe von Arbeitseinstellungen gebracht, die, wenn
auch angesichts der unglaublich niedrigen Löhne und ungünstigen
Arbeitsbedingungen durchaus berechtigt, doch, weil mit unzuläng-
lichen materiellen und geistigen Mitteln unternommen, vielfach er-
folglos bleiben mußten. Wenn auch stellenweise ganz erhebliche
Vorteile erzielt wurden, so drängte sich doch die Notwendigkeit
eines planmäßigen Vorgehens auf Qrund einer festen Organisation
um so mehr auf, als auch in Osterreich die Unternehmer beginnen,
in ihren Kartellen neben der systematischen Übervorteilung des
Konsumenten die Organisation gegenüber ihren Lohnsklaven sehr
energisch ins Auge zu fassen. Und gerade hier ist es, wo das
Bedürfnis darauf hinweist, daß der bloß nationale Verband nicht
einmal mehr den Zwecken der Information, der Übersicht des
Weltmarktes der Arbeit genügt, daß hier eine internationale
Verbindung regelmäßig und geregelt einzutreten hat. Und das
ist der Punkt, wo vom Brüsseler Kongreß wertvolle und prak-
tische Resultate erwartet werden.
Es wäre noch unsere Autgabe, mitzuteilen, inwiefern denn die
Anregung, welche der für die Arbeiterbewegung in allen Ländern
so fruchtbringende Pariser Sozialistenkongreß 1889 den Regie-
rungen gegeben hat und die zur famosen Berliner Arbeiterschutz-
konferenz*) führte, auf die österreichische Gesetzgebung gewirkt hat.
Wir können kurz sein: Der österreichische Arbeiterschutz hat auch
nicht den geringsten Fortschritt gemacht; die Regierung begnügt
sich damit, auf den Lorbeeren zu ruhen, welche das Gesetz vom
Jahre 1885 ihr in Berlin eingetragen hat, meint warten zu können,
bis die andern Staaten ihren vermeintlichen Vorsprung eingeholt
hätten und sucht zu verheimlichen, daß in vielen Beziehungen der
österreichische Arbeiterschutz weit hinter dem Auslande zurück-
bleibt, vor allem, weil ihm seine wichtigste Garantie, wirkliches
Koalitionsrecht, fehlt. So wird der internationale Arbeiter-
schutz, im Munde der Unternehmer zur Phrase geworden, der
Feind des nationalen Arbeiterschutzes; aus dem internationalen
Arbeiterschutz wird internationaler Ausbeuterschutz.
Dagegen wird sehr eifrig an der Fesselung der Arbeiterschaft
in Zwangsorganisationen von Staats wegen gearbeitet. Die soge-
nannten „Genossenschaften" für das Kleingewerbe, welche das
verlorene Ideal der Zünfte wieder heraufbeschwören sollten, sind
freilich, wo sie überhaupt zustande kamen, dank der Tatkraft und
Klugheit der Arbeiter, entweder unschädlich gemacht oder zu
wirksamen Waffen für die Arbeiter umgeschmiedet worden. Nun
sollen auch die Arbeiter der Großindustrie und des Bergbaues mit
ähnlichen Einrichtungen beglückt werden**). Die klassenbewußten
*) Über die von Kaiser Wilhelm II. für den März 1890 einberufene
..Internationale Arbcitcrschutzkonferenz", die praktisch keinen Erfolg hatte,
siehe Bd. VI, Seite 178 f.
**) Die Zünftler wollten die Hinrichtung der Zwai)KSKrenossenscliaften,
die nach der Gewerbeordnung für das Kleingewerbe bestand, auch auf die
Großindustrie und den Bergbau ausdehnen.
■S8 Von Taaffe bis Hadcni.
Arbeiter Österreichs, tüchtig geschult im Geiste der Sozial-
demokratie, werden auch damit fertig zu werden wissen.
Sowenig von dem internationalen Zusammengehen der herr-
schenden Klassen und der ihre Geschäfte führenden Regierungen zu
erwarten war, soviel hat der internationale Sozialistenkongreß zu
Paris 1889 für die Entwicklung der Arbeiterbewegung selbst ge-
leistet. Gilt das von den Vereinbarungen prinzipieller Natur in
hohem Grade, so mindestens ebensosehr von jenem praktischen
Beschluß die Maifeier*) betreffend. Wir haben diesen Gegenstand
bisher geflissentlich übergangen, um ihm mit einiger Ausführlich-
keit den Schluß unseres Berichtes zu widmen. Denn namentlich die
österreichische Arbeiterbewegung verdankt der großartigen Idee
eines internationalen Arbeiterfesttages ganz außerordentlich viel.
Die Demonstration zugunsten des gesetzlichen Achtstundentages,
welche in Paris beschlossen wurde, hat eine Wirkung weit über den
beabsichtigten Rahmen hinaus gehabt und ist von geschichtlicher
Bedeutung. Wenn man sich an unsere oberflächliche Skizze der poli-
tischen Zustände Österreichs erinnert, wird man es begreiflich
finden, daß wir angesichts des Beschlusses, die Feier „den Verhält-
nissen jedes Landes gemäß" zu gestalten, uns in einiger Verlegen-
heit befanden. Umzüge, Versammlungen, Feste, das alles war dem
einfachen Verbot durch die Polizei nach aller Voraussicht ver-
fallen; in einem Staate wie Österreich gab und gibt es nur ein ein-
ziges, was möglich ist: die Arbeitsruhe, der Festtag von Volkes
wegen. Wir wußten sehr wohl, daß man uns auch in Österreich mit
dem albernen Einwurf des „Kontraktbruches" kommen werde; daß
dieselben Leute, welche leichten Herzens Tausende von Arbeitern
für Monate aufs Pflaster werfen, wenn deren weitere Ausbeutung
nicht einträglich ist, die ohne weiteres „halbe Zeit arbeiten" lassen,
wenn es ihnen bequem ist, die bereit sind, zum Zwecke der byzan-
tinischen Verherrlichung des Festes irgendeines Potentaten die
Arbeiter feiern zu lassen; wir wußten, daß diese Leute über
„Kontraktbruch" schreien würden, über Schädigung der heiligen
Interessen der „nationalen Arbeit", wenn der Arbeiter einmal im
Jahre wenige Stunden seinen höchsten Aufgaben widmen will. Wir
wußten ebenso, daß die Staatsgewalt, wie stets, bereitwillig das
Gesetz handhaben wird, wo es zugunsten der Ausbeuter gedeutet
werden kann. Trotzdem gelang das Werk. Monatelang vorher
wurde durch die Arbeiterpresse das Proletariat aufgefordert, seines
Festes zu gedenken; zahllose Versammlungen dienten diesem
Zwecke; Hunderttausende von Flugblättern wurden verteilt. Wider
ihren Willen half uns die gegnerische Presse, die erst frech spottete,
dann, als sie sah, daß es Ernst wurde, für den 1. Mai das Ende der
Welt weissagte.
Die Agitation griff so tief in die noch indifferente Masse der
Arbeiterschaft ein, wie noch keine zuvor. Es gab buchstäblich
keinen weltfernen Winkel Österreichs, wo die Kunde vom 1. Mai,
*) Siehe im sechsten Band dieser Schriften das Kapitel „Der Streit um
die Maifeier". (Bd. VI, Seite 176 ff.)
Bericht an die internationale. w»
dem Arbeiterfeiertag, nicht mit freudigem Staunen, mit hoffender
Erwartung vernommen worden wäre. Und das Wichtigste ist, daß
zugleich mit der Idee der Maifeier überall der sozialistische
Gedanke und der internationale Gedanke verbreitet wurde.
Wir brauchen hier nicht zu schildern, wie der 1. Mai 1890 in
Österreich verlaufen. Die wahrhaft erhebende, überwältigend große
Demonstration brachte aller Welt zum Bewußtsein, daß das
klassenbewußte Proletariat Österreichs das Recht habe, mit in den
ersten Reihen zu marschieren.
War die Agitation, die Rüstung, schon fruchtbringend für die
Sache der Sozialdemokratie, so war es erst recht der Erfolg, der
glorreiche Sieg und die umfassende und tiefgreifende Organisations-
arbeit der letzten Jahre hat vielfach direkt an die Maibewegung
anknüpfen können.
Im Jahre 1891 waren die Schwierigkeiten größer geworden. Der
Geschäftsgang war schlechter, der Tag, ein Freitag, noch weniger
günstig als 1890 der Donnerstag; die Unternehmer entschlossener
zum Widerstand; die Behörden mißgünstig wie immer und gereizt
durch unsern ihnen höchst unbequemen Erfolg im Vorjahre. Trotz-
dem wurde an der Arbeitsruhe festgehalten und überall zeigte sich,
daß sie auch heuer durchgeführt wurde. Es ist wahr, daß der Glanz
fehlte, den dem Feste 1890 seine unerhörte Neuheit und die sich
verkriechende Feigheit der Bourgeoisie verliehen hatte. Aber der
Charakter der Feier war ein gleich ernster und sie umfaßte in
diesem Jahre Proletarierschichten, die noch im Vorjahr fehlten.
Freilich, die Opfer waren größere. An einzelnen Orten: Warnsdorf.
Bielitz-Biala, Jägerndorf, erfolgten Ausperrungen von Tausenden
von Arbeitern, die, trotzdem sie nur wenige Tage dauerten, emp-
findlich genug waren. Ebenso erforderten zahlreiche Maßrege-
lungen einzelner Genossen außerordentliche Hilfsmaßregeln. Aber
die Arbeiter Österreichs halten dafür, daß diese Opfer durch den
Wert der Maifeier voll und ganz aufgewogen- werden und be-
schlossen auf dem sozialdemokratischen Parteitage zu Wien, Ende
Juni 1891, an dem Arbeiter! eiertag am 1. Mai unter
allen Umständen festzuhalten.
Allerdings — und das muß an dieser Stelle gesagt werden, wie
es von uns in Brüssel unverblümt ausgesprochen werden wird —
die Maifeier verliert die Hälfte des Wertes, wenn sie ihres inter-
nationalen Charakters als W eltfeiert agdesProletariats
entkleidet wird. Und das geschieht, wenn nicht nur die Art der
Feier, was in Paris vorgesehen wurde, sondern wenn auch der
Tag der Feier ein verschiedener ist. Die Genossen in Deutschland
und England mögen wohlerwogene Gründe haben, die Maifeier auf
den Sonntag zu verlegen; wir werden sie hören und würdigen. Sc
fern uns eine ungebührliche Einmischung liegt, werden wir aber
doch geltend machen müssen, daß hier nicht ausschließlich lokale
Verhältnisse, sondern auch internationale Verpflichtungen gar sehr
ins Gewicht lallen. Die Verschiebung in Deutschland und England
90 Von Taaffe bis Badeni.
hat nicht nur den idealen üehalt, die moralische Wirkung der
Maifeier beeinträchtigt, sie hat auch ihre an sich schwere Durch-
führung in Österreich noch ganz bedeutend erschwert. Die öster-
reichischen Delegierten sind darum beauftragt, auf dem Brüsseler
Korfgreß energisch für eine einheitliche Gestaltung der
Maifeier einzutreten.
Zum Schluß kommend, fassen wir unseren Bericht dahin zu-
sammen, daß die Sozialdemokratie Österreichs ihrer Aufgabe nach
Kräften nachzukommen bemüht ist. Der Revolutionierung der Wirt-
schaft, dem Fortschreiten des Kapitalismus folgt Schritt für Schritt
die Revolutionierung der Geister durch die Sozialdemokratie. Den
Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten zu einem be-
wußten zu machen, aus der willenlosen Masse von verelendeten
Lohnsklaven ein organisiertes Heer von Streitern für die Emanzi-
pation der Arbeiterklasse zu gestalten, diese Armee physisch
kampffähig zu machen, ihr geistige Waffen zuzuführen, das ist das
große Werk, dem wir dienen. Wir haben das Bewußtsein, daß es
vorwärts geht. Wir fühlen, daß den Elenden, den Geknechteten
überall der erhabene Gedanke aufgeht, daß an ihrer eigenen Be-
freiung arbeiten, bedeute, für die Zukunft des Menschengeschlechts
kämpfen; und daß sie nicht nur Genossen im Unglück und in der
Schmach, sondern, daß sie auch Genossen im Kampf haben in allen
Ländern des kultivierten Erdballes. In unserm Parteiprogramm
heißt es: „Der Kampf gegen die Ausbeutung muß international sein,
wie die Ausbeutung selbst", und in diesem Sinne begrüßen wir den
Kongreß zu Brüssel, wünschen seiner Arbeit Erfolg und rufen:
Hoch die Vereinigung des Proletariats aller Länder! Hoch die
internationale Sozialdemokratie!
An den Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongreß
Zürich 1893.
Als vor zwei Jahren der Brüsseler Kongreß zusammentrat, da
konnten wir unsern Freunden und Kampfgenossen im Ausland über
die Neukonstituierung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in
Österreich berichten; heute, nach zwei weiteren Jahren, sind wir in
der Lage, bedeutende Fortschritte zu verzeichnen.
Die Schwierigkeiten, welche unserer Partei in Österreich ent-
gegenstehen, sind in dem letzten Bericht ausführlich gewürdigt
worden. Langsam nur vollzieht sich in unserem Lande der Über-
gang von feudalen Verhältnissen zu moderner kapitalistischer
Produktion. Neben großen Industriezentren mit für die Sozial-
demokratie reifem und empfänglichem Proletariat gibt es weite
Länderstrecken, wo rückständige Wirtschaftsformen vorwiegen.
Dementsprechend ist der politische Charakter Österreichs durch
die absolute Übermacht des Feudaladels bestimmt, der sich halb-
moderner parlamentarischer Formen bedient und seine Herrschaft
nur notgedrungen mit der Bourgeoisie teilt. Je mehr freilich auch
der Großgrundbesitz gezwungen ist, zu kapitalistischer Produktion
überzugehen, um so deutlicher wird die Verschmelzung der Klassen-
he rieht an die Internationale. M
interessen von Qrundadel und Bourgeoisie, und dem Proletariat
gegenüber gehen sie bereits einträchtig zusammen. Jener Wett-
eifer zwischen Konservativen und Liberalen, der gleichwie in
England auch in Osterreich seine Zeit hatte, die Arbeiterschaft dem
Gegner abzujagen durch billige Konzessionen - auf politischem
üebiet von seiten der letzteren, auf dem (iebiet der Arbeiterschutz-
gesetzgebung durch die ersteren - ist verschwunden, seitdem
Liberale wie Konservative immer mehr wesentlich dieselben wirt-
schaftlichen Interessen haben, seit sie sich beide der organisierten
Arbeiterklasse als einer selbstbewußten Macht gegenübersehen,
die ebensowenig zu kaufen als einzuschüchtern ist. Beide reaktio-
näre Parteien wenden nunmehr ihre eigennützige Liebe dem
kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Element zu, welches aber
seinerseits, die unvermeidliche Proletarisierung vor Augen, aller-
dings reaktionären Experimenten zugänglich ist, aber immer mehr
seine eigenen Wege des kleinbürgerlichen Radikalismus geht.
Überall zeigt sich auch in Österreich, daß diese kleinbürgerliche,
vielfach in antisemitischen Formen auftretende Bewegung den
Händen ihrer feudalen Protektoren entgleitet und schließlich der
Sozialdemokratie die Wege ebnet.
Die bürgerliche Revolution ist in Österreich in den Anfängen
stecken geblieben, sie ist verkrüppelt und verfälscht. Das modern-
konstitutionelle Gewand, mit welchem der Parlamentarismus den
Polizeistaat notdürftig deckt, existiert selbst als Maske ausschließ-
lich für die besitzenden Klassen; sämtliche politischen Rechte
sind darauf zugeschnitten, für sie ein Monopol zu bilden. So muß
denn die Arbeiterklasse sich die allernotwendigsten Waffen für
den Klassenkampf, die ihr in europäischen Ländern der Sieg der
Bourgeoisie geliefert, erst selbst erkämpfen. Mögen sich unsere
französischen und englischen Genossen eine sozialdemokratische
Bewegung vorstellen ohne Preßfreiheit, eine gewerkschaftliche
Bewegung ohne Koalitionsfreiheit; mögen die deutschen Genossen
sich eine politische Bewegung ohne Wahlrecht vorstellen. Und
doch sind das die Bedingungen, unter welchen wir in Österreich
zu kämpfen haben.
Ein ganz beträchtlicher Teil unserer Arbeit mußte darum
zunächst der Erringung vernünftiger Preßzustände gewidmet
werden. Im Winter 1892 wurde eine sehr lebhafte und wirksame
Agitation entfaltet, die insbesondere die Beseitigung der Hinder-
nisse, welche das heutige Preßgesetz der Verbreitung unserer
Druckschriften in den Weg legt, zum Ziele hatte. Dieses geradezu
lächerliche Monstrum von Gesetz bildet ein großes Hindernis für
unsere Agitation und macht vor allem die Entwicklung unserer
P a r t e i p r e s s e unmöglich, so daß wir bisher kein einziges täg-
lich erscheinendes Blatt besitzen. In unserm Kampfe stehen wir
gänzlich allein; die bürgerliche Presse ist mit ihrem Monopol zu-
frieden und trägt ihm zuliebe gern die Schmach der Zensur, welche
sie freilich nicht besonders drückt. Trotzdem gelang es uns, durch
eine eifrige Agitation das Abgeordnetenhaus zu veranlassen, die
92 Von Taufte bis Badeni.
Preßreform*) bis zu einem von der Kommission angenommenen
Entwurf zu fördern, der zwar durchaus nicht vollkommen ist,
dessen Annahme aber die ärgsten Mißstände abstellen würde.
Der Energie unserer Partei wird es vorbehalten bleiben, das
Parlament zu zwingen, diesen kleinen Schritt nach vorwärts auch
wirklich zu machen und damit eines der wesentlichsten Hindernisse
für unsere Agitation zu beseitigen.
Mindestens ebenso bedeutungsvoll ist der Kampf für das a 1 1-
g e in eine, gleiche und direkte Wahlrecht, der mit er-
neuter Kraft von unserer Partei geführt wird. Die österreichische
„Verfassung" drückt zwei Dritteln der Bevölkerung die
Schmach der politischen Rechtlosigkeit auf. Nur ein schwaches
Drittel hat das Wahlrecht, und zwar so verteilt, daß der Löwen-
anteil des politischen Einflusses einer kleinen Clique von Groß-
grundbesitzern und Kapitalisten zufällt, welche ihr Privilegium dazu
gebrauchen, die besitzlosen Volksklassen unter das Joch einer
brutalen Klassengesetzgebung zu beugen und eine volksfeindliche
Verwaltung und Justiz mit Gewalt aufrechtzuerhalten. Längst war
das Widersinnige dieses Zustandes erkannt. Aber das Erstarken
der Sozialdemokratie machte es auch den Gegnern klar, daß er
fernerhin einfach unmöglich ist. Die Arbeiterschaft ist aner-
kanntermaßen die zielbewußteste, politisch reifste Klasse in Öster-
reich; ihre Organisation wird respektiert und gefürchtet und sie
hat sich eine Geltung erworben, welche alle fühlen, die aber im
Parlament nicht zum Ausdruck kommt, welches, weit entfernt
davon eine Volksvertretung zu sein, die zahlreichste und politisch
tüchtigste Klasse ausschließt. Diese Tatsache wird immer empö-
render für die Rechtlosen, aber auch immer unbehaglicher für die
Privilegierten.
So lagen die Dinge, als im April 1893 unsere belgischen Partei-
genossen durch einen heldenmütigen Vorstoß der Kammer das
allgemeine Stimmrecht abzuzwingen wußten. Wie ein Blitzstrahl
wirkte dieses Ereignis in Österreich, dem Lande, das nunmehr das
politisch rückständigste in Europa geworden war. Nicht nur wir
Sozialdemokraten, sondern die breitesten Volksschichten wußten
sofort, daß nunmehr der Kampf ums Wahlrecht auch bei uns ent-
brennen würde. Ja selbst die Sippe des Grundadels und der Bour-
geoisie packte die Ahnung an, daß ihr Monopol unhaltbar geworden
sei. Unter diesen Umständen gestaltete sich die Maifeier 1893
im ganzen Reiche zu einer großartigen Manifestation, nicht mir
*) Im November 1892 wurde zwar im Preßausschuß die Aufhebung des
Kolportageverbotes mit allen gegen die Stimmen der Klerikalen be-
schlossen, aber die Regierung erklärte, darauf nicht eingehen zu können
und so wurde erst im Jahre 1894 die Kautionspflicht der Zeitungen
aufgehoben. Außerdem wurde die Entschädigungspflicht des Staates für
aufgehobene Konfiskationen geregelt und der freie Verkauf von Zeitungen
in den der Behörde angezeigten Räumen zugelassen. Am 7. Juli 1894
wurde dieses Gesetz sanktioniert. Siehe übrigens Adlers Broschüre: „Der
§ 23 des österreichischen Preßgesetzes" aus dem Jahre 1891.
Bericht an die Internationale.
für den A c h t s t u n d e n t a g, sondern mich für das allgemeine
Wahlrecht. In Wien marschierten 150.000 Männer und Frauen
in militärisch geordneten Reihen auf und, was vorher unerhört ge-
wesen, auf allen Plätzen, vor den Palästen des Adels, in der Hof-
burg selbst ertönten die donnernden Rufe: „Hoch die internationale
Sozialdemokratie! Hoch der Achtstundentag! Hoch das allgemeine
Wahlrecht!" Und wenige Wochen später wurden die Wahlsiege
der deutschen Sozialdemokratie in allen Provinzen in einer Reihe
von großartigen Meetings gefeiert, die den Entschluß zu kämpfen
wiederholten. Als nun am 9. Juli im Rathaus zu Wien, im Herzen
der Hauptstadt, 50.000 Arbeiter und Arbeiterinnen erschienen, um
zu erklären, „nicht ruhen und vor keinem Opfer zurückschrecken
zu wollen" bis das Wahlrecht erkämpft sei, da war endlich das
Wahlrecht auf die Tagesordnung in Österreich gesetzt und Mittel-
punkt der politischen Diskussion geworden. Die Sozialdemokratie
hat unbestritten die Führung in diesem Kampf übernommen; sie
ist die einzige Partei, die den Mut dazu besitzt, und sie wird un-
erschrocken bis ans Ende gehen.
Über diesen politischen Kämpfen wurde jedoch unsere wich-
tigste Aufgabe : die Erweckung und Organisation des
Proletariats, keineswegs vernachlässigt. Breite, bisher gänz-
lich indifferente Schichten wurden der Sozialdemokratie zugeführt
und die furchtbare Not, die unerhörte Ausdehnung der Arbeitslosig-
keit, die im Winter 1891/92 den Bankrott der herrschenden Ord-
nung offenbar machte, führte uns neue Scharen zu, die erkennen,
daß nur eine revolutionäre Partei, welche die Ausbeutung be-
seitigt, das Besitzmonopol aufhebt, dem mörderischen Bruderkrieg
des Menschen gegen den Menschen ein Ende macht, einen ver-
nünftigen sozialen Zustand schaffen kann; daß aber auch einzig
und allein das organisierte Proletariat selbst den
Kampf führen kann und wird. Unsere Agitation drang weit über das
städtische Proletariat hinaus und fängt an, auch auf dem flachen
Land Erfolge zu haben, trotz der Hindernisse, welche in einem
durch Jahrhunderte systematisch in geistiger Knechtschaft ge-
haltenen Land insbesondere die Macht der klerikalen Partei be-
reitet, welche die Religion als Mantel für ihr Bedürfnis, zu herrschen
und auszubeuten benutzt.
Daß dieser Kampf auch Opfer kostet, ist selbstverständlich;
stets sind eine ganze Anzahl unserer Genossen in Haft und eben
jetzt stehen in Prag allein 53, in Brunn 36 Genossen vor Gericht
wegen des „Verbrechens", daß sie die Säbelhiebe der Polizisten
und Soldaten gelegentlich einer von der Behörde widergesetzlich
verbotenen Versammlung nicht stillschweigend hingenommen
haben*).
) Es handelte sich um die blutigen Zusammenstöße nach den Ver-
sammlungen vom 18. Juni 1893. In Brunn wurden deshalb 46 Personen
zu insgesamt 17 Jahren, 3 Monaten und 3 Tagen Kerker und Arrest
verurteilt. Ms wird darüber später berichtet. (Siehe Seite 114*).
94 Von Taaffe bis Kadern.
Zeugnis von den Fortschritten der sozialdemokratischen Agita-
tion gibt das Entstehen zahlreicher politischer Vereine und
das Erstarken unserer Presse. Gegenwärtig besitzt unsere Partei
13 deutsche, 8 tschechische und 2 polnische poli-
tische Zeitungen (von den Fachblättern abgesehen), die freilich
sämtlich nur wöchentlich oder halbmonatlich erscheinen können,
deren Verbreitung aber von Monat zu Monat zunimmt. Die in Wien
erscheinende „Arbeiter-Zeitung" hat eine Auflage von 19.000 Exem-
plaren, die Wiener „Volkstribüne" von 9000, die „Arbeiterin-
nenzeitung" von mehr als 4000 Exemplaren. Insbesondere das
Gedeihen des letzterwähnten, von unseren braven Genossinnen im
Jänner 1892 gegründeten Blattes ist ein gutes Zeichen für unsere
Erfolge.
Der wichtigste Fortschritt, den die Sozialdemokratie in Öster-
reich seit dem Brüsseler Kongreß machte, besteht in dem Ausbau
ihrer Parteiorganisation. In Österreich ist gerade dieser
Punkt einer der schwierigsten, da die zweideutigen Bestimmungen
eines verzopften Vereinsgesetzes einerseits, die Klippe nach Be-
lieben dehnbarer Geheimbundparagraphen anderseits, vermieden
werden mußten. Zudem standen die Behörden und die Gerichte
auf dem Standpunkt, die Sozialdemokratie an sich sei „staats-
gefährlich", und die Zugehörigkeit zu ihr eine strafbare Handlung.
Noch vor wenigen Jahren wurden Parteigenossen auf die bloße
Tatsache hin, daß sie „geständig" wraren, ein sozialdemokratisches
Blatt zu abonnieren, als „Geheimbündler" monatelang in Unter-
suchungshaft gehalten und „rechtskräftig" verurteilt. Die Ver-
folgung jedes Ansatzes zur Organisation nahm mitunter geradezu
wahnsinnige Formen an und die Verfolger verfügen in Österreich
über Gesetze von solcher Kautschuknatur, daß sie sich zu jedem
Henkerdienst gebrauchen lassen. Wenn unser III. Parteitag, der zu
Pfingsten 1892 in Wien tagte, trotzdem eine Parteiorganisation
schuf, die seither wirklich ins Leben trat, trotz aller hier kurz
angedeuteten Hindernisse, so ist das nur der unüberwindlichen
Kraft zuzuschreiben, die unserer Partei aus den Verhältnissen
selbst zuströmt. Die österreichische Bürokratie sah sich eben einer
augenfälligen Tatsache gegenübergestellt, der Tatsache, daß die
Arbeiterschaft, vom sozialdemokratischen Geist erfüllt, als ein be-
wußter, einheitlicher und kraftvoll wollender Organismus dasteht
und sie fügte sich dieser Tatsache. Die Durchführung der Organi-
sation begegnete verhältnismäßig wenig Hindernissen; sie wurde
von den Behörden stillschweigend anerkannt und sie funktioniert
in zufriedenstellender Weise.
Der Wiener Parteitag 1892 nahm als Grundlage der Organisa-
tion die vollste Öffentlichkeit an. Die Teilung der Organi-
sationsgebiete schließt sich an die politische Einteilung in Kron-
länder und Bezirke an. Die einzelnen Orte bilden Lokalorganisa-
tionen, deren Vertrauensmänner die Bezirks- respektive Provinzial-
vertretung bilden. Mindestens alljährlich soll die Landeskonfe-
renz, mindestens alle zwei Jahre der Parteitag zusammen-
Bericht an die Internationale. 95
treten. Der Parteitag wählte auch • zum erstenmal in Osterreich
— eine aus neun Mitgliedern bestehende Partei Vertretung
welche die Geschäfte der Partei zu besorgen hat und dem Partei-
tag verantwortlich ist.
Unsere Organisation gewährt jeder (iruppe von Parteigenossen
die weitgehendste Selbständigkeit, macht es aller möglieh, die
Kraft der Partei zusammenzufassen, planmäßig zu arbeiten und die
Mittel der Partei jenen Punkten zuzuführen, wo sie am notwendig-
sten gebraueht werden.
Noeh sei erwähnt, daß die Organisation auf die Sprachgrenzen
gebührende Rücksieht nimmt, und daß die tschechischen und
polnischen Genossen ihre volle Autonomie bewahren, obwohl
sie vollständig im Rahmen der Gesamtorganisation stehen. In dem-
selben vielsprachigen Österreich, dessen bürgerliche Parteien vom
nationalen Zwist zerklüftet und gelähmt werden, steht einzig die
Sozialdemokratie da als eine jede nationale Eigenart achtende,
dabei aber einheitliche, streng international organisierte
Partei.
An dieser Stelle sei konstatiert, daß die Bewegung unserer
Genossen tschechischer und polnischer Zunge mit großer
Energie und bewundernswertem Mut unter den schwierigsten
Verhältnissen geführt wird. Die tschechische und die polnische
Sozialdemokratie stehen auf höchst exponiertem Posten und wissen
ihn trotz aller Hindernisse zu behaupten.
Bedeutungsvoll wurde eine Reihe von Beschlüssen des III. Par-
teitages, welche Gleichstellung der weiblichen Parteimitglieder
im Programm, Organisation und Agitation bezweckten. Die s o-
zialdemokratische Frauenbewegung hat in der Tat
ganz beachtenswerte Fortschritte gemacht. Sie ist wesentlich auf-
gebaut auf der Einbeziehung der Arbeiterinnen in die Gewerk-
schaften; ihr nächster Ausdruck ist aber bereits, daß überall
auch in den politischen Organisationen unsere Genossinnen tat-
kräftig und mit großem Erfolg eingreifen. Die gefährlichste Klippe
für eine gesunde sozialdemokratische Arbeiterinnenbewegung,
welche in der Verquickung mit den bürgerlichen Anläufen zur
„Frauenemanzipation'' besteht, wurde in Österreich durch die von
allem Anfang an kräftige Betonung ihres proletarischen
Charakters vermieden.
Auch die gewerkschaftliche Organisation wurde
in den letzten beiden Jahren ganz wesentlich gefördert, und das
trotz des verbissenen Widerstandes der Unternehmerschaft,
welcher die Bürokratie, die Polizei und das Militär zur Verfügung
steht. Der enge Rahmen unserer Vereinsgesetze schränkt das Koali-
tionsrecht ohnehin sehr ein. Aber noch viel ärger ist die Willkür der
Exekutive, die Brutalität, mit welcher der einzelne Beamte das
dem Arbeiter in kümmerlichem Ausmaß gesetzlich gewährleistete
Recht mit Füßen tritt. Da mußte jeder Zollbreit Boden erst er-
obert werden und wir, die revolutionäre Partei, sind gezwungen,
mit Hilfe unserer Presse Bezirk um Bezirk, Provinz um Provinz
96 Von Taaffc bis Badcni.
dem Gesetz zu unterwerfen und die k. k. Beamten Achtung vor
dem Gesetz zu lehren. Mit welcher zügellosen Schamlosigkeit
die Staatsbehörden in Österreich dem Geldsack Schergendienste
leisten, möge daran bemessen werden, daß in gewissen Kronländern
(Böhmen, Galizien, Steiermark) fast bei jeder Arbeitseinstellung
den streikenden Arbeitern von der politischen Behörde gedroht
wird, sie als arbeitslose „Vagabunden" abzuschieben. Und in sehr
vielen Fällen wird diese Infamie auch tatsächlich vollbracht.
Trotz solcher asiatischer Verhältnisse ist es gelungen, für die
wichtigsten Industriezweige gewerkschaftliche Organisationen zu
schaffen, die sich über das ganze Reich erstrecken. Jährliche
Fachkonferenzen und zahlreiche Fachblätter befestigen den Zu-
sammenhalt. Die internationalen Gewerkschaftskongresse, die in
Zürich zugleich mit dem Sozialistenkongreß stattfinden, werden
von Österreich aus zahlreich beschickt werden und von den Fort-
schritten unserer Gewerkschaftsorganisationen sich überzeugen.
Wenn wir nunmehr zum Schlüsse dem internationalen
Momente der sozialdemokratischen Bewegung einige Worte widmen,
so müssen wir der Maifeier in erster Linie gedenken, welche
ihr deutlichster, populärster und darum wichtigster Ausdruck
geworden ist. Für Österreich ist sie ein Hebel der Agitation
geworden, wie vielleicht in keinem andern Lande. Der 1. Mai
ist der Tag des klassenbewußten Proletariats, der Tag, an
welchem es sich selbst seine Stärke und seine Hoffnungen zum
Bewußtsein bringt, der Tag, an welchem es den herrschenden
Klassen das Wachstum seiner Macht zeigt. Der Hauptwert der
Maifeier liegt aber darin, daß sie ein W e 1 1 f e i e r t a g des Pro-
letariats ist, daß sie in allen Ländern zugleich und möglichst i n
derselben Weise dem weltbefreienden Gedanken der Sozial-
demokratie Ausdruck geben werde. Für uns Österreicher gehört
die Arbeitsruhe unbedingt zur Maifeier und wir haben sie auch
1893, allerdings nicht ohne schwere Opfer, aber mit Erfolg durch-
gesetzt. Nun meinen wir in aller Bescheidenheit, was uns, der
schwachen und jungen Partei, möglich ist, muß auch den alten,
sturmerprobten Kämpfern in Deutschland, Frankreich und England
erreichbar sein. Der Beschluß des Brüsseler Kongresses,
wenigstens das Datum des 1. Mai einzuhalten, wurde leider von
den Arbeitern Englands nicht befolgt und mit der Arbeits-
ruhe, die überall, wo sie „nicht unmöglich" ist, eingehalten
werden sollte, blieben die Österreicher 1892 ziemlich ganz allein.
Das erschwert nicht nur unsere ohnehin schwierige Lage im
eigenen Lande noch mehr, es schwächt auch ganz ent-
schieden die internationale Bedeutung der Feier
a b. Die österreichischen Delegierten wurden deshalb beauftragt, im
Interesse ihrer eigenen wie der internationalen Organisation in
Zürich wiederholt auf eine einheitliche Gestaltung der
Maifeier zu dringen.
Indem wir diese trockene Aufzählung von Tatsachen schließen,
begrüßen wir unsere Bruderparteien in allen Ländern und ver-
Taaffes Sturz und die Koalition. -*7
sichern sie unserer Solidarität. Die Sozialdemokratie Österreichs
sucht die schwere Aufgabe, die ihr gestellt Ist, nach Kräften zu
erfüllen und ihren Platz in den Reihen des kämpfenden Proletariats
mit Ehren auszufüllen. In demselben Maße als der Kapitalismus
die Wirtschaft umwälzt, folgt ihm die Revolutionierung des Prole-
tariats durch die Sozialdemokratie. Meute schon steht in jedem
Lande ein kampfbereites, opfermutiges, siegesgewisses Heer von
klassenbewußten Proletariern und Proletarierinnen bereit. Möge
der Züricher Kongreß die internationale Vereinigung befördern,
möge seine Arbeit erfolgreich sein und uns dem Tage näherbringen,
wo der Ruf unseres Lehrers und Vorkämpfers: Proletarier aller
Länder vereinigt euch! zur Tatsache geworden und die Befreiung
der Arbeiterklasse von den Fesseln des Klassenstaates und der
Ausbeutung vollendet ist.
Hoch die internationale Sozialdemokratie!
Taaffes Sturz und die Koalition.
Parteibericht — Parteitag 189 4*).
Genossen und Genossinnen! Wenn die Parteivertretung ihrer
Pflicht genügt, über die Tätigkeit der Partei in den letzten Jahren
seit dem letzten Parteitag Bericht zu erstatten, so sind eigentlich
*) Gleich nachdem das neugewählte Abgeordnetenhaus im April 1891
zusammengetreten war, wurden Anträge auf Änderung der Wahlordnung
eingebracht: meist solche auf Reformen bei Aufrechterhaltung des Zensus-
wahlrechts; aber immerhin auch schon solche auf allgemeines Wahlreeht.
Am 25. Mai wurde ein Wahlreformausschuß gewählt, dem alle diese An-
träge zugewiesen wurden. Am 8. Oktober 1891 brachte Pernerstorfer
seinen Antrag auf Einführung des allgemeinen Wahlrechts ein. Wieder
geschah nichts. Aber die Arbeiterschaft rief auf jeder Versammlung nach
dem Wahlrecht. Aber dieses und auch das nächste Jahr hatte die Arbeiter-
schaft genug zu tun, um ihre Organisation in Ordnung zu bringen und
die Gefahr der Spaltung — die durch die Affäre Hanser nahegerückt
war — zu bannen. Endlich hatte die Sozialdemokratie ihre Organisation
gefestigt und konnte nun zur Aktion übergehen.
Am 16. März 1893 brachte der Jungtscheche Dr. Slavik im Namen
seiner Partei den Antrag auf Einführung des allgemeinen Wahlrechts ein.
(Der Antrag ist oben in der Wahlrechtsbroschüre, Seite 55, abgedruckt.)
Der Antrag Slavik wurde gerade im rechten Augenblick eingebracht. Der
nationale Streit war eben auf seinem Höhepunkt angelangt. Taaffe hatte
vergeblich versucht, einen nationalen Frieden der bürgerlichen Parteien
herbeizuführen. Die Agitation der Sozialdemokratie für das allgemeine
Wahlrecht fand eine lebhafte Unterstützung auch dadurch, daß zu gleicher
Zeit das belgische Proletariat den gleichen Kampf führte. Am 26. Februar
hatten die radikalen Parteien in Brüssel eine Volksabstimmung über das
allgemeine Wahlrecht veranstaltet. Von 111.700 Wählern nahmen 60.279
daran teil und von diesen sprachen sich 48.660 für das allgemeine Wahl-
recht vom 21. Jahre an aus. Aher die klerikale Regierung Beernaert
widersetzte sich dem allgemeinen gleichen Wahlrecht und am 12. April
lehnte die Deputiertenkammer mit 115 gegen 26 Stimmen den Antrag
Adler, Briefe. X. Dd. 7
98 Von Taufte bis Badeni.
nur wenige Ausführungen nötig, da wir diesmal, wie der letzte
Parteitag uns beauftragt hat, Ihnen einen gedruckten Überblick in
die Hand geben. Er ist allerdings noch höchst unvollständig; un-
vollständig in bezug auf die Organisation, denn in dieser Beziehung
waren wir vollständig abhängig von dem, was uns die einzelnen
Land- und Bezirksorganisationen eingesendet haben, er ist unvoll-
ständig in bezug auf den allgemeinen Teil, denn es ist nicht möglich,
die Summe von Arbeit, die Summe von lebendigem Leben, das
unsere Partei gerade in den letzten zwei Jahren in Österreich ent-
faltet hat, in einem kurzen Bericht wiederzugeben. Mit einem Wort,
die Sozialdemokratie hat sich tatsächlich seit diesen letzten zwei
Jahren erst als organisierte Partei konstituiert. Sie ist erst in diesen
zwei Jahren dazu gelangt, als eine einheitlich organisierte Partei
auch aufzutreten.
Wir dürfen sagen: Bis zum letzten Parteitag war alles nur Vor-
bereitung, nur die Ziehung der Grundlinien eines Programms, das
war nur ein vorläufiger Aufbau. Die Möglichkeit, unsere Organi-
sation anzuwenden, zu sehen, wie sie wirkt, haben wir erst in den
letzten zwei Jahren gehabt. Parteigenossen! Es ist notwendig, daß
wir heute den Blick hinwegrichten über die Einzelheiten der Agita-
Janson auf allgemeines Wahlrecht ab. Am 13. April beschloß der Ge-
neralrat der Arbeiterpartei den sofortigen Generalstreik, der erst sein
Ende nahm, als am 18. April die Kammer mit 86 gegen 47 Stimmen den
Antrag N y s s e n s annahm, wonach jeder 25jährige Belgier mit ein-
jähriger Seßhaftigkeit das Wahlrecht erhalten solle, außerdem sollte aller-
dings eine Mehrstimme erhalten, wer .35 Jahre alt, verheiratet ist und
5 Franken jährlich Steuer zahlt, nach dem 25. Lebensjahr wer mindestens
liegende Güter im Katasterwert von 2000 Franken oder das Gymnasium
absolviert hatte. Trotz dieser Pluralität war immerhin das allgemeine
Wahlrecht erobert.
Dieser — wenn auch nicht volle — Erfolg der belgischen Arbeiter
feuerte die österreichischen Arbeiter an und man erklärte auch hier, daß
man „belgisch reden" werde — ähnlich wie man später drohte,
„russisch" zu reden.
Die Maifeier stand ganz im Zeichen des belgischen Sieges und Victor
Adler erklärte in seiner Mairede, „die Sozialdemokraten würden nicht
rasten, als bis der Antrag der Jungtschechen auf der Tagesordnung des
Parlaments erscheine und würden nicht dulden, daß dieser Antrag so
ohne weiteres von der Tagesordnung verschwinde". (Siehe B r ü g e 1,
„Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie", Bd. IV, Seite 184.)
Das ist die Vorgeschichte des Wahlrechtskampfes, der im Jahre 1893
anhob und über dessen einzelne Phasen später berichtet werden wird. Am
10. Oktober hat dann Taaffe seinen Wahlreformentwurf eingebracht.
Auf dem vierten österreichischen Parteitag, der vom 25. bis 31. März
1894 in Schwenders Kolosseum in Wien stattfand, gab Adler in seinem
Parteibericht eine Darstellung des Wahlrechtskampfes, die wir hier ab-
drucken. Auf der Tagesordnung stand dann noch als besonderer Punkt:
„Das allgemeine Wahlrecht und der Generalstrei k",
-worüber Dr. Ellenbogen referierte. Die Rede, die Adler dabei hielt,
ist im siebenten Heft dieser Schriften (Seite 80) abgedruckt, wo auch die
Geschichte des Wahlrechtskampies dargelegt ist.
Taaffes Sturz und die Koalition. 99
ÜOn, über die kleinen und großen Zufälle in der Politik, auf das Ziel
unserer Partei, daß wir ins Bewußtsein bringen, was die Sozial-
demokratie in Österreieli ist und was sie in aller Welt ist. Die
Sozialdemokratie ist in Österreieli die Organisation des Proletariats
als Klasse, welelie um ihre Befreiung kämpft. Dieser Klassenkamp!
des Proletariats nimmt zu verselnedenen Zeiten verschiedene
Formen an. Dieser Klassenkampf zerfällt in eine Reihe von Einzel-
kämpfen, in eine Periode der Stagnation und des Aufschwunges, von
Siegen und Niederlagen; manchmal auch ein Konzentrieren auf
einen bestimmten Punkt, aber niemals darf die Partei, niemals wird
die Partei dessen uneingedenk sein, daß alle politischen Kämpfe nur
dienen der ökonomischen Befreiung des Proletariats, der Be-
seitigung des eigentlichen Klassenstaates. Nun, Genossen, wenn w i r
daran vergessen würden, die Gegner ließen uns nicht daran ver-
gessen. Immer und immer wieder wird von den Gegnern das
Moment des Klassenkampfes in den Vordergrund gebracht, wird
uns gezeigt, daß wir die Organisation der Bourgeoisie und der
Feudalen als herrschende Klassen gegen uns haben; das haben wir
zu spüren in der politischen Verwaltung, in der Gesetzgebung, in
der Justiz. Darüber helfen alle Phrasen nicht hinweg. Ich erwähne
es ausdrücklich, weil die bürgerliche Presse immer und immer
wieder darauf hinarbeitet, immer nach einem Symptom hascht, als
ob die österreichische Sozialdemokratie oder irgendeine auf dem
Kontinent sich zu jener Reformpartei umwandeln würde, wie sie
uns gern hätten. Dieser sagen wir: Wenn wir so pflichtvergessen
wären, wenn wir unser Programm vergessen würden, ihr treibt uns
dazu, ihr zwingt uns dazu, uns auf den einzig richtigen, den klassen-
revolutionären Standpunkt zu stellen. (Sehr gut!) Nun, Genossen!
Wir werden uns im Verlauf dieses Parteitages mit einer Reihe von
einzelnen Dingen zu beschäftigen haben, von einzelnen Maßregeln
und einzelnen taktischen Schritten; alle diese aber verlieren jeden
Sinn, jeden Zusammenhang, wenn wir uns nicht fühlen als die Ver-
treter des klassenbewußten Proletariats, als die revolutionäre
Partei.
Nun, Genossen, als der letzte Parteitag auseinanderging, hatte er
die Grundlinien einer Organisation geschaffen, von der — das
können wir ja offen sagen — wir zu jener Zeit nicht wußten, ob sie
Fleisch und Leben haben werde. Vielfache Zweifel mußten auf-
steigen, ob das Netz der Organisation, wie es aufgerichtet war, auch
den festen Zusammenhang bis in die entferntesten Provinzen her-
stellen könne. Und Sie müssen sagen, es ist gelungen über Erwarten.
Wir wissen sehr gut, wie lückenhaft die Organisation noch ist. Wir
wissen sehr gut, wieviel noch auszufüllen ist, wie das Netz noch
durchaus weitmaschig ist, wie es noch Schichten des industriellen
Proletariats gibt, wo wir noch nicht eindringen.
Aber unsere Organisation ist so weit gekommen, das können wir
sagen, daß in den allermeisten Provinzen, ganz wenige Bezirke aus-
genommen, durch die Vertrauensmänner und Bezirksorganisationen
die Möglichkeit geschaffen wurde, Anknüpfungspunkte zu finden..
100 Von Taaffe bis Badeni.
und überall sind die Vertrauensmänner der sozialdemokratischen
Partei auch die Vertrauensmänner der Arbeiterbevölkerung. Die
Organisation hat zur Grundlage die Selbständigkeit aller einzelnen
Organisationen und die Zusammenfassung zu einer gemeinsamen
Aktion und die Möglichkeit einer Zusammenfassung in der Partei-
vertretung. Die Parteivertretung hat zum ersten Male in diesem
Zeitraum in Österreich überhaupt funktioniert. Ich zweifle nicht, daß
hier in vielen Beziehungen berechtigte Vorwürfe werden gemacht
werden, ich zweifle nicht, daß sie vielleicht vieles anders hätten
machen müssen und können. Aber die Parteivertretung ist sich
bewußt, daß unter sehr schwierigen Verhältnissen, in einer Zeit, wo
die Partei einen sehr raschen Aufschwung genommen hat, sie den
Ereignissen gewissermaßen mehr nachfolgen mußte, als sie ihnen
vorangehen konnte. Es hat sich nicht gehandelt um eine Leitung,
sondern die Parteivertretung hat sich gefühlt als die Exekutive der
gesamten Partei. Als solche hat sie sich gefühlt, und als solche hat
sie gehandelt.
Als vor zwei Jahren der Parteitag auseinanderging, hatte die
Sozialdemokratie in Österreich allerdings eine politische Bedeutung,
sie hatte diese Bedeutung und ihre Ausdehnung verdankt haupt-
sächlich dem Umstand, daß sie jederzeit sich gefühlt hat als das
Sprachrohr des gesamten Proletariats. Aber die politische Be-
deutung, welche die Sozialdemokratie in Österreich heute hat, ist
eine ganz andere. Wenn Sie zurückdenken an die Zeit vor zwei
Jahren, da war Österreich ein Sumpf, auf dem sich nichts regte, da
gab es in Österreich politisches Leben eigentlich sehr wenig. Sie
erinnern sich, daß die Politik des Fortwursteins und Fortfrettens
die Signatur war. Den Forderungen des arbeitenden Volkes stand
diese Politik abweisend, negativ und vor allem schweigend
gegenüber. Wir hatten weniger zu überwinden den aktiven Druck,
der immer auch ausgeübt wurde, als den absoluten, passiven Wider-
stand, das Ignorieren alles dessen, was im Proletariat vorging. Die
Zeiten haben sich geändert, die Sozialdemokratie ist heute nicht
mehr eine Fraktion innerhalb der Arbeiterschaft, die Lärm macht,
die Sozialdemokratie ist heute bewußt nicht nur für sich, sondern
für die gesamte Arbeiterschaft, ja noch mehr, für die gesamten
besitzlosen Volksklassen in Österreich die anerkannte Führerin in
ihrem Kampfe. Heute wissen die gesamten besitzlosen Volksklassen,
daß sie, mögen sie mit unseren theoretischen Überzeugungen ein-
verstanden sein oder nicht, in allen praktischen Fragen, in allen
aktuellen Fragen der Politik dieser besitzlosen Volksklassen nur
einen Anwalt haben, nur ein Sprachrohr, nur einen, der ihnen voran-
geht, das ist die Sozialdemokratie. Diese Anerkennung hat sich die
Sozialdemokratie in diesen zwei Jahren erkämpft, das macht, daß
sie heute ein politischer Faktor geworden ist. Nun, Genossen, wie
ist das gekommen? Ich übergehe die organisatorische Arbeit und
die Ausbildung unserer Presse.
Das wichtigste ist, daß die österreichische Sozialdemokratie in
der Lage war, in einer Lebensfrage für die ganze fernere Ent-
Taaffes Sturz und die Koalition. l Ol
Wicklung des Volkes, das in Österreich wohnt, führend vorzugehen.
Für die Rechtlosen in Österreich, zwei Drittel des gesamten Volkes,
war der Druck dieser Rechtlosigkeit seit Jahren gleich groß. Die
Grundlage unserer Verfassung sind Privilegien der Besitzenden, die
Grundlage dessen, was man in Österreich die Staatsgrundgeset/,c\
liberale und freisinnige Gesetzgebung nennt, die Grundlagen sind
Rechtlosigkeit der Besitzlosen; geändert hat sich darin nur, dal.» die
Besitzlosen eine Stimme gefunden haben, und es war, das läßt sich
als geschichtliche Tatsache nicht leugnen, das Zusammentreffen des
Aufschwunges und Vorwärtsgehens der Sozialdemokratie mit der
belgischen Arbeiterbewegung, mit dem Siege der belgischen
Genossen im Kampfe um das Wahlrecht, welches einen großen
Anstoß für Österreich gegeben hat. (Sehr richtig!) Das ist eine
geschichtliche Tatsache, die ebenso sicher ist, wie daß im Jahre 1848
der Anstoß zur Revolution in Österreich und Deutschland aus Paris
gekommen ist. Die Folgen dieses Ereignisses zeigten sich sofort. Die
belgischen Genossen haben genau so wie die Österreicher viele
Jahre um das Wahlrecht gekämpft, sie haben einen sehr intensiven
Kampf insbesondere in den letzten acht Jahren geführt. Die
belgischen Genossen haben im April 1893 nicht die erste Schlacht,
sondern nur die entscheidende Schlacht gewonnen. Aber während
die früheren Schlachten des belgischen Proletariats an der öster-
reichischen Arbeiterschaft vorbeigingen, ohne einen Widerhall zu
finden, ohne eine Wirkung hier hervorzurufen, war diese Schlacht
im Jahre 1893 eine Bewegung von ganz anderer Wirkung, weil in
Österreich bereits die Vorbedingung vorhanden war, um dieser Be-
wegung einen Widerhall zu geben. Daß dies allgemein in ganz
Österreich empfunden wurde, hat der 1. Mai 1893 gelehrt. Die Feier
unterschied sich überall dadurch von der vorhergegangenen, daß die
frühere Maifeier ein proletarischer allgemeiner Protest, eine prole-
tarische allgemeine Demonstration war, während diesmal die Mai-
feier durchaus die aktuelle Spitze auf das Wahlrecht richtete.
Man muß die Massen in Wien gesehen und gehört haben, als sie aus
dem Prater kamen. Jeder, der sie hörte, und man hörte bis in die
Hofburg hinein den Ruf: „Es lebe die Sozialdemokratie, es lebe das
allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht!" wußte in dem Moment:
Es hat eine neue Ära in Österreich begonnen. (Beifall.) Was bis
dahin nur die Unterdrückten dumpf als Unrecht empfunden, das ist
heute anerkannt von allen Faktoren, die überhaupt politisch denken
und beschließen, ist anerkannt als politische Unmöglichkeit. An
diesem Tage wurde es klar, daß die heutige Verfassung in Öster-
reich nicht mehr zu halten ist, weil das Verbrechen zur Unmöglich-
keit geworden.
Nun, Genossen, der 1. Mai 1893 war gleichzuhalten einer Ab-
stimmung, einer unmittelbaren Volksabstimmung des gesamten
Proletariats in Österreich. Und diese Willensäußerung in Formen zu
bringen, ihr die Möglichkeit zum Durchbruch zu geben, war die
Aufgabe der Parteivertretung. Wir hätten unsere Aufgabe schlecht
verstanden, wenn wir nicht unmittelbar nach dem 1. Mai jenes
102 Von Taaffe bis Badeni.
bekannte Rundschreiben an die Landesorganisationen erlassen
hätten. Hier muß ich einen Umstand erwähnen, den ich noch nicht
berührt habe. Es lag dem Parlament ja schon seit Anfang des Jahres
1893 ein Antrag vor auf Einführung des allgemeinen, gleichen und
direkten Wahlrechtes von Seiten der Jungtschechen. Es lag ferner
eine Anzahl von Anträgen vor, die ebenso weit und noch weiter
gingen, aber nicht so ausgearbeitet waren. Erinnern Sie sich, daß
das Einbringen dieser Anträge, obwohl sie von einer parlamen-
tarischen Fraktion getragen und unterstützt wurden, eine politische
Bedeutung tatsächlich nicht hatte, während in dem Moment, wo
die österreichische Arbeiterschaft diese Forderung in die Hand
nahm, sofort auch diese Anträge Leben bekamen. Die Massen-
versammlungen, die zu dieser Zeit stattfanden, haben für unsere
Parteigenossen nichts Neues bringen können, aber die indifferenten
Massen sind dadurch herangezogen worden, wir sind ins flache
Land dadurch eingedrungen. Wir hatten eine Gelegenheit, um
diesen Massen zu zeigen, wie man mit ihnen umspringt, wir haben
uns dadurch Bundesgenossen geschaffen, die auch für die Folge
von großem Wert sein wrerden. In der Politik gilt zwar nur die
Macht, aber auch das Gefühl, daß Unrecht geschieht, ist eine
Macht, und diese Macht im Volke geweckt zu haben, ist das Ver-
dienst der Wahlrechtsagitation. Wie stets die österreichische Re-
gierung glaubte, eine Bewegung zu beseitigen, indem man einem
„Schreier" einen Knebel in den Mund steckte, so versuchte die
Regierung auch diese Wahlrechtsbewegung auf kurzem Wege
abzutun. Und in keinem Kronland ist derart „energisch" und
„schneidig" vorgegangen worden als in Böhmen. (Lebhafter Bei-
fall.) Die Regierung hatte ihre Gründe dazu. Es hatte sich dort
eine kleinbürgerliche und kleinbäuerliche Opposition heraus-
gebildet, die ihre Vertretung in den Jungtschechen hat. Sie sind
vielleicht nicht besser als die Jungdeutschen, aber sie sind jeden-
falls klüger und machten wenigstens den Versuch, die besitzlosen
Volksklassen hinter sich zu bekommen, ein Versuch, der nicht ge-
lingen konnte, weil in diesen Massen schon der Geist des klassen-
bewußten Proletariats steckte. Aber die Möglichkeit war vor-
handen, daß eine Verbindung der kleinbürgerlichen und klein-
bäuerlichen Opposition mit den proletarischen Elementen in den
tschechischen Gebieten stattfinden könnte. Gerade in Böhmen ist
aber der Sitz der mächtigsten Schichte, der eigentlichen Herrscher-
gewalt in Österreich, des Feudaladels. Diese Leute aber waren
durch jene Opposition in ihren eigensten, persönlichsten,
materiellsten Interessen getroffen, und noch mehr durch die Gefahr
einer Verbindung mit dem Proletariat. Daher kam es, daß dort in
Böhmen rücksichtsloser über alles hinweggegangen wurde als
irgendwo anders.
In Böhmen und Galizien existieren einzelne Beamte, die sich
nur als Beamte der Adelsoligarchie ansehen. (So ist es!) Daher
kommt es, daß in Böhmen Blut geflossen ist, daß man dort gegen
•die jungtschechische Bewegung einen Ausnahmezustand annonciert
Taaffes stur/ und die Koalition. 103
hat, um ihn gegen das Proletarial auszunützen. (Beifall.) in Öster-
reich haben Wir nicht eine n Feind, nicht einen geschlossenen
Gegner, wir müssen eben bei der verschiedenen Entwicklung der
Länder unseren Kampf den Verhältnissen jedes Landes anpassen.
Es ist nicht möglich, in Böhmen, in Prag oder einem böhmischen
Bergwerksbezirk, zum Beispiel Kladno, mit denselben Mitteln zu
arbeiten wie in Wien oder üalizien, wo der Bezirkshauptmann eine
Macht hat, die er in Innerösterreich wirklich bereits verloren hat.
Nun komme ich auf die Demonstration am 9. Juli 1893*) in Wien vor
dem Rathaus zu sprechen. Wir wissen, daß diese Demonstration,
trotzdem sie von allen Instanzen, den kommunalen, staatlichen und
polizeilichen, verboten, doch abgehalten wurde. Die Regierung
hätte die Macht gehabt sie zu unterdrücken, man hätte, wie heute
Budapest**), Wien militärisch besetzen können, aber sie wußte, wie
auch wir, daß die Weltgeschichte nicht aufhört, wenn geschossen
wird. Es ist zwar unangenehm, niedergeschossen zu werden, aber
auch verdammt unangenehm, schießen zu müssen. Wir Sozial-
demokraten gewinnen aber vron Tag zu Tag an Macht, gewinnen
immer mehr an Boden, ohne daß geschossen wird. Unsere Taktik ist
nicht, an die Gewalt zu appellieren, wir haben ja keine, wir haben
die leere Hand, aber wir haben heute in einem gewissen Grade
schon die Macht, die sich stets vermehrt und vom 9. Juli bis zum
10. Oktober 1893***) gewaltig vermehrt hat, bis zu dem Tage, an dem
schwarz auf weiß von der Gesamtregierung, der Krone anerkannt
werden mußte: Die heute bestehende Verfassung ist ein Unrecht,
eine Unmöglichkeit. Zu dieser Ansicht wurde aber die Regierung
nicht plötzlich erleuchtet; daß diese Erleuchtung über sie ge-
kommen ist, war das Resultat der Agitation des Proletariats.
Der 10. Oktober 1893 hat uns eine mangelhafte Wahlreform
gebracht, die Vorlage erklärte vom Wahlrecht nur jene aus-
geschlossen, die nicht lesen und schreiben können. Aber was folgte
dieser Vorlage? Alle bürgerlichen Parteien traten zusammen und
es kam die Koalition zustande, die gegenüber dem früheren Zustand
sich durch nichts als eine andere Form unterscheidet.
Die latente Form, die gelegentliche Koalition aller bür-
gerlichen Parteien oder vielmehr der Bourgeoisie mit der Feudal-
klasse gegen die Arbeiter ist immer ins Leben getreten, wenn es
sich um eine bestimmte Aktion, um einen bestimmten Gesetz-
entwurf gehandelt hat. Aber der Entschluß des Ministeriums
*) Siehe später den Bericht über diese Versammlung, aber auch die
Bemerkungen in Adlers Wahlrechtsbroschüre.
I Am 20. März 1894 starb Ludwig Kossuth in Turin und die ganze
öffentliche Meinung Ungarns verlangte, daß der Diktator der Republik, der
im April 1849 auf dem Reichstag von Debreczin Habsburg abgesetzt hatte,
nach Ungarn gebracht und auf Staatskosten beigesetzt werde. Tatsächlich
war ganz Budapest schwarz beflaggt. Am 23. März kam es zu Zusammen-
stößen mit der Polizei. Bis zum 30. März, wo die Leiche Kossuths in Buda-
pest eintraf, war die Stadt förmlich vom Militär besetzt. Am 1. April wurde
Kossuths Leiche feierlich auf Kosten der Stadt beigesetzt.
**) Der Tag der Einbringung der Taaffeschen Wahlreform.
104 Von Taaffe bis Badern.
T a a f f e, endlich eine in einigen Punkten vernünftige Wahlreform
zu geben, bewirkte, daß die Parteien alles Schamgefühl fallen
ließen, das bewirkte, daß Graf Hohen wart erklären konnte:
„Es ist notwendig, daß die Besitzenden zusammentreten zur ge-
meinsamen Abwehr gegen die Besitzlosen", und der liberale
Plener sagte: „Ja, wir wollen mit euch diese Abwehr machen
und wir verlangen als Trinkgeld nur zwei Ministerportefeuilles."
(Sehr gut!) Es kam das Koalitionsministerium und — da muß ich
ein Wort sagen über die Ruhe, die nach dem 10. Oktober eintrat.
Diese Ruhe ist vielfach mißverstanden worden, und zwar nicht
allein von den Gegnern, sondern auch von solchen Parteien, die
uns freundlich gesinnt waren, und selbst von eigenen Parteigenossen.
Es hat sich gehandelt um den Kampf zwischen Taaffe und der
neuen Koalition, und da war allerdings die Versuchung sehr groß,
für die Wahlreform des Grafen Taaffe gegen die Koalition ein-
zutreten. Ich kann es hier sagen, daß die einzige Oppositionspartei
im Abgeordnetenhause, die Jungtschechen, es gar nicht begriffen
haben, warum wir in diesem Moment nicht mit großem Ansturm
gegen die Koalition losgegangen sind.
Sie, Parteigenossen, werden es verstehen, warum wir unmög-
lich unser Programm einer Augenblicksaktion zuliebe aufs Spiel
setzen konnten; wir konnten einer Regierung zuliebe, welche den
Ausnahmezustand in Wien und in Prag auf dem Gewissen hat,
nicht die Kastanien aus dem Feuer holen, und wenn wir auch sehr
wohl wissen, daß die Regierung Plener-Windischgrätz
nicht um ein Haar besser ist als das Ministerium Taaffe. Es wäre
geradezu ein politischer Selbstmord gewesen, wenn wir dies getan
hätten, und die Kosten hätten wir bezahlt. Es wäre doch verdammt
naiv gewesen, auf die Gesinnungstüchtigkeit und Festigkeit jener
Regierung zu bauen. Diese Herren Schönborn, Falkenhayn,
Bacquehem usw. haben nicht einmal dem Grafen Taaffe
Wort gehalten, wie hätten sie uns Wort gehalten? Wir hätten uns
durch ein derartiges Vorgehen kompromittiert, wir wären in
die Gefahr gekommen, eine zu Regierungs-
zwecken ausgenützte Partei zu sein, wir hätten das
Proletariat in Mißverständnisse geleitet. Wir mußten uns sagen:
wir können nichts anderes als warten, was die neue Regierung
tun wird, wir müssen zunächst einen Angriffspunkt haben, wenn
wir angreifen sollen. Wir haben die beiden Parteikonferenzen ein-
berufen, deren Resultat Sie kennen. Der Kampf um das Wahlrecht
wird ein langer sein; wir werden nicht allein mit Flugschriften,
mit Versammlungen und in der Presse kämpfen können; es wird
wahrscheinlich notwendig sein, alle jene Mittel, die das
Proletariat überhaupt zur Verfügung hat, nach-
einander in Anwendung zu bringen. Es mußten daher
alle diese Mittel auch erwogen werden und da hat die Parteiver-
tretung daran denken müssen, den Parteigenossen auch den Ge-
neralstreik oder Massenstreik in Erwägung zu geben. Es wurde
darüber sehr viel geschrieben und wurde diese Aktion der Partei-
Taaffes Sturz und die Koalition. |h '
Vertretung in der bürgerlichen Presse und unter den Genossen
verschieden beurteilt; es scheint mir aber, daß diese Aktion im
wesentlichen nicht richtig aufgefaßt wurde. Niemals hat die
Parteivertretung den Generalstreik empfohlen, niemals hat sie die
Parole dazu ausgegeben. Dies wäre ja eine Kompetenzüber-
schreitung gewesen.
Das wäre etwas gewesen, wo/u die Parteivertretung gar nicht
das Recht hat.
Die Parteivertretung hatte aber die Pflicht, die Parteigenossen
aufzufordern, diese Angelegenheit beizeiten zu erörtern, um dann der
einzig kompetenten Stelle, dem Parteitag, die
Frage in einer diskussionsfähigen Form vorzulegen. Die Meinung,
daß bei uns eine Parteivertretung derlei anordnen kann, können die
Bourgeoisparteien haben, wo wirklich der einzelne Führer handelt,
dem die Herde nur nachgeht. Die Parteivertretung hatte nicht ein-
mal die Aufgabe, sich selbst vollständig einig und klar zu sein, ob
der Massenstreik anzuwenden sei oder nicht. Es hat Leute unter
uns gegeben, die gemeint haben, die Möglichkeit dazu sei näher, es
hat Leute gegeben, die gemeint haben, der Massenstreik sei nicht
möglich und zunächst wenigstens nicht anwendbar. Aber darüber,
daß dieses Mittel diskutiert werde, darüber war die Parteivertre-
tung einig. Parteigenossen! Die Situation für unsere Partei ist heute
folgende: Wir haben gegen uns eine Regierung, welche zwei Lebens-
äußerungen von sich gegeben hat, wie sie der Arbeiterklasse gegen-
über denkt. Die eine Äußerung war jener Wahlreformentwurf, über
den Sie sich in einem anderen Punkt der Tagesordnung zu äußern
haben werden. Die andere Äußerung, die den meisten von Ihnen
nicht bekannt ist, war eine neue Preßordonnanz, die seit
dieser Woche ins Leben getreten ist. Der Justizminister Schön-
born als Mitglied des konservativen Ministeriums T a a f f e
glaubte, nicht so gegen die Presse vorgehen zu müssen als der
Justizminister Schönborn als Mitglied des liberalen Mini-
steriums der Koalition. Das ist die Situation. Wir haben heute vor
uns einheitlich geschlossen die ganzen besitzenden Klassen. In der
klerikalen Partei bröckelt es ab, und die armen Landpfarrer, die
selbst Proletarier und Proletariersöhne sind, machen mitunter
schüchterne Versuche, das Joch, das auf ihnen lastet, abzuschütteln.
Es kommt vor, daß irgendwelche kleine Teile der klerikalen Partei
sich knirschend wehren, wrenn sie zu feudalen Interessen aus-
gebeutet werden sollen. Aber diese kleinen Regungen werden unter-
drückt, denn in dieser Partei wird ein eisernes Regime geführt, das
mehr für sich hat als die anderen, denn sie können nicht nur Eisen-
bahnen vergeben und Straßen, sie können auch einen Gewissens-
druck ausüben, und wir müssen gefaßt sein, daß wir vollständig
isoliert unseren Kampf zu führen haben.
Die Koalition steht fest, und es ist ein Erfolg der Sozialdemo-
kratie in Österreich, daß allen den Ausbeuterparteien mit einem
Male die Maske heruntergerissen wurde; nun wissen es alle jene,
die es bis jetzt nicht wußten, daß das österreichische Proletariat
106 Von Taaffe bis Badeni.
nur sich selbst etwas zu verdanken haben wird, und daß es nur
einen bewußten, einen politischen Ausdruck hat in Österreich,
und das ist die Sozialdemokratie.
Genossen! Beurteilen Sie die Tätigkeit der Parteivertretung
streng, wenden Sie aber dieselbe rücksichtslose, phrasenlose Be-
urteilung auf sich selbst an und seien Sie, wie wir es mit gutem
Gewissen sagen können, bewußt der Verantwortlichkeit, die die
Leitung zu tragen hat, die nicht mehr Hunderttausende, sondern
Millionen von Menschen in einen Kampf zu führen hat. Diese Ver-
antwortlichkeit ist keine leichte, wir tragen nicht nur die Ver-
antwortlichkeit für das, was wir etwa unberechtigt, unvorsichtiger-
weise tun, sondern wir tragen auch die Verantwortung dafür, was
wir etwa unberechtigt unterlassen. In diesem Gefühl glauben wir
unsere Pflicht getan zu haben, in diesem Gefühl wollen Sie prüfen
und selbst entscheiden. (Lebhafter Beifall.)
Das allgemeine Wahlrecht und die
Liberalen.
„A r b e i t e r - Z e i t u n g" vom 2. Juni 189 3*).
Die Arbeiter Österreichs haben den ernstlichen Entschluß gefaßt,
die Frage des Wahlrechtes nicht mehr einschlafen und sie nicht
mehr von der Tagesordnung verschwinden zu lassen. Die Mittel,
die uns in diesem Kampfe zur Verfügung stehen, liegen zunächst
allerdings in unserer eigenen Kraft, in unserer eigenen Organi-
sation. Wie fühlbar dieselbe den Gegnern und der Regierung ge-
worden ist, davon bringt jeder Tag Beweise. Aber das Werkzeug,
durch welches schließlich und endlich die Entscheidung herbeizu-
führen ist, das sind nicht die wenn auch noch so zahlreichen
Stimmen der Arbeiter, sondern die Stimmen der privilegierten Ver-
treter der privilegierten Wählerschaft. Ein recht zurückgebliebenes
Werkzeug, welches zu wenig vernünftigen Dingen zu gebrauchen
ist, aber leider das einzige, das derzeit zur Verfügung steht. Dieses
muß nun so gut es geht brauchbar und vor allem gefügig gemacht
werden. Es handelt sich in der Tat darum, daß auch der Vertretung
der Bourgeoisie klargemacht werde, daß ihre gegen das allgemeine
*) Siehe dazu auch den Artikel der „Arbeiter-Zeitung" vom 31. Oktober
1890 über die gleiche Frage. Er ist oben bereits abgedruckt.
Der Anlaß zu diesem Artikel war, wie unten dargelegt wurde, die vom
Sozialpolitischen Verein einberufene Versammlung vom 25. Mai für das
allgemeine Wahlrecht, in der auch Adler sprach. Leider ist über die Rede
Adlers kein ausreichender Bericht erhalten.
In derselben Nummer der „Arbeiter-Zeitung" vom 2. Juni, in der dieser
Artikel erschien, war auch eine Mitteilung, daß die von der Parteileitung
gegebene Anregung, die Agitation für das allgemeine Wahl-
recht nun eifrig in die Hand zu nehmen, in allen Provinzen auf
den günstigsten Boden gefallen sei und daß überall große Versamm-
lungen unter freiem Himmel geplant seien — meist für den
18. Juni.
Das allgemeine Wahlrecht und die- Liberalen, 1()7
Wahlrecht ablehnende Waltung nicht einmal mehr dem Willen ihrer
eigenen Wählerschaft, geschweige des Volkes entspricht. Unter
diesem Gesichtspunkt haben wir alle Zeichen des Fortschritts, wie
den Antrag der Jütigtschechen und die dem Wahlrecht günstigen
Äußerungen der Antisemiten als bemerkenswerte Ereignisse kon-
statiert, und wir sind nunmehr in der Lage festzustellen, daß der
Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe endlich auch Mitglieder
der Vereinigten Linken anfangen, sich in Bewegung zu setzen.
In einer allgemeinen Wälllerversammlung, welche der junge
Sozialpolitische Verein im ersten Bezirk Wiens am 25. Mai ein-
berufen hatte, stand das allgemeine Wahlrecht auf der Tages-
ordnung, und man mußte erwarten, daß eine Wählerschaft, die noch
vor wenigen Monaten dem Dr. Kronawetter ein Mandat ge-
geben*), wenn auch bekannterweise dabei mehr rassenpolitische
*) Es ist hier vielleicht der Anlaß, einiges über Ferdinand Krona-
wetter zu erzählen, den bürgerlichen Demokraten, der allezeit ein auf-
richtiger Freund der Arbeiter war und ihnen jahrzehntelang als einziger
Vertreter neben Pernerstorfer im Parlament zur Seite stand. Kronawetter
wurde am 27. Februar 1838 in Wien als Kind eines kleinbürgerlichen Hauses
geboren. Die Märzrevolution machte auf den zehnjährigen Knaben einen
unauslöschlichen Eindruck. Nach Beendigung seiner Universitätsstudien trat
der junge Jurist in den Dienst der Wiener Gemeindeverwaltung, in dem er
bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1902 verblieb. Sowohl unter der libe-
ralen wie später unter der christlichsozialen Herrschaft war er trotz der
heftigen politischen Gegensätze wegen seiner fabelhaften Kenntnis jedes
einzelnen Verwaltungsdetails sehr geschätzt. Schon in den sechziger Jahren
war er in der demokratischen Bewegung sehr geschätzt und hatte auch
frühzeitig ein Interesse an der Arbeiterbewegung gefunden. Im „Kommünal-
kalender" für das Jahr 1869 veröffentlichte er bereits eine 34 Seiten lange
Studie über „Die Arbeiterbewegung in Wien vom Jahre
1866 bis Mitte 186 8", die trotz aller Sachlichkeit seine Sympathien
so wenig verbirgt, daß die Redaktion des Kalenders in einer Anmerkung
ausdrücklich erklärte, daß es dem Verfasser überlassen bleibe, seine Auf-
fassung der Frage zu vertreten. Bald kam Kronawetter auch in persönliche
Berührung mit der Arbeiterbewegung.
Als im Jahre 1873 die Abgeordneten des Reichsrats nicht mehr von den
Landtagen, sondern zum erstenmal von den Wählern direkt gewählt
wurden, wenn auch auf Grund eines Zensuswahlrechtcs von 10 Gulden,
wurde er vom achten Wiener Bezirk (Josefstadt) in das Parlament ent-
sendet — mit ihm zusammen in Wien noch zwei andere Demokraten (in
Margareten Steudel, am Neubau Dr. Schrank), dann als damals noch sehr
radikaler Fortschrittler in Mariahilf Dr. Kopp. In den ersten Jahren galt
sein Kampf vornehmlich der Korruption der liberalen „Verfassungspartei",
für die er die Bezeichnung „Verwaltungsratspartei" erfand, die alsbald ein
geflügeltes Wort im politischen Kampfe wurde, aber neben ihrer Korruption
auch ihrer Halbschlächtigkeit in allen Freiheitsfragen, so auch in Kultur-
und Kirchenfragen ... Im Jahre 1876 überreichte er im Parlament die
Wahlrechtspe titionen der Arbeiter, und von da an war er im
Parlament der Wortführer der Arbeiter gegen die Unterdrückung durch die
Staatsgewalt. Wegen seines Kampfes gegen die Korruption und für die
Arbeiter und eine demokratische Wahlreform wurde von den Liberalen
eine infame Hetze gegen ihn veranstaltet, die auch vor seinem Privatleben
nicht zurückschreckte. (Als Anlaß wurde eine Pfründe genommen, die seine
108 Von Taaffe bis Badeni.
Motive als solche freisinniger Art maßgebend gewesen waren, man
mußte erwarten, daß eine derartige Wählerschaft sich für die Frage
des Wahlrechtes doch bis zu einem gewissen Grade interessieren
würde. Der Verein hatte seine Schuldigkeit getan; nicht weniger
als 7200 Einladungen waren ausgegeben, und sämtliche Mandats-
träger der Inneren Stadt in Parlament, Landtag und Qemeinderat
waren speziell eingeladen worden. Als die Versammlung beisammen
war, konnte ein Redner konstatieren, daß nicht einmal ganz fünf
Promille der eingeladenen Wähler erschienen waren. Wir geben
zu, daß hieran nicht nur die Qualität der Liberalen, sondern auch
die Art der Einberufung Schuld trug, und wir sind überzeugt, daß,
wenn die Vereinsleitung weniger bescheiden gewesen wäre, sondern
Vorträge von Reichsratsabgeordneten angekündigt hätte, die
Mutter von der Gemeinde bezog und auf die sie als Witwe nach einem
„Bürger" Anspruch hatte.) Es gelang dieser Hetze, ihn zum Rücktritt zu
zwingen und ihm das Mandat abzunehmen, aber bei den allgemeinen
Wahlen im Jahre 1885 — die bereits unter dem niedrigeren Zensus statt-
fanden — wurde er von den Fünfguldenmännern wieder gewählt, mit ihm
in Margareten noch als Demokrat auch Dr. L u e g e r (allerdings gegen den
wirklichen Demokraten Steudel), übrigens in Wiener-Neustadt auch
Pernerstorfe r.
Bei den Wahlen im Jahre 1891 standen einander Lueger und Krona-
wetter bereits als Feinde gegenüber, da der ehrgeizige Lueger seinen Über-
gang zu den Klerikalen vollzogen hatte, die damals unter dem Decknamen
der „Vereinigten Christen" ihren Eroberungszug in Wien begannen. Die
„Vereinigten Christen" stellten Kronawetter in seinem Stammbezirk Josef-
stadt den Professor Schlesinger gegenüber und Kronawetter, de*i die
dortigen „Demokraten" fallen ließen, trat nun im Wiener Vorortewahlbezirk
Hernais (zu dem damals auch drei andere Wiener Vororte Ottakring;
Währing und Döbling gehörten) gegen den von den „Vereinigten Christen"
oder „Christlichsozialen", wie sie sich auch bereits nannten, kandidierten
Prinzen Alois Liechtenstein auf, der früher als Erzklerikaler die
Bauern des steirischen Bezirkes Hartberg vertreten hatte und nun als
Christlichsozialer in Wien kandidierte, weil die Bauern keinen Fürsten mehr
wollten.
Die Sozialdemokratie gab die Parole aus, mit aller Kraft für Krona-
wetter einzutreten: „Der durchlauchtigste Vorkämpfer der Dummheit, der
frivole Jesuit darf nicht siegen; der tapfere Verfechter des Volksrechtes,
der unermüdliche Bekämpfer der Polizeiwillkür darf nicht fallen!" hieß es
in dem Aufruf, der die wahlberechtigten Arbeiter, die im ersten Wahlgang
ihre Stimmen für Jakob Reumann abgegeben hatten, aufforderte, in der
Stichwahl für Kronawetter zu stimmen. Für die übrigen Stichwahlen hatte
die Partei die Parole der Wahlenthaltung ausgegeben, da es gleichgültig
sei, „ob ein liberaler Schwätzer mehr oder weniger im Parlament sitzt".
Trotz der Unterstützung der Sozialdemokraten fiel Kronawetter und es
siegte Liechtenstein, der dann bis zu den Juniwahlen des Jahres 1911
dem Parlament angehörte.
Der bisherige Vertreter des Bezirkes Hernais war der in diesem Artikel
ebenfalls genannte Professor Dr. Wilhelm E x n e r gewesen, ein Liberaler,
der in der Inneren Stadt gewählt wurde, später im Herrenhaus war.
Als nach dem Tode des Liberalen Dr. Eduard Herbst (des ehemaligen
Ministers) in der Inneren Stadt in Wien ein Mandat frei wurde, wurde es
von den Liberalen Kronawetter angeboten, weil er im Kampf gegen die
|).is allgemeine Wahlrecht und die Liberalen. 109
Herren Wähler, /war weder uns Pflichtgefühl noch aus sachlichem
Interesse, aber aus Neugierde erschienen wären. Immerhin aber ist
der klägliche Ausfall der Versammlung nur dadurch zu erklären,
daß die Wähler der Inneren Stadt der wohlhabenden Bourgeoisie
angehören, und für diese hört mit Anfang Mai jede Politik auf, denn
da geht sie aufs Land. Die Wahlrechtsagitation wird, wie es scheint,
in Wien auf diejenigen angewiesen sein, deren Mittel es nicht er-
lauben, aufs Land zu gehen. Nun zur Versammlung selbst.
Wir übergehen einige recht interessante Zwischenfälle, die sich
um das Andenken Schmerlings drehen, der am selben Tage
begraben wurde; wir übergehen auch einige gute Reden, von denen
die Pernerstorfer s die beste war. Schließlich ist es bekannt,
daß die Mitglieder der sogenannten demokratischen Partei sowie
Antisemiten unterlegen war. (Das sind die hier zitierten „rassenpolitischen
Motive".) Er wurde auch gewählt. Das war allerdings nicht ganz nach dem
Herzen der dortigen liberalen Clique, die später, als Kronawetter für die
Taaffesche Wahlreform eintrat, ihn — allerdings vergeblich — zu beseitigen
versuchte. 1897 wurde Kronawetter wieder gewählt, 1901 verzichtete er
auf eine Kandidatur und sein Mandat bekam dann Dr. O f n e r, der be-
kannte Jurist. Im Jahre 1896 wurde Kronawetter zusammen mit
^en „Sozialpolitikern" Professor Philippovich und Dr. 0 f n e r von
der Inneren Stadt in den Landtag entsendet. Im Jahre 1902 schied er ganz
aus der aktiven Politik aus und starb am 31. Jänner 1913.
Obwohl Kronawetter kein Sozialdemokrat war, wurde er von den
Arbeitern immer als einer ihrer treuesten Freunde angesehen. Schon seit
dem Jahre 1880 wurden die Reden, die er im Parlament hielt, von der
Sozialdemokratie als Broschüren herausgegeben und gehörten zu den
wichtigsten Agitationsschriften der Partei: so besonders die Reden, die er
und Pernerstorfer am 26. und 27. März 1886 über die Staatspolizei
hielten, dann die Rede über die Geheimbündelei und das objektive Ver-
fahren im Jahre 1888, in der er die böhmische Klassenjustiz geißelte, seine
Rede vom März 1889 über die Greuel des Ausnahmezustandes („Die Staats-
polizei vor dem österreichischen Parlament").
In der Nummer der „Gleichheit" vom 12. Februar 1887 (abgedruckt im
Bd. VIII, Seite 339 und 340) hat Adler Kronawetter und sein Verhältnis zur
Sozialdemokratie mit folgenden treffenden Worten gekennzeichnet:
Er ist aufgewachsen in den Begriffen von politischen Idealen der
bürgerlichen Demokratie, deren Vertreter heute nur noch der Klein-
bürger ist: später lernte er den Sozialismus kennen, von dem in seinen
älteren Reden noch, keine Spur zu finden ist. Trotz seiner Begabung
seheint es ihm aber unmöglich zu sein, sich zu einer klaren Durch-
dringung des wissenschaftlichen Sozialismus und seiner Geschichtsauf-
fassung durchzuarbeiten. So bringt er jedesmal bürgerlich-revolutionäre
Vorstellungen, „die Prinzipien von 1789" mit sozialistischen Utopien in
buntem Gemisch vor ... Wenn Dr. Kronawetter von den Arbeitern ge-
achtet, ja vielfach verehrt wird, so hat dies keineswegs seinen Grund
darin, daß sie ihn für einen Parteigenossen halten. Sie ehren und
schätzen ihn, weil er ein ehrlicher Mann ist, der den Mut hat, die
Wahrheit darüber zu sagen, wie es mit unseren „sogenannten staats-
bürgerlichen Rechten" eigentlich bestellt ist.
Siehe übrigens auch Adlers Rede bei Kronawetters sechzigstem Ge-
burtstag am 27. Februar 1898.
110 Von Taufte bis Badern.
Pernerstorfer Anhänger des allgemeinen Wahlrechtes sind.
Recht interessant war, daß einer der Redner, wir glauben, es war
der Vorsitzende der Versammlung, Herr v. N e u m a n n, sofort von
dem Rechte der Minoritäten sprach und das Proportionalwahl-
system empfahl. Wir sind gewiß für das Proportionalwahlsystem,
wir meinen aber, daß es heute in Österreich ziemlich verfrüht ist.
es auf die Tagesordnung zu stellen; es handelt sich heute nicht um
den Schutz der Minoritäten, in Österreich handelt es sich vor allem
um den Schutz der Majorität, jener kolossalen Majorität
von zwei Dritteln der Bevölkerung, welche recht- und schutzlos ist.
Aber bemerkenswerter waren die Äußerungen des Herrn Abge-
ordneten E x n e r und des Herrn Stadtrats N o s k e. Sie hatten etwas
Gemeinsames darin, daß sie im Schweiße ihres Angesichts für das
allgemeine Wahlrecht einzutreten versprachen, dabei aber alle
Einwendungen, die gegen das Wahlrecht irgendwie vorgebracht
werden können, in ausführlicher Rede darlegten. Herr E x n e r er-
klärte ausdrücklich, daß er nur für seine Person und nicht im
Namen seiner Partei spreche, welcher Umstand weiter dadurch
illustriert wurde, daß der Abgeordnete Baernreither zwar
anwesend war, aber schwieg. Herr E x n e r, so warme Töne er zu-
gunsten des allgemeinen Wahlrechtes fand, er geriet gerade in eine
Art von Begeisterung, als er schilderte, wie so viele seiner Freunde
für das Wahlrecht nicht zu haben seien, weil sie für den Besitz-
stand der deutschen Nation fürchten. Und obwohl er auch am
Schluß erklärte, ihn vermöge dieses Argument nicht zu überzeugen,
vermißten wir doch eine Widerlegung dessen aus seinem Munde,
die der Abgeordnete Pernerstorfer hierauf, und zwar nicht
nur vom allgemeinen, sondern auch vom nationalen Standpunkt
beibrachte. Für uns hat das Vorgehen des Abgeordneten Exner
bei dieser Gelegenheit um so mehr Bedeutung, als wir darin das
Vorbild für seine gesamte Partei haben. Es gibt vielleicht wenig
Angehörige der Vereinigten Linken, bei denen das nationale Ele-
ment so wenig in den Vordergrund tritt, wie beim Abgeordneten
Exner, und seiner ganzen Entwicklung und Stellung nach gehört
er zum internationalen Liberalismus.
Wenn sich also schon solche Leute hinter das nationale Inter-
esse verschanzen, so ist es absolut sicher, daß wir diesem Schlag-
wort auf der ganzen Linie begegnen werden, um so mehr, da neuer-
dings die deutschliberale Partei die angeblichen Interessen des
Deutschtums zum Deckmantel und zur Maske ihrer Klassen- und
Cliqueninteressen mehr als sonst macht.
Der Herr Stadtrat N o s k e erklärte sich bereit, die Suppe des
allgemeinen Wahlrechtes hinunterzuschlucken, obwohl er ein Haar
darin gefunden, nämlich „die bedrohliche Herrschaft der gedanken-
losen Menge, welche durch die Analphabeten insbesondere in den
östlichen Provinzen repräsentiert werde". Es ist ein erfreuliches
Zeichen, daß diese Ausführungen des Herrn N o s k e mit kaum durch
die Höflichkeit gemildertem Hohngelächter aufgenommen wurden.
Aber dieser Herr ist überhaupt nicht ernst zu nehmen. Er ist
Das allgemeine Wahlrecht und die Liberalen. 111
bekanntlich ein ganz ordinärer Prixhusar*), das heißt ein Mitglied
und williges Werkzeug jener Gemeinderatsclique, welche ihre
persönlichen Interessen mit liberalem Anstrich und bedingungs-
loser Untertänigkeit gegenüber dem liberalen Klüngel zu verbinden
weiß. Als Genosse Adler, der direkt gezwungen wurde, das
Wort zu ergreifen, Herrn N o s k e fragte, wie er sich zur Auf-
hebung der Wahlkörper bei der Wiener Gemeindevertretung ver-
halte, war der bärbeißige Mann des Fortschrittes gezwungen, sich
verlegen hinter den Ohren zu krauen.
Trotzdem also die Versammlung nicht überreich an Ergiebig-
keit war, möchten wir ihr nicht jede Bedeutung absprechen. Es ist
immerhin ein Beweis dafür, daß die Idee des allgemeinen Wahl-
rechtes ihren Siegeslauf auch in der privilegierten Wählerschaft
begonnen hat, wenn Leute, wie E x n e r und N o s k e, deren Nasen
darauf dressiert sind, zu erkennen, woher der Wind weht, sich
gezwungen sehen, wenn auch in noch so verlegenen Rede-
wendungen für das Wahlrecht einzutreten, und wenn andererseits
Abgeordnete, die dazu vorläufig keine Lust haben, wie die Herren
J a q u e s und Kopp, es vorziehen, zu Hause zu bleiben. Wir
zweifeln nicht, daß die Zeit kommen wird, wo sich kein Ab-
geordneter einer Partei findet, der sich nicht schämte, gegen das
Wahlrecht aufzutreten. Aber das genügt nicht, wir müssen es so
weit bringen, daß sich jeder fürchtet, anders als für das Wahl-
recht zu stimmen. Herr E x n e r hat die Frage, wie er sich dem
jungtschechischen Antrag gegenüber verhalte, vorläufig nicht beant-
wortet; und die Antwort, die er feierlich versprach, wird er wohl
erst zu geben Gelegenheit haben, wenn die Wähler von ihren Villen
wieder eingerückt sind. Wir denken, bis dahin wird die Situation
eine wesentlich andere sein. Antisemiten und christlichsoziale Ab-
geordnete, das heißt solche Abgeordnete, in deren Wählerkreisen
das Kleinbürgertum organisiert ist und die Majorität bildet, wagen
schon heute nicht gegen das allgemeine Wahlrecht aufzutreten, und
wir sind überzeugt, daß sie in der Folge gezwungen sein werden,
bei einer Abstimmung ihr Ja zu sagen. Die Agitation, wTelche die
Sozialdemokratie den Sommer über entwickeln wird, wird dazu
beitragen, auch in solchen Bezirken, wo sich die Liberalen heute
noch sicher fühlen, eine Bewegung für das allgemeine Wahlrecht
zu erzielen, welche so manchen Liberalen zwingen wird, wenn
auch mit süßsaurer Miene, für den jungtschechischen Antrag zu
stimmen.
Anknüpfend an diese Versammlung wurde vielfach von
„die Klassengegensätze überbrückenden Annäherungen" zwischen
Arbeiterschaft und Bürgertum gesprochen. Abgeordneter P e r n e r-
s t o r f e r selbst sprach sich in einer begeisterten Rede dafür aus,
daß die besseren Elemente des Bürgertums, wenn sie auch das
soziale Programm der Arbeiterschaft nicht unterschreiben könnten,
mindestens ihre politischen Forderungen zu den ihrigen machen
müßten. Wir müssen leider gestehen, daß wir hievon wenig oder
) Dr. Prix war der liberale Bürgermeister von Wien.
112 Von Taaffe bis Badeni.
nichts erwarten. Nicht die Liebe zu den Menschen, nicht die Idee
der Gerechtigkeit wird die österreichische Besitzerklasse dazu
bringen, ihre Privilegien aufzugeben, sondern einzig und allein die
Furcht. Das rechtlose Proletariat hat die Zahl für sich und die
Masse, es muß zeigen, daß es auch eine Macht ist; der Macht
werden sie sich beugen, und sie werden sich nicht einen Moment
früher beugen, als sie sich beugen müssen. An uns ist es, das
Herannahen dieser Stunde zu beschleunigen.
Eine Frage an die Rechtlosen.
„Arbeiter-Zeitung", 9. Juni 1893*).
Warum seid ihr rechtlos? Warum seid ihr nicht Wähler?
Warum dürfen Leute, die von einem schwachen Drittel der
Bevölkerung gewählt sind, im Namen des ganzen Volkes Gesetze
machen und den Staat, das Land, die Gemeinde verwalten?? Seht
nach Deutschland hinüber; da seht ihr heute ein mächtiges Ringen
des ganzen Volkes gegen die Übermacht des Militarismus. Der
ärmste Proletarier, so machtlos er sein mag, er darf seine Stimme
erheben als Protest gegen die Zumutung, daß dem Volke neue
Lasten an Gut und Blut aufgebürdet werden sollen. Habt ihr eine
ähnliche Volksbewegung je in Österreich erlebt? Unser Redehaus,
das Parlament, bewilligt stets und alles, wras man von ihm begehrt.
Das Volk weiß nichts von unseren Volksvertretern und sie wissen
nichts vom Volke.
In Österreich gibt es sechs Millionen Männer von über
24 Jahren; noch nicht zwei Millionen von ihnen haben das Wahl-
recht. Vier Millionen erwachsener Männer haben alle Lasten zu
tragen, die ihnen Staat und Gemeinde auferlegen, haben mit ihrem
Blute das Reich zu schützen, das sie nicht wert hält, vollberech-
tigte Bürger zu sein. Vier Millionen sind rechtlos.
Aber, so sagen die Gesetzesmacher, wir Wähler sind die
„Steuerzahler". Nun, von den über 400 Millionen Gulden, die der
Staat alljährlich nimmt, werden 300 durch indirekte Steuern auf-
gebracht, die ihr alle zahlt, Männer und Frauen, bei jedem Bissen,
den ihr eßt, bei jedem Schluck, den ihr trinkt, ihr zahlt Steuer für
die dumpfe Luft sogar in euren engen Wohnungen. Und die direkten
Steuern? Zahlen sie denn die Reichen aus ihrer Tasche oder nicht
vielmehr aus eurer? Eure Arbeit, euer Schweiß ist es, was sie aufs
Steueramt tragen.
*) Dieser Artikel, der am 9. Juni 1893 in der „Arbeiter-Zeitung" erschien,
wurde kurz vor den Massenversammlungen, die am 18. Juni in ganz
Österreich veranstaltet wurden und in mehreren Orten, zum Beispiel in
Brunn und Prag, zu blutigen Zwischenfällen führten, in einer Auflage von
400.000 Exemplaren auch als Flugblatt verbreitet. Die Verbreitung erfolgte
am 15. Juni, an dem Tage, an dem die deutsche Arbeiterschaft zur Wahl-
urne schritt. (Siehe B r ü g e 1, Bd. IV, Seite 184 f., wo das Flugblatt eben-
falls abgedruckt ist.)
Eine Präge an die Rechtlos t n. 1 i ;
Ihr habt zu zahlen und zu schweigen. Und Ihr habt um So mehr
zu zahlen, weil ihr schweigen müßt. Eure Rechtlosigkeit kömmt
euch teuer zu stehen. Ohne euch wird regiert und nur zu oft gegen
euch.
Aber, heißt es, ihr seid politisch unreif. Reif seid ihr. Schätze
anzuhäufen für die anderen, reif seid ihr. eure Haut zu Markte zu
tragen für das Vaterland — reif seid ihr für jede schwere Pflicht,
aber wenn es gilt, Bürgerrechte auszuüben, zu verwalten, was ihr
dem Staate gebt, Gesetze zu machen, denen ihr blind gehorchen
müßt, dann seid ihr — ■ unreif.
Nicht Charakter, Intelligenz, Bildung, nicht Opfermut und fleißige
Arbeit macht politisch reif in Österreich — der Geldsack allein
macht reif, gibt politisches Recht. Je mehr Geld, desto mehr Recht.
Je mehr Arbeit, desto mehr Lasten; je mehr Lasten, desto weniger
Rechte.
Und nun noch eine Frage, ihr Rechtlosen. Wie lange wollt ihr
diesen unwürdigen Zustand noch dulden? Wie lange noch wollt
ihr einer Minderheit erlauben, in eurem Namen „Volksvertretung"
zu spielen. Meint ihr nicht, daß es Zeit sei, der Schmach ein Ende
zu machen? Wenn ja, dann schließt euch der Sozialdemokratie an
und ihrem Kampfe gegen die politische Ungleichheit und Bevor-
mundung. Die Sozialdemokratie ist die einzige Partei, die rück-
sichtslos die wirtschaftliche Ausbeutung bekämpft, ebenso wie die
politische Unterdrückung.
Auf! Vereinigt euch mit der Armee der sozialdemokratischen
Arbeiterschaft und zeigt, daß dem Volk, das erwacht ist und will,
Nichts und Niemand widerstehen kann.
Und nun eine Frage an die Bevorrechteten, die
Wähler!
Ihr genießt das Privilegium, Vertreter zu wählen für Parlament,
Landtag und Gemeinde. Seid ihr zufrieden mit euren Vertretern?
Oder müßt ihr, Kleinbürger und Bauern, nicht vielmehr erfahren,
daß ganz andere Interessen gewahrt werden, als die der Masse des
Volkes? Warum ist das so? Weil euer Wahlrecht verdünnt ist und
nicht weiter geht, als euer Geldsack, der täglich dünner wird. Ganz
andere Leute regieren, als ihr, arme Fünfguldenmänner.
Die 5000 Großgrundbesitzer wählen 85 Abgeordnete. Ein Ab-
geordneter entfällt schon auf 63 dieser hohen Herren, aber erst auf
2918 Bürger und gar erst auf 10.500 Bauern. Ihr seht, die 5 Gulden
direkter Steuer, die euch zu Wählern machen, geben euch nur ein
Scheinrecht.
Und dabei müßt ihr zusehen, wie euch eure Brüder, die große
Masse des Volkes, rechtlos zur Seite stehen. Das ist schmachvoll,
ebenso für euch wie für sie. Ein Privilegium entehrt die Privile-
gierten ebenso, wie die vom Privilegium Ausgeschlossenen.
Und das Privilegium rächt sich. Schwach, wie ihr seid, da die
Masse des Volkes fernsteht, müßt ihr sehen, wie die öffentlichen
Angelegenheiten des Landes rettungslos in einen Sumpf geraten
sind; wie eure Vertreter mit unfruchtbarem, kleinlichem Nationali-
Adler, Briefe. X. Bd. 8
114 Von Taaffe bis Madcni.
tätengezänk ihre Zeit und euer Geld totschlagen — derweilen die
eigentlich Mächtigen im Trüben fischen und alle Schafe scheren.
In eurer großen Mehrzahl gehört ihr selbst zu den Schwachen
und Armen, gehört ihr zum Volke. Verlangt es da nicht eure Ehre
sowohl wie euer Interesse, daß ihr mithelft, das Unrecht gut zu
machen; daß ihr helft, eure Brüder zu Bürgern zu machen, daß ihr
mitkämpft für das Wahlrecht!
Darum, Rechtlose und Bevorrechtete, Arbeiter und Bürger, so-
weit ihr Herz und Kopf am rechten Flecke habt — stimmt ein mit
den Sozialdemokraten in den Ruf: Hoch das allgemeine, gleiche
und direkte Wahlrecht!
Wenn ihr ernstlich wollt, so muß es euch gelingen, muß auch in
Österreich gewährt werden, was alle modernen Staaten haben:
gleiches politisches Recht. Was die belgischen Arbeiter vor wenigen
Monaten erkämpft*), auch wir in Österreich werden es erkämpfen.
Wir wollen hoffen, daß die Mächtigen einsichtig genug sind, es an
dem Kampfe mit gesetzlichen Mitteln genug sein zu lassen.
Wir aber wrollen nicht ruhen, nicht rasten, durch nichts und
durch niemand uns abschrecken lassen, bis das Volk erlangt hat,
was sein natürliches Recht ist —
das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht!
Das erste Wahlrechtsmeeting.
Versammlung im Rathaus am 9. Juli 189 3**).
Wir sind nicht als Fremde ins Rathaus gekommen, wir nehmen
unser Recht in Anspruch, wenn wir hieher kommen. Wir sind nicht
als Bittende gekommen, wir haben in Anspruch genommen, was
*) Im April hatten, wie bereits oben, bei Adlers Rede auf dem Partei-
tag 1894 („Taaffes Sturz und die Koalition"), dargelegt wurde, die bel-
gischen Arbeiter nach einem Generalstreik das allgemeine Wahlrecht er-
langt.
**) Für den 18. Juni waren in ganz Österreich Massenversammlungen
für das Wahlrecht einberufen worden. In Wien sollten die Versammlungen
in der Volkshalle des Rathauses, im Arkadenhof und auf dem Rathaus-
platz stattfinden. Die Wiener Versammlungen wurden aber wegen Tagens
der Delegationen dann auf den 9. Juli verschoben. In Prag und Brün n,
wo man die Versammlungen verbot, kam es zu blutigen Zusammenstößen
mit Polizei und Militär. In Wien wurde Sonntag den 9. Juli die Ver-
sammlung auf dem Rathausplatz von der Polizei verboten, die beiden
anderen Versammlungsräume wieder vom Stadtrat verweigert, nach-
träglich aber vom Gemeinderat bewilligt. Die Zahl der Teilnehmer wurde
selbst von den bürgerlichen Blättern auf 40.000 bis 50.000 geschätzt. Die
Versammlungen verliefen in musterhafter Ordnung — weshalb die „Neue
Freie Presse" die Kundgebung höhnisch als „Galaparade" bezeichnete.
Im Arkadenhof sprach zuerst Adler, dann Schuhmeier, Perner-
storf er, Adelheid Dworschak (Popp), Ellenbogen. — Lueger
hatte sich mit Krankheit entschuldigt, sich aber für das allgemeine Wahl-
recht ausgesprochen, ebenso der Alldeutsche H a u c k. (Siehe übrigens den
Bericht in der Wahlrechtsbroschüre.)
Das eiste Wahlrechtsmeeting. U5
uns mit Unrecht verweigert wird. So wie dieses Haus dem Volke
von Wien gehört, so gehört jenes Maus, das Parlament, dem Volke
von Österreich von Rechts wegen. Wir mußten um diese Räume
kämpfen — es war nur der erste Schritt für einen größeren und
wichtigeren Kampf. Wir haben das Wahlrecht nie als Endziel
unserer Wünsche angesehen, aber als Vorbedingung für jeden Fort-
schritt in Österreich, als die wichtigste Waffe, womit das Voik
seinen weiteren Weg machen kann, an dessen Ende steht das Ende
der Ausbeutung, das Ende der Unterdrückung, das Ende der syste-
matischen Verdummung. (Großer Beifall.) Die heutigen politischen
Zustände stinken schon so zum Himmel, daß jeder einsieht, nur das
Volk selbst könne die Verrottung beseitigen. Ein Staatsanwalt, Herr
Lienbacher, sagte einst: „Wie das Wahlrecht ist, so ist die
Reichsvertretung, und wie die Reichsvertretung, so sind die Reichs-
gesetze." So verrottet, so beschränkt, so engherzig, so nur für die
obersten Schichten angepaßt, so sehr nur dem egoistischen Sinne
der Obersten, der Großgrundbesitzer und Großkapitalisten unsere
Wahlordnung ist, so ist auch unsere Gesetzgebung einfach eine
Gesetzgebung zugunsten von einigen Wenigen, während über die
eigentlich arbeitende Klasse einfach zur Tagesordnung über-
gegangen wird. (Beifall.) Im Jahre 1881 stellte Schönerer mit
Kronawetter, Fürnkranz und Steudel den Antrag auf allgemeines
Wahlrecht — Übergang zur Tagesordnung. Im Jahre 1886 stellte
Kronawetter mit Kreuzig und L u e g e r den Antrag auf
allgemeines Wahlrecht — wieder Papierkorb. Durch sechs Jahre
ist ein gleicher Antrag in der letzten Wahlperiode nicht einmal zur
ersten Lesung gekommen. Nun kommen die Jungtschechen. Aber
in dem schönen Hause, wo die Hüter und Fabrikanten des Gesetzes
sitzen, findet sich niemand, der sich des Kindes annimmt. Wenn
es aber die Abgeordneten nicht durchsetzen können, daß der An-
trag auf allgemeines Wahlrecht auf die Tagesordnung kommt, wird
das arbeitende Volk draußen dafür sorgen. In Prag und Brunn
hat man auf die Forderung des Volkes so geantwortet, wie man
gern überall antworten möchte, wenn man sich getraute. Wir
protestieren heute gegen die Vergewaltigung unserer Genossen
in Prag und Brunn, wir protestieren gegen die Verkürzung des
heute bereits errungenen Versammlungsrechtes durch die Prager
und Brünner Behörden.
Man sucht das Wahlrecht mit allen Mitteln so lange als möglich
zu verweigern, wenn dies nicht mehr möglich ist, sucht man zu
fälschen. Angefangen haben die Liberalen durch den Vorschlag,
Arbeiterkammern mit politischem Wahlrecht. Die eine Frak-
tion der Antiliberalen Liechtenstein-Pattai hat das akzep-
tiert. Wo es was zu fälschen gibt, darf auch eine andere Instanz nicht
fehlen; nun hat sich auch die Regierung eingestellt. Durch den
Mund eines ihrer offiziösen Journalisten*) hat sie heute offiziös aus-
A) Gemeint war das „Wiener Tagblatt". Dessen Redakteur Moritz
Szeps tat dann in dem Blatt sehr beleidigt über diese Bezeichnung, wurde
aber von Adler in der nächsten Nummer der „Arbeiter-Zeitung" mit der
8*
11C) Von Taaffe bis Badcni.
gesprochen, sie werde selbst einen Antrag auf parlamentarische
Vertretung der Arbeiterschaft durch Arbeiterkammern einbringen.
(Gelächter.) Es soll Ihnen so gut gehen wie den Handelskammern.
Wenn es gut geht, sollen die Millionen von Arbeiter so viel Ver-
treter haben wie die 139 Großgrundbesitzer in Mähren. (Pfuirufe
und Gelächter.) Wir haben nichts gegen ehrliche Arbeiter-
kammern als Erhebungs- und Kontrollinstitute. Diese wären sehr
notwendig. Aber wir können es nicht brauchen, daß man sie
benützen will zur Verfälschung des Wahlrechtes, um das Volk
abzuspeisen. Wir pfeifen auf dieses Geschenk. (Rauschender Bei-
fall und Heiterkeit.) Wir empfehlen Ihnen folgende Resolution zur
Annahme:
Resolution1').
Die im Rathaus zu Wien am 9. Juli 1893 tagende Volksver-
sammlung erklärt:
Die erste Vorbedingung jeden politischen und wirtschaftlichen Fort-
schrittes in Österreich ist die Beseitigung der heutigen auf das Monopol
der Besitzenden gegründeten Verfassung. Großgrundbesitz und Groß-
kapital sind nicht nur im alleinigen Besitz des Herrenhauses, sondern sie
sind durch ihre Wahlprivilegien auch die eigentlichen Beherrscher des
Abgeordnetenhauses. Die gesamte Gesetzgebungsmaschine steht im Dienste
einer kleinen Gruppe von Meistbesitzenden, welche das arbeitende Volk
nicht nur als einzelne Unternehmer wirtschaftlich . . ., sondern es auch als
Klasse politisch knechten.
Die Versammlung erkennt das rückständige und . . . Wahlsystem
Österreichs als Grundursache der politischen Versumpfung des Reiches
und als Wurzel des sinnlosen, maßlosen und fruchtlosen Nationa^täten-
haders und der kläglichen staatsrechtlichen Wirren.
Die heutige Versammlung protestiert gegen jenes Wahlsystem,
welches Österreich zu einer traurigen Ausnahmsstellung in Europa ver-
urteilt. Sie protestiert gegen die Ausschließung von mehr als zwei
Dritteln des Volkes vom Wahlrecht in Stadt, Land und G e-
m e i n d e, und verlangt als Grundlage und Vorbedingung einer ernsten
Geltendmachung der Volksinteressen die Aufhebung der politischen Vor-
rechte aller privilegierten Interessengruppen und das allgemeine, gleiche
und direkte Wahlrecht für alle Staatsangehörigen ohne Unterschied des
Geschlechtes vom 21. Lebensjahr an.
Die heutige Versammlung protestiert auch aufs Entschiedenste
gegen jene ... und verhängnisvollen Einschränkungen des Versammlungs-
rechtes, die in Brunn und Prag zu Blutvergießen führten, durch welche
aber der Kampf um das Volksrecht wohl verbittert, niemals aber behin-
dert werden kann.
Die große Masse der Besitzlosen hat es satt, sich von einer ver-
schwindenden Minderheit gängeln und übervorteilen zu lassen. Die sozial-
Bemerkung abgefertigt, daß die Beziehungen zwischen dem „Wiener Tag-
blatt" und dem Preßbüro notorisch seien; übrigens sei bei dieser Ver-
bindung die -Unehre entschieden auf Seiten des Grafen Taaffe.
. *) Zu den hier ausgelassenen Stellen der Resolution siehe die Be-
merkungen bei der Wahlrechtsbroschüre, wo die Resolution im
Vorwort ebenfalls abgedruckt ist. (Seite 11.)
Das erste fehlende Wort heißt danach: „ausbeuten", das zweite:
„verrottete", das dritte: „ungesetzlichen".
Taaffes Wahlreform. i !7
demokratische Arbeiterschaft Insbesondere verlangt das politische Wahl-
recht als Grundlage der Organisation des Proletariats, als das vornehmste
Mittel politischer Bildung, als wichtigste Waffe im Kampfe gegen Aus,-
beutung, Rechtlosigkeit und Bevormundung.
Die heutige Versammlung erklärt es als Pflicht jedes Rechtdenkenden,
mit aller Kraft dahin zu wirken, daß endlich die Verfassung den Grundsatz:
„Gleiches Recht für alle" auch wirklich zur Wahrheit mache.
sie erklärt nicht ruhen und vor keinem Opfer, das dem Volke auferlegt
wird, zurückschrecken zu wollen, bis das a 1 1 g e tri e i n e, g 1 e i c h e u n d
direkte Wahlrecht erkämpft ist.
Nun, Genossen, diese Resolution ist für alle bestimmt, die wollen,
daß dem Volk sein Recht nicht vorenthalten werde. Wir aber haben
noch weitere Ziele. So ruhig und kaltblütig, aber auch so uner-
schütterlich wir bisher gekämpft haben für den Achtstundentag,
für das Wahlrecht, so werden wir weiter kämpfen für unsere End-
ziele. Hoch die internationale Sozialdemokratie! (Donnernde Hoch-
rufe. Lebhafter Beifall.)
Taaffes Wahlreform.
Versammlung im S o p h i e n s a a 1 am 16. Oktober
1893*).
Nach mehr als 25 Jahren unaufhörlicher Arbeit und harten
Kampfes steht die Arbeiterbewegung heute endlich zum ersten Male
*) Am 10. Oktober 1893, als das Parlament nach den Sommerferien zu
seiner Herbsttagung zusammentrat, überraschte Graf Taaffe die Abgeord-
neten und die Öffentlichkeit mit einem Wahlreformentwurf, der die Kurien
bestehen ließ, aber in den Kurien der Steuerzahler, in der Städte- und der
Landgemeindenkurie, den Zensus aufhob. Das Wahlrecht in diesen Kurien
solle jeder Staatsbürger haben, der vor dem Feinde gestanden, zum
Tragen der Kriegsmedaille berechtigt ist, das Zertifikat für ausgediente
Unteroffiziere erworben hat, den erforderlichen Bildungsnachweis (Kennt-
nis des Lesens und Schreibens) oder den Nachweis über die erfüllte
Stellungspflicht zu erbringen vermag. — Die Kurien hatte Graf Taaffe (oder
vielmehr der eigentliche Anreger, der Finanzminister Dr. Emil Steinbach)
deshalb belassen, weil sie sonst die zur Abschaffung der Kurien notwendige
Zweidrittelmehrheit gebraucht hätten, während sie die einfache Mehrheit
leicht zu erhalten hofften. Die Bindung des Wahlrechtes an die Militär-
pflicht wurde deshalb gewählt, um den Kaiser zu gewinnen.
Aber unmittelbar nach der Einbringung der Vorlage vereinigten sich
die in ihrem Besitzstand bedrohten Parteien — die Liberalen unter der
Führung Pleners, die Konservativen unter der Führung des Grafen Hohen-
wart und die Polen unter der Führung des R, v. Jaworski — zum Sturz der
Regierung. Als am 23. Oktober die erste Lesung der Vorlage — und zu-
gleich der anderen Wahlreformantrüge — begann, war Taaffe ein ge-
fallener Mann. Am 28. Oktober wurde das Parlament vertagt. Am 11. No-
vember wurde die Regierung offiziell enthohen und zugleich Fürst Alfred
Windischgrätz zum Ministerpräsidenten des Koalitionsministeriums
ernannt.
Am 10. Oktober fand nun die Versammlung im Sophiensaal statt, in der
Adler das Referat hatte.
118 Von Taaffe bis Badeni.
beim Beginn eines Erfolges. Die Millionen von Rechtlosen, die in
Österreich in politischen Dingen bisher nichts dreinzureden hatten,
sie haben frischen Mut gefaßt am 1. Mai 1893, als durch das ganze
Reich der Ruf ging: was in Belgien geworden, in Österreich muß
es werden (Beifall), und es scheint, Genossen, daß es wird.
Die ungeheuren Schwierigkeiten, die sich gerade in Österreich
der Wahlreform entgegensetzen, haben wir niemals unterschätzt.
Wir haben gewußt, daß ein Großgrundbesitz, ein Feudaladel da ist,
der sich noch nicht an den Gedanken gewöhnen kann, daß auch
seiner Herrschaft ein Ende gemacht werde, und eine Bourgeoisie,
die feig und faul ist, von der wir nichts zu erwarten haben. Wir
haben gewußt, daß alles, was erreicht werden kann, einzig zu er-
reichen ist durch die Arbeiterklasse selbst, durch den Ernst, den das
Proletariat aufzubringen imstande sein wird. Und seit Jahren, wo
die Arbeiterpartei gewachsen ist, und seit dem 1. Mai und seit dem
9. Juli in Wien weiß man es in Österreich überall, mit diesem Prole-
tariat darf man nicht scherzen, wie mit der Bourgeoisie. In diesem
Sinne, Genossen, ist die Wahlreformvorlage zu betrachten, die der
Ministerpräsident am 10. Oktober eingebracht hat, eine Vorlage,
die in jedem anderen Lande als ein Werk der Reaktion angesehen
werden müßte, weil sie, wenn durchgeführt beinahe ein Dritteil des
Parlaments, 106 Sitze von 353, an den Großgrundbesitz und an die
Handelskammern in Generalpacht gibt, und nur den Rest der Parla-
mentssitze überhaupt den Wahlen zugänglich macht; denn in
Handelskammern und im Großgrundbesitz wird nicht gewählt,
sondern ernannt. Eine Wahlreform weiter, welche in dem weitaus
größten Teil der Wahlbezirke, in den ländlichen, das indirekte
Wahlsystem aufrechterhält, ein System, das verurteilt ist vom ge-
sunden Menschenverstand und von der Geschichte der Wahlen;
eine Wahlreform, die sich allgemeines Wahlsystem nennt und trotz-
dem diejenigen ausschließt, wrelche am schwersten zu leiden haben
unter dem Fluche der Unbildung. Und trotzdem — dieses verzopfte
Gebilde, diese Mißgeburt in jedem europäischen Lande, in Öster-
reich ist sie ein riesiger Fortschritt (so ist es!), der erste Schritt
zum allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht und, ich sage
es gleich hier, ein erster Schritt, dem andere folgen müssen. Am
10. Oktober hat zum ersten Male in Österreich wieder die Logik
gesprochen, und die Logik wird bei diesem Gesetz nicht stehen-
bleiben, dafür werden wir sorgen. Wenn wir fragen, warum hat die
Regierung diese Wahlreformvorlage eingebracht, so müssen wir
uns vor allem gestehen, daß diese Frage eigentlich nicht ein Kom-
pliment für die Regierung ist, denn vernünftigerweise müssen wir
doch fragen, warum wurde diese Wahlreform nicht schon längst
eingebracht, warum erst jetzt? Warum ist dem Grafen Taaffe
erst jetzt diese Idee gekommen?
Das war der 1. Mai, das war der 9. Juli, das war in allen
Provinzen, wo es Arbeiter gibt, das unaufhaltsame Drängen, das
sich selbst hinstellte als ein Anfang und lange noch nicht als das
Ende. (Ruf von der Galerie: „Das ist eine Utopie." Große Unruhe.)
Bitte, wenn der Herr etwas wünscht, so kann er nach mir sprechen.
Taaffes Wahlreform. l n»
(Beifall.) Die Wahlreform des Grafen Taaffe, gerade in diesem
Moment, ist das direkte Erzeugnis der Bewegung, die in der
Arbeiterschaft in den letzten Monaten entstanden, sie ist das direkte
Erzeugnis der Verlegenheit, vor der endlich die Regierung steht,
der Verlegenheit, daß die große Majorität des Volkes etwas ver-
langt, was jedermann für vernünftig ansehen muß.
Es ist klar, daß die Regierung anfängt, die Folgen zu fürchten,
wenn sie in einem Widerstand beharrt, dessen Folgen sie nicht ab-
sehen kann. Die Regierung mußte weiter einsehen, daß es doch nicht
angeht, das Volk, das man regiert, so gut man es zuwege bringt,
ausschließlich, fortwährend mit Ausnahmezuständen zu füttern. Die
Regierung hat vielleicht begriffen, daß sie die Macht hat, die Leute
zu knebeln für den Moment, daß aber die Geknebelten an Macht ge-
winnen. Die jungtschechische Partei ist keine sozialistische, und wie
weit sie demokratisch ist, wird sich noch zeigen. Aber es ist sicher,
daß die Geschicklichkeit, mit der die Jungtschechen in diesem
Jahre den Antrag auf allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht
eingebracht haben, ihnen sehr große Sympathien zugeführt hat, und
die Regierung mußte sich sagen: Gerade diejenige Partei, gegen
welche wir angeblich den Ausnahmezustand erlassen, ist es, der
das Volk am meisten wohl will, weil sie sich zur Trägerin einer der
Hauptforderungen des Volkes machte. Und außerdem — es wird
immer schwerer, zu regieren in Österreich, es ist im Parlament
durchaus nicht mehr so gemütlich, wie es einmal war. Welche De-
batte immer geführt wird, kein Tag vergeht, ohne daß einzelne der
Wellen hineinschlagen vom großen Strome der Unzufriedenheit da
draußen. Sie fühlen sich schon lange nicht mehr sicher, weder die
Minister auf ihren Fauteuils, noch die Abgeordneten auf ihren Sitzen.
Da sieht denn die Regierung plötzlich, wie Graf Taaffe ausdrück-
lich sagte, es sei notwendig geworden, die Wahlreform nicht
länger hinauszuschieben. Diese „Notwendigkeit" haben wir er-
zeugt, Genossen, diese Notwendigkeit ist das Ergebnis einer langen,
stillen, aber unausgesetzten Arbeit. Wie Sie hier sind, und Zehn-
tausende draußen in den Provinzen, Sie können sagen: Wir haben
ein gut Stück dazu beigetragen, daß es so geworden ist, wir sind
ein Stück jener Notwendigkeit, welcher sich die Regierung beugen
mußte. Freilich, wir haben die Leute*), [die heute an der Regierung
sind, niemals als besonders ernste Leute angesehen, und es ist so
wahr, daß sie als solche nicht anzusehen sind, daß es noch heute
viele Stimmen gibt, die sagen: „Das ist ein Scherz des Grafen
Taaffe, ein billiges Auskunftsmittel, um über die Minute hinweg-
zukommen, frivol, wie er ist, wird er auch wissen, seinen Antrag
zu beseitigen, wie er ihn hervorgezaubert hat." Es mag sein, daß
Graf Taaffe frivol ist, ich habe nie daran gezweifelt, es mag sein,
daß dieser Antrag in mancher Stunde etwa als ein Spiel gemeint
war, aber das österreichische Proletariat ist nicht frivol,
das österreichische Proletariat spielt n i c h 1 1 und läßt nicht
*) Die Stellen zwischen den eckigen Klammern waren im Bericht der
„Arbeiter-Zeitung" konfisziert.
120 Von Taaffe bis Badeni.
mit sich spielen. Und heute schon ist es sicher, ist es im
Bewußtsein aller, ob Freund oder Feind, eingegraben: Diese Vor-
lage ist ein Anfang, aber dieser Anfang ist heute schon
Tatsache. Hinter diesen Anfang erlaubt die österreichische
Arbeiterschaft der Regierung nicht zurückzugehen, und wenn sie
wollte, sie könnte es nicht, das Proletariat in Österreich verbietet
es. Die Katze ist aus dem Sack, und wenn er es versuchen würde,
sie wieder zu fangen, es gelingt ihm nicht . . .
Es werden nach ziemlich genauen Berechnungen zu den heute
vorhandenen 1,770.000 Wählern hinzukommen 2,230.000, das gibt
eine Gesamtzahl von über vier Millionen Wählern. Es werden noch
immer beinahe dreiviertel Millionen sein, die das Wahlrecht nicht
haben. Das sind diejenigen, die nicht lesen und schreiben können,
obwohl sie, wie die Regierung offenbar meint, so schöne Gelegenheit
dazu gehabt hätten, da sie das Glück hatten, zu einer Zeit ihre
Jugend zuzubringen, wo die Neuschule bereits bestand.
Aber, Genossen, Sie wissen alle, und insbesondere jene, die auf
dem flachen Lande zu Hause sind, wie viele von Ihnen, die ein-
und zweiklassige Schulen, dieses berühmte Geschenk der Liberalen,
besucht haben und wie sie, wenn sie dann 5 bis 6 Jahre von der
Schule weg waren, schon wenn sie zum Militär gekommen, nichts
mehr davon wußten. Diese Unwissenheit ist eine Folge und eine
Form des sozialen Elends. Und dieselbe Logik, die den Armen auf
den Schub schickt und den Verbrecher aus Not bestraft, anstatt den
Räuber zu bestrafen, der ihn zum Bettler und Verbrecher gemacht
hat, macht für die Unkenntnis verantwortlich das Opfer dieser
elenden Schulzustände, statt jene, die zwar Millionen hergeben für
Repetiergewehre, aber noch lange nicht so viele Hunderttausende
für die Schulen.
In dem Entwurf steht auch ein Satz, auf den ich sehr wenig
Wert lege, er ist reiner Aufputz. Diejenigen sollen das Wahlrecht
haben, die erstens vor dem Feinde gestanden, beziehungsweise zum
Tragen der Kriegsmedaille berechtigt sind oder ein Zertifikat als
ausgediente Unteroffiziere erbringen. Dieser Paragraph ändert an
dem Wahlrecht außerordentlich wenig; von diesen Leuten wird es
nur wenige geben, die nicht lesen und schreiben können. Aber er
zeigt, wie ungerecht die Bestimmung bezüglich des Lesens und
Schreibens ist. Der Mann, der zum Flintentragen verwendet wird,
kriegt das Wahlrecht nicht, wenn er außer unter dem Militarismus
auch noch unter den galizischen Schulverhältnissen gelitten hat.
Aber das ist noch lange nicht das ärgste. Es findet sich im Gesetz-
entwurf eine Bestimmung, die ich für gefährlicher halte, als selbst
den „Bildungszensus". Das ist die Bestimmung, daß diejenigen nur
das Wahlrecht bekommen, welche durch ein Arbeits- oder
Dienstbuch ausweisen können, daß sie in einem
bestimmten Beruf eine ständige Beschäftigung
finden. In dieser Form ist der Paragraph unannehmbar, denn er
ist geeignet, die Bestimmungen über das Wahlrecht in die Hand
jedes Gemeindepaschas oder Bezirkshauptmannes zu legen. Wir
aber haben kein Vertrauen zu unseren Bezirkshauptleuten und wir
Taaffes Wahlreform. l~i
kennen unsere Magistrate. Diese Bestimmung muß klar ersetz!
werden. Wenn es denn schon sein muß, daß Dokumente verlangt
werden, so muß sieh jeder über seine Identität ausweisen. Das ist
aber auch alles, was verlangt werden kann. In Deutschland seihst
heißt es: „J eder Deutsche, der das 25. Jahr zurückgelegt hat,
ist Wäll ler", und zwar dort, wo er seinen Wohnsitz hat, außer
wenn er gestohlen hat oder unter Kuratel steht. Diese Bestimmung
des Entwurfes ist also gefährlich und muß fallen.
Wir jubeln also nicht, Genossen, wir bewundern nicht die Staats-
kunst und noch viel weniger die Liebe des Grafen Taaffe zum Volke.
Wir wissen, daß der Mann weniger tut, als er tun sollte; und daß
er knapp tut, was er tun muß. Aber, Genossen, diese Wahlreform
ist aus dem Grunde so wichtig, weil mit ihr die Beseitigung der
heutigen Verfassung gegeben ist. Ein Parlament, in dem eine auch
noch so geringe Anzahl von Sozialdemokraten drinnen sitzt, welches
zu zwei Dritteln getragen ist von den Volksmassen, ein solches Par-
lament verträgt nicht Abgeordnete, die von 45 Großgrundbesitzern
gewählt sind. Die Gegensätze, die in dieses Parlament hinein-
getragen werden, müssen es sprengen und werden es sprengen.
Und darum begrüßen wir diese Wahlreform. Nicht als ob sie
das Endziel unserer Wünsche wäre, aber sie ist die erste Sprosse
auf der Leiter, und diese Leiter wird beschritten werden müssen bis
ans Ende.
Wie wurde denn diese Wahlreform aufgenommen? Ich war bis-
her der Wichtigkeit und der Würde der Sache angemessen ernst.
Wenn ich von nun an nicht mehr so ernst sein kann, so verzeihen
Sie: Sie lachen ja selbst schon. Diese Wahlreform wurde auf-
genommen nicht etwa, wie man von vernünftigen Menschen er-
warten sollte, mit dem Rufe: „Endlich etwas Vernünftiges von der
Regierungsbank!" Diese Wahlreform wurde aufgenommen mit dem
Gefühl der Verblüffung, der Angst, der Zerknirschung. Wer unsere
liberale Partei nicht am Dienstag den 10. Oktober im Parlament
gesehen hat, der hat noch nichts Lächerlich-Feiges gesehen. Wer
nicht gesehen hat, wie diese „Staatsmänner" geknickt waren, wie
sie herumgingen, jeder einzelne, als hätte man seinen Vater er-
mordet, wie sie verzweifelt und erstaunt zugleich waren, wer nicht
die Wiener Presse gelesen in den letzten Tagen, wer nicht die vier
oder fünf Leitartikel der „Neuen Freien Presse"*) gelesen, der weiß
nicht, was der Liberalismus in Österreich ist, der kann nicht wissen,
welche enge Verknüpfung mit dem Schmocktum er hat. Es ist kein
Zweifel, diese Wahlreform tut der liberalen Partei wehe. Wir be-
greifen den ersten Schmerzensschrei, wir gestehen aber offen, daß
wir trotz der sehr geringen Meinung, die wir von dieser Partei
*) Am Tage nach Einbringung der Taaffcschen Wahlreform begann der
Leitartikel der „Neuen Freien Presse" mit den Worten: „Das haben sich
die Herren Adler, Schuhmeier, Ellenbogen ... nicht träumen lassen ..."
Noch berühmter ist aber der Anfang des Leitartikels vom 12. Oktober ger
worden: „Graf Taaffe hat auf sein ertcraueudes Haar die phrygische Mütze
gesetzt und tanzt vor den erstaunten Völkern Österreichs die Car-
magnole . . ."
122 Von Taaffe bis Badeni.
haben, doch erwartet haben, daß sie sich schneller fassen und eine
halbwegs würdige Haltung einnehmen werde. Die liberale Partei
mußte wissen, daß, sobald dieser Antrag eingebracht ist, er nicht
mehr zurückgezogen und nicht mehr abgelehnt werden kann. Und
anstatt eine würdige Haltung einzunehmen, zerrissen sie ihre
Kleider und streuten Asche auf ihr Haupt. Was verliert denn eigent-
lich die liberale Partei so furchtbar viel? (Zwischenruf: Sie hat
nichts mehr zu verlieren!) Gewiß, sie hat nichts mehr zu verlieren
im Respekt des Volkes, sie hat nichts mehr zu verlieren in der Liebe
des Volkes, nicht mehr in der Achtung des Volkes, aber hundert-
zehn Mandate hat sie zu verlieren. (Heiterkeit.) Und diese hundert-
zehn Mandate verliert sie lange nicht alle, davon ist gar keine Rede.
Graf T a af f e ist kein Feind der Bourgeoisie, ist nicht feindlich dem
politischen Monopol des Kapitals. Er hat ihnen den Großgrundbesitz
aufrecht gelassen, und man vergesse ja nicht, daß von den 85 Man-
daten des Großgrundbesitzes die Liberalen mindestens 30 haben,
und daß weitere 10 sich im liberalen Schlepptau befinden, und die
Handelskammern werden auch keine Antisemiten und keine Sozial-
demokraten wählen. Die Vereinigte Linke hat auch hier zwölf feste,
garantierte Mandate. Ja, und will sie denn gar nicht streiten um ihr
Leben, ist es ihr gar nichts wert, so weiß die Linke — oh, sie weiß
es sehr gut, und bei der ersten Wahl unter dem neuen Wahlsystem
werden wir es spüren — , daß das allgemeine Wahlrecht noch lange
nicht eine freie Wahl bedeutet. Weiß die Linke nicht, aber sie
wird zeigen, daß sie es weiß, daß man in Deutschland neben die
Wahlurne die Hungerpeitsche aufpflanzt, und die Vereinigte Linke
wird von dieser Hungerpeitsche Gebrauch machen, verlassen Sie
sich darauf. Um ihre Existenz geht es noch lange nicht; die Herren,
[die imstande sind, in ganzen Bezirken alle behördlichen Autoritäten
so in die Hand zu bekommen, die imstande sind, die Bezirkshaupt-
leute zu Lakaien des Fabrikanten zu machen, diese Herren werden
wirklich wissen, wie sie bei den Wahlen] ihren Einfluß geltend zu
machen haben. Aber so bequem wird es ihnen nicht mehr werden
wie heute . . . Die Liberalen haben bekanntlich schon seit vielen
Jahren als Antwort auf die unaufhörlichen Rufe nach dem Wahl-
recht einen Antrag auf Arbeiterkammern eingebracht. Es
waren das die Herren Plener, Exner und W r a b e t z; der Herr
W r a b e t z, der jetzt, nachdem das Unglück geschehen ist, gesagt
haben soll, er habe es ja immer gesagt, man solle lieber das all-
gemeine Wahlrecht geben. Aber leider ist sein Ruf unerhört ge-
blieben in seiner Partei, und er wird nach außen auch nicht be-
sonders laut gerufen haben. Nun, in diesem Schwindelantrag über
Arbeiterkammern sollten die Arbeiter neun Mandate bekommen,
und zwar neun Mandate, welche die Liberalen nicht herzugeben
brauchen, sondern die zu den heutigen 353 Abgeordneten hinzuzu-
fügen wären. Und nachdem dieser Antrag von der Arbeiterschaft
mit Hohn zurückgewiesen wurde, gingen die Liberalen weiter, und
ihr Spezialgelehrter für Sozialpolitik, Abgeordneter Dr. B a e r n-
r e i t h e r, machte sich an die Arbeit, um etwas Neues zu schaffen.
Er kam gerade um eine Woche zu spät.
Taaffes Wahlreform. 123
Jetzt hat num sich nämlich beeilt, diesen Antrag einzubringen.
Nicht mehr die Arbeiterkammern, nicht mehr das indirekte Wahl-
recht für die Arbeiter, nein, ein direktes Wahlrecht, nicht mehr
9 Mandate, sondern 20. Die „Kurie der Sozialdemokraten" haben
sie es genannt, und die liberalen Blätter rechnen uns vor, daß wir
Sozialdemokraten doch furchtbar dumm sind, wenn wir nicht nach
diesen 20 Mandaten «reifen, wo wir doch nicht sicher wissen, ob
wir auf dem Wege des allgemeinen Wahlrechtes diese 20 Mandate
bekämen. Ich bin überzeugt, wir kriegen lange nicht 20 Mandate
beim allgemeinen Wahlrecht. Aber wenn wir auf dem Wege des all-
gemeinen Wahlrechtes auch nicht ein einziges Mandat bekommen
würden, so wäre uns das allgemeine Wahlrecht mehr wert als die
geschenkten 20 Mandate. (Stürmischer Beifall.)
Uns ist es nämlich zum Unterschied von den Liberalen durchaus
nicht um Mandate, sondern nur um den Wahlkampf zu tun, während
die Liberalen nur die Mandate wünschen und ihnen der Wahlkampf
eine höchst zuwidere Angelegenheit ist.
Redner kritisiert nun ausführlich den Antrag Baernreither und
fährt dann fort: ... Die Liberalen werden dem Antrage der Regie-
rung energisch Widerstand leisten. Der erste, der dagegen auftrat,
war das Haupt der Ausbeuter im Handelskammerbezirk Reichen-
berg, der berühmte Baron Leitenberge r*). der zweite war der
liberale Preßknecht, Herr St räche**) von Warnsdorf. Die Libe-
ralen lassen sich nämlich alles bieten von der Regierung, einen Aus-
nahmezustand, zwei Ausnahmezustände, drei Ausnahmezustände, sie
erklären schließlich, sie hätten kein Recht, sich dagegen zu wehren.
Die Konfiskation der politischen Rechte überall, das stecken sie ein;
sie lassen sich gefallen, daß jede Preßreform verschoben und ver-
schleppt wird; sie trifft es ja nicht. Die „Neue Freie Presse"
wird nicht konfisziert, die „Neue Freie Presse" geniert es nicht, daß
man sie nicht kolportieren darf, ihre Leser sind fähig, ein Jahres-
oder Monatsabonnement auf einmal zu bezahlen; sie mucksen also
nicht. Aber sie sind nicht nur „liberal", sie sind ja auch „deutsch".
Und sie vertragen als Deutsche nach ihrer Behauptung viel. Nach
ihrer Behauptung sind sie ja die langen Jahre immer geknechtet
worden, aber sie sind darum nicht in Opposition gegangen; man hat
ihren Liberalismus getreten, sie haben es mit Demut getragen, man
hat ihr Deutschtum getreten, sie haben es über sich gebracht, zu
schweigen, zu kuschen, den Stiefel zu küssen, der sie getreten. Aber
nun, wenn die Regierung sich anschickt, sagen wir, mindestens
einer Million ihrer „deutschen Stammesbrüder" das Wahlrecht zu
geben, das verträgt ihr Liberalismus nicht mehr, das verträgt ihr
Deutschtum nicht mehr. Da empören sie sich, da greifen sie, wie die
„Neue Freie Presse" gesagt hat, „in die Tiefen"; aus der Tiefe des
Volkes soll es aufbrausen; ja aufbrausen wird in den Tiefen die
Verachtung, die dieses Pack verschlingen wird, etwas anderes gibt
) Ein großer Industrieller in Reiehenberkr.
) Eduard S t r a e li e war der Herausgeber des liberalen Blattes „Ab-
wehr" in Warnsdorf, ein Typus des er/reaktionären Liberalen.
124 Von Taaffe bis Badeni.
es in den Tiefen nicht für diese Leute. Und diese Leute glauben noch
immer, es sei die Zeit der Diplomatie. Die liberale Partei hat in ihrer
Geschichte viele Blätter, die mit Schmach und Feigheit bedeckt
sind, aber ein Blatt, das mit einer so grenzenlosen Dummheit be-
schrieben wäre, wie jene Erklärung, welche die Vereinigte Linke
am Freitag abgegeben hat*), findet sich selbst in der Geschichte der
liberalen Partei nicht. Die liberale Partei, welche dem Ausnahme-
zustand bisher mit stiller Gewogenheit und „Objektivität" gegen-
übergestanden, welche in ihren schwarzgelbsten dynastischesten
Gefühlen tief erschüttert und entschlossen war, anzuhören, was man
ihr da vorbringen werde, diese liberale Partei ist beinahe auf dem
Sprunge, den Ausnahmezustand nicht zu bewilligen. Was muß ge-
schehen sein, wenn die österreichischen Liberalen den Prager Aus-
nahmezustand nicht bewilligen? Nichts anderes, als eine Erweite-
rung des Wahlrechtes kann es sein, die sie zu solcher Empörung
hinreißt. Sie erklären, sie würden sich auch da „objektiv" verhalten,
aber sie erklären bei der Debatte über den Ausnahmezustand, wo
hievon keine Rede war, daß sie von nun an diesen Angriff der Regie-
rung auf das deutsche Bürger- und Bauerntum entschieden zurück-
weisen würden. Welchen Angriff? Die Angriffe etwa, welche
diese reaktionäre Regierung seit fünfzehn Jahren unaufhörlich
macht? Nein, das bringt sie nicht in Entrüstung. Etwa jener Aus-
nahmezustand, von dem ein sehr gemäßigter Liberaler und über-
dies deutschnationaler Mann, der Abgeordnete Baernreither,
erklärt hat, daß seine Partei dafür nicht stimmen könne, weil das
hieße „die nationale Fahne beschmutzen"? Der Ausnahmezustand
hat sie nicht in Entrüstung gebracht, sie beschmutzen ruhig ihre
Fahne, das sind sie gewohnt, das ist ihre Beschäftigung, davon lebt
ja die liberale Partei. Nein, erst die Aussicht, daß sie nunmehr um
ihre Alleinherrschaft in den städtischen Bezirken kommen werden,
daß sie werden um ihre Mandate kämpfen müssen, das empört sie.
Und doch handelt es sich lange nicht um ihre Existenz; 30 bis
40 Mandate für sie im allerärgsten Falle sind es, um die es sich
handelt, ich glaube nicht einmal so viel; aber freilich das Geschäfte-
machen wird hernach nicht so einfach sein, und das spüren sie auch.
Einige von ihnen werden nicht wiederkommen, und die kommen,
werden ein saures Leben haben, denn es werden Leute da sein, die
ihnen auf die Finger schauen und zu geeigneter Zeit sehr laut rufen
werden: „Haltet den Dieb!" Wir begreifen also, daß es ihnen unan-
genehm ist, aber was wir nicht begreifen, ist, daß sie nicht von der
Tugend Gebrauch machen, die ihnen in Fleisch und Blut über-
gegangen ist, daß sie nicht — heucheln. Sind sie schon so aus-
einander, daß sie nicht einmal mehr zu heucheln verstehen?
Die anderen Parteien werden voraussichtlich einen großen und
erheblichen Widerstand nicht leisten. Die Polen verlieren ja wahr-
*) Auch Dr. Kolmer schreibt in seinem Werk „Parlament und Ver-
fassung" über diesen Zusammenhang:. Das Haus bereitete sich vor, die
Vorlage der Regierung über die Fortdauer des Ausnahmezustandes in Prag
und Umgebung zurückzuweisen. Es begann eine obstruktionistische Stim-
mung vorzuwalten.
I aaffes Wahlreform. 125
scheinlich einige Mandate, aber sie vertrauen auf die fcalizischen
Institutionen, sie verlassen sich darauf, daß, wenn heute ein Mandat
sie l o.ooo dulden gekostet hat, es künftighin höchstens 15.000 Gulden
kosten wird.
hie Klerikalen dürfen einen ernstlichen Widerstand nicht
machen, weil sie gerade in letzter Zeit den Anschein einer volks-
tümlichen Partei angenommen haben. Da sie tatsächlich in breiten
Schichten fußen, sind sie nicht in der Lage, einem volkstümlichen
Antrag entgegenzutreten. Von den Jungtschechen brauche ich nicht
zu sprechen, die sind selbstverständlich dafür. Aber mögen nun die
Liberalen, mögen andere verschleppen, wie sie wollen, wir sind
auch da. Wenn übrigens die Liberalen den Antrag der Regierung
schlecht finden und auf einmal die Privilegien des Großgrundbesitzes
und der Handelskammern für reaktionär erklären — das ist ja ganz
unsere Ansicht — , so müssen sie logischerweise in erster Linie für
das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, also den Antrag der
Jungtschechen, stimmen. Wenn aber dieser Antrag abgelehnt
wrerden sollte, dann gibt es keine Ausflucht mehr, dann muß jeder,
der den Fortschritt will, für den Regierungsantrag stimmen.
Der Antrag der Regierung ist der Abschluß einer riesigen Agi-
tationsperiode für das Proletariat, aber er bedeutet auch einen An-
fang. Für unsere Genossen beginnt jetzt erst eine neue Zeit weiterer
energischer Arbeit. Wir haben zwei Dinge zu machen: Erstens
hinter ihnen her zu sein und sie nicht zu Atem kommen zu lassen,
bis etwas geschehen ist. Zweitens, sicher wie wir sind, daß es ge-
schehen wird, daß das allgemeine Wahlrecht kommen muß, uns
darauf vorzubereiten.
Das allgemeine Wahlrecht bedeutet für uns in erster Linie nicht
Mandate, sondern eine neue Grundlage für unsere Organisation, eine
moderne Form der Agitation. (Beifall.) Diese Umwandlung unserer
ganzen Tätigkeit ist eine schwere Arbeit, der wir alle Anstrengung
widmen müssen, die mehr Opfer, mehr Überwindung, mehr Kraft
von uns fordert, als alles Bisherige. Zu dieser Arbeit laden wir euch
ein, Parteigenossen, und sind überzeugt, daß ihr alle kommen
werdet, Männer wie Frauen. (Stürmische Rufe: Alle! Alle!) Wir
werden zeigen, daß die österreichische Arbeiterschaft, die stark und
kräftig genug ist, sich das Wahlrecht zu erobern, auch kräftig genug
sein wird, es auszunützen nach jeder Richtung. Und nun erlaube ich
mir in einer Resolution in wenigen Worten zusammenzufassen, was
hier ausgeführt wurde.
Resolution.
Die heutige Versammlung sieht in der Wahlreformvorlage der Regie-
rung das ihr endlich abgezwungene Bekenntnis, daß die heute bestehende
Verfassung nicht nur eine *) Ungerechtigkeit gegen zwei Drittel des
Volkes ist, sondern auch, daß es gegenüber der von der organisierten
Arbeiterschaft geführten Bewegung unmöglich ist, fernerhin die poli-
tischen Privilegien der Besitzenden aufrechtzuerhalten.
Die Versammlung erklärt aber weiter, daß die Regierungsvorlage
gänzlich ungenügend ist; sie protestiert entschieden gegen die Aufrecht-
) Die fehlende Stelle ist unbekannt.
126 Von Taaffe bis Badern.
erhaltung der Privilegien des Großgrundbesitzes und der Handels-
kammern und verurteilt das Festhalten an den indirekten Wahlen in den
Landgemeinden sowie den sogenannten Bildungszensus.
Trotzdem betraehtet die Versammlung die Regierungsvorlage als den
allerersten Beginn einer Reform, die mit Notwendigkeit zur gründlichen
Umgestaltung der Verfassung führen muß. Die Versammlung fordert
schließlich die Abgeordneten aller Parteien auf, in erster Linie für den
jungtschechischen Antrag im Sinne des allgemeinen, gleichen, direkten
Wahlrechtes zu stimmen, warnt sie aber ernstlich davor, falls dieser
Antrag abgelehnt würde, dem Durchdringen der Regierungsvorlage aus
borniertem Klassenegoismus Hindernisse zu bereiten.
Die Versammlung erklärt schließlich, daß die sozialdemokratische
Arbeiterschaft von nun an mit noch größerer Energie als bisher nicht
nur für das allgemeine, sondern auch das gleiche und das direkte
Wahlrecht eintreten und vor keinem zweckdienlichen Mittel zurück-
schrecken wird, bis dieses Ziel erreicht ist.
. . . Nun, Parteigenossen, Sie werden nicht zurückschrecken, und
man weiß heute in ganz Österreich, daß die Arbeiterschaft nicht
zurückschrecken wird. Und daß man das weiß, das ist das Verdienst
des wirkenden Prinzips, des Geistes des Proletariats, der internatio-
nalen Sozialdemokratie. Diesem Geiste, der internationalen Sozial-
demokratie, bringe ich ein dreimaliges Hoch! (Hochrufe, anhaltender
Beifall*).
* *
Genossen! Ich glaube eine der besten Reden, die heute hier
gehalten wurden, — Konfisziert!
Konfisziert! **) (Beifall.)
Der Genosse da hat im Namen der Million von Bürgern gesprochen,
die das Wahlrecht auch nach dieser Vorlage nicht bekommen. Sie
können ruhig sein, wenn der erste Schritt gemacht ist, dann haben
wir eine Waffe in der Hand, und wir werden diese Waffe nicht
rosten lassen, wir werden dafür sorgen, daß diese Schmach auch
hinweggetilgt werde. Nun, Genossen, erlauben Sie, daß ich noch
auf eines hinweise, was heute noch nicht erwähnt wurde. Ist es
nicht eigentümlich, daß in Österreich jeder Fortschritt auf politi-
schem und wirtschaftlichem Gebiet tatsächlich von den reaktionären
Parteien und der Regierung herkommt? Es ist traurig, aber es ist
so. Die Fünfguldenmänner sind von den Klerikalen gekommen.
*) Dann sprachen Pernerstorfe r, Schramme 1, Dr. Ellen-
bogen, Hofer, Reumann, Leuthner, Leitner (Wiener-Neustadt),
H u e b e r und dann wieder Adler.
**) Die konfiszierte Stelle lautet: „hat mein unmittelbarer Vorredner
gehalten. Das war der Aufschrei des gequälten Volkes, das man der
Bildung in grausam tückischer, niederträchtiger Weise von jeher beraubt
hat und dem man diesen Raub zur bewußten Entrechtung macht" . . .
Der Vorredner war Hueber.
Wir lassen den Text so, wie er in der zweiten Auflage zu lesen war,
um ein Bild zu geben, wie eine konfiszierte Zeitung aussah. Erst im Kriege
wurden dann die weißen Flecke erfunden, weil dann die zensurierten
Stellen im letzten Augenblick ausgekratzt wurden.
Taaffes Wahlreform. 127
Die Qewerbereform mit dem Maximalarbeitstag, so elend schlecht
und durchlöchert er ist, aber immerhin ist es ein Arbeiterschiit/.,
der Besseres schafft, als wie es früher war, auch das ist von der
rechten Seite des Hauses gekommen; nicht von den Liberalen. Die
Liberalen haben den größten Widerstand geleistet, mit Klauen und
Zähnen sich zur Wehr gesetzt, um den Maximalarbeitstag zu ver-
hindern. Wir wollen nicht darauf eingehen, wie die Klerikalen und
Polen dann die ursprüngliche Idee gefälscht haben; diese Ver-
schlechterungen waren ebensoviele Konzessionen an die Liberalen.
Was folgt daraus? Etwa, wie offiziöse Blätter uns heute schon nahe
legen, daß auf dieser rechten Seite und insbesondere bei unserem
hohen Ministerium ein besonders hoher Grad von Wohlwollen vor-
handen ist? Keineswegs. Graf Taaffe ist ein Reaktionär vom
Scheitel bis zur Zehe. Aber welche . Reaktionäre müssen die
Liberalen sein, wenn Graf Taaffe ihnen gegenüber noch Fort-
schrittsmann sein kann? Und noch eines. Es fallen Andeutungen
perfidester Natur. Man spielt an, als ob Graf Taaffe da einen Coup
gemacht im halben Einverständnis mit der Arbeiterschaft.
Herr S t r a c h e hat es merkwürdig gefunden, daß am 10. Okto-
ber soviel Sozialdemokraten im Parlamente waren: man sagte, es
handelte sich um einen Streich des Cäsarismus, das Bestreben der
Regierung, mit Hilfe des Proletariats das Bürgertum zu beherrschen
und Proletariat und Bürgertum zugleich zu treten. Der Cäsarismus
ist ein schweres Kunststück und Graf Taaffe ist kein Julius Cäsar.
Aber selbst wenn er die Qualität dazu hätte — man spielt den
Cäsar auf dem Rücken eines bewußtlosen Pöbels, einer Menge,
die nicht denkt, die nicht weiß, was sie will, aber wo eine bewußte
Arbeiterschaft dasteht, gibt es keinen Cäsarismus. (Beifall.) Die
Vorlage ist gewiß nicht nur ein Produkt der eisernen Notwendig-
keit, sie ist außerdem gewiß auch ein Versuch, das Proletariat zu
gewinnen. Vielleicht findet der Herr Kriegsminister, daß er in eine
sonderbare Lage kommt, wenn er Soldaten herbeirufen muß, die
keine Wähler sind. Vielleicht auch meint man mit uns zu spielen.
Man hat es schon einmal versucht auf anderem Gebiet. Ich er-
innere Sie daran, daß man mit den Genossenschaften glaubte, der
Arbeiterschaft ein Netz über den Kopf geworfen zu haben. Diese
Zwangsgenossenschaften sind in den Händen der organisierten
Arbeiter eine Waffe geworden, um die den Gegnern schon längst
leid ist. Eines ist der große politische Vorteil dieser Reform, noch
bevor sie Gesetz geworden.
Bereits in der ersten Sitzung, die unter ihrem Eindrucke statt-
fand, war von der berühmten lex Trautenau keine Rede mehr, keine
Rede ist mehr von den nationalen Quertreibereien und Stänkereien,
die bisher für österreichische Politik ausgegeben worden sind. Auch
eine andere Komödie von heute wird bald vorbei sein. Es lohnt
sich nicht mehr der Mühe, die Kleingewerbetreibenden, die Fünf-
guldenmänner, mit dem Befähigungsnachweis zu fangen; die
Stellung des Kleingewerbes ist ein Geschäft, dem viel Abbruch
getan wird durch die Wahlreform. Sie ist zu Wahlzwecken be-
128 Von Taaffe bis Badeni.
trieben worden. In dem Momente, wo das allgemeine Wahlrecht
auf i.\cn Plan tritt, hören diese Faxen auf.
Das sind die Folgen, die schon heute sich geltend machen; die
wichtigsten Konsequenzen haben w i r daraus zu ziehen, wir haben
aus der Vorlage etwas Vernünftiges zu machen, so unvernünftig
sie ist. Und wir haben vor allem dafür zu sorgen, daß sie Gesetz
wird, und sie wird Gesetz werden, mögen ganze Ströme von
Tinte dagegen vergossen werden. Auf jedes Tintenfaß, das da aus-
geschrieben wird, stehen wir, wenn es notv/endig ist, gegen die
Tinte mit unserem Blut. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.)
Vor dem Sturz Taaffes.
Schwender-Versammlung am 3 0. Oktober 189 3*).
Seit vielen Jahren stand Österreich nicht an einem ähnlichen
Wendepunkt seines Schicksals wie heute. Das Österreich, unter dem
wir alle leben, ist eine alte verzopfte Stände-Monarchie, gegen deren
*) Am 23. Oktober 1893 begann im Abgeordnetenhaus die erste Lesung
der Wahlreformvorlage der Regierung und gleichzeitig damit der Wahl-
reformanträge Pernerstorfer, Slavik und Baernreither. Das Schicksal der
Wahlreform war nach den Erklärungen der Parteien nicht mehr zweifel-
haft. Trotzdem wirkte die provokatorische Art, wie namentlich der Ver-
treter des Polenklubs über die Arbeiter sprach, aufreizend. Der Abgeord-
nete Graf Eduard S t a d n i c k i sagte am 24. Oktober unter anderem:
Ich befürchte, daß die Wählerschichten, die nach der Wahlreform
der Regierung zum öffentlichen Leben berufen werden sollten, eine
Brutstätte für die Anarchie werden könnten, weil die Dienst-
boten und Arbeiter, alle die Schichten, die nach dieser Vorlage zur Wahl-
urne schreiten möchten, das Gefühl haben würden, daß sie dem
souveränen Volk angehören und selbstverständlich — ein Mitglied
des souveränen Volkes ist nicht berufen, irgend
jemand zu gehorchen...
Die Wahlreformvorlage kann in unserem nationalen Leben einen ent-
schiedenen Umschwung bedeuten; es kann dadurch in Galizien eine Ver-
schiebung stattfinden zugunsten von Volksschichten, unter
denen sich auch solche vorfinden könnten, die gerade keinen Sinn und
kein Verständnis besitzen für ideale Güter der Menschheit, bei denen
der Wahlspruch „Brot und Arbeit" oder „Brot ohne Arbeit" ein allge-
meiner zu sein pflegt, bei denen die Worte „nationaler Geist, historische
Individualität, Landesgrenze, Staatsgrenze" keinen Sinn haben, bei
denen leider Vaterland, Ehre, Patriotismus Worte ohne Bedeutung sind,
bei denen der Spruch, den wir leider schon einmal vernommen haben,
Anklang finden kann: Zwar nicht ehrenhaft, aber gesund.
Diese Worte erregten natürlich in den Arbeiterversammlungen die
größte Empörung, und sooft der Name Stadnicki genannt wurde, ertönten
stürmische Pfuirufe, so daß Stadnicki dann allgemein als „Graf Pfui"
bezeichnet wurde. Die Bemerkungen Stadnickis waren um so unver-
schämter, als die Worte „Zwar nicht ehrenhaft, aber gesund!" ein in den
Kreisen der polnischen Adeligen üblicher Spruch waren, der polnisch
lautet: „Nie honorowo ale zdrowo".
\ or dem Sturz Taaffes. 129
reaktionäres Grundprinzip keine Partei einen Angriff machte, außer
der klassenbewußten Arbeiterschaft. Nun berichten heute die
Blätter von einem Systemwechsel. Qraf Taaffe soll abgedankt
haben. Wir weinen ihm keine Träne nach - • unter jeder Ausnahms-
verordnung steht der Name des Grafen Taaffe, an seinen Namen
knüpft sieh die größte der Arbeiterschaft.
Wir werden aber trotzdem, wenn er auch gehen sollte, nicht
illuminieren wie die Wähler des Herrn Abgeordneten Swoboda.
Denn an seine Stelle träte dann ein liberal-feudales Ministerium,
das die Quintessenz aller reaktionären Instinkte unserer Bourgeoisie
und unserer Aristokratie ist. Wir haben dabei weder etwas zu
gewinnen, noch etwas zu verlieren, aber trotzdem begrüßen wir
dieses neue Dreigestirn, und sagen: Bravo, nun haben wir sie end-
lich beisammen, diese politischen Gaukler. Wir haben sie gezwungen,
sich selbst die Maske vom Gesicht zu reißen. Die Liberalen wollten
zur Schüssel, mag es sein, mit wem immer, sei es mit dem Teufel.
Und die Konservativen, die Heiligen, Frommen, auch sie koalieren
sich mit dem Teufel, mit dem Liberalismus selbst. So stehen denn
vor uns die geeintenVertreter der besitzenden und
privilegierten Klassen, die sich rüsten zur AbwTehr gegen
den Ansturm des Proletariats. So soll es sein; dem Blindesten muß
die Binde vom Auge fallen. Endlich einmal handelt es sich auch in
Österreich um den Klassenkampf; verschwunden ist seit vier
Wochen die Frage des Trautenauer Bezirksgerichtes, der Nationali-
tätenschwindel. Und wie kam das? Die Regierung mußte eine
Sünde begehen, die kein Liberaler verzeiht, und sie hat die Sünde
begangen, freilich nur, weil sie mußte; sie erklärte, nicht in freudiger
Überzeugung, nicht mit Begeisterung, den rechtlosen Massen muß
das Wahlrecht gegeben werden; das genügte, um aus den Kastraten
Leute zu machen, die so tun, als wären sie Männer. Die Parteien
wurden stramm, weil sie die Sozialdemokratie noch mehr fürchteten,
als selbst die Regierung. Die liberalen Salonbauern und die feudalen
Grafen erklärten einmütig, daß man nicht den Klassenkampf in die
ländliche Bevölkerung dürfe hineintragen lassen. Am meisten gefiel
mir die Rede des Abgeordneten Stadnicki. (Lebhafte Pfuirufe
auf Stadnicki.)
Am 28. Oktober wurde das Parlament vertagt.
Am 30. Oktober fanden in Wien mehrere Versammlungen statt, die alle
massenhaft besucht waren und geteilt werden mußten. Im überfüllten
Amorsaal in Schwenders Kolosseum sprach. A d 1 e r.
Am 11. November wurde Graf Taaffe enthoben und der Kaiser setzte
zur Verhandlung der Wahlreform das Koalitionsministcrium WMndisch-
k'rätz ein.
We^en dieser Versammlung vom 30. Oktober sowie wegen der Ver-
sammlung vom 5. November wurde Adler angeklagt und vom Bezirks-
gericht Rudolfsheim wegen Beleidigung der Regierung zu einem Monat
Arrest verurteilt. Das Urteil wurde auch vom Landesrecht bestätigt.
Siehe darüber den Berieht im zweiten Band dieser Sammlung „Adler vor
Gericht". (Bd. II, Seite 111, „Die verkleinerten Delikte".)
Adler, Briete. X. Bd. 9
130 Von Taaffe bis Badcni.
Lassen Sie doch! Stadnicki ist unbezahlbar für uns. Diesen
Mann brauchen wir als Zeugen dafür, welche Leute das öster-
reichische Proletariat beherrschen; wir brauchen einen Kerl, den
wir als corpus delicti auf den Gerichtstisch der Geschichte nieder-
legen können. Herr Graf Stadnicki ist ein Mitglied des Polen-
klubs, welcher der Ausschuß einer Aktiengesellschaft von polnischen
Grundherren ist, welche Streifzüge unternimmt gegen die Millionen
ruthenischer und polnischer Bauern, und jede Frage vom Stand-
punkt des Profites betrachtet. Von sich und seiner Sippschaft aber
sprach Graf Stadnicki als von „nationalen Idealisten", die alles
für das „Land" opfern, die ihr Vermögen verschleudern für ihre
Nation. Diese Leute haben, als es sich darum handelte, polnische
Revolutionäre vor der Auslieferung an die russischen Henkers-
knechte zu bewahren, es rundweg abgeschlagen, etwas zu tun für
ihre „polnische Nationalidee". Dieses ruppige Gesindel kennen wir,
und diese Stadnicki haben die Infamie, von den Rechtlosen zu
sagen, sie hätten keinen Sinn und kein Gefühl für ideale Güter.
(Bewegung und Pfuirufe.) Dieser Mensch, der noch keinen Tropfen
Schweiß bei ehrlicher Arbeit vergossen hat, wirft den Arbeitern
vor, daß sie „Brot und Arbeit, lieber noch Brot ohne Arbeit" haben
wollen. (Pfuirufe.) So sehen die Leute aus, die jetzt an die Regierung
kommen sollen, mit den Liberalen Arm in Arm. Aber auch diese
eventuelle neue reaktionäre Regierung muß von vornherein er-
klären, daß die Wahlreform nicht von der Tages-
ordnung verschwinden könne. Sie werden die Ab-
sperrung der klassenbewußten Arbeiterschaft von der übrigen Be-
völkerung bezwecken wollen. Sie sind so dumm, zu glauben, irgend
etwas in der Welt könnte den Bazillus der Sozialdemokratie unter
Sturzgläsern halten; dieselben Leute, welche durch ihre Wirt-
schaft Sozialisten fabrizieren, glauben, die Sozialdemokratie an der
Verbreitung hindern zu können. Was immer kommen möge, für uns
ist es nur Gutes. Ein liberalreaktionäres, feudalreaktionäres und
klerikalreaktionäres Ministerium ist gut, weil wir die politische
Klarheit über alles wünschen, weil das Klassenbewußtsein der
Besitzlosen am raschesten geweckt wird durch eine solche Phalanx
von liberalen und schwarzen Ausbeutern. Niemand wird sich mehr
finden, den Liberalen oder den Klerikalen die Kastanien aus dem
Feuer zu holen. Jedenfalls wird auch die Frage der Verfassung
nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden. Jetzt schon er-
klären alle Parteien, daß jede Wahlreform heute nur ein Über-
gangsstadium sein kann zum allgemeinen, gleichen und direkten
Wahlrecht. Der Glaube an die Festigkeit der Verfassung ist beim
Teufel. Unsere Aufgabe ist, zu sorgen, daß die Sache schneller geht.
Wir hätten ganz andere Dinge zu tun, als Österreich seine Ver-
fassung zu flicken, als das erst zu vollbringen, was die Bourgeoisie
aus Feigheit und Dummheit unterlassen hat. Jeder von uns fühlt,
daß wir die eigentlichen sozialistischen Dinge mehr in zweite Linie
stellen müssen, um eine Waffe zu erhalten. Obwohl wirtschaftlich
unterdrückt, obwohl politisch rechtlos, hat sich in sechs Monaten
Vor dem stur/. Taaffes. 131
die Arbeiterklasse Österreichs ein Stuck politischer Macht
erobert, und mit diesem wird es sich eine Waffe erobern,
um in einem langen Kampf auf Leben und Tod auch die
wirtschaftliche Emanzipation durchzusetzen. Wir sind endlich in
Österreich durch die politische Tätigkeit der Arbeiterklasse aus der
Versumpfung unserer politischen Zustände herausgekommen. Auch
bei uns wird bei jedem Gesetz, bei jeder Ministerzusammensetzung
erwogen, wie das auf die Arbeiterklasse wirken wird. Vielleicht
werden sie jetzt wieder blind sein und glauben, man könne noch
einmal das Proletariat foppen. Wenn sie blind sein wollen, die
Herren in jenem Blindeninstitut, dann wird die Arbeiterschaft ihnen
den Star stechen.
Die Zukunft ist noch nicht klar. Aber für uns handelt es sich
heute nicht darum, was s i e tun werden, wir müssen nur wissen,
was wir wollen. Die Herren mögen tun, was sie wollen; wir
appellieren nicht an die Gewalt; aber wenn man dem Mann, der
am Boden liegt, das Knie auf die Brust setzt und ihn erdrücken
will, dann darf man sich nicht wundern, wenn er sich um jeden
Preis erhebt. Ich will kurz den Inhalt meiner Rede in folgender
Resolution zusammenfassen:
Resolution.
Die heutige Versammlung verurteilt aufs schärfste die Hal-
tung der drei großen Pariamen tsparteien in der Frage
der Wahlreform und konstatiert, daß die liberale Reaktion
nunmehr schamlos ein unverhülltes Bündnis mit der klerikalen und
feudalen Reaktion eingegangen ist, und zwar zum Zwecke der Be-
kämpfung des Volkes, welches sein Recht fordert. Die zahlreichen An-
träge zur Wahlreform, die eingebracht wurden, sind lächerliche Ver-
suche, die Wahlreform zu verschleppen, zu versumpfen und das be-
stehende Wahlunrecht zu konservieren.
Die Versammlung erklärt weiter, daß die klassenbewußte Arbeiter-
schaft dieses volksfeindliche Bündnis der drei reaktionären Parteien
nicht fürchtet und daß die vereinigte reaktionäre Masse die von der
revolutionären Sozialdemokratie geführte Bewegung des allgemeinen,,
gleichen und direkten Wahlrechtes nicht aufhalten wird.
Möge die gegenwärtige Regierung oder irgendeine ihr folgende alle
Mittel der Gewalt anwenden — das arbeitende Volk ist ent-
schlossen, rücksichtslos und unerschrocken an die
Eroberung seines Rechtes zu schreiten.
Mögen die Herren anwenden, was sie wollen —
dieser Satz steht nicht umsonst hier. Wenn wir diese neue Regierung
bekommen, ist sicher, daß die vereinigte Reaktion in der Macht-
ausübung gegenüber der Arbeiterklasse nicht um ein Haar besser
sein wird, als das Regiment Taaffes. Wenn T a a f f e die Sozial-
demokraten mit Ruten gepeitscht hat, wird eine liberalfeudal-
klerikale Regierung sie mit Skorpionen züchtigen. Das war immer
so. Wenn wir ein feudallilierales Ministerium bekommen, wird es
nicht weniger Opfer für uns geben, sondern wir müssen gefaßt sein
auf schärfere Kämpfe und wenn ich das sage, glaube ich damit
9*
132 Von Taaffe bis Badeni.
keinen von euch abzuschrecken, oder einzuschüchtern (tausend-
stimmiger Ruf: Keinen!), wir wissen, daß ihr entschlossen seid,
dem neuen wie dem alten Ministerium gegenüber den Ruf zu er-
heben: Es lebe das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht! Es
lebe die internationale Sozialdemokratie! (Begeisterte Zustimmung
und Hochrufe.)
Genosse Hofer*) hat gesagt, daß in der österreichischen
Arbeiterschaft eine solche Erbitterung herrscht, daß eine solche
Entschlossenheit vorwärts zu gehen besteht, daß man nur auf das
Losungswort derer wartet, die das Vertrauen der Genossen ge-
nießen. Glauben Sie uns allen, daß wir das ganz genau wissen.
Man nennt uns Hetzer und Schürer, während wir diejenigen sind,
die zur Ruhe, Besonnenheit und Klugheit auffordern müssen. Wir
müssen kaltes Blut bewahren. Wir müssen jetzt Gewehr bei Fuß
stehen und sehen, was die Herren da auskochen werden. Erst wenn
sie mit etwas kommen, und die Frage sein wird, was wir dazu
sagen, dann werden wir ihnen eine deutliche Antwort geben.
H o f e r hat recht, es erfaßte jeden Erbitterung, wenn man die
Leute da drinnen debattieren hörte, wie groß das Stück Recht sein
dürfe, das man dem Volke gibt. WersinddenndieseLeute,
daß sie**) [über das Volk, über seine Reife oder über sein Recht ab-
zuurteilen wagen?? (Ein Zuhörer ruft: Gauner!) Nein — sie sind
die Vertreter ihrer Klasseninteressen. Die einzige Gaunerei besteht
darin, daß sie, die Vertreter der engherzigsten Cliqueninteressen,
sich als Vertreter des Volkes ausgeben. Und sie haben die Macht
dazu, durch die Hungerpeitsche, auf die sie sich stützen. Gewiß
muß das entrüsten, erbittern. Aber diese Entrüstung, diese Er-
bitterung soll jeder umsetzen in fortwährende Arbeit für die Auf-
klärung der Arbeiterklasse. Daran ist noch sehr viel zu arbeiten.
Wir wissen sehr gut, daß, so groß die Fortschritte der Sozial-
demokratie sind, die Masse der Indifferenten noch eine gewaltige
ist. Wir stehen erst am Anfang unserer Agitation und Organisa-
tion, wir sind noch nichtbeiderErnte, sondernerstbei
der Aussaat. Wir wollen uns nicht selbst täuschen, und aus
Selbstüberschätzung unsere Organisation gefährden. Genossen!
Wir werden in den nächsten Tagen wiederholt zusammenkommen;
wir werden den ganzen Prozeß verfolgen, und lernen; es ist lehr-
reich, die Gegner im adamitischen Kostüm zu sehen. Mögen sie
sich weiterhin mit irgendwelchem Flitter behängen, dem Volke
wird unvergeßlich sein, das Bild des nackten „Liberalen", des
nackten „Christen", des nackten „Adeligen". Wir gehen an die
weitere Arbeit der Agitation, und jeder Akt der Verbreitung von
Aufklärung ist eine revolutionäre Tat. Den Grimm, den Abscheu,
die Verachtung für das, was das Volk heute büttelt und knechtet,
*) Nach Adler hatte H o f e r, der Vertrauensmann der Geschäftsdiener,
gesprochen. Nach ihm sprach wieder Adler.
"*) Die eingeklammerten Stellen waren im Bericht der „Arbeiter-
Zeitung" konfisziert.
Regierung, Parlament und Wahlreform.
bewahren wir uns, das häufen wir und die stunde kommt], wo wir
es werden brauchen können*). (Stürmischer Beifall.)
Regierung, Parlament und Wahlreform.
Versammlung am 5. November 18 93**).
Kr gab eine kurze Darstellung der politischen Situation und
konstatierte, daß die Arbeiterschaft am Ministerium Windischgrätz
ebensowenig gewinne, als sie am Ministerium Taaffe verloren habe.
Die Koalition der drei reaktionären Parteien sei um so schamloser,
als sie einzig und allein von den Führern gemacht wurde, die nicht
einmal die Klubmitglieder befragten; die Wählerschaften seien ver-
schachert worden wie die willenlosen Schafe. Daß sie sich das
gefallen lassen, sei eine Folge der Korruption und politischen Fäul-
nis, die durch die Parteiführer gezüchtet werden. Insbesondere
deutlich sei der Verfall der liberalen Partei, wofür die letzten Er-
eignisse bei Ronacher, die Redner eingehend schildert, ein Zeugnis
seien. Daß die Liberalen an der politischen Freiheit Verrat übten,
war längst bekannt; seit 14 Tagen wissen wir, daß sie für zwei
Ministerportefeuilles ihre „Schulfreundlichkeit" opfern und mit den
Schwarzen einen Pakt schließen; seit der Affäre Ronacher haben
sie sich als P o 1 i z e i 1 i b e r a 1 e***) entpuppt. Die Arbeiter hätten
*) Die „Arbeiter-Zeitung" schloß ihren Bericht folgendermaßen:
Genosse H lieber schließt die Versammlung mit den Worten: Gedenken
Sie des Namens Stadnicki, Genossen, der die Arbeiter Österreichs aufs
tiefste beleidigt hat. Graf Stadnicki hält heute die Peitsche über seine
Untergebenen; vielleicht dreht sich der Stiel einmal um. Er hat uns alle
beleidigt, und die Liberalen, die Volksfreunde, haben kein Wort gefunden
zur Verteidigung der Rechtlosen. Dieser liberalen Partei ist die Maske
der Volksfreundüchkeit vom Gesicht gerissen, und hinter dieser Maske wie
hinter der polnischen, wie hinter der konservativen, hat die Fratze der
Ausbeutung gesteckt. Wir sind froh, daß wir es einmal mit dieser ver-
einigten Bande aufnehmen können. Ich schließe mit einem „Nieder mit
der liberalen Partei!"
Die Tausende von Anwesenden brechen in ein oftmaliges „Nieder mit
den Liberalen", „Nieder mit der reaktionären Bande", „Hoch die
Sozialdemokratie" aus. Bei Verlassen des Saales ertönt das
„Wahlrechtslied".
**) Sonntag den 5. November fand in Hambergers Saal „Zur Wein-
traube" im fünften Wiener Bezirk eine von mehr als zweitausend Personen
besuchte Versammlung statt, in der Adler über das Thema „Regierung,
Parlament und Wahlreform" sprach.
Wegen dieser Rede wurde Adler angeklagt und zusammen mit der
Rede bei der Schwender-Versammlung zu einem Monat Arrest ver-
urteilt. (Siehe Bd. II, Seite 111.)
') Bei einer Versammlung, die die Liberalen im „Etablissement
Ronacher" gegen die Wahireform abhielten, hatte sich die Polizei brutal
gegen die Arbeiter benommen. Adler wurde geklagt, weil er gesagt haben
soll: „Die Liberalen haben die Polizei gekauft." Darin erblickte die An-
klage eine Beleidigung der Polizei. Als Adler in der Verhandlung sagte,
eine solche Äußerung wäre unsinnig gewesen, da die Liberalen es nicht
134 Von Taaffe bis Badcni.
dasselbe Recht gehabt, auf der Straße für das Wahlrecht zu demon-
strieren wie die feigen Liberalen im Saale gegen das Wahlrecht.
Die Demonstration sei keineswegs aus einer von der Partei
gegebenen Losung entsprungen, wie die feile Presse lügt, sondern
aus dem höchst begreiflichen, ganz spontanen Wunsche einzelner,
und zwar nicht bloß Arbeiter, sich die liberalen Herren einmal zu
besehen. Redner kritisiert gebührend das Eingreifen der Wachleute,
welche nach dem eigenen Geständnis der bürgerlichen Presse
harmlose Leute mit dem Säbel traktierten. Die Verantwortung für
das vergossene Blut habe nicht die Partei und nicht die auf der
Straße Versammelten zu tragen, sondern jene Leute, welche die
Polizisten herbeiriefen . . . Das allgemeine Wahlrecht sei der Block,
welchen die Arbeiterschaft auf den Weg jeder kommenden Regie-
rung gewälzt habe; keine könne darum herumkommen.
Unsere Taktik müsse sich notwendigerweise danach richten,
was nun geschehen werde. Es sei der neuen Regierung und den
herrschenden Parteien in ihrem eigensten Interesse zu raten, halb-
wegs vernünftige Politik zu machen. Die Arbeiterschaft
wartet und wird die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen wissen.
Der Berliner „Vorwärts" über Österreich.
„Arbeiter-Zeitung" vom 14. November 1893.
Die Geschicke des österreichischen Proletariats, die Entschei-
dungen, welche von der österreichischen Sozialdemokratie in den
bedeutungsvollen Zeiten, die wir durchleben, gefordert werden,
lenken natürlicherweise die gespannteste Aufmerksamkeit unserer
Bruderparteien im Ausland auf sich. Daß niemand mit wärmerem
Interesse, mit herzlicheren Wünschen für unseren Erfolg die Vor-
gänge in Österreich und ihre Wirkungen auf das Proletariat beob-
achtet als unsere deutschen Genossen, ist selbstverständlich. Ge-
rade aber weil vom Ausland aus die Dinge viel schwerer zu
erkennen sind, weil eine genaue und intime Kenntnis aller Ver-
hältnisse dazu gehört, um einen klaren Blick zu erhalten, weil ins-
besondere die Vorgänge innerhalb der Massen der Arbeiterschaft,
ihre Stimmungen und Willensäußerungen sehr schwer von den
außenstehenden, wenn auch noch so eng befreundeten Genossen
beurteilt werden können, ist es eine allgemeine Regel, deren Nicht-
befolgung sich gewöhnlich schwer straft, daß Urteile über die
notwendig hatten, die Polizei zu kaufen, die ihnen ganz umsonst zur Ver-
fügung stehe, dehnte der staatsanwaltschaftliche Funktionär die Anklage
auf diese Äußerung aus, denn die Polizei stehe nur der Regierung zur
Verfügung. Doch wurde Adler dann von dieser neuen Anklage frei-
gesprochen, da die Anklage wieder dem Landesgericht hätte zugewiesen
werden müssen und das Gericht das vermeiden wollte. Hatte doch Adler
verlangt, daß er nicht wegen Beleidigung der Polizei, sondern wegen Auf-
reizung zu Haß und Verachtung geklagt werde, welches Delikt vor die
Geschwornen gehörte, und die Gefahr bestand, daß am Ende doch, wenn
.noch ein zweites Delikt dazu käme, das Ganze vor die Geschwornen käme.
Der Berliner „Vorwärts" über Österreich.
Taktik vom Ausland aus nur mit größter Vorsicht gefällt, jeder
Versuch eines Eingreifens aber vermieden werden soll. Es ist gar
nicht ZU umgehen, daß man sich im Ausland vielfach von der
gegnerischen Presse dahin beeinflussen läßt, ein falsches und vor
allem ein übertriebenes Bild von den Vorgängen zu bekommen. Je
weiter man vom Schauplatz der Ereignisse ist, um so ängstlicher
wird man, und je näher einem die Dinge gehen, je ausgesprochener
das .Solidaritätsbewußtsein ist, um so größer wird die freundschaft-
liche Besorgnis. So kann auch die enge Freundschaft eine Quelle
falscher Beurteilungen werden.
Eine Illustration zu dieser allgemeinen Bemerkung ist der
Artikel, welchen unser Bruderorgan, der Berliner „Vorwärts",
unter dem Titel : „Die neue Ära W i n d i s c h g r ä t z in
österreic h" bringt. Nachdem in diesem Artikel das Ministerium
Windischgrätz und die Koalition der Parteien nach Verdienst
geschildert sind, fährt der Artikel also fort:
Warum gerade ihm, warum gerade jetzt?
Äußerlich richtet sich die Koalition der großen Parteien gegen Taaffe,
aber ihrem inneren Wesen nach ist sie die Organisation der Besitzenden
ohne Unterschied der Partei und Nationalität gegen das mächtig auf-
strebende Proletariat. Der Schritt Taaffes in der Richtung zum allgemeinen
Wahlrecht brachte dem Feudaladel und der Bourgeoisie zum Bewußtsein,
daß die Sozialdemokratie in Österreich zu einer starken und gefährlichen
Macht geworden ist. Ja, im ersten Schrecken, der noch jetzt nicht der
ruhigen Überlegung gewichen ist, wurde die tatsächliche Macht der öster-
reichischen Sozialdemokratie von den Gegnern phantastisch
überschätzt.
Die Furcht einigte sie, die Furcht trieb sie zu einem Windischgrätz,
die Furcht ließ sie wünschen, daß der Enkel seinem Großvater nachahme.
Vierzehn Jahre Taaffescher Versöhnungspolitik führten zum Prager
Belagerungszustand, drei Monate Windischgrätz'schen Regimes werden, so
heißt es in parlamentarischen Wiener Kreisen, zum Belagerungs-
zustand über Wien führen. Es handelt sich hiebei um mehr als ein
Scherzwort.
Die Situation in Österreich ist übermäßig gespannt.
Die Parteienkoalition will das von Taaffe den Arbeitern gegebene Ver-
sprechen nicht einlösen, sie will die Sozialdemokraten mit einem Wahl-
recht der Krankenkassenmitglieder oder etwas Ähnlichem abspeisen, sie
will sich wohl auch Garantien verschaffen, daß die eigentlichen Vertrauens-
männer der Arbeiter das passive Wahlrecht nicht erhalten.
Wer könnte es den Arbeitern verübeln, daß sie sich dieses Attentat
nicht ruhig gefallen lassen wollen? Ihr Kampfesmut wird entflammt, ihr
Haß wird erregt, die revolutionären Instinkte werden angestachelt. Dabei
läuft so manche Phrase mit unter, der Generalstreik, niemals eine
größere Utopie als zur Zeit der gegenwärtigen schweren wirtschaftlichen
Krise, wird den Arbeitern empfohlen, ja, man redet vonOewalt gegen
Gewalt. Sehr zur Unzeit, wie uns dünkt. Wenn die Machthaber die
Gewalt provozieren, wissen sie sich im Besitz der Macht. Und für einen
gewaltsamen Konflikt wird von den Gegnern der Moment gewählt werden,
der ihnen am passendsten scheint. Daß aber die Bourgeoisie und die
Regierungskreise gerade jetzt nichts dagegen hätten, das nationale Mann-
liehergewehr an der österreiehischen Arbeiterschaft zu versuchen, dafür
spricht die in Österreich unerhörte Duldung der
13b \ oi! Taaffe bis Badeni.
schärfsten Reden in den Versa m m 1 u n g e n, dafür spricht der
Zusammenschluß aller reaktionären Elemente, dafür spricht nicht zum
mindesten die Wahl eines Windischgrätz zum Leiter der österreichischen
Politik. Der Enkel dessen, der die revolutionären Vorfahren der Wiener
Arbeiter und der Präger Jungtschechen standrechtlich erschießen ließ,
wird von den Organen des Besitzes und Feudalismus als der Retter in
der Not mit Hosianna gepriesen. Mit Freuden würden sie es aufnehmen,
wenn der künftige Ministerpräsident an den österreichischen Arbeitern
das Exempel statuieren würde, das die Kämpfer für die Befreiung der
Bourgeoisie im Jahre 1848 an ihrem Leibe erdulden mußten.
An den österreichischen Arbeitern, vor allem an denen von Wien, liegt
es, ohne Überstürzung, kühl und ruhig zu handeln, nichts zu übereilen, die
eigene Macht nicht zu überschätzen, die ihrer Todfeinde nicht zu unter-
schätzen, jede Falle, die ihnen gestellt wird, zu vermeiden, und durch
keine Herausforderung, durch keinen Appell an die blinde Leidenschaft aus
der unangreifbaren Stellung, die sie sich durch lange, mühevolle, zähe
Arbeit errungen haben, sich herauslocken zu lassen.
Es handelt sich heute um mehr als um die Opfer des täglichen Kampfes,
es handelt sich um einen Krieg, bei dem der Besiegte aufgerieben werden
kann. Was wäre die Folge einer solchen Niederlage für die österreichischen
Arbeiter: die Verhängung des Belagerungszustandes, die Unterdrückung
der Presse, die Auflösung aller Organisationen, die Unschädlichmachung
der Führer. Kurz, die Früchte jahrelanger Arbeit und Tätigkeit gingen zu-
grunde, und Jahre würde es dauern, bis Neues geschaffen wäre.
Der Tag ist für die österreichischen Arbeiter noch nicht gekommen,
wo sie einen Sieg erhoffen können.
Wie man sieht, ist der Artikel ein Beweis von dem intensivsten
Interesse, welches die deutsche Bruderpartei für die Entwicklung
der österreichischen Sozialdemokratie hat. Er ist aber leider auch
ein Beweis dafür, daß man draußen unsere Verhältnisse doch nur
ungenügend kennt. Der Grundgedanke des Artikels ist ein dringen-
der Rat an die österreichische Arbeiterschaft, sich nicht provo-
zieren zu lassen. Dieser Rat ist ebenso dankenswert, ebenso wohl-
gemeint, als zum Glück überflüssig. Die österreichische Sozial-
demokratie überschätzt ihre eigene Macht nicht, sie unterschätzt
durchaus nicht die Bajonette der Gegner oder deren gute Absicht,
sie rücksichtslos zu verwenden. Andererseits ist es ein Irrtum, wenn
der „Vorwärts" davon spricht, daß die Macht der österreichischen
Sozialdemokratie von den Gegnern „phantastisch über-
schätzt" werde. Richtig ist vielmehr, daß gerade die Feigheit
unserer Gegner sie veranlaßt, die Sozialdemokratie „phantastisch"
zu unter schätzen und zu glauben, sie könnten dieselbe durch
einige Akte roher Gewalt unterdrücken. Sie drohen mit Gewalt,
aus Feigheit und zugleich aus Dummheit.
Wir sind mit dem „Vorwärts" vollständig darin einverstanden,
daß die Gegner gerade jetzt einige Lust bezeugen, die Flinte
schießen und den Säbel hauen zu lassen: aber es bedeutet eine uns
in der Tat völlig unerwartete und unerklärliche Unkenntnis der
Tatsachen, wenn ein Beweis für diese Lust der Gegner, zu provo-
zieren, in einer angeblich „in Österreich unerhörten Redefreiheit"
gesucht wird. Daß jman Lust hat, zu provozieren, ist richtig, aber
man provoziert in Österreich nicht durch Duldung, sondern man
Der Berliner „Vorwärts" über Österreich. 137
provoziert durch eine seihst „in Österreich unerhörte" Unter-
drückung. Allerdings ist die Beschränkung der Redefreiheit in
Deutschland und Österreich eine sehr verschiedene. Es gibt Dinge,
die man in Österreich ungestraft sagen kann, derentwegen mau in
Deutschland Verfolgt werden würde; es j^iht aber noch viel mehr
Dinge, die man in Österreich absolut nicht erörtern, ja nicht nennen
darf, über welche in Deutschland ohne jede Beanstandung in allen
Versammlungen und in der Presse in offenster Weise gesprochen
wird. Das ist auch einer der Gründe, welche die Beurteilung von
außen her erschweren. Aber man sollte meinen, dal.) auch der Ver-
fasser jenes Leitartikels davon Kenntnis haben müßte, daß niemals
in Österreich eine solche Razzia der gerichtlichen Verfolgungen er-
lebt wurde, als gerade in den letzten Monaten. Ms gibt beinahe
keinen Genossen, der öffentlich spricht, welcher nicht mit einem
Überfluß von Prozessen gesegnet wäre. Die Verurteilungen erfolgen
prompt, und trotzdem wird noch lange nicht dem Wunsche der
Staatsanwälte, respektive der Regierung, nachgekommen. Dazu der
Ausnahmezustand in Prag, welcher, wie der „Vorwärts" sehr genau
weiß, wesentlich auch gegen die tschechische Arbeiterschaft ge-
richtet ist und offiziell mit dem „Mißbrauch der Versammlungs-
freiheit" motiviert wird. Es genügt, an die blutigen Ereignisse von
Brunn und Prag im letzten Juni und Juli zu erinnern, um die „un-
erhörte Duldung" genügend zu charakterisieren. Es hat niemals in
Österreich eine Zeit gegeben, wo die sozialdemokratische Presse
einer solchen Fülle von Konfiskationen ausgesetzt war, und niemals
erfolgten so viele subjektive Verfolgungen, als gerade heute. Wenn
der „Vorwärts" von einer „Falle" spricht, die aufgestellt werde, so
kann er versichert sein, daß wir in keine wie immer geartete Falle
gehen werden; aber er muß sich nicht die Vorstellung machen, als
ob man Speck aufrichten würde, als ob man uns hinein locken
würde: nein, höchstens will man uns mit Gewalt hinein-
treiben.
In dem Artikel findet sich auch eine freundschaftliche und milde,
aber doch in manchen Punkten ungerechte und vielleicht nicht ganz
zeitgemäße Kritik einzelner Erscheinungen unserer Bewegung. Es
wird gesagt, daß bei unserer Agitation „so manche Phrase mit
unterläuft". Das können wir ohne weiteres zugeben; wer sich frei
fühlt von Phrasen, werfe den ersten Stein auf uns. Die öster-
reichische Sozialdemokratie kann unmöglich die Verantwortung für
jede mehr oder minder kluge, geschickte oder sachgemäße Rede-
wendung ihrer Redner übernehmen. Die Selbstkritik wird in unserer
Partei nach Möglichkeit und recht strenge geübt. Was der „Vor-
wärts" hier meint, wird im Inland ebenso scharf aber vielleicht
etwas wirksamer bekämpft, als dies vom Ausland möglich ist.
Wenn aber der „Vorwärts" den Generalstreik eine
„Phrase" oder mindestens eine „Utopie" nennt, so scheint er uns
etwas stark über das Ziel zu schießen. Man kann die verschiedenste
Ansicht über den Generalstreik haben, man kann ihn für ausführ-
bar oder für unausführbar, für nützlich oder für schädlich halten
- aber eine „Phrase" oder eine „Utopie" ist der Generalstreik
138 Von Taaffe bis Badcni.
niemals. Es unterliegt seit geraumer Zeit in der österreichischen
Arbeiterschaft der Diskussion (und es kann sein, daß diese Dis-
kussion eine sehr aktuelle wird, das hängt von unseren Herren
Gegnern ab), ob der Generalstreik für unsere Verhältnisse ein ge-
eignetes Mittel sei. Wer den Generalstreik empfiehlt, kann vielleicht
ein Sanguiniker sein, er mag die Schwierigkeiten unterschätzen,
aber man kann von ihm nicht sagen, daß er eine Phrase mache.
Die „schwere wirtschaftliche Krise" als Hindernis für den General-
streik anzusehen, ist aber schon gar nicht angebracht. Vor allem
existiert diese Krise in vielen Branchen der Industrie in Österreich
überhaupt nicht. Die Textilindustrie zum Beispiel ist sehr gut be-
schäftigt, und ein Stillstand der Fabriken, auch auf nur kurze Zeit,
würde den Herren Fabrikanten im höchsten Grade unangenehm
sein. Aber die Krise hat mit dem Generalstreik überhaupt nichts zu
tun. Ein Generalstreik hat ja nur dann einen Sinn, und kann nur
dann einen Erfolg haben, wenn nicht nur die Kohlengräber, die
Textil- und die Metallarbeiter, sondern auch Bäcker, Fleischer,
Schuhmacher, Schneider usw. das Werkzeug aus der Hand legen,
mit einem Wort, wenn es möglich ist, die gesamte Produktion, ins-
besondere auch der notwendigsten, unmittelbar verwendeten täg-
lichen Gebrauchsgegenstände, mit einem Male zu unterbrechen und
unmöglich zu machen. Ein derartiger Streik aber wäre selbstver-
ständlich von der wirtschaftlichen Konjunktur vollständig unab-
hängig; und der „Vorwärts" kann versichert sein, daß der General-
streik in Österreich, welcher der Diskussion des Parteitages even-
tuell unterliegen wird, nur dann proklamiert werden wird, wenn
diese Bedingungen zutreffen. O b sie zutreffen, ist hier nicht der
Ort zu untersuchen. Aber von einer Phrase, von einer Utopie zu
sprechen, ist eine tatsächliche Unrichtigkeit.
Ebenso unterschätzt der „Vorwärts" die Klugheit der öster-
reichischen Sozialdemokraten, wenn er meint, „man rede von Ge-
walt gegen Gewalt". Wir wissen sehr genau, daß die Gewalt-
anwendung nur dann eine praktikable Sache ist, wenn man die
Gewalt hat. Andererseits aber sind wir gezwungen, den Tatsachen
ins Gesicht zu sehen, und haben die Verpflichtung, unseren Ge-
nossen zu sagen, daß sie sich auf alles gefaßt machen müssen, daß
von unseren Gegnern alles zu erwarten ist, sogar die Gewalt-
anwendung.
Und wenn heftige Worte fallen, so werden sie uns von der Ent-
rüstung, von der Verletzung des Rechtsgefühls, von der Verachtung
der schmählichen Kampfweise unserer Gegner abgepreßt. Niemals
aber kann ein Redner, und mögen dem „Vorwärts" seine Worte
noch so heftig erscheinen, niemals kann ein Redner auch nur an-
nähernd das Maß von Groll, von Verbitterung, von Haß gegen die
heute herrschenden Zustände ausdrücken, die im österreichischen
Proletariat lebendig sind. Unsere deutschen Freunde mögen sich
einen Zustand vorstellen mit dem Sozialistengesetz,
aber ohne Wahlrecht, und sie werden mehr Maß halten im
Predigen der Mäßigung.
Der „Vorwärts" schließt seinen Artikel mit den Worten: „Der
Der Berliner „Vorwärts" über Österreich. 139
Tag ist für die österreichischen Arbeiter noch nicht gekommen, wo
sie einen Sieg erhoffen können." Wir müssen gestehen, daß wir
sehr überrascht waren, als wir diesen Satz lasen. Die österreichi-
schen Arbeiter wissen ganz genau (und wir denken, die Mitarbeiter
des „Vorwärts" müßten das auch wissen), daß unser Sieg, und
auch der Sieg der deutschen Sozialdemokratie, überhaupt nicht an
eine m Tage erfochten werden wird. Wir siegen täglich und
jeder Sieg schafft uns neue Aufgaben und macht neue Kämpfe not-
wendig. Daß der Tag, an welchem die österreichischen Arbeiter das
Ziel ihrer Kämpfe erreichen, noch nicht gekommen ist, das wissen
wir genau und meinen sogar, daß die deutschen Genossen leider
nicht in viel besserer Lage sind. Die Erfolge der österreichischen
Arbeiterbewegung aber, die einzelnen Schritte nach vorwärts, die
sie gemacht hat, und die mit Notwendigkeit weitere Erfolge und
weitere Schritte nach sich ziehen, die will der „Vorwärts" gewiß
am allerwenigsten abschwächen, die will er gewiß nicht ver-
kleinern. In der Frage der Wahlrechtsbewegung selbst hat die
österreichische Sozialdemokratie bereits heute einen Erfolg er-
rungen, welcher die Befürchtungen der Gegner bei weitem über-
trifft, und es ist eine einfache Verpflichtung der österreichischen
Sozialdemokratie, sich den Erfolg nicht aus den Händen winden zu
lassen, weder durch allzu hitziges Vordringen, noch durch zu ängst-
liches Abwägen. Wir sind überzeugt, daß der Pessimismus des
„Vorwärts" nur der freundschaftlichsten Gesinnung entspringt, und
wir wissen jene Art von Freundschaft am meisten zu schätzen, die
nicht die Fehler des Freundes zu bemänteln sucht, sondern die
ehrlich und aufrichtig zu kritisieren versteht. Wir wissen ebenso
Kritik zu würdigen, als ihre Motive anzuerkennen, aber wir möchten
durchaus nicht, daß unsere deutschen Genossen für uns mehr ängst-
liche Vorsicht entwickeln, als für sich selbst. Der Kampf, den sie
geführt haben, war sehr häufig auf einem Punkte, der den öster-
reichischen Verhältnissen von heute zum Verwechseln ähnlich sah,
und wir müssen anerkennen — die deutschen Genossen genießen
gerade darum unsere besondere Achtung — , daß sie sich in allen
diesen Augenblicken als Männer und als echt revolutionäre Partei
bewährt haben. Auch damals mag so manche Phrase mit unter-
gelaufen sein: aber man schlägt die „Phrasen" nicht tot, indem man
sie öffentlich annagelt — im Gegenteil.
Wenn aber der besprochene Artikel des „Vorwärts" von einer
gänzlich falschen Auffassung der Tatsachen ausgeht, so ist er nicht
minder bei aller guten Absicht ein taktischer Fehler, weil
er der gegnerischen Presse Material zu den infamsten Fälschungen
gibt. So wenig wir mit jenem Artikel einverstanden sind, so sind
wir doch verpflichtet, an dieser Stelle die niederträchtige Aus-
schlachtung desselben durch unser ordinärstes Fabrikantenblatt,
die „Deutsche Zeitung", zu konstatieren, und müssen den „Vor-
wärts" gegen die gänzlich unverdiente Schmach in Schutz
nehmen, daß dieses Organ der österreichischen Ausbeuterschaft
frech genug ist, zu behaupten, daß „seine Auffassung vom »Vor-
wärts* geteilt werde". Die löbliche „Deutsche Zeitung" unterschlägt
140 Von Taafic bis Badeiii.
natürlich vor allem die Kritik, welche der „Vorwärts" an der Koa-
lition der Parteien übt. Sie unterschlägt den Satz, daß sich um den
Fürsten Windisch grätz „bar aller Grundsätze die
Führer der Konservativen, Liberalen und Polen einträchtig
scharen", aber sie bringt mit gesperrten Lettern, was der „Vor-
wärts" zur Kritik unserer Agitation sagt. Sie fälscht natürlich
— ohne das kann sie es nicht tun — und behauptet, daß im „Vor-
wärts" ausdrücklich konstatiert sei, daß „jetzt in Österreich in
unerhörter Weise die schärfsten Reden in den Versammlungen ge-
duldet werden", während der „Vorwärts", allerdings vollständig
unrichtig, nur behauptet, daß diese „Duldung" in Österreich
unerhört sei. Die „Deutsche Zeitung" schließt mit der Albernheit,
ihre Verwunderung darüber auszudrücken, daß, obwohl das Organ
der sozialdemokratischen Parteileitung Deutschlands so spreche,
trotzdem die österreichische Partei von derselben Parteileitung
einen sehr erheblichen Betrag zur Befestigung ihrer Presse erhalten
habe. Die verehrliche „Deutsche Zeitung" hat sich nämlich in die
Lüge, daß der „Vorwärts" auf ihrem Standpunkt stehe, so voll-
ständig hineingelogen, daß sie sie selbst schon glaubt. Daß eine
gegenseitige geschickte oder gelegentlich auch ungeschickte Kritik
die Freundschaft und die Solidarität nicht erschüttern kann und
nichts gegen die Freundschaft und Solidarität, sondern alles f ü r
sie beweist, das werden die Pensionäre des österreichischen
Montanvereines freilich nicht begreifen. Wir haben allen Grund,
der Kritik des „Vorwärts" eine Antikritik entgegenzustellen, aber
wir meinen, der Verfasser jenes Artikels ist damit zu schwer ge-
straft, daß sich ihm die „Deutsche Zeitung" mit der unqualifizier-
baren Lüge an die Rockschöße hängt, ihre eigene verlogene Haltung
in der Frage des Wahlrechtes werde von dem „Vorwärts" geteilt.
Diese Nebenwirkung des „Vorwärts"-Artikels hat aber nicht einmal
eine besondere Bedeutung, denn er könnte in geradezu entgegen-
gesetztem Sinne geschrieben sein — nichts würde ihn davor
schützen, von der „Deutschen Zeitung" umgelogen zu werden.
Immerhin aber mag der Verfasser jenes Artikels daraus erkennen,
daß es gut ist, in auswärtigen Dingen vorsichtig zu sein.
Abschließend sagen wir: Wir danken dem „Vorwärts" für seine
freundschaftliche Besorgnis, wir können ihm aber zu seiner Be-
ruhigung die Versicherung geben, daß wir selbst es wissen, daß
wir die Pflicht haben, gerade unter den gegenwärtigen Umständen
„ohne Überstürzung, kühl und ruhig zu handeln, nichts zu übereilen
und jede Falle, die uns gestellt wird, zu vermeiden". Daß die öster-
reichische Sozialdemokratie ihrer Aufgabe vollständig gewachsen
ist, zeigt gerade die namenlose Wut unserer Gegner; gerade das
macht, daß ihnen uns gegenüber kein Mittel der Verleumdung zu
schlecht ist. Die Koalition der reaktionären Parteien weiß, daß
gerade die kaltblütige Ruhe der österreichischen Sozialdemokratie
ein Faktor ist, mit dem sie rechnen muß, daß unsere Partei keinen
Schritt macht, der nicht wohl überlegt ist, daß sie aber, wenn sie
ihn tut, mit ihrer ganzen Macht dahinter steht und daß die öster-
reichische Arbeiterschaft ihrem Rufe folgt.
Massenstreik und Organisation. 141
Massenstreik und Organisation.
Metallarbeiterversam m l u n g, 9, D e z e m b e r 18 9 3.
Als zweiter Redner*) legt Genosse Dr. Adler die Geschichte der
Wahlrechtsbewegung in Österreich dar und zeigt, daß das, was vor
einem Jahre als Utopie hingestellt wurde, von jedem Politiker als
unumgänglich betrachtet wird. „Wir haben uns von vornherein auf
einen langen Kampf gefaßt gemacht; wenn die Herren meinen,
uns zu ermüden, sind sie im Irrtum . . . Man hat den Wahlreform-
ausschuß um zwölf Mitglieder vermehrt, er ist nicht zusammen-
getreten. Die Herren haben Wichtigeres zu tun, sie mußten die
Landwehrvorlage bewilligen und dem Ausnahmezustand zustimmen.
Dann kommen die Weihnachtsferien. Die Ursache dieser Ver-
schleppung liegt darin, daß die Regierung mit dem jetzigen Parla-
ment sehr zufrieden ist, und es auf jeden Fall ausleben lassen will.
Es hat noch bis Ende 1896 zu funktionieren; die Leute, die auf dem
Aussterbeetat sind, wollen ihre Pensionen noch so lange als möglich
verzehren, und deshalb eilt man sich nicht mit der Wahlreform.
Wir aber müssen uns sagen, daß wir uns nicht immer allein mit
dem Wahlrecht beschäftigen können, wir wollen das Wahlrecht
endlich einmal haben, um uns anderen Dingen zuwenden zu können.
Aber wir leben in Österreich, wo die klarsten logischen Folge-
rungen mitunter im Stich lassen können. Wir müssen darum auch
für den Fall gefaßt sein, daß die Herrschaften an den Lehren der
letzten Monate nicht genug haben und glauben, sie könnten nicht
nur verschleppen, sondern auch beschwindeln. Und da müssen wir
uns vorsehen. Es wird vom Generalstreik gesprochen. Das bedeutet
ein Niederlegen aller Arbeit im ganzen Lande, ein völliges Stehen
der gesamten Produktionsmaschinen. Das aber geschieht nicht.
(Rufe: Warum nicht?) Ich zweifle nicht, daß Sie, die hier sind,
streiken würden; aber glauben Sie wirklich, daß alle Arbeiter
Österreichs schon so weit sind? Sehen Sie sich in Ihren Werk-
stätten um, und Sie werden zugeben, daß es noch nicht so weit
ist. (Zustimmung.) Noch weniger bei anderen Branchen, die durch
den Kapitalismus noch nicht so revolutioniert sind wie die Metall-
industrie. Es kann nur von einem Massenstreik die Rede sein. Ein
solches Kampfmittel aber darf man nur benützen, wenn man des
Erfolges sicher ist. Die Sozialdemokratie hat ihre Erfolge dadurch
errungen, daß sie immer weniger versprochen hat, als sie wirklich
geleistet hat. Das wissen die Gegner auch. Wir überlegen, was wir
') In der Metallarbeiterversammlung im Hernalser Brauhaus referierte
Lischka über die Tagesordnung: „Das allgemeine Wahlrecht und der
Generalstreik". Er verwies darauf, daß das Parlament bis zum Februar
die Wahlreform verschoben habe. Da müsse man den Herrschaften sagen,
daß „wir mit der Fopperei nicht einverstanden sind". Wir können es nicht
beim Reden belassen, sondern müssen uns vorbereiten, eventuell ernstere
schritte zu unternehmen. Deshalb hätte eigentlich der zweite Punkt der
Tagesordnung: „Die Organisation der Metallarbeiter" der erste sein sollen.
Wer den Generalstreik will, muß mithelfen, daß die gewerkschaftliche
Organisation an Stärke gewinnt. Dann kam Adler zu Wort.
142 Von Taaffe bis Badeni.
können, bevor wir einen Entschluß fassen. Der Massenstreik wird
erst angewendet werden können, wenn er unbedingt unausweichlich,
und wenn die Vorbedingungen dazu in der Arbeiterschaft selbst
vorhanden sind, und wenn sich die Arbeiter auch der Provinz
darüber ausgesprochen haben. Ich empfehle Ihnen, bereiten Sie den
Generalstreik vor, indem Sie mithelfen an der Organisation. Wer
den Generalstreik organisieren will, der organisiere politisch, der
organisiere gewerkschaftlich. Wir haben jetzt einen Kampf nicht
mehr gegen das absolute Nein, sondern einen zähen, ermüdenden
Kampf gegen die Verschleppung zu führen. Wir werden aber nicht
ermüden, und wir sind entschlossen, fortwährend zu agitieren und
zu organisieren, und, wenn es nötig ist, auch die letzten Mittel an-
zuwenden, alle Mittel, die wir haben. Zähe und nüchtern gehen wir
an die Arbeit, an die Organisation der Arbeiterschaft, die nicht nur
die Möglichkeit des Generalstreiks bedeutet, sondern auch die
Sicherheit der Erringung der Ziele der Sozialdemokratie." (Lebhafte
Zustimmung.)
Genosse Dr. Adler*) freut sich, konstatieren zu können, daß auch
Genosse Hueber, der hier als Wortführer der Ungeduldigen auf-
getreten ist, der Parteivertretung das Zeugnis ausstellt, daß es ihre
Pflicht sei, besonnen zu sein. Wenn es auf die Ungeduld allein an-
käme, so kann jeder versichert sein, daß die Mitglieder der Partei-
vertretung zu den Ungeduldigsten gehören. Aber sie sind durch das
*) In der weiteren Debatte hatte auch Hueber gesprochen, der unter
anderem sagte, er sei einer von denen, die schneller vorwärts wollen. Aber
die Parteivertretung habe recht, wenn sie gut überlegt, welche Mittel
anzuwenden sind und gute Kampfmittel empfiehlt, zugleich aber dafür
eintritt, daß besonnen vorgegangen werde. Adler habe heute ganz richtig
den Standpunkt gekennzeichnet. Der Massenstreik soll nicht überhudelt
werden, er soll nicht morgen, auch nicht am 1. Mai gemacht werden, er
wird aber mit elementarer Gewalt ausbrechen, wenn es notwendig
sein wird. Ich war der Ansicht, daß die Parteileitung abwiegelt. Wir
sehen aber, daß sie sich nur den Verhältnissen anpassen will . . . Nach
meiner Meinung sollte es aber doch schneller gehen als es geht. Die
Erbitterung in den Massen ist ganz ungeheuer und es geht nicht an, alles
vom rein politischen Standpunkt zu betrachten. Der Parteivertretung wäre
nur zu empfehlen, nicht zu lange mit der Einberufung des Parteitages zu
warten. Der Parteitag wird auch die wirtschaftliche Lage berücksichtigen
müssen; man kann ein guter Politiker sein und doch die Verhältnisse in
den Organisationen nicht kennen.
Es gibt Branchen, wo das Elend ungeheuer ist. Die Perlmutterknopf-
drechsler sind in einer ganz verzweifelten Lage und alle Besonnenheit
und Überlegung hat an der ungeheuren Not eine Grenze. Wenn die Herren
im Parlament mit uns spielen wollen, dann sagen wir ihnen: Wir werden
den Generalstreik machen und ihn durchführen. (Stürmischer Beifall.)
. . . Die Leute in der Parteivertretung sind überarbeitet wie die Hunde
und können auch nicht alles sehen, und genau wissen, wie es in manchen
Schichten der Arbeiterschaft aussieht. Sie mögen die Überzeugung haben,
je rascher sie fortschreiten, je energischer sie sind, desto mehr werden
sie die gesamte Arbeiterschaft auf ihrer Seite haben. (Lebhafter Beifall.)
Dann kam wieder Adler zu Wort.
Massenstreik und Organisation. 14^
Vertrauen der Genossen und die dadurch auferlegten Pflichten in
einer ganz anderen Lage. Es ist etwas anderes, ob man als ein-
zelner Genosse in einer Versammlung spricht, oder ob mau als
Vertrauensmann der Partei entscheidende Beschlüsse faßt. Wir sind
der Meinung, daß wir dazu gewählt wurden, um zu überlegen und
nur nach Überlegung ZU handeln. Was den Parteitag betrifft, ist
es nicht richtig, daß Genosse Hueber eine Unterscheidung macht
zwischen Politikern und Leuten, die in der Organisation stehen. Der
Parteitag ist nur aus Genossen zusammengesetzt, welche das Ver-
trauen der Masse der Arbeiterschaft dadurch erworben haben, daß
sie in den Organisationen am tüchtigsten und fleißigsten gearbeitet
haben. Die Besorgnis Huebers, daß der Parteitag etwa zu Ostern
zu spät kommen könnte, ist nicht gerechtfertigt, indem die Reichs-
konferenz im Oktober die Parteivertretung beauftragt hat, wenn es
notwendig würde, den Kongreß auch früher einzuberufen, was er-
forderlichenfalls auch geschehen werde*). Zunächst aber muß not-
wendigerweise gewartet werden, welche Vorschläge die Regierung
machen wird, und Feind und Freund weiß, daß die Arbeiterschaft
die entsprechende Antwort darauf finden wird. Wenn angeführt
wurde, daß der Generalstreik auch zur Erringung wirtschaftlicher
Forderungen eine geeignete Waffe sei, so ist zu erwägen, daß die
Durchsetzung wirtschaftlicher Forderungen von wesentlich anderen
Bedingungen abhängt, indem in erster Linie die Konjunktur eine
Rolle spielt. Es ist kein Zweifel, daß es Branchen gibt, die im
größten Elend leben, die aber gerade deshalb am wenigsten ent-
scheidend für einen Massenstreik sind. Je mehr in einem Produk-
tionszweig Arbeitslosigkeit vorherrscht, um so weniger kann ein
Streik Aussicht auf Erfolg haben. Die Metallarbeiter sind nächst den
Gruben- und den Nahrungsmittelarbeitern diejenigen, auf welche es
beim Massenstreik am meisten ankommt. In allen diesen Organi-
sationen aber ist noch sehr viel für die Organisation zu leisten. Je
mehr die Metallarbeiter die kleine, alltägliche Arbeit der Organi-
sation fördern, wrelche die Grundlage der Macht der politischen
Partei ist, um so mehr nähern wir uns dem Ziele. Alles, was wir von
der Tribüne aus sprechen, wären leere Worte, wenn nicht hinter
uns eben diese, mit unendlicher Mühe und in unscheinbarer, un-
bekannter, ruhmloser Arbeit aufgebaute Organisation stünde. Die
Vorredner haben Ihnen geraten, den Generalstreik vorzubereiten;
tun Sie es, indem Sie Ihre Organisationen kräftigen, indem Sie die
Metallarbeiterschaft wieder auf jenen Standpunkt bringen, wo sie
einst stand, daß sie die Vorhut und die bestgegliederte und festeste
Organisation der Sozialdemokratie ist. Wenn Sie das tun, werden
Sie nicht nur den Generalstreik vorbereiten, sondern ihn vielleicht
überflüssig machen. Es ist genau so wie beim Fabrikstreik. Ist die
Arbeiterschaft einer Fabrik gut organisiert, dann kommt es viel
weniger häufig zum Ausbruch des Streiks, als wenn die Organi-
sation mangelhaft ist oder fehlt. Die Unternehmer wissen auch ohne
*) Der Parteitag fand dann vom 25. bis 31. März 1894 beim Schwender
statt.
144 Vom Taaffe bis Badeni.
Streik, daß sie mit den organisierten Arbeitern nicht anbinden
dürfen. Die Regierung und die herrschenden Parteien fürchten sich
nicht vor unseren Worten, aber sie wissen, daß sie Grund haben,
die Tatsache zu berücksichtigen, daß eine große Organisation hinter
uns steht, schlagfertig und bereit. Daß diese noch weit schlag-
fertiger werde, das ist die Aufgabe, die Sie zu besorgen haben, mit
oder ohne Massenstreik. (Beifall.)
Gewerkschaft und Wahlrecht.
Erster Gewerkschaftskongreß 189 3*).
Ich habe hier eine Erklärung der Parteivertretung bezüglich der
Blocks abzugeben. Es wurde darüber gesprochen, ob die poli-
tische Partei es nicht als Nachteil empfinden würde, wenn auch
die Gewerkschaften die Blocks einführen würden. Ich erkläre
Ihnen, daß wir vollständig damit einverstanden sind, und bitte Sie
nur. wie Genosse Höger ja bemerkte, sie etwas unterschiedlich zu
machen.
In zweiter Linie möchte ich, wie Sie ja voraussetzen werden,
über die politische Lage sprechen, wiewohl ich nicht erfreut bin
darüber, daß man hier über politische Angelegenheiten gesprochen
hat. (Richtig!) Ich meine, daß der Gewerkschaftskongreß sehr viel
zu tun hat, um die Organisationen zu fördern. Über die Frage, ob
das Wahlrecht ein Recht erster Ordnung, zweiter Ordnung oder
dritter Ordnung sei, gibt es keine Debatte; denn wenn das in
Zweifel gezogen würde, wie hätte die Arbeiterschaft Österreichs
den Ruf nach dem Wahlrecht so intensiv erschallen lassen können.
(Sehr richtig!) Und sind Sie dessen versichert, sollte die
Regierung oder die herrschenden Klassen das
Wahlrecht hintanhalten wollen, die Arbeiter-
*) Auf dem ersten Gewerkschaftskongreß, der zu Weihnachten 1893
stattfand, und der sich vornehmlich mit der Organisation befaßte, hatte
Ferdinand S k a r e t das Referat über „Streiks und Boykotts". Er schlug
namens der Gewerkschaftskommission die Einführung des Blocksystems
vor, durch das es möglich wäre, einen Teil der Unterstützungen auf die
Schultern der Nichtorganisierten zu laden. Eine Rede und ein Antrag
Huebers brachten dann die Frage des Generalstreiks in den Mittelpunkt
der Debatte. Hueber und Kofinek stellten nämlich folgenden Antrag:
Der Gewerkschaftskongreß erklärt, für einen Generalstreik mit den
Forderungen 1. allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht und 2. Ver-
kürzung der Arbeitszeit auf täglich acht Stunden einzutreten.
Es entspann sich nun eine aufgeregte Debatte darüber, welche von
beiden Forderungen in den Mittelpunkt des Kampfes zu stellen wäre.
In der Debatte sprach auch Adler. Der Gewerkschaftskongreß beschloß
schließlich, die Angelegenheit des Generalstreiks dem Parteitag zuzuweisen.
Über den Gewerkschaftskongreß selbst, sowie über die Rede, die
Dr. Adler dort über das Verhältnis von Sozialdemokratie und Gewerkschaft
hielt, siehe diese Rede im siebenten Band dieser Sammlung (Bd. VII,
Seite 169 f.).
Gewerkschaft und Wahlrecht. 145
schaft Österreichs würde die A ii t \v ort dar a u I
geben, so oder so. (Beifall.) Diese feine Spintisiererei, ob das
Wahlrecht zuerst und dann die ökonomische Verbesserung und
wann der Achtstundentag usw. kommen soll, ja Genossen, das
kann man sich zu Mause schön ausmalen, in der lebendigen Wirk-
lichkeit aber ist politische Knechtschaft und ö k o n o-
mische Ausbeutung dasselbe, und jeder politische
Schritt nach vorwärts bringt uns auch ökonomisch vorwärts. Sie
Gewerkschafter wissen es am besten, was die Gewerkschafts-
bewegung aufhält. Das ist, daß wir keine politischen Rechte haben,
daß jede Bezirkshauptmannschaft im Ort die Gewerkschafts-
bewegung unmöglich machen kann, und wenn man ihnen das
Handwerk legen will, so kann dies nur durch die politische Be-
wegung geschehen. Wenn man im Parlament selbst alles dies zur
Sprache bringen kann, so ist dies nicht nur eine politische, sondern
auch eine ökonomische Angelegenheit. Niemand war im Parlament,
der die Bruderladenfrage in geeigneter Weise zur Sprache gebracht
hätte. Wenn die Bergarbeiter im Parlament vertreten wären,
wäre das anders geworden. Ist das nicht ökonomisch? Ich frage
die Bergarbeiter, ist es so oder nicht? (Sehr richtig!) Über diese
Frage, glaube ich, reden wir nicht weiter. Die Frage, ob es not-
wendig sein wird, eine revolutionäre Massenbewe-
gung für das Wahlrecht zu inszenieren, wird nicht am grünen
Beratungstisch ausgemacht werden, das werden die Massen selbst
sich ausmachen, da nützt kein Beschluß für und wider.
Aber eines muß ich noch sagen. Ich möchte nicht, daß eine
Äußerung unbeantwortet bleibt. Lesen Sie die Bourgeoisblätter von
früh und nachmittags, hauptsächlich die liberalen. Die suchen nicht
allein das, was hier gesprochen wird, sondern den Gewerkschafts-
kongreß an sich auszubeuten. Das eine oder das andere unklare
Wort, das der eine oder der andere Genosse gesprochen, die sind
sehr geeignet, dieser liberalen Presse als Mittel gegen uns zu
dienen. Der Gewerkschaftskongreß hat nicht die Aufgabe, Material
zu liefern für diejenigen, die den politischen Fortschritt des Prole-
tariats aufhalten wollen. (Beifall.) Das wollte ich konstatiert haben.
Es wurde hier ausgesprochen vom Genossen H ö g e r, daß das
allgemeine Wahlrecht für die Bourgeoisie von Vorteil ist. Ich
möchte nur wünschen, daß er zu den Bourgeois geht und ihnen
dies plausibel macht und ihnen auseinandersetzt, was für Vorteile
es ihnen bietet. Genosse Höger sagt, durch das allgemeine Wahl-
recht werde der Erbitterung des Proletariats ein Ausweg ver-
schafft. Ja, wenn jemand geknebelt ist, wird er weniger gefährlich,
wenn ich ihm den Knebel aus dem Mund nehme? Ich meine, daß
dies eine vollständig neue Ansicht ist, eine Ansicht, von der ich
überzeugt bin, daß Genosse Höger die Tragweite derselben nicht
überlegt hat. Wenn er die so gewaltige geschichtliche Bewegung
für das Wahlrecht, in welcher das österreichische Proletariat nun
seit längerem steht und die jetzt ihren Höhepunkt erreicht hat,
wenn er die damit abspeist, daß er sagt, das allgemeine Wahlrecht
sei für die Besitzenden gut, dann kann ich sagen, daß Genosse
Adler, Briefe. X. Bd. 10
146 Von Taaffe bis Badeni.
Höger Worte fallen gelassen hat, die er nicht überlegte, die nicht
so gemeint waren und woran wir ihn nicht festhalten wollen. Er
weiß gerade so wie wir, daß politische Rechte notwendig sind für
das wirtschaftliche Recht, daß der Achtstundentag nicht eine
Minute früher als das allgemeine Wahlrecht kommt.
Die Debatte hat gezeigt, daß ein Widerspruch zwischen ge-
werkschaftlicher und politischer Bewegung nicht besteht; dieser
Widerspruch besteht nicht und der ihn sucht oder will, der ist ein
Feind der gesamten Bewegung; denn es gibt nur eine Bewegung,
nur eine Arbeiterbewegung, und wer einen solchen Widerspruch
hineintragen will, ist ein Feind der gesamten Arbeiterbewegung.
(Beifall und Händeklatschen.)
Die Erklärung der Koalitionsregierung.
Versammlung im Sofiensaal, 3. Dezember 18 94*).
Was wir beiläufig vor einem Monat gefordert haben, daß
nämlich ein Wahlrechtsausschuß mit der Wahlreformfrage sich be-
fassen solle, ist nun geschehen. Die Regierung habe sich also doch
*) Hier einige Daten über den Wahlrechtskampf im letzten Jahre: Am
23. November 1893 hatte sich nach dem Sturz Taaffes die Regierung
Windischgrätz dem Parlament als die Regierung der „Offenheit und
Wahrheit" vorgestellt. Aber dieses Programm bewies sie damit, daß sie
die versprochene Wahlreform zu verschleppen suchte. Am 21. Februar 1894
demonstrierten die Arbeiter für das allgemeine Wahlrecht. Aber erst am
26. Februar 1894 teilte die Regierung den Klubobmännern streng vertraulich
ihr Wahlreformprojekt mit: es sollte im Wesen eine neue Kurie mit 43 Man-
daten für die Krankenkassenmitglieder, Steuerzahler und Absolventen
einer Mittelschule sein. Am 7. März wurden diese „Grundsätze" auch öffent-
lich den koalierten Parteien erläutert. Am 17. April begann der Wahlreform-
ausschuß seine Arbeiten. Am 19. April beantragte der Jungtscheche Doktor
Brzorad, dem Ausschuß eine Frist zur Berichterstattung zu setzen. Der
Antrag wurde abgelehnt. Am 17. Mai warnte der Ackerbauminister Graf
Falkenhayn in der Budgetdebatte vor der Agitation für das allgemeine
Wahlrecht und den Achtstundentag. Es gebe überhaupt keine Panazee, mit
der man den Leuten das Glück bringen kann. Dieses Glück bringe nur die
Rückkehr zu Gott. Nachdem der Reichsrat im Juni ergebnislos aus-
einandergegangen war, beschloß die Partei in einer Ende Juli abgehaltenen
Konferenz, die Agitation im Sommer und Herbst zu steigern. Versammlungen
im ganzen Reiche, Flugschriftenverteilungen, Massenspaziergänge und
Straßendemonstrationen in Wien und in allen größeren Orten folgten. Am
12. August fand im Prater eine Massenversammlung statt, eine zweite am
30. September. Am 16. Oktober trat der Reichsrat zusammen und P e r n e r-
s t o r f e r beantragte, sofort den Wahlreformausschuß zu beauftragen,
innerhalb vier Wochen dem Hause Bericht zu erstatten. Am 18. Oktober
kam es nach der Riesenversammlung im Sofiensaal zu schweren Zu-
sammenstößen zwischen der Polizei und den demonstrierenden
Massen, wobei auch zahlreiche Demonstranten verwundet
wurden. Am nächsten Tag kam der Antrag Pernerstorfer zur Verhandlung
und dabei brachte Pernerstorfer auch den brutalen Überfall der Polizei auf
die von der Versammlung heimziehenden Arbeiter zur Sprache. Der
Ministerpräsident Fürst Windischgrätz wußte darauf keine Antwort,
Der gegenwärtige stand der Wahlreform. 147
den Argumenten von der Straße, denen sie am \{). Oktober so feier-
lich Trotz geboten, beugen müssen. Bis heute habe sie Beratungen
und Konventikel mit den Vertrauensmännern der Parteien ge-
pflogen, um zum Schluß zu gelangen, daß sie unfähig zur Initiative
sei. Auch der Ausschuß werde nicht in der Lage sein, etwas Posi-
tives zu schaffen, denn die Parteien gehen von Gesichtspunkten aus,
die dem beschränktesten Parteiegoismus entspringen. Die Konser-
vativen wollen die Wahlreform g e g c n die Liberalen machen,
diese hingegen wünschen den Konservativen Abbruch zu tun.
Wir aber sagen: Die Wahlreform muß gegen die herrschen-
den Parteien überhaupt gemacht werden; sie muß auf-
gezwungen werden, wenn nicht von oben, so von unten! Die Ant-
wort, welche die Sozialdemokratie auf die Erklärung des Fürsten
Windischgrätz geben müsse, könne nicht anders lauten als: Du,
Regierung, du hast deine Aufgabe, eine Wahlreform durchzuführen,
nicht erfüllt! Du hast selbst eingestanden, daß du unfähig
dazu bist, du hast also einfach abzutreten. — Und dem
Parlament müsse man zurufen: „Du, unfähiges Parlament, du mußt
verschwinden!" Diese Worte riefen einen dröhnenden Beifallssturm
hervor.
Der gegenwärtige Stand der Wahlreform.
Schwender-Versammlung, 14. Dezember 189 4*).
Wir haben nie einen raschen Verlauf der Wahlreform, auch nie
ein vernünftiges Resultat erwartet, aber einen solchen Grad von
als daß die Regierung „der Argumente von der Straße nicht
b e d ü r f e".
Wie man aus den von Brügel veröffentlichten Protokollen weiß (Brügel
„Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie", Bd. IV, Seite 250), hat
Kaiser Franz Josef dem Ministerpräsidenten am 21. Oktober 1894 von
Budapest aus folgende Zustimmungsdepesche geschickt:
Ich bin mit den mittels „Wiener Abendpost" vorgelegten Minister-
reden einverstanden. Sosehr ich die entschlossene Inangriffnahme
und Fortsetzung der Wahlgesetzfragen notwendig erachte, ebensosehr
empfehle ich, daß mit unnachsichtlicher Strenge und mit
mehr Erfolg den Straßendemonstrationen entgegen-
getreten werde. Der Anschein einer Pression und der
Angst vor einer solchen muß absolut vermieden
werden.
Aber am 27. November mußte die Regierung doch, den Argumenten der
Straße folgend, dem Ausschuß die Aufgabe übertragen, selbst einen Entwurf
auszuarbeiten. Es war also jetzt Sache des Parlaments, zu zeigen, was es
tun wolle.
Der Ausschuß wählte ein S u b k o m i t e e, das geheim beriet und erst
im Mai 1895 Bericht erstattete.
Am 3. Dezember fand nun im Sofiensaal eine Massenversammlung statt,
die sich mit der Erklärung der Regierung beschäftigte. Ober die Rede
Adlers liegt nur dieser unzureichende Bericht vor.
*) Im Wahlreformausschuß hatte der Ministerpräsident neuerlich erklärt,
daß die Regierung keinem Vorschlag zustimmen werde, der in irgendeiner
10*
148 Von Taaffe bis Badeni.
borniertem Parteiegoismus und einen solchen Grad von Dummheit
hätten wir der Koalition doch nie zugetraut. Das Resultat der lang-
wierigen Beratungen der Regierung, der Vertrauensmänner der
Parteien, des Ausschusses ist gleich Null, nur über das eine sind
sich alle klar, daß der einzig vernünftige Ausweg, die
Dekretierung des allgemeinen Wahlrechtes, nicht einzu-
schlagen sei. Aber von einer Verschleppung der Wahlreform
kann heute nicht mehr die Rede sein. Denn mit derselben Sicher-
heit, mit der sie vor einem Jahre geglaubt, daß die Massen recht-
los bleiben müssen, mit derselben Sicherheit wissen sie heute, daß
dieser Zustand sich nicht aufrechterhalten läßt. Die Wahlreform ist
es daher nicht mehr, die sie verschleppen wollen, sondern das Ein-
geständnis ihrer Impotenz, die Offenbarung ihres politischen Ban-
krotts. Ihr Schlagwort von der „Erhaltung des Besitzstandes" kenn-
zeichnet so recht, wie tief die Parteien gesunken sind. Es gibt nichts
Gemeineres als dieses krampfhafte Anklammern an das Erbeutete,
sowohl in der politischen wie in der ökonomischen Welt; es gibt
nichts Gemeineres deshalb, weil sie nichts besitzen, was sie nicht
geraubt hätten. Redner schildert nun die Einsetzung des Sub-
komitees und die letzten Vorgänge im Ausschuß. Schwarzenberg
habe dem Grafen Taaffe vorgeworfen, daß er aus Ängstlichkeit die
Wahlreformfrage zu früh und ohne Not aufgerollt hätte. So dumm
und feig, hinter den Kanonen hervor, könne nur ein Junker
sprechen. All dem gegenüber könne die Arbeiterschaft gelassen und
ruhig mit verschränkten Armen dastehen, denn binnen kurzem
müßten die Herren sich zu Ende blamiert haben und gezwungen
sein, abzutreten.
*
Zum Schluß*) ergriff Dr. Adler noch einmal das Wort. Er
wandte sich zuerst gegen die Ausführungen des Genossen, welcher
ein Zusammengehen mit den Jungtschechen befürwortet hatte. Aller-
dings widerspreche es den Prinzipien unserer Partei nicht, mit einer
anderen Partei gegebenenfalls ein Stück Weges zusammen zu
gehen. Die Jungtschechen seien aus der Schlachtlinie zurück-
gewichen. Sollten wir zu ihnen zurückgehen? Dazu haben wir keinen
Anlaß. Sollten sie uns nachkommen und in die Reihe neben uns
Weise auf dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht fuße. Nur eine solche
Reform werde ihre Zustimmung finden, der alle Parteien der Koalition zu-
stimmen. Darüber gab es nun eine lange Debatte, in der der Prinz Karl
Schwarzenberg mit einem neuen Entwurf kam, der aber von allen
Parteien abgelehnt wurde.
Am 14. Dezember fand eine neuerliche Versammlung beim Schwender
statt, in der Adler sprach.
*) Nach Adler hatten noch einige Redner gesprochen, unter anderen
Reu mann, der meinte, so viele Leute bei der Demonstration auf der
Feuerwerkswiese im Prater auch waren, so habe sich doch gezeigt, daß das
für einen wirklichen Kampf zu wenig seien und daß die Massen doch
fehlten; dann ein Redner, der anschließend daran ein Zusammengehen mit
den Jungtschechen zum Zwecke der Erringung des allgemeinen Wahl-
rechtes verlangte. Ihnen antwortete Adler.
Vier Vorschläge. 149
treten, es würde uns zwar freuen, aber wundern. Das werde jedoch
kaum geschehen, denn im entscheidenden Moment habe sich sowohl
die jungtschechische als auch die christlichsoziale Partei geduckt.
Das Proletariat sei auf sich selbst angewiesen und werde allein zu
Siegen wissen. Reumann habe recht, davor ZU warnen, daß wir
unsere Kraft überschätzen, aber alle bürgerlichen Parteien würden
sich glücklich preisen, wenn sie es uns gleichtun könnten. Wir sind
aber so anspruchsvoll und nicht eher befriedigt, bis der letzte Mann
des Proletariats in unseren Reihen steht. Übrigens sei sich die
Parteileitung der Größe ihrer Verantwortung voll bewußt, und zwar
nicht nur der Verantwortung im Falle einer unzeitigen Aktion,
sondern auch der Verantwortung im falle der unzeitigen Unter-
lassung einer solchen. Wenn es die Verhältnisse erfordern werden,
dann werden wir zu allem entschlossen sein.
Vier Vorschläge.
Zehn Versammlungen, 10. Februar 189 5*).
Die Notwendigkeit einer Wahlreform werde heute von jeder-
mann anerkannt. Man spricht dies sogar öffentlich aus, ohne sich
aber einen Begriff davon zu machen, sonst würde man nicht die
Wahlrechtsfrage durch Schaffung einer fünften Kurie lösen wollen.
Die Liberalen wünschen, daß in diese Kurie die Fünfguldenmänner
hineinkommen, die Klerikalen, die von den Antisemiten vorwärts
getrieben werden, versuchen, die direkten Steuerzahler in die zwei
bestellenden Wählerkurien hineinzubringen. Der dritte Plan, der
die Schaffung von Arbeiterkammern bezweckt, auf deren Umweg
die Arbeiter indirekt ins Parlament wählen sollten, ist nicht der Er-
örterung wert. Jedermann weiß, daß sich die Arbeiterschaft ein
solches Wahlrecht nicht bieten lassen wird. Der vierte Vorschlag
ist eine Kurie des allgemeinen Wahlrechtes, in welche diejenigen
wählen, die jetzt kein Wahlrecht haben, und jene, die als Bürger,
Großgrundbesitzer, Handelskammerräte wählen, und die dadurch
ein zweites- und drittesmal wählen können.
Es gibt keine größere Anmaßung als diesen Antrag, und doch
sage ich, eine Kurie, in der wir mit diesen Herren in den Kampf
kommen, und wenn wir kein einziges Mandat dabei erringen, ist
mir lieber als eine Kurie, in der Arbeiter allein sind und zwanzig
Mandate sicher haben. (Lebhafter Beifall.) Für die politische Bildung
des Volkes, für unsere Agitation ist ein Kampf notwendig, nicht
ein Privileg. (Sehr richtig!) So niederträchtig egoistisch dieser
*) Das Subkomitcc des Wahlreformausschusses tagte noch immer als
ein geheimes Konventikel von zehn Vertretern der Regierungsparteien. Ver-
gebens verlangte die gesamte Opposition, daß die Mitglieder des Aus-
schusses den Sitzungen des Subkomitecs beiwohnen durften. Inzwischen
hatten vier Vorschläge sich allmählich in den Vordergrund gedrängt. Da
nahm die Wiener Sozialdemokratie am 10. Februar 1895 wieder mit zehn
Volksversammlungen den Kampf auf. In Schwenders Florasaal sprach
Adler.
150 Von Taaffe bis Backm.
Plan ist, so wie er das Finbekenntnis der krassesten politischen
Selbstsucht ist, unter allen schlechten Wahlreformen ist er der-
jenige, welcher am wenigsten verrückt und am wenig-
sten unmöglich ist. Aber gerade darum wird dieser Plan
kaum durchdringen, denn die Herren fürchten nicht nur um ihre
Mandate, sondern sie fürchten auch das politische Leben an sich.
Der Wahlreformausschuß war unfähig, etwas zu arbeiten; es
wurde nicht diskutiert, es wurden Monologe gehalten. Die Leute
beschlossen daher, ihre Tätigkeit an einen Ort zu verlegen, wo man
sie nicht kontrollieren kann. Sie wählen ein Subkomitee, dessen
erste Handlung ist, daß es sich für geheim erklärt, dem kein Auf-
trag gegeben wurde, welches freie Hand hat, das heißt leere Köpfe,
und mit seiner Qeheimerklärung endet die letzte Sitzung.
Wenn wir nun an das Parlament herantreten und fragen: Was
hast du getan? (Vielstimmige Rufe: Nichts! Nichts!) und an die
Regierung: Was hast du getan? (Nichts! Nichts!) Ja, Genossen, Sie
sagen die Wahrheit, aber das Parlament wird sagen, wir haben alles
getan, wir haben die Besprechungen der Vertrauensmänner ge-
halten, wir haben einen Wahlreformausschuß gewählt und ein Sub-
komitee, das wird es schon machen. Gewiß werden sie etwas
machen, nicht aber, weil s i e es wollen, sondern weil w i r es wollen
und wann wir es wollen. Wenn die Arbeiterschaft sich auf die
Regierung, auf das Parlament verläßt, dann wird nicht nur der
Sommer, sondern auch Herbst und Winter vergehen, und sie
würden noch immer in den Dunkelkammern des Subkomitees sitzen
und sich die angeblichen Köpfe zerbrechen. Wir müssen in unserer
Agitation sehr fest und energisch, aber sehr ruhig und vorsichtig
vorgehen. Wir haben sie aus einem Schlupfwinkel in den anderen
gejagt. Jetzt sind sie in der Sackgasse, aus der sie nicht mehr
herauskönnen. Wir haben die Regierug sich blamieren lassen, wir
haben den Ausschuß sich blamieren lassen, und jetzt, Genossen, muß
unsere Politik darauf gerichtet sein, daß auch das Subkomitee
zu Ende sich blamiere. Wenn die Herren glauben, daß sie
die Arbeiterschaft werden foppen können, so irren sie sich. D i e
Arbeiterschaft ist nicht gesonnen, die allge-
meinen Wahlen nochmals anzusehen und dabei-
zustehen. In einigen Wochen findet im III. Bezirk eine Nach-
wahl statt. Von hundert volljährigen Männern, die wahlberechtigt
wären, sind noch nicht dreißig an die Urne berufen. Wir werden
dafür sorgen, daß die übrigen siebzig wissen, daß sie eigentlich auch
wahlberechtigt sind. Heute würden Neuwahlen nach dem alten
System von jedem einzelnen als ein Faustschlag gegen seine Person
empfunden werden, und wir werden diesen Faustschlag nicht ruhig
einstecken. Die Koalition hat sich das Verdienst verschafft, daß den
Arbeitern die Binden von den Augen gefallen sind. Die „liberale"
Lüge haben wir abwirtschaften sehen und abgewirtschaftet hat die
„christliche" Lüge, die „nationale" Lüge. Aber nicht nur in der
Arbeiterschaft ist diese Erkenntnis eingezogen, sondern auch in
vielen Kreisen des Kleinbauerntums und Kleinbürgertums. Jeder
Ehrliche muß sich sagen, wenn die Sozialdemokraten auch nicht
Die Koalitionssoiree. '51
recht haben, die anderen haben auf jeden Fall unrecht. Dieses Ge-
fühl verbreitet sich in weiten Schichten, heute mehr als je. Wir sind
tuif dem Platze und sind auf jede Eventualität, auf jeden Zufall ge-
faßt. Wir verstehen, ruhig abzuwarten, aber wir verstehen auch
anzugreifen, wenn man nicht verstehen will. Das ist die Situation.
Die Arbeiterschaft braucht das Wahlrecht, und koste es, was es
wolle. Wir haben nicht seinen Preis zu bestimmen, das hängt von
den Gegnern ab, aber kein Preis wird uns zu hoch sein. In diesem
Sinne fordere ich Sie auf, einzustimmen in ein dreimaliges Hoch auf
das allgemeine Wahlrecht! (Anhaltende stürmische Hochrufe.)
Die Koalitionssoiree.
Zwölf Versammlungen am 19. Februar 189 5*).
Wir haben die heutigen Versammlungen einberufen, um den
Reichsrat, der wieder seine „Arbeit aufgenommen" hat, und die
Koalition der Volksfeinde zu begrüßen. Die Soiree der Regierung
ist zwar abgesagt worden, aber wir haben keinen Grund, deshalb
auch unsere Versammlungen abzusagen. (Beifall.) Die ganze Arbeit
der Regierung wird darin bestehen, sich am Leben zu erhalten.
Das Subkomitee, so heiße es, werde noch diese Woche eine Sitzung
abhalten, und warte nur noch auf statistisches Material, das die
Regierung zur Verfügung stellen solle. Was können sie aber aus
den Ziffern lernen, was die Arbeiterschaft nicht schon längst wisse,
nämlich wie groß das Wahlunrecht in Österreich sei. Das sei
ihnen aber schon allen klar, daß eine Wahlreform noch vor den
Neuwahlen ins Werk gesetzt werden müsse, das wissen sie, daß
es nicht mehr möglich sei, an den Wahltagen noch einmal das
Unrecht unseres Wahlsystems greifbar den Massen deutlich zu
*) Dienstag den 19. Februar 1895 fanden in Wien zwölf Volksver-
sammlungen statt, die am 14. Februar mit folgendem Aufruf angekündigt
waren:
Dienstag den 19. Februar vormittags wird der Reichrat wieder er-
öffnet, jener Reichsrat, der die Wahlreform seit sechzehn Monaten
verschleppt.
Am Abend desselben Tages versammelt der Ministerpräsident die
Mitglieder der reaktionären Koalition zu einer „Soiree"; geladen sind
alle Stützen jener Koalition, die mit aller Gewalt und mit allen
Künsten des raffiniertesten Parlamentarismus sich dem allgemeinen
Wahlrecht widersetzt.
Parteigenossen und -genossinnen! Auch wir wollen an jenem Diens-
tag „Soireen" geben. Zu derselben Zeit, wo die Bevorrechteten
und Privilegierten in ihren Prachträumen gedankenlos Feste
feiern, wollen wir, die Rechtlosen, bekunden, daß wir nicht vergessen,
was unsere Pflicht ist, unser Recht durchzusetzen.
Die Tagesordnung der Versammlungen lautete: „Die Koalitions-
soiree und die Wahlreform." In der Versammlung beim „Golde-
nen Widder" in der Taborstraße sprach Adler.
152 Von Taaffe bis Badcni.
machen. Redner übt nun scharfe Kritik an der bisherigen Tätigkeit
der Koalition. Alle Kreise der schaffenden Bevölkerung seien mit
dieser reaktionären Verbindung unzufrieden; selbst in der niederen
Geistlichkeit beginne sich eine Art Auflehnung gegen die Autorität
bemerkbar zu machen. Die Wahlreform habe die Regierung zu
ihrer „ersten und dringendsten Aufgabe" gemacht, und heute stehe
sie ihr gerade so ratlos gegenüber wie vor anderthalb Jahren. Mit
keinem der Vorschläge könne die Arbeiterschaft einverstanden sein,
am allerwenigsten mit den Arbeiterkammern. Denn obwohl ihr da
die Mandate sicher seien, würde sie sich eher noch für die Kurie
des allgemeinen Wahlrechtes entscheiden, weil sie den Kampf nicht
scheut, den die anderen fürchten, weil die Agitation das Element
der Sozialdemokratie ist. Die Sozialdemokratie stehe in diesem
Kampfe um das Wahlrecht ganz allein, und das rechtlose Volk
blicke auf sie. Denn auch die Jungtschechen und Antisemiten seien
fahnenflüchtig geworden, auch sie seien um ihre Mandate und um
engherzige Klassenprivilegien besorgt. Die Sozialdemokratie aber
werde ausharren, sie wird nicht aufhören, den Ruf ertönen zu
lassen: Heraus mit dem Wahlrecht! (Andauernder Beifall.)
Die Bilanz der Koalition.
Versammlung am 2 4. Juni 189 5*).
Die einzige Partei, die es wagt, die Bilanz der Koalitionsära zu
ziehen, ist die Sozialdemokratie, denn die anderen Parteien dürfen
nichts anderes tun, als ihre Schmach verhüllen. Die Sozialdemo-
kratie sei die einzige Partei, deren Fahne in diesen zwei Jahren
unbefleckt blieb und die trotz allen Bedrückungen vorwärts-
gekommen ist. Die Koalition war die Ralliierung der Besitzenden
gegen die besitzlosen Klassen, ihr Zweck war es, zu verhindern,
daß das Volk zu seinem Rechte kommt. Und diese Vereinigung ist
*) Die Versammlung, in der Adler am 24. Juni sprach, fand in den
Drei-Engel-Sälen auf der Wieden statt.
Das Subkomitee hatte am 3. Juni 1895 endlich das Machwerk, das in den
geheimen Sitzungen verbrochen worden war, veröffentlicht: Zu den be-
stehenden vier privilegierten Kurien sollte eine fünfte der neuen Wahl-
berechtigten hinzukommen, die aber wieder aus zwei Wahlkörpern bestand,
der erste Wahlkörper aus den Steuerzahlern, die weniger als fünf Gulden
Steuer zahlten, der zweite aus den der Krankenversicherungspflicht unter-
worfenen Industriearbeitern und aus anderen Personen, denen außerdem
das Wahlrecht erteilt werden sollte. Beide Wahlkörper sollten 47 neue
Mandate erhalten. Die Regierung sollte dazu erst eine Wahlkreiseinteilung
ausarbeiten. Im Ausschuß erklärte sich der Ministerpräsident Fürst
Windischgrätz mit diesem Entwurf solidarisch, doch wollte er einer
kleinen Erhöhung der Mandatszahl nicht entgegentreten.
Es war klar, daß die Regierung der Koalition, die nicht einmal eine
Wahlreform zustande brachte, nicht weiter leben könne. Dazu kam noch,
daß sie auch die einfachsten nationalen Fragen nicht zu lösen vermochte.
I He Bilanz der Koalition. 153
schmählich an ihrer inneren Unmöglichkeit gescheitert. Der Redner
bespricht nun die Rolle, die den einzelnen Parteien innerhalb der
Koalition zufiel, und charakterisiert in scharfen Worten die Männer
der Koalitionsregierung, wobei er dem Grafen Palkenhayn, diesem
geschwomen Feinde des arbeitenden Volkes, ein besonderes Kapitel
widmet. Alle „Reformen" seien der Koalition mißlungen. Sie miß-
langen ihr, weil sie kein Recht hatte, sie zu machen, weil die
koalierten Parteien wußten, daß sie dieses Recht nicht haben, daß
ihr Parlament ein Rumpfparlament sei. Auch ohne die Obstruktion
der Jungtschechen wäre die Steuerreform gescheitert, weil in ihren
letzten Teilen die Wahlreformfrage aufgerollt erscheint, und die
mußten die koalierten Parteien meiden wie die Pest. Ohne Er-
weiterung des Wahlrechtes kommt man in Österreich nicht mehr
weiter. Die herrschenden Klassen sind total versumpft, sie wissen
nicht mehr, was politische Arbeit heißt, sie lassen durch ihr privi-
legierendes Wahlrecht und durch Gendarmen das verrichten, was
sie politische Arbeit nennen. Das politische Resümee dieser Ära
gipfelt in den Worten „Wahlreform und Subkomitee", das öko-
nomische in den Worten „Falkenau, Ostrau, Karwin". Jetzt
jammern die Herren von der Linken über das Mißgeschick, das
ihnen ein Beamtenministerium gespendet hat, ihnen, die niemals
fähig waren, ein starkes parlamentarisches Ministerium auf die
Beine zu stellen. Bevor ein parlamentarisches Ministerium da ist,
muß ein echtes Parlament da sein, und weil dieses jetzt fehlt, ist
das Beamtenministerium eine verhältnismäßig vernünftige Regie-
rungsform. Ein Beamtenministerium kann die Wahlreform machen,
wann es will, weil es sie auch gegen die Parteien machen darf.
Wir werden abwarten, wie sich diese neuen Männer zu dieser
Möglichkeit stellen werden. Wir werden die Wahlreform jedenfalls
nicht einschlafen lassen. Wenn die Abgeordneten im Hause zu-
sammentreten, wird die Frage der Wahlreform wieder riesengroß
vor ihnen stehen. Nun mögen sie in die Ferien gehen. Für uns gibt
es keine Ferien, wir werden den Sommer zu einer ruhigen und
stetigen Organisationsarbeit, zur inneren Stärkung benützen, um
dann im Herbst mit verstärkter Wucht den Ruf anzustimmen: Was
ist's mit der Wahlreform?
Am 11. Juni wurde im Budgetausschuß über die Post von 1500 Gulden für
die slowenischen Parallelklassen am deutschen Gymnasium in dem unter-
steirischen (jetzt zu Jugoslawien gehörenden) C i 1 1 i abgestimmt. Obwohl
der liberale Finanzminister Ernst v. Plener selbst diese Post in sein
Budget eingestellt hatte, stimmten die Deutschliberalen, aber auch die
Christlichsozialen, Deutschnationalen und Italiener dagegen. Trotzdem
wurde die Post mit 19 gegen 15 Stimmen beschlossen. Die Regierung, die
seit dem 23. November 1893 im Amte war und die kleine Zwistigkeit in ihrer
Mehrheit nicht hatte beilegen können, mußte am 19. Juni zurücktreten. An
ihre Stelle trat ein provisorisches Heamtcnkabinctt des niederösterrcichi-
schen Statthalters Grafen Erich Kielmansegg, das allerdings nur ein
Lückenbüßer für das Kabinett des „starken Mannes", des galizischen Statt-
halters Grafen Kasimir B a d e ni sein sollte, der noch die galizischen
Wahlen durchführen und dann an die Spitze des Staates treten sollte.
154 Von Taaffe bis Badcni.
Die starke Faust Badenis.
Die Massenversammlung am 15. September 1895
verschöbe n*).
Genossen! Wir wären am Platze zahlreich genug, wenn wir
uns mit dieser Zahl begnügen wollten. Wir sind noch immer mehr
Leute beisammen, als alle bürgerlichen Parteien zusammen-
genommen aufbringen könnten. Aber wir Sozialdemokraten sind
anspruchsvoller, wenn es gilt, einer neuen Situation gegenüber
Stellung zu nehmen. Gestern hat sich die neue Regierung an-
gekündigt, und zwar durch ein Diner*). Wir wünschen den Herren
dazu guten Appetit, wir bemerken aber gleich, daß wir ihnen Ge-
legenheit geben werden, auch etwas anderes als Appetit zu ent-
wickeln. Dieser Regierung geht der Ruf voraus, daß sie eine
starke Faust besitzt. Das mag sein, aber wenn sie nebst der
Faust nicht auch Hirn besitzen sollte, wird ihr dasselbe Schicksal
bereitet werden wie der Koalitionsregierung. Die „starke Faust"
ist in Österreich nichts Neues. Sie brauchen nur das heutige
massenhafte Aufgebot an Wache zu sehen, um sich dessen zu er-
innern. Aber nach wie vor: die Säbel schrecken uns nicht! Wir
wußten, als wir in den Kampf um unser Recht traten, daß er große
Opfer kosten werde, wir wußten, daß dieser Kampf nicht mit einem
Schlage zu beenden ist. Wir sind aber um so fester entschlossen,
diesen Kampf weiterzukämpfen; wir werden nicht aufhören,
darauf hinzuweisen, daß die Männer, die für die Herrschenden das
Gewehr tragen müssen, rechtlos sind, während die bornierte Horde,
die sich reife Bürgerschaft nennt und jetzt im Kampf um den
Gemeinderat ihre Reife so glänzend bekundet, im Alleinbesitz aller
politischen Rechte ist. Die Koalition hat gezeigt, daß das Bürger-
tum unfähig ist, zu herrschen, die Ereignisse dieser Tage zeigen
uns, daß es nicht einmal fähig ist, von seinen politischen Rechten
*) Für den 15. September war zur Begrüßung Badenis, der schon als
Ministerpräsident bestimmt war, eine Massenversammlung auf die Feuer-
werkswiese im Prater einberufen worden. Aber das Wetter war so schlecht,
daß kaum aus den benachbarten Bezirken die Arbeiter kommen konnten.
Vom frühen Morgen an regnete es in Strömen, der Prater war ein Kotmeer.
Die Versammlung mußte also auf den nächsten Sonntag verschoben werden.
(Siehe unten, Seite 155 f.) Immerhin waren etwa dreitausend Personen er-
schienen und zu ihnen hielt Adler eine kurze Ansprache.
Trotz dem elenden Wetter, das die Versammlung unmöglich machte,
war doch Polizei in Massen aufgeboten. Der Prater war voll von
Wachleuten, das Parlament war ein Polizeilager. Die Zugänge zur Stadt
waren durch dichte Polizeiketten abgesperrt. Der Rückmarsch der Massen
vom Prater vollzog sich unter ständigen Behelligungen durch die berittene
Polizei, die unter dem Kommando des wegen seiner Heldentaten vom 9. Juni
zum Oberinspektor ernannten Tobias Anger immer wieder in die Arbeiter
hineinritt.
'*) Von den Zeitungen wurde gemeldet, daß Samstag im „Hofratszimmer"
der Westbahnhofrestauration die Mitglieder der Regierung zusammen-
gekommen seien, und es wurde sogar das Menü, das sie zu sich nahmen,
mitgeteilt.
Die starke Paust Badenis. Begrüßung Badenis. I - '
Gebrauch zu machen. Wir haben die Aufgabe, sie es zu lehren, und
wir werden auch der neuen Regierung deutlich sagen, was sie ZU
tun hat. Es gibt für sie heute keine Ausrede mehr, sie allein ist
verantwortlich für alles Kommende. Wir werden den Kampf für
das mite Recht des Volkes führen bis ans Ende. Hoch das all-
gemeine, gleiche und direkte Wahlrecht! (Stürmische Hochrufe.)
Genossen, der mächtigste Mann Deutschlands hat unsere Freunde
im Reiche eine „Rotte*)" genannt; wir nehmen den Namen auf: die
Rotte dort, die Rotte hier, sie kämpfen geeint für dasselbe Ziel:
Hoch die internationale Rotte! (Brausende, dreimal wiederholte
Hochrufe.)
Begrüßung Badenis.
Massenversammlung auf der Feuerwerkswiese,
22. September 189 5**).
Werte Parteigenossen! Wir sind versammelt, um die neue Re-
gierung, die uns aus Lemberg herüberkommt, festlich zu empfan-
gen, um ihr im vorhinein zu sagen, nicht nur was wir wollen,
sondern auch daß wir entschlossen sind, es zu erreichen. Mehr
als drei Jahre sind es, seit wir einen opfervollen, mühevollen Kampf
*) Am Sedantag hat Kaiser Wilhelm II. davon gesprochen, in die
Festesfreude schlage ein Ton hinein, der nicht dazu gehöre. „Eine Rotte
von Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu
tragen, wagt es, das deutsche Volk zu schmähen, wagt es, die uns ge-
heiligte Person des allverehrten, verewigten Kaisers in den Staub zu
ziehen."
**) Am 18. August 1895, an seinem Geburtstag, hatte Kaiser Franz Josef
in Ischl den galizischen Statthalter Grafen Kasimir B a d e n i mit der
Bildung der Regierung betraut. Schon lange vorher hatte der Kaiser dem
Manne, der in Galizien gegen die Opposition eine „starke Faust" gezeigt
hatte, die Regierung übergeben wollen. Als Graf Kielmanscgg mit der
Bildung einer Beamtenregierung betraut wurde, wurde ausdrücklich in Aus-
sicht genommen, daß er nur so lange bleiben solle, bis die Wahlen für den
galizischen Landtag vorüber seien, bei denen man den Grafen Badeni noch
brauchte. Aber die Verhandlungen zur Bildung der Regierung dauerten
länger, so daß erst am 29. September die Ernennung der Minister erfolgen
konnte.
Die Wiener Arbeiter begrüßten den neuen Ministerpräsidenten durch eine
Massenversammlung auf der Feuerwerkswiese im P r a t e r, an der gut
dreißigtausend Menschen teilnahmen. Hatte schon beim Aufmarsch der
Massen die Polizei einzelne Versuche der Behinderung gemacht, so sperrte
sie dann plötzlich den heimziehenden Massen die Praterstraße ab und der
Oherinspektor Tobias Anger machte sich berühmt durch seine Reiter-
kunststücke, mit denen er an der Spitze seiner Polizisten immer in die
Massen hineinsprengte, wobei aufs Geratewohl Arbeiter verwundet und
verhaftet wurden.
In der Versammlung sprachen Adler, Reumann und N e m e c.
Jakob Reumann, der erste sozialdemokratische Bürgermeister von
Wien, Anton N e m e c, der Redakteur der „Delnicke Listy", des Wiener
Organs der tschechischen Sozialdemokratie, nachmaliger Abgeordneter
von Prag.
156 Von Taaffe bis Badeni.
führen für nichts als was unser einfaches Recht ist, gegen die
Brutalität derjenigen, die der Masse des Volkes das Recht ent-
ziehen, das ihr gebührt. Dreieinhalb Jahre plagen wir uns mit
einem Parlament herum, das nicht hören will, das nicht verstehen
kann, das nichts will, als sitzen, sitzen und sitzen. Als am 10. Ok-
tober 1893 die Wahlreform des Grafen Taaffe eingebracht wurde,
da erhob sich in unseren Reihen nicht etwa ein Schrei des Ent-
zückens, aber doch ein Gefühl der Befriedigung und der Hoffnung,
daß man da oben doch wenigstens eine Ahnung davon hat, was
Recht ist. Und gegen diesen Anfang von Beseitigung des aller-
gröbsten Unrechtes erhoben sich die Vertreter der Bourgeoisie,
die Vertreter des polnischen Adels, die Vertreter der deutschen
Pfaffen, die Plener, Stadnicki, Hohenwart. (Pfuirufe.) Eine mächti-
gere Koalition hat die parlamentarische Geschichte Österreichs
nicht gesehen. Alles vereinigte sie, was Intelligenz, Reichtum,
Macht und politische Bildung, Einfluß bei Hof bedeutete, auf einem
Fleck, um das Volksrecht zu unterdrücken. Und wir sahen, wie
dieser mächtigen Koalition Fetzen für Fetzen abgerissen wurde,
was etwa noch an Respekt, Achtung vor den großen Parteien vor-
handen war. Die Koalition hat sich blutig an ihnen allen gerächt.
Wo sind ihre Plener, ihre Richter, ihre Grübl? Schmach und
Schande ist über die Liberalen gekommen. Sehen Sie den Grafen
Hohenwart, der einst Österreich beherrschte, wie in seinem eigenen
Lager Zwietracht aufwächst, weil es sich herausstellt, daß die
Gläubigen und Frommen auch essen müssen. Und die Stadnickis!
Ich begrüße es als eine der wichtigsten Tatsachen, daß in Galizien
die Ärmsten der Armen, die Ausgebeutetsten der Ausgebeuteten,
die Geknechtetsten der Geknechteten, die galizischen Bauern, sich
zu rühren anfangen. Alle drei Parteien kamen aus der Koalition
mit Schmach und Schande bedeckt heraus, sie haben sich ganz und
gar unfähig erwiesen, dem heute in seinen Bürgern europäischen,
aber in seinen Zuständen, Regierungen und Verwaltungen asiati-
schen Lande das zu geben, was es am dringendsten braucht, sie
haben sich als unfähig erwiesen, über eine Wahlreform, und wäre
sie noch so schlecht, sich zu einigen. Aber sie waren nicht im-
stande, die Bewegung für die Wahlreform zu unterdrücken oder
auch nur zu ermüden. Nun kommt eine neue Regierung ans Ruder.
Diese Regierung hat eine sehr leichte Aufgabe: Wenn sie will,
kann sie in vier Wochen die Wahlreform fertig
machen. Widerstand von den bürgerlichen Parteien gibt es
nicht mehr; das Parlament hat sich selbst vernichtet, es steht dort,
wo es einem solchen Parlament gebührt. Es ist ohnmächtig, un-
fähig zu jedem Widerstand, sowohl gegen das Schlechte als gegen
das Gute. Vom Grafen Badeni sagt man, daß er eine starke Faust
besitze. Wenn er seine starke Faust von seinem Hirn lenken läßt,
kann es uns recht sein, wenn er mit diesem Parlament umgeht, wie
es das verdient. Wenn Graf Badeni aber die Sitten von Lemberg
nach Wien übertragen will, dem Volke gegenüber, dann sagen wir
ihm kühl: Wir sind auf alles gefaßt. Wir haben in Wien jahrelang
•
Die Antwort des (inilui Badenl. l-'tf
einen Ausnahmezustand gehabt und die Polizeibüttelei in der
schlechtesten Form, und ans dein Ausnahmezustand Ist die Sozial-
demokratie kräftiger, mächtiger, jünger, tüchtiger und lebendiger
herausgegangen. (Brausende Zustimmung.) Wir haben zahllose
Bezirkshauptleute, die eine „eiserne Faust" hatten, erzogen. Und
wir sagen es nach Lemberg hinüber: Wir fühlen erzieherische Kraft
genug in uns, auch den polnischen Ministerpräsidenten zu erziehen.
Möge er von vornherein als Europäer kommen, sonst werden die
europäischen Arbeiter ihn Gesittung lehren und Gesetzlichkeit zu
lehren wissen. Im Februar oder März 1897 müssen spätestens die
Neuwahlen für das Parlament stattfinden; wir wissen, daß man
dieses Parlament früher auflösen müssen wird, und wir wissen,
daß in Österreich unter diesem verrotteten Wahlgesetz, das zwei
Drittel des Volkes ausschließt, nicht mehr gewählt werden
wird. Wir sind heute hier, um diese Überzeugung auszusprechen.
Davon werden wir nicht abweichen.
Die Leute da oben, die meinen, daß die Arbeiterschaft tot und
müde, des Kampfes um das Wahlrecht satt sei, würden sich furcht-
bar täuschen. Satt sind wir, aber in dem Sinne nicht, daß wir den
Kampf aufgeben, bevor er beendet ist. Während wir, die an der
Spitze sind, von euch die Prügel kriegen, weil wir nach eurer
Meinung nicht genug nach vorwärts gehen, glauben die Leute
oben, daß wir euch peitschen müssen, und daß i h r nicht gehen
wollt. (Zwischenruf: Wir sind ja keine Liberalen!) Wenn die
Gegner es vorziehen, anstatt die Wirklichkeit zu sehen, sich in den
eigenen Sack hineinzulügen, mit verbundenen Augen zu kämpfen,
uns kann es recht sein; wir kennen unsere Gegner, wir zählen
ihnen ihre Bajonette nach, wir berechnen ihre Stärke genau und
erwägen, wozu sie nicht aus Schlechtigkeit, sondern aus plumper
Dummheit fähig sind. Die österreichischen Arbeiter haben Asien
-satt. Mit Stolz, mit Ruhe, mit Festigkeit erwarten wir die Badeni,
wir führen den Kampf bis ans Ende. In nächster Zeit werden in
Galizien die Landtagswahlen sein und ebenso in Böhmen. Wir
rufen den Arbeitern, den Bauern, die sich als Teile des Volkes
fühlen und rühren, herzliche Glückwünsche zu und versichern
ihnen, daß wir nicht nur für uns, sondern auch für sie kämpfen und
kämpfen werden bis ans Ende. Es lebe die internationale Sozial-
demokratie, es lebe das allgemeine, gleiche, direkte und geheime
Wahlrecht. (Brausende Hochrufe erschallen dreimal nacheinander,
Hüte und Tücher werden geschwenkt.)
Die Antwort des Grafen Badeni.
Versammlung im Florasaal, 14. Dezember 18 95*).
Nachdem der Redner in wenigen Sätzen die Geschichte der
Wahlreform seit der Taaffeschen Vorlage rekapituliert hatte, erklärt
*) Am 22. Oktober hatte Badeni versprochen in der nächsten Zeit einen
Wahlreformentwurf vorzuleben. Am 6. Dezember erinnerte ihn P e r n e r-
i
158 Von Taaffe bis Badeni.
er, daß wir gegenwärtig vor einer ganz neuen Situation stehen.
Das haben wir bisher noch nie gehabt: Eine Regierung, die sagt:
Ich weiß nicht nur, daß eine Wahlreform notwendig ist, sondern
ich habe schon ein Projekt fertiggebraut, aber — ich behalte es im
Sack. Warum veröffentlicht er sie nicht jetzt? Er meint, das wäre
unpraktisch. Während der Weihnachtsferien könne das Parlament
damit nichts anfangen, dafür würden die Arbeiter kritisieren,
sie würden am Ende kein gutes Haar an dem Entwurf lassen, und
das paßt ihm nicht. Er will den Entwurf unbeschädigt und unzer-
zaust vor das Haus bringen. Die Kritik wird ihm jedenfalls nicht
wohltun. Der Standpunkt des Badeni ist für ihn begreiflich, aber
das Gegenteil von unserem Standpunkt. Für ihn ist die Bequem-
lichkeit der Regierung maßgebend, für uns die Frage: „Wie kommt
ein besseres Gesetz zustande?" Wenn wir eine Regierung hätten,
die ehrlich ist, auch die hätte große Schwierigkeiten, diesem Parla-
ment eine vernünftige Wahlreform abzuringen. Die würde aber
einfach dieses Parlament nach Hause schicken und die Taaffesche
Wahlreform oktroyieren. Das ist verfassungsmäßig sehr gut mög-
lich, und es ist nicht einzusehen, warum der Ausweg der Aus-
nahmegesetze immer nur gegen die Arbeiter angewendet werden
soll, warum man sie nicht auch einmal im Interesse einer ver-
nünftigen Sache anwenden soll. Ja, qietschen die „Verfassungs-
treuen", aber das wäre eine Vergewaltigung der Verfassung, ein
Staatsstreich! Nun, was weiter! Die Verfassung ist, so lange sie
mit dem bisherigen Wahlsystem verknüpft ist, ein beständiger
Rechtsbruch, und es wächst kein Recht aus ihr, bevor sie
selbst zerbrochen ist.
Graf Badeni veröffentlicht also seinen Entwurf nicht, weil er
das Licht der Kritik scheut. Wir wissen genau, daß sie wirklich
bereits gedruckt ist und darum glauben wir es dem Badeni. Man
weiß beiläufig wie sie aussehen wird. Wir sind daher in der Lage
uns schon heute, so unangenehm das auch dem Grafen Badeni sein
mag, mit der Wahlreform kritisch zu beschäftigen.
Die Wahlreform bringt das allgemeine, gleiche und
zum Teil direkte Wahlrecht. (Ohorufe!) Darüber sollten
Sie sich alle freuen. Gewiß, so ist einmal der Badeni! Jeder
24jährige Bürger soll das Wahlrecht erhalten, die neuen wählen
mit den alten Wählern zusammen, es soll eine wirkliche Volksver-
tretung gewählt werden, die aus dem allgemeinen und gleichen
Wahlrecht hervorgegangen ist. Diese Vertretung besteht aus
7 5 Volksvertretern, es ist die einzige berechtigte wirkliche
Volksvertretung. Allein, dann treten die heute privilegierten
Wähler nochmals an die Urne und wählen die Interessenvertretung
von 353 Abgeordneten, die die Volksvertretung majorisieren. Trotz-
storfer daran und forderte ihn auf, sofort nach Beendigung der Debatte
über das Bergbaugesetz die Wahlrechtsvorlage einzubringen. Die Regierung
sagte die Einbringung der Vorlage nach den Weihnachtsferien zu. In-
zwischen verlautete mancherlei über die Vorlage, die Badeni einbringen
wollte.
Die Antwort des Grafen Badeni. 159
dem können wir offen zugeben, daß dieser Vorschlag unter allen
bisherigen — mit Ausnahme der Taaffeschen Wahlreform — der
am wenigsten niederträchtige ist, weil die Arbeiterschaft Gelegen-
heit hat, mit sämtlichen bürgerlichen Klassen in den Wahlkampf
einzutreten. Auf je 300.000 Einwohner soll in der neuen Kurie ein
Abgeordneter gewählt werden. Da ist es auch zu befürchten, daß
ein großer Teil der neuen Abgeordneten durch indirekte Wahl ins
Parlament entsendet werden soll. Gegen die Versuche, die länd-
liche Arbeiterschaft vom Wahlrecht auszuschließen, wird die sozial-
demokratische Partei mit aller Kraft der Agitation eintreten.
Wenn es ein Vorzug des Entwurfes ist, daß man die Arbeiter-
schaft nicht in einen separaten Käfig sperren wird und ihr theore-
tisch die Möglichkeit des Kampfes gibt, so verwerflich ist er nach
allen übrigen Richtungen; die wahnsinnige Ungerechtigkeit unseres
Wahlsystems wird durch ihn noch deutlicher werden, als dies bis-
her der Fall war. Vier Millionen Wähler sollen 75 Mandate
bekommen, während 5000 Großgrundbesitzer 85 Abgeordnete
wählen. (Pfuirufe.)
Der Redner bespricht nun die mutmaßliche Stellungnahme der
Parteien zur Wahlreform. Von den Liberalen weist er nach, daß sie
bei der Taaffeschen Wahlreform viel besser daran gewesen wären
und mit ihrer Abweisung sich selbst schwer geschädigt haben. Sie
haben ihre Lumpereien begangen ohne jeden Vorteil, gratis. Werde
diese Wahlreform Gesetz, dann sei die Wahlreformfrage keineswegs
aus der Welt geschafft. Im Gegenteil, eine solche Wahlreform
schaffe ein Parlament, das unerhört sei in Europa. Es würden damit
Gegensätze geschaffen, die den Rahmen zerreißen müssen, in den
man sie bannt, und man dürfe überzeugt sein, daß ein zweitesmal
nach einem solchen Gesetz nicht gewählt werden wird.
Der Redner erörtert darauf das Wahlunrecht in der Gemeinde
Wien, wo L u e g e r als ausschließlich privilegierter Volksmann das
„Volk von Wien'4, das heißt die privilegierten Wähler des dritten
und zweiten Wahlkörpers vertrete. Auch für die Gemeinde fordert
das wirkliche Volk das Wahlrecht, damit endlich einmal der Cliquen-
kampf durch den Klassenkampf ersetzt werde, damit an Stelle der
persönlichen Zänkereien ein ernstes Kommunalprogramm trete.
Der Redner legt dar, wie viel es gerade in der Kommune für ernste
Arbeitervertreter zu tun gebe, und wie erst, wenn sie im Gemeinde-
rat sitzen, ernstliche Erörterungen kommunaler Fragen an der
Tagesordnung sein werden. Wir brauchen eine Wahlreform nicht
nur für das Parlament, sondern auch für die Gemeinde und das
Land. Letzteres haben die galizischen Landtagswahlen gezeigt.
Jetzt eben ist eine Deputation hier, die sich über die schänd-
lichen Wahlbeeinflussungen beklagen will, die unter dem Regiment
Badenis in Galizien die Regel waren. Diese armen Bauern, die voll
Vertrauen und Zuversicht nach Wien kommen, sie sind die Opfer
der Schlachta, deren Häuptling Graf Badeni war und ist. Diesen
Bauern wird nur geholfen werden, wenn sie ihren heutigen, zum
Teil sehr zweideutigen Führern sich entwinden und sich der
160 Von Taaffe bis Badcni.
radikalen Partei anschließen, die schon besteht und von der
einige wenige Vertreter auch nach Wien gekommen sind; wenn
sie gelernt haben werden, sich auf eigene Füße zu stellen, werden
sie nicht mehr zu bitten brauchen, sie werden ihr Recht for-
dern und durchsetzen können*).
Badenis
Schlagwort von der Gerechtigkeit.
17 Versammlungen am 2 1. Februar 189 6**).
Graf Badenis Schlagwort von der Gerechtigkeit bedeutet nichts
anderes, als daß er doch jenes Minimum von Gehirn hat, das dazu
gehört, um sich dem Notwendigen und Unabänderlichen einiger-
*) Über diese Ruthenen-Deputation, die aus 250 Bauern und
Geistlichen bestand und die den Kaiser um Schutz gegen die Übergriffe der
Schlachta und der Behörden anflehen wollte, sowie über ihre Erlebnisse bei
der Audienz ist in dem Artikel Adlers vom 17. Dezember 1895 in der
„Arbeiter-Zeitung", der im achten Bande dieser Sammlung („Öster-
reichische Politik", Bd. VIII, Seite 173 ff.) abgedruckt ist, sowie in den dort
beigegebenen Bemerkungen Näheres erzählt.
Während der letzten Sätze des Redners traten plötzlich unter brausen-
den Hochrufen der Versammelten einige Mitglieder der ruthenischen Depu-
tation in den Saal, und zwar der Landtagsabgeordnete Stephan N o w a-
kowski, die Bauern Danilo Mekelita und Hryc Hrabar. Der Vor-
sitzende, Genosse Witzmann, begrüßte die Gäste, worauf der Bauer
Mekelita eine kurze Ansprache hielt, die nach den Angaben ihres Be-
gleiters von Genossen Dr. Adler folgendermaßen übertragen wurde: „Ihr,
die wir hier begrüßen, seid Besitzlose. Wir heißen Besitzende, aber wir
sind vielleicht noch ärmer als ihr. Wir werden genau so unterdrückt wie
ihr, unsere Interessen sind daher die euren. Wir machen den Reichen alles
und leben selbst von elendem Brote wir ihr. Ihr und wir, wir ge-
hören zusammen!" Unter stürmischen Hochrufen endete der Redner,
worauf der Vorsitzende die Versammlung schloß. Die Versammelten ent-
fernten sich unter Absingung des „Liedes der Arbeit".
Die abziehenden Genossen gingen begreiflicherweise auf der Straße
nicht gleich auseinander, sondern begleiteten die Ruthenen eine Strecke
und suchten ihnen durch Rufe ihre Sympathie kundzugeben. Die Polizei
verhielt sich anfänglich ruhig, änderte jedoch plötzlich ihre Taktik und
verhaftete einige jüngere Arbeiter, die nichts getan hatten, als etwas
temperamentvoll ihren Gefühlen Ausdruck zu geben. Dadurch kam
es zu lebhaften Kontroversen zwischen den Wachleuten und
der Menge, die ein größeres Wacheaufgebot zur Folge hatten. Die Menge
wurde durch den provozierenden Anblick der Wachleute längere Zeit
festgehalten und zerstreute sich nur langsam.
**) Badeni hatte am 22. Oktober 1895 in seiner programmatischen Er-
klärung gesagt, die Regierung werde als oberstes Prinzip ihrer Wirksam-
keit, als unverrückbare Richtschnur ihres Tuns und Lassens die G e-
rechtigkeit betrachten. In diesem Zeichen werde sie siegen.
Am 15. Februar 1896, nach den Weihnachtsferien, legte er dem Parla-
ment seine Wahlreform vor. Sie enthielt bereits die fünfte Kurie des all-
gemeinen Wahlrechts mit 72 Mandaten, die an die 353 Mandate der privile-
Badenis Schlagwort von der Gerechtigkeit. Ml
maßen zu fügen. Die Koalition hat nicht einmal jenes Minimum
besessen. Der Redner schildert hierauf den Wahlrcformcntwurf der
Regierung und unterzieht ihn einer vernichtenden Kritik. Er weist
nach, daß der Ausschluß des (iesindes nicht nur ungerecht, sondern
auch für die „Staatserhaltenden" unpraktisch ist, weil er die
Chancen der Sozialdemokratie auf dem Lande noch vermehrt.
Ebenso ungerecht sei es, das Wahlrecht vorn sechsmonatigen
Aufenthalt abhängig zu machen. Der Entwurf sei im allgemeinen
ebenso aufreizend, wie es die Rechtlosigkeit war. Im Entwurf werde
auch die g e h e i m e Wahl nicht festgesetzt. Die Parteien hätten
ohne Verletzung ihres Klasseninteresses den
Fehler der Ablehnung der Taaffeschen Wahlreform gutmachen
können. Aber sie wollen einmal nicht um ihre Mandate kämpfen.
Wir erwarteten von Badeni weder Gerechtigkeit noch Vernunft.
Was uns seine fünfte Kurie absolut unannehmbar macht, ist der
Umstand, daß sie dem Zwecke des Wahlrechtes widerspricht. Wir
betrachten das Wahlrecht nicht als eine Maschine zur Abgeord-
netenfabrikation, sondern als Mittel der Agitation, und
die Agitation wird bei so ausgedehnten Wahlbezirken fast unmög-
lich. Wenn die Taaffesche Wahlreform ungenügend war, so ist die
gierten Kurien (85 des Großgrundbesitzes, 21 der Handelskammern, 117 der
Steuerzahler der Städte und 136 der Landgemeinden) angefügt wurden. Das
ländliche Gesinde, das im Haushalt des Bauern wohnte, sollte vom Wahl-
recht ausgeschlossen sein. (Diese Bestimmung wurde später fallen gelassen.)
Am 20. Februar fand die erste Lesung statt, in der außer Pernerstorfer
auch die Tschechen, Ruthenen und im Namen der Christlichsozialen Prinz
Liechtenstein für das allgemeine, gleiche Wahlrecht eintraten.
Die Vorlage wurde dann dem Wahlreformausschuß zugewiesen. Am
20. April begann dann die zweite Lesung.
Am 21. Februar gaben die Wiener Arbeiter in siebzehn Massenversamm-
lungen ihr Urteil über die Badenische Wahlreform ab. In der Resolution,
die in allen diesen Versammlungen beschlossen wurde, wurde erklärt, daß
die Vorlage in keiner Weise den Wünschen der Arbeiterklasse entspreche,
daß sie das allgemeine, gleiche Wahlrecht mißbrauche und fälsche. Dann
heißt es:
Die Regierungsvorlage bietet also eine Karikatur des gerechten
Prinzips des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes und liefert
aas Volksinteresse an die Borniertheit und den Egoismus der Privi-
legierten aus. Die Versammlung protestiert daher entschieden gegen
den Wahlreformvorschlag des Ministeriums Badeni als eine ungeheuer-
liche Verzerrung der Forderungen der Arbeiterklasse; sie protestiert
dagegen, daß das gute Recht der großen Mehrheit des Volkes gebeugt
werde zugunsten der Ausbeuterklassen, und erklärt, daß die Wahl-
rechtsbewegung unter allen Umständen unermüdlich
weitergeführt werden muß, bis das Ziel erreicht ist. Die Ver-
sammlung brandmarkt aber zugleich die Absicht der alten Koalitions-
parteien, die selbst diese Schattenreform zur Befestigung ihres wider-
rechtlichen Privilegiums auszunützen und die Verhandlungen abermals
zu verschleppen versuchen.
In der Versammlung beim Dreher auf der Landstraße referierte Doktor
Adler.
Adler, Briefe. X. Bd. 11
162 Von Taaffe bis Baden f.
Badenische ein Spott, eine Parodie aufs allgemeine Wahlrecht. Der
Redner erörtert nun die Stellung der Parteien zum Entwurf. Er ver-
wahrt sich gesell einen eventuellen nochmaligen Verschleppungs-
versuch der Wahlreform, der unter den obwaltenden Umständen
ein Verbrechen wäre. Die Parteien würden uns zu Dank ver-
pflichten, wenn sie den Entwurf ablehnten. Dann wäre die Regierung
gezwungen, das Vernünftige zu tun; die Taaffesche Wahlreform zu
oktroyieren. Es wäre einmal zur Abwechslung ein Verfassungs-
bruch, der nicht das Recht, sondern das Unrecht bricht. Wie wir
das Parlament bis zur Badenischen Vorlage vorwärtsgetrieben
haben, so werden wir es weitertreiben, bis wir unser Recht er-
langen. Wir haben weniger Erfolge, als wir verdienen; aber der
Schlußerfolg wird unser sein, der Sozialdemokratie. (Lebhafter Bei-
fall.)
Die Badenische Wahlreform-
Referat — Parteitag in Prag 189 6*).
Wir haben die Aufgabe, wieder über die Wahlreform zu sprechen,
aber unsere Lage ist wesentlich anders, als sie vor zwei Jahren
im Saale bei Schwender in Wien war. Als wir vor zwei Jahren
über die Wahlreform gesprochen haben, sind wir einer anderen
Regierung gegenübergestanden, welche die Wahlreform im Munde
*) Auf dem Parteitag auf der Schützeninsel in Prag, der vom 5. bis
11. April 1896 stattfand, referierten Adler und Vanek (tschechisch) über
die Wahl reform. Der Parteitag zu Ostern 1894 hatte die Partei-
vertretung angewiesen, die gesamte äußere Tätigkeit der Partei zunächst
auf die Erringung des Wahlrechtes zu konzentrieren und die innere Organi-
sation möglichst rasch zu fördern, um die Partei schlagfertig zu machen
und, wenn nötig, ihre ganze Kraft vereinigen zu können. Im Sommer und
Herbst wurden dann im ganzen Reiche Versammlungen, „Massenspazier-
gänge" und Straßendemonstrationen sowie Flugschriften-Verteilungen ver-
anstaltet. Die Massenversammlung vom 18. Oktober im Sofiensaal beauf-
tragte den Abgeordneten Pernerstorfer, einen Dringlichkeitsantrag einzu-
bringen, daß der Wahlreformausschuß binnen drei Wochen zu berichten
habe. Der Antrag wurde zwar niedergestimmt, wobei der Ministerpräsident
Windischgrätz die bekannte Erklärung abgab, daß er „der Argumente von
der Straße nicht bedürfe". Aber am 27. November übertrug die Regierung
selbst dem Ausschuß die Aufgabe, einen Entwurf auszuarbeiten. Aber der
Ausschuß wählte ein Subk-omitee. Am 21. Mai 1895 brachten die Jung-
tschechen, die Christlichsozialen, die Südslawen und die Deutschnationalen
einen Dringlichkeitsantrag ein, der die unverzügliche Berichterstattung des
Ausschusses forderte. Erst Anfang Juni wurden die Pläne des Subkomitees
bekannt: 13 Mandate für die Krankenkassenmitglieder und 34 Mandate für
die kleinen Steuerzahler. Aber am 19. Juni 1895 mußte die Regierung
Windischgrätz-Plener zurücktreten: sie fiel über die von der Regierung
bewilligten slowenischen Parallelklassen am Gymnasium in Cilli. An ihre
Stelle kam ein Beamtenkabinett des niederösterreichischen Statthalters
Grafen Kielmansegg, das aber schon am 22. Oktober 1895 von einem
Ministerium des galizischen Statthalters Grafen Badeni abgelöst wurde. Als
am 15. Februar 1896 das Parlament zusammentrat, legte ihm Badeni, dem
Versprechen seiner Programmrede entsprechend, einen Wahlreform-
Die Badenische Wahlreform. lf;:>
führte, die aber alles darangesetzt hat, um die Wahlreform zu ver-
eiteln. Es war klar, daß die Regierung des Fürsten Windischgrätz,
der Geschäftsausschuß aller besitzenden Klassen in Österreich,
seine Aufgabe aussschließlich darin sah, womöglich überhaupt keine
Walilrefonn zustande kommen zu lassen. Daraus ergab sieh für
die Sozialdemokratie der Schluß, diese Regierung muß
weg, daraus ergab sich für uns die Notwendigkeit, die Wahl-
reform mit einem solchen Ungestüm zu verlangen, daß es jeder-
mann klar werde, daß es nicht möglich sei, zu regieren, wenn man
die Walilrefonn auf die lange Bank schiebt. Wollen wir mit
wenigen Worten uns nochmals Rechenschaft geben, warum die
Sozialdemokratie die Wahlreform derart in den Mittelpunkt stellen
mußte, daß in sehr weiten Kreisen außerhalb der Sozialdemokratie
dieselbe eine Zeitlang für eine einfache Wahlrechtspartei angesehen
wurde. Wir mußten mit aller Gewalt die Wahlreform durchsetzen,
weil ohne Wahlrecht die politische Entwicklung der Partei weiter-
hin nicht mehr möglich war. Die politische Bedeutung der Partei
war riesig gewachsen, im Verhältnis zur Möglichkeit, sich zu
betätigen. Der Rahmen der Partei war einfach zu eng geworden,
wir mußten ihn sprengen. Das war eine Lebensfrage für die Partei.
Ich sehe hier von allen Erwägungen der Gerechtigkeit ab, ich
sehe ab von der Erwägung der Sittlichkeit, der politischen Ver-
nunft usw. Ich sehe ab von der furchtbaren Tatsache, daß
zwei Drittel der Bevölkerung in Österreich rechtlos sind, ich
sehe ab von dem Kuriensystem und all der Schmach, die es im
Gefolge hat, alle diese Dinge lasse ich beiseite. Wir haben hier eine
parteitaktische Frage zu erwägen, wir müssen sagen: wie kommt
es, daß die Partei, für welche das Wahlrecht schon seit vielen
Jahren, neben sehr vielen anderen Forderungen, auf das Programm
gestellt ist, gerade jetzt sich auf diese Frage mit solcher Wucht
werfen mußte. Es war notwendig, weil die Partei ohne Wahlrecht
nicht mehr vorwärts kommen kann und weil das Bewußtsein, daß
der Arbeiterschaft ein Wahlrecht gebühre, auch bei den anderen
Klassen bereits in einem hohen Grade Platz gegriffen hat. Also
nicht nur w i r wußten es, sondern auch die anderen wußten es
und das war das Moment, warum wir losschlagen mußten.
Ich will nicht ausführlich berichten, welcher Kampf um das
Wahlrecht geführt wurde. Dies ist nicht meine Aufgabe und hätte
allenfalls zu dem vorigen Punkt der Tagesordnung gehört. Sie
werden es alle wissen: Seit dem 1. Mai 1893 hat die Partei in
Österreich einen Kampf geführt, wie demselben wenige politische
Feldzüge zur Seite gestellt werden können. Was haben die Gegner
getan? Von Anfang an war die Antwort auf die Forderung des
entwuxf vor, der eine allgemeine Kurie mit 72 Mandaten den privile-
gierten vier Kurien mit ihren 353 Mandaten anfügte. Das Wahlrecht hatten
alle 24jähritfen Staatsbürger männlichen Geschlechts, die sechs Monate in
einem Wahlbezirk wohnten. Das ist die sogenannte Seßhaftigkeit.
Ausgeschlossen sollte aber das ländliche Gesinde sein, eine Bestimmung,
iter fallen gelassen wurde. Die erste Lesung fand noch im Februar
". Bald nach dem Parteitag, am 20. April 1H96, begann die zweite LesUng.
11*
164 Von Taaffc bis Badeni.
allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes immer die: Ja, den
industriellen Arbeitern gebührt ein Wahlrecht und denen wollen
wir es geben, und zwar den besser gestellten, den höher quali-
fizierten Arbeitern. Diese Antwort haben uns die Liberalen schon
seit den siebziger Jahren gegeben, sie hat sich in dem alten
Arbeiterkammerentwurf und in jenem des Jahres 1886 kristallisiert
und sich im Jahre 1891 wiederholt. Nachdem die Wahlbewegung
kräftiger geworden war, tauchte gegenüber dem Wahlreform-
projekt des Grafen Taaffe sofort wieder das spezifische Arbeiter-
wahlrecht mit mehr oder weniger Mandaten, mehr oder minder
nach unten abgegrenzt, aus der Versenkung. Dem liegt immer der
Gedanke zugrunde, die Arbeiter, denen man ein Wahlrecht gibt,
von den anderen Klassen abzusondern, sie politisch zu isolieren.
Die Arbeiterschaft hat diese Abschließung mit der größten Energie
zurückgewiesen, sie hat sie für absolut unmöglich und als etwas
den Arbeitern unter den heutigen Verhältnissen nicht mehr
Oktroyierbares erklärt. Und die Träger dieser Anträge, insbesondere
die Koalitionsregierung war eine so schwache Regierung, daß wir
in der Tat in der Lage waren, sie mitsamt ihren Anträgen über
den Haufen zu werfen. Mit dem Sturz der Koalitionsregierung war
der Versuch, den Arbeitern ein abgegrenztes Wahlrecht zu geben,
was nichts anderes bedeutet hätte, als aus dem Wahlkampf das
Moment des Klassenkampfes herauszunehmen und die Arbeiter
nur unter sich wählen zu lassen, ihnen nur Mandate zu
geben, nicht aber ein Wahlrecht, an Stelle eines Wahl-
rechtes nur die Ernennung von einer Anzahl von Abgeordneten,
dieser Versuch, sage ich, war beseitigt. Die Antwort der Arbeiter
lautete damals: Es handelt sich uns in erster Linie nicht um die
Zahl der Mandate — man hat uns bis zu 25 Mandaten geboten,
das war, glaube ich, das höchste Anbot — sondern es handelt sich
uns darum, daß wir wählen, daß wir der Arbeiterklasse den
Klassenkampf in der Form des politischen Kampfes und des Wahl-
kampfes ermöglichen. Was nun folgte, ist ja in lebhafter Erinnerung.
Ich will mich nunmehr mit dem beschäftigen, was vor uns liegt,
und nicht mehr mit der Geschichte.
Nachdem die Koalitionsregierung unter allgemeinem Hohn-
gelächter gefallen war, da kam die Regierung des Grafen Badeni
nach einer kurzen Pause an die Reihe, eine Regierung, die man uns
als die Regierung der starken Faust und einer ganz besonderen
Intelligenz angepriesen hatte. Für Letzteres erwarten wir aller-
dings noch die Beweise. (Heiterkeit.) Es wurde offiziös ange-
kündigt, die Regierung werde die Wahlreform um jeden Preis
machen. Wir müssen sagen: insofern hat sie Wort gehalten, eine
Wahlreform hat sie gemacht, hat sie, man kann sagen, dem Par-
lament aufoktroyiert. Die Wahlreform liegt dem Ausschuß fertig
vor und es ist kein Zweifel, daß dieser Entwurf mit ganz uner-
heblichen Änderungen auch vom Parlament angenommen
werden wird. Etwas anderes aber ist es, ob diese Wahlreform,
wie sie vorliegt, ein Beweis für die politische Vernunft oder gar
Die Badenische W;ililrcform. 165
für die „Gerechtigkeit" der Regierung ist Das ist sie nicht; die
Walilrefonn, die vorliegt, ist vielmehr ein Auskünftsmittel
schlechtester Art. Sie ist etwas, was Unmöglich ist in der Aus-
führung, unklar im Gedanken, und etwas, was allen Prinzipien
sowohl der Gerechtigkeit als der politischen Vernunft geradezu ins
Gesicht schlägt. Das Prinzip des allgemeinen Wahlrechtes wird
wohl faktisch mit unbeträchtlichen Ausnahmen proklamiert, wie es
auch der Antrag Taaffe lange nicht wollte; es bekommt das
arbeitende Volk in seiner Gesamtheit das Wahlrecht, aber nur zu
dem Zwecke, um dieses Wahlrecht respektive dasjenige, was dabei
herauskommen soll, sofort vernichten zu lassen von
den alten privilegierten Kurien. (Beifall.)
Es wird ein neues Recht geschaffen, dieses Recht aber sofort
zum Unrecht gemacht, indem das alte Unrecht weiter bestehen
bleibt. Vergessen Sie nicht, Genossen, daß das Wahlrecht für uns
nicht allein eine Maschine ist, um Abgeordnete zu erzeugen, daß
das Wahlrecht nicht eine Mandatfabrik ist für die Sozialdemo-
kraten, wie sie das ist für die anderen Parteien; für uns, Genossen,
hat das Wahlrecht soviel Wert, weil es uns ein Mittel der Agitation
und vor allem der Organisation ist. Weit mehr noch als die Ver-
treter im Abgeordnetenhaus haben wir ja die Agitationskraft ent-
behrt, die im Wahlrecht liegt und hat uns die Grundlage für die
Organisation gefehlt, die jedes allgemeine Wahlrecht bildet. Wir
betrachten das Wahlrecht vor allem als eines der besten Mittel
zur Vertretung unserer Grundsätze, als eines der besten Mittel, um
die Arbeiterklasse zu erziehen, um sie zu organisieren. Erst in
zweiter Linie ist es uns ein Mittel zu einer parlamentarischen
Vertretung, so wenig wir das unterschätzen wollen. Wir wissen
ja gerade in Österreich sehr gut die Vorteile zu schätzen, um so
mehr, als wir in der Lage waren, uns eines oder zweier Abgeord-
neten*) gleichsam als Sprachrohr zu bedienen, um gewisse Dinge im
Abgeordnetenhaus zur Sprache zu bringen, die niemals mit dieser
Wirkung durch unsere Presse und durch unsere Redner in die
Öffentlichkeit hätten gebracht werden können. Das wichtigste
Moment für das Wahlrecht ist aber das Moment der Erziehung
des Volkes, das Moment der politischen Bildung, und sehen Sie,
gerade dieses Moment wird in der Badenischen Wahlreform wohl
nicht gänzlich vernichtet, aber es wird eingeschränkt, verdünnt,
vermindert, so daß man sich wirklich fragen muß, ob noch etwas
übrig bleibt. Es ist kein Zweifel, es ist ein Behelf für die Organi-
sation, ein Behelf für die Agitation, wenn Leute zusammengerufen
werden, um sich politisch zu äußern und zu wählen. Wenn das
aber, wie hier, in Wahlkreisen geschieht, die eine halbe Million
Einwohner haben, wenn, wie dies ja vorkommt, ein ganzes Land
einen einzigen Wahlkreis bildet, da werden Sie zugeben, daß es
unter diesen Umständen ungeheuer schwer wird, für die Organi-
sation sowohl als für die Agitation das Wahlrecht auszunutzen
und daß der Wert dieser Agitationsmittel ungeheuer vermindert
') K r on a wetter und Pernerstorfer.
166 Von Taaffe bis Badeni.
wird. Und wenn ich die anderen Seiten dieses Wahlrechtes be-
trachte, dann kommt ein noch viel kläglicheres Bild heraus. Es
handelt sich hier um 12 Mandate. Mögen wir uns nun anstellen,
wie wir wollen, wir müssen zugeben, daß wir auch beim allge-
meinen, gleichen und direkten Wahlrecht einen ziemlich geringen
Einfluß ausgeübt hätten, insofern die Majorität im Parlament in
Frage kommt. Wir können nicht einmal sagen, ob wir nicht bei
einem der Kurienwahlrechte viel mehr Mandate bekommen hätten.
Das ist aber eine andere Frage.
Das trifft nicht nur uns, das trifft auch das Bürgertum und die
Bauernschaft, die heute im Parlament sitzen und die sich gefallen
lassen, daß 5lA Millionen Wähler zusammen 12 Abgeordnete und
die 5000 Herren Großgrundbesitzer nach wie vor 85 Abgeordnete
bekommen. Während diese Leute in der Lage gewesen wären, und
ich klage hier die bürgerlichen Parteien an, nicht, weil ich glaube,
daß sie besserungsfähig sind, ich klage sie hier an, daß sie in diesem
Moment, in welchem die Arbeiterschaft in Österreich den Kampf
angefangen hat, wo sie in der Lage gewesen wären, nachzuholen,
was die feigen Kerle im Jahre 1848 und 1867 versäumt haben und
sich in unser Gefolge begeben hätten können, wieder verraten
haben nicht nur unsere Interessen, aber auch ihre eigenen Inter-
essen. (Lebhafte Zustimmung.) Hätten sie sich uns angeschlossen,
dann wäre man in Österreich in der Lage gewesen, einmal mit
den alten feudalen Überresten aufzuräumen. Und dabei — ich bin
Deutscher und sage dies mit großem Schmerze — sind unsere
deutschen Liberalen noch um ein gutes Stück schlechter als die
Jungtschechen. (Beifall.)
Wir nehmen den jungtschechischen Antrag auf allgemeines und
direktes Wahlrecht nicht so ernst, wie die Jungtschechen es
vielleicht wünschen. Ich meine, daß, wenn der Antrag Aussicht
gehabt hätte, durchzudringen, sich vielleicht in dem jung-
tschechischen Lager selbst allenthalben Stimmen dagegen geltend
gemacht hätten. Nehmen wir aber selbst an, der ganze Antrag sei
eine leere Demonstration, nicht einmal zu dieser leeren Demon-
stration hat die deutschliberale Partei Kraft und Courage gehabt.
(Sehr richtig!) Wir sind gezwungen, das hier zu sagen, wir sind
verpflichtet, der Öffentlichkeit und uns selber klar zu machen, daß
wir in diesem Kampfe vollständig allein stehen, daß die bürger-
lichen Klassen ihre eigenen Interessen verraten, weil sie vor uns
Furcht haben. Weil die Klassengegensätze in den tschechischen
Bezirken noch nicht so weit entwickelt sind, als in den deutschen
Bezirken, darum getrauen sich die Tschechen noch, mit dem Feuer
zu spielen, während sich die Deutschen nicht mehr getrauen, weil
da die Gegensätze schon zu weit entwickelt sind. Es muß heraus-
gesagt werden, daß wir in allen diesen politischen Kämpfen voll-
ständig allein stehen, daß die Arbeiterklasse auf sich selbst an-
gewiesen ist. Wir haben also eine Wahlreform vor uns, die
5% Millionen 12 Mandate gibt, den Kurienschwindel aufrecht hält;
wir bekommen ein Haus von 353 + 12 Abgeordneten, und nun
Die Badenische Wahlreform. 167
fragen wir uns: Ja, warum haben denn die einzelnen Parteien das
^etan? leli kann nicht anders, ich muß mich wieder in erster Linie
mit der deutschliberalen Partei beschäftigen; ich muß fragen:
Warum hat diese Partei, welche die entscheidende in dieser Präge
war, gerade diesem elenden Entwurf zum Durchbruch verholien?
Sie selbst profitiert bei dieser Kurie Kar nichts, Es ist sicher, daß
sie in der neuen Kurie kein einziges Mandat bekommen wird. Die
deutschliberale Partei ist für diesen Entwurf deshalb eingetreten,
weil sie die richtige und klassenbewußte Vertretung der Bour-
geoisie ist. Sie hat immer ihre politischen Interessen auf dem Altar
der Interessen ihres üeldsacks zu opfern gewußt. (Beifall.) Sie hat
sich geopfert, sie will viel lieber ein paar Mandate verlieren, nur
die Sozialdemokratie soll davon keinen Vorteil haben. Daraus bitte
ich auch den Schluß zu ziehen, warum wir gerade diese Partei für
den klassenbewußtesten, für den gefährlichsten Gegner halten.
Darum richtet sich unsere ganze Kraft von jeher gegen die
Liberalen, als die eigentliche bewußte kapitalistische Partei in
Österreich. Aber trösten Sie sich; was die Deutschliberalen heute
sind, werden die „tschechischen Liberalen" sehr bald sein. Die
Industrie schreitet auch in den böhmischen Bezirken ausgezeichnet
vor, die wirtschaftliche Entwicklung drängt vorwärts, und das war
vielleicht das Belehrendste aus allen Berichten. So wie in Ostrau
sich Deutsche und Jungtschechen verbunden haben gegen die Ar-
beiterschaft, so hat in Triest die schwarzgelbe kaisertreue Polizei
sich ruhig mit den Irredentisten verbunden, als es gegen die Ar-
beiter ging.
Man gibt also den Leuten einen Stimmzettel in die Hand,
betrachtet es aber als gleichgültig, welches Gewicht dieser Stimm-
zettel hat. Dem Stimmzettel wird seine Wirkung genommen, indem
man ihn so leicht ausprägt, indem man ihn in ein Meer hineinwerfen
läßt, indem man Wahlbezirke von 80.000 und mehr Wählern schafft
und Wahlbezirke, die ein halbes Kronland und mehr umfassen.
Nehmen wir Böhmen und Niederösterreich — und ich wähle diese
Kronländer, weil sie die meistentwickelten sind und hier die Ar-
beiterschaft eine Macht repräsentiert — , welche ungeheure Bezirke
werden da geschaffen, Bezirke, die agitatorisch von uns zu bewäl-
tigen beinahe unmöglich ist, allerdings zum Glück, von den
anderen noch weniger. (Heiterkeit.) Weiter wird das indirekte
Wahlrecht zur Regel gemacht. Graf Badeni hatte die Schlauheit,
die eines polnischen Stanczyken wirklich würdig ist; ich muß
sagen, die Pfiffigkeit dieses Stanczyken kommt mir vor, als wenn
sie eine Kreuzung wäre zwischen polnischen Edelleuten und
polnischen Juden. (Lebhafte Heiterkeit.)
Wenn er vor der furchtbar schwierigen Frage des direkten
Wahlsystems steht, das er für Galizien nicht will und welches er
aber für die bereits europäisierte Bevölkerung nicht verhindern
kann, wie zieht er sich da aus der Schlinge? Er sagt: Hängt ihr
euch gefälligst selbst auf (Heiterkeit), ich wasche meine Hände in
Unschuld; ich gestatte euch, euch auf eueren Landtagen die Köpfe
168 Von Taaffe bis Badeni.
wund zu schlagen über die direkten Wahlen; Qalizien wird mir
kein direktes Wahlrecht einführen. (Heiterkeit.) Die Frage des
direkten Wahlrechtes ist eine der wichtigsten Lebensfragen bei
der Wahlreform und wir müssen in dieser Beziehung eine sehr leb-
hafte Agitation entwickeln, die, wenn das Gesetz angenommen
wird, gegen die Landtage gerichtet sein wird, um die indirekten
Wahlen zu beseitigen.
Dann kommt aber ein dritter Punkt, von dem man nicht viel
spricht, weil man davon nicht viel weiß, der aber nicht unwichtig
ist. Die einzelnen Wahlbezirke sind mit dem größten Raffinement
zugeschnitten, es wird die industrielle Arbeiterschaft zwischen
großen Massen der bäuerlichen Bevölkerung eingeteilt, um wo-
möglich von ihr erdrückt zu werden; das ist in einer großen Reihe
von Wahlbezirken der Fall. Das ist nun freilich etwas, worauf man
gefaßt sein mußte. Wir haben keine Änderung der Wahlbezirke
in Österreich seit Schmerling, und Herr Graf Badeni oder vielmehr
Herr v. Rittner, der den Wahlreformentwurf im Schweiße seines
Angesichts in Meran zusammengeflickt hat, wird es sich doch nicht
nachsagen lassen, daß er die Wahlgeometrie nicht ebensogut ver-
steht, wie sein erlauchter Vorgänger Schmerling. Und so wie
Schmerling seinerzeit als Vater der Verfassung angesehen wurde
und wie er bejubelt wurde von der ganzen Bourgeoisie — nicht
von der tschechischen, denn sie hatte dazu keine Ursache — als
Stütze der Verfassung, geradeso haben Graf Badeni und sein
Rittner alle Aussicht, demnächst heilig gesprochen zu werden.
Es ist gar kein Zweifel, die herrschenden Parteien sind auf eine
perfide, aber sehr geschickte Weise um eine gründliche Wrahlreform
für den Augenblick herumgekommen. Diese Leute haben nämlich
von der Arbeiterklasse ihre eigentümliche Vorstellung: Sie glauben,
die Arbeiter wollen ihr Wahlrecht nur haben, um ein paar Mandate
zu haben: „Schmeißen wir ihnen ein paar Mandate zu; da habt ihr
den Knochen, dann werdet ihr uns einige Zeit unseres Weges
ziehen lassen!" Das ist die Rechnung, die sie machen. Die Leute
vergessen aber, daß der ganze Kampf um das Wahlrecht für die
Arbeiter nur ein Bestandteil, nur ein verhältnismäßig kleines Rad
in dem großen Getriebe ihrer Bewegung ist; daß der Kampf um das
Wahlrecht gar nichts anderes ist, als der Kampf um eines der
Mittel, ihre Ideen, die weit über das Wahlrecht hinausliegen, zu er-
zwingen; daß der Kampf um das Wahlrecht einfach nicht zur Ruhe
kommen kann, bevor er seinen Zweck erfüllt hat. Es ist lächerlich,
wenn man davon spricht, ob die Arbeiter sich mit diesen paar Man-
daten „zufrieden" geben würden. Man fragt, ob wir die Wahlreform
Badeni „annehmen" wollen, das ist Unsinn!
Parteigenossen! Für uns steht die Frage so: Wir stehen im
Kampf gegen ein feindliches Heer und sind in der Lage, einen
Schritt nach vorwärts zu machen und weiter vorne unsere Fahnen
aufzupflanzen. Das ist aber noch lange nicht unser Ziel. Wir fassen
von neuem Fuß, um unsere Batterien aufzustellen und erst recht
hineinzufeuern. Nicht um einen Vertrag, nicht um einen Waffen-
Die Badenische Walilrdoim. 169
stillstand handelt es sich, geschweige um Frieden auch nur ihr
einen einzigen Augenblick. Vielmehr ist ganz kühl zu erwägen, was
ist der Sache der Sozialdemokratie, was ist der Sache der Pe-
volutionierung des Proletariats nützlich? Wie können wir die
jetzige Situation am besten verwerten? Für uns steht die Frage
so: Die Wahlreform Badeni ist in den Augen eines jeden ver-
nünftigen politisch klaren Menschen gerichtet sowohl vom Stand-
punkt der politischen Gerechtigkeit, als auch von dem Standpunkt,
daß diese Wahlreform niemals ein Abschluß der Wahlrechts-
bewegung sein kann. (Sehr richtig!) Im Gegenteil, diese Wahlreform
kann nichts anderes sein, als der Ausgangspunkt einer
neuen W a h 1 r e c h t s b e w e g u n g, als ein Mittel, das all-
gemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu erkämpfen. Es ist auch
in Genossenkreisen hie und da das W'ort gefallen, ob wir diese
Wahlreform „anerkennen" sollen oder nicht. Da habe ich nur die
eine Frage: Gibt es einen unter Ihnen, der unser Vereinsrecht,
unser Versammlungsrecht, unser Preßgesetz „anerkennt"? (Rufe:
..Nein!") Nein! Wir wissen, wras wir von dem allen zu halten
haben, und gerade indem wir es bis aufs äußerste ausnützen,
protestieren wir am allerschärfsten gegen seinen Bestand. Wenn
man an der Kette zerrt, so daß man sie zerreißt, so ist das ja gewiß
im gewissen Sinne eine „Anerkennung" der Fessel; aber wir an-
erkennen sie nur, um sie zu beseitigen! Wir haben auch nicht auf
diese fünfte Kurie gewartet. Im Jahre 1891 sind wir, gerade um
gegen das geltende Wahlrecht zu protestieren, in den Wahlkampf
eingetreten; und Sie werden sich erinnern, daß gerade dieser Ein-
tritt das Mittel, der Ausgangspunkt der späteren großen Wahl-
rechtsbewegung geworden ist. Niemand von uns hätte gesagt:
„Indem du dich als Kandidaten aufstellen lassest — als unmöglichen
und aussichtslosen — erkennst du den Fünf-Gulden-Zensus an."
Davon kann also gar keine Rede sein. Wir stehen heute vor einer
rein praktischen Frage. Nachdem wir unser Urteil gefällt haben,
müssen wir uns fragen: Was werden wir mit dem neuen
Dinge machen?
Parteigenossen! Wir hätten uns ja ganz gut auf den Standpunkt
stellen können, zu sagen, die Wahlreform des Grafen Badeni liegt
jetzt noch dem Reichsrat vor. Am 20. April wird die erste Verhand-
lung im Plenum beginnen und am 28. April oder irgendeinem an-
dern Tage wird sie fertig sein und sanktioniert wird sie vielleicht
erst im Juli. Wir konnten also ganz gut dem Parteitag vorschlagen,
sich auf den Standpunkt zu stellen, diese Wahlreform zu ver-
urteilen und gegen sie zu protestieren, ja sie zu verhindern, obgleich
wir wissen, daß wir es nicht können. Das hätte freilich nach
außen sehr hübsch ausgesehen; aber ich glaube, daß wir damit
unsere Pflicht nicht erfüllt hätten, die nicht nur darin besteht, ein
Urteil zu fällen, sondern aus den Tatsachen Schlüsse zu ziehen
und uns nicht durch Äußerlichkeiten blenden zu lassen. Nach
unseren Schlüssen müssen wir dann unsere Haltung nüchtern und
praktisch einrichten. Unter den Jungtschechen besteht heute ein
großer Streit darüber, ob sie bei der dritten Lesung für oder gegen
170 Von Taurfc bis Badeni.
die Wahlreform Badeni stimmen sollen. Nun, wir haben ja den
Jungtschechen nicht Ratschläge zu erteilen; aber wenn sie ernst-
lich etwas für die Wahlreform tun wollen, dann sollten sie sich
nicht um die dritte Lesung, sondern hauptsächlich um die zweite
Lesung des Entwurfes im Parlament kümmern. Bei dieser läßt sich
eine große Menge der gröbsten Dinge ausmerzen, und wenn die
Jungtschechen bei derselben mit den Antisemiten, mit Perner-
storfer, Kronawetter und noch ein paar anderen Wildlingen sich
gehörig einsetzen würden, so könnten sie vielleicht eine Reihe von
scheinbar unbedeutenden, tatsächlich aber schwerwiegenden
Fehlern beseitigen. Ich erwähne beispielsweise nur einen Punkt,
der viel zu wenig beachtet wird, daß nämlich der Sonntag*) zum
Wahltag erklärt wird. Es ist anerkennenswert, daß die Jung-
tschechen so klug waren, nochmals den Slavikschen Antrag auf
Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes als
Minoritätsantrag einzubringen. Dadurch sind sie in die Lage ge-
setzt, nochmals für das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht
zu stimmen, und wenn dieses abgelehnt wird, sich einfach für das
zu entscheiden, was vorhanden ist. Es war das ganz klug, aber
nicht entscheidend. Uns handelt es sich nicht darum, wie die Partei
dem Volke gegenüber feiner und eleganter aussieht, wie sie sich
leichter einen Glorienschein verleiht, sondern wie das Wahlrecht
aussehen wird. Und da ist vor allem für uns von Bedeutung, daß
bei diesem wichtigen Punkte energisch eingesetzt werde.
Es liegt auch ein Minoritätsantrag vor, in bezug auf die Seß-
haftigkeit, denn die sechsmonatige Seßhaftigkeit wird so manchen
Arbeiter vom Wahlrecht ausschließen und es wird schließlich —
wie in Deutschland — darauf ankommen, zu welcher Jahreszeit
gewählt wird, ob ein Arbeiter gerade anwesend oder auf der
Wanderschaft auswärts als Arbeiter beschäftigt ist. Alle diese
Dinge könnten noch in der Spezialdebatte verbessert werden.
Aber darüber müssen wir uns klar sein: das heutige Parlament
bringt einen Widerstand gegen das Ministerium Badeni nicht mehr
auf, weder zum Guten, noch zum Schlechten. Dieses Parlament
kann und wird diese Wahlreform nicht mehr verhindern.
Ein zweiter Umstand, auf den wir nicht vergessen dürfen, ist,
selbst wenn die Wahlreform nicht zustande käme, der, daß der
Parteitag mit Rücksicht darauf, daß wir spätestens im Februar
nächsten Jahres Neuwahlen unbedingt haben müssen, verpflichtet
ist, diese Neuwahlen und seine Haltung zu ihnen in ruhige und
objektive Erwägung zu ziehen.
Der schärfste Protest gegen die Badenische Wahlreform ist be-
rechtigt; sie ist ein Produkt, das würdig ist derer, die es erzeugt
haben. Sie ist heuchlerisch bis in das Mark hinein, sie anerkennt
ein Prinzip, nur um es herabzuzerren und es zu vernichten.
Wenn wir aber diesen Protest ausgesprochen haben, dann —
*) Der Sonntag wurde erst nach dem Umsturz überall zum Wahltag.
Vorher wurde eine solche Forderung geradezu als Versuch einer Sonntags-
schändung abgelehnt.
l >le Badenische Wahlreform. I71
glaube ich - haben wir die Verpflichtung, den Tatsachen ins Auge
ZU sehen und ZU sagen: Was werden wir mit diesem Monstrum,
mit dieser Mißgeburt anfangen?
Parteigenossen! r;s liegt eine Anzahl von Anträgen aus den
Organisationen vor und icli erwähne daraus als ersten den Antrag
der mittelmährischen Kreisorganisation, welcher lautet (liest):
„Per Parteitag möge beschließen: Die Regierungsvorlage betreffend
die Wahlreform sei auf das entschiedenste zu bekämpfen und mit allen
Mitteln müsse versucht werden, sie unmöglich zu machen."
Ich bin vollständig dieser Ansicht und wenn es jemanden auf
diesem Parteitag gibt, der uns ein Mittel nennen kann, noch in
diesem Moment die Badenische Wahlreform zu verhindern und
anstatt ihrer eine bessere Wahlreform zu schaffen, so werden wir
mit Freuden bereit sein, dieses Mittel anzuwenden. Nachdem wir
dies aber für eine Illusion halten, sind wir gezwungen, die vor-
liegende Wahlreform als fertige Tatsache anzusehen.
Der Antrag der Parteivertretung geht also dahin (liest) :
„1. Der Parteitag beschließt: Die Wahlreform, die von der Sozial-
demokratie der Regierung und dem Parlament abgezwungen wurde,
liegt abgeschlossen dem Parlament vor und ihre Annahme ist un-
zweifelhaft. Sie gewährt dem arbeitenden Volke das allgemeine Wahl-
recht, nur, um die Wirkung seines Stimmrechtes zu vernichten. Der ge-
samte Besitzstand der österreichischen Verfassung an Vergewaltigung,
Unterdrückung und Korruption wird unverkürzt erhalten und die fünfte
Kurie den Vertretern der besitzenden Klassen zur Majorisierung aus-
geliefert. Die ungeheuerliche Größe der Wahlbezirke, das indirekte
Wahlrecht, die Bedingung der sechsmonatigen Seßhaftigkeit gestaltet
die Wahlreform zu einem wahren Monstrum. Die Badenische Wahl-
reform entspricht darum in keiner Weise dem Willen und dem Bedürfnis
des arbeitenden Volkes, sondern ist ein von der Not des Moments ein-
gegebenes elendes Flickwerk. Der Parteitag protestiert entschieden da-
gegen, daß in der Anflickung einer fünften Kurie die Erfüllung der in
der Wahlrechtsbewegung ausgesprochenen Forderung gesehen werde.
Der Kampf zur Erringung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahl-
rechtes muß darum auch fernerhin mit aller Energie fortgeführt werden.
2. Der Parteitag beschließt weiter: Nachdem die Vergewaltigung durch
die fünfte Kurie eine so gut wie vollendete Tatsache geworden, ist es
die Pflicht der Partei und ihrer Vertreter, aus diesen gegebenen Tat-
sachen den größtmöglichen Nutzen zu ziehen und das neue Wahl-
unrecht als Mittel der Agitation und Organisation, wie insbesondere als
Waffe zur Erringung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahl-
rechtes, gründlich auszunützen. Die Parteivertretung wird darum beauf-
tragt, nicht erst die Ausschreibung von Neuwahlen abzuwarten, sondern
gleich nach dem Inslebentreten der neuen Wahlordnung die Ver-
trauensmänner einzuladen, an einem geeigneten Orte des Wahlkreises
zusammenzutreten, um die Wahlagitation in die Hand zu nehmen und
Kreiswahlkomitees zu bilden.
3. In allen Kronländern ist eine kräftige Agitation zu entfalten, um die
Landtage zu veranlassen, die indirekten Wahlen zu beseitigen*)."
*) Dieser Antrag wurde dann auch mit 101 gegen 9 Stimmen ange-
nommen, nur der dritte Punkt wurde mit Zustimmung des Refe-
renten in folgender von Resel (Graz) beantragten Fassung angenommen:
172 Von Taaffe bis Badeni.
Es sind nun auch Anträge von mehreren Organisationen ein-
gelaufen und insbesondere ein Antrag der Organisation Wien III,
welcher im wesentlichen mit dem Antrag der Parteivertretung
übereinstimmt. Er lautet (liest):
„Der Parteitag erklärt das Wahlreformprojekt des Grafen Badeni
für unsinnig und ungerecht. Es bedeutet nicht im geringsten eine Er-
füllung der Arbeiterforderungen, sondern verschärft noch den Gegen-
satz zwischen Besitzlosen und Kapitalisten, indem es den erstercn ein
Scheinrecht gibt, unbrauchbar in jeder Beziehung. Sollte jedoch dieses
Projekt trotz des einmütigen Widerstandes der organisierten Arbeiter-
schaft Gesetz werden, so beschließt der Parteitag, daß in diesem Falle
die Wahlrechtsagitation ungeschwächt fortzusetzen ist. Die vornehmste
Parole bei einer etwaigen Wahl hat nach wie vor zu lauten: Beseitigung
der Kurien, allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht!"
Die Organisation Wien III faßt also nur die Eventualität einer
Wahl ins Auge. Die Parteivertretung ist aber der Ansicht, daß
dieses nicht genüge. Da wir nicht in drei Monaten wieder einen
Parteitag abhalten können, dürfen wir hier nicht bloß eine
prinzipielle Erklärung abgeben, sondern müssen ganz klar be-
schließen, was wir tun wollen. Heute sind wir beisammen, wir
stellen klar und konkret fest, was wir wollen und wTelche Mittel
hiezu in die Hand zu nehmen sind. Darum haben wir beantragt, daß
auch Kreiswahlkomitees zu wählen sind, die sich zunächst an die
Wahlkreise der fünften Kurie anschließen.
Ein weiterer Antrag der Bezirksorganisation des 9. Bezirkes
Wien liegt vor, welcher lautet (liest):
a) „Es seien Kandidaten für die Reichsratswahlen aufzustellen."
Nach dem, was ich gesagt habe, versteht sich das von selbst.
Es kommt aber noch Eines dazu. Die Parteien, die heute die fünfte
Kurie schaffen, sagen sich: „Wenn wir die Leute in der fünften
Kurie beschäftigen, so werden sie uns in der dritten und vierten
Kurie Ruhe geben." Aber wir sind ihnen auch in der dritten und
vierten Kurie, trotz des Zensus, recht unangenehm geworden. Wir
lassen uns von unseren Gegnern nicht foppen und wollen auch sie
nicht foppen. Edelmütig wie wir sind, können wir ihnen gleich
heute sagen, daß wir, weil wir in der fünften Kurie ein so lumpiges
Wahlrecht haben, den Kampf um die anderen Kurien nicht etwa
aufgeben werden. (Zustimmung.)
Dieselbe Organisation beantragt (liest):
b) „Sämtliche Kandidaten haben das sozialdemokratische Programm
(Hainfelder Programm) zu akzeptieren."
3. In allen Kronländern ist eine kräftige Agitation zur Beseitigung des
indirekten Wahlrechtes zu entfalten und ist hiezu auch in den Landtags-
wahlkampf einzutreten.
Nach dem Regierungsentwurf sollte in den Landgemeinden das Wahl-
recht durch Wahlmänner, also indirekt, und überdies mündlich vor-
genommen werden, außer wo der Landtag diese Wahlart auch für die
privilegierte Landgemeindenkurie abschaffte.
Die Badenische Wahlreform. l7^
Das ist ein Antrag, der sich meiner Ansicht nach ganz von
selbst verstellt. Die sozialdemokratische Partei stellt selbstver-
ständlich mir Sozialdemokraten als Kandidaten auf. Wer Sozial-
demokrat ist, das sagt ja unser Parteiprogramm, und die Sache
wäre damit einfach erledigt, wenn wir nicht genau wüßten — und
ich will der Präge von vornherein nicht aus dem Wege gehen -
daß dieser Antrag sich um eine bestimmte Person dreht. (Rute:
„Pernerstorf er 1") Ich bedauere sehr, daß der Abgeordnete Perner-
storfer, der die Absicht gehabt hat, herzukommen, nicht hier ist
und hören kann, was die Genossen darüber zu sagen haben. Meines
Erachtens ist es nicht die Aufgabe des Parteitages, sich mit ein-
zelnen Kandidaturen zu beschäftigen. (Sehr richtig!) Dies würde
nur eine Störung in die Diskussion bringen. Wir können diese Sache
mit voller Beruhigung den Parteigenossen überlassen; aber diesen
Antrag muß jeder als einen ganz selbstverständlichen und darum
überflüssigen ansehen.
Weiter liegt ein Antrag der Kreisvertretung West-
böhmens vor (liest):
„Im Falle die Badenische Wahlreform Gesetz werden sollte, wolle die
Parteivertretung ein leichtverständliches Handbuch herausgeben, welches
der Arbeiterschaft eine Anleitung und das Verhalten über und zu den
Reichsratswahlen klarlegen soll, und zwar zu einem billigen Preis."
Das können wir ja tun. Es ist zwar etwas verfrüht, aber wir
können dagegen gar nichts einwenden.
Nun der Antrag des Genossen F e ig 1*) (liest):
„Bei Zustandekommen irgendeines Wahlreformgesetzes haben sofort
die Kreisvertretungen Konferenzen einzuberufen, den Wahlkampf bei
denselben auf die Tagesordnung zu setzen und je einen Vertreter zu
einer Reichskonferenz zu delegieren, welche von der Parteivertretung
einzuberufen ist Diese Reichskonferenz hat die notwendige Vorsorge
für die Wahlagitation des gesamten Reiches zu treffen."
Dagegen läßt sich natürlich absolut nichts einwenden; ich meine
aber, das Wesentlichste von dem, wTas die Kreisvertretungen da
mit der Reichskonferenz zusammen beschließen sollen, das können
wir auch heute schon beschließen. Wir haben — ich sage es offen —
zu einer Zeit, wo man noch nicht wußte, in welches Stadium zu
Ostern die Badenische Wahlreform gekommen sein wird, einen
ähnlichen Antrag selbst beschlossen gehabt. Heute sehen wir die
Situation klar, und ich meine, daß es überflüssig ist, dies erst
wieder einer solchen Konferenz zu überlassen.
Wichtiger als diese Konferenz ist es, daß der Parteitag deutlich
erklärt, was er will. Das ist in unserem Antrag ausgesprochen.
Mögen Sie ihn nun annehmen oder ablehnen, wir waren ver-
pflichtet, Ihnen unsere Meinung zu sagen.
Und nun erlauben Sie mir, Eines zu bemerken: Die Wahlreform
Badenis ist ganz niederträchtig! Das, was dabei herauskommt, geht
*) Feigl, ein Wiener, vertrat damals die Organisation Gloggnitz. Er
ist seither aus der Partei ausgetreten.
174 Von Taaffe bis Badeni.
darauf hin, der Arbeiterklasse möglichst wenig zu geben und mög-
lichst viel zu nehmen. Aber wir müssen uns sagen, das sehen wi r.
die wir den ganzen Kampf mitgemacht haben, die wir wissen, was
das Wahlrecht sein soll; die großen Massen sehen das aber nicht;
für die große Masse der bisher Rechtlosen — und das sind
3,600.000 Menschen — wird die Tatsache, daß sie einen Stimm-
zettel in die Hand bekommen, daß sie ein politisches Recht aus-
üben dürfen, das Neue und Wichtige sein. Das weiß aber jeder:
Die Wahlreform hat nicht Badeni und hat nicht das Parlament
gemacht; diese haben nur das am Gewissen, was an ihr ver-
pfuscht, schlecht und niederträchtig ist. Das ist ihr Werk. Die
einzige Tatsache, die daran gut ist, daß diese Rechtlosen ein
kleines, beschränktes, verdorbenes, aber immerhin ein Wahlrecht
bekommen, diese Tatsache verdanken sie weder der Regierung
noch dem Parlament, und das wird das ganze arbeitende Volk in
Österreich wissen, das Recht verdanken sie einzig und allein der
Sozialdemokratie aller Nationen Österreichs. (Beifall.) Mögen sie
dieses Recht noch so sehr einschränken; indem sie uns dieses
elende Papier in die Hand gegeben haben, haben sie uns gleichzeitig
die Waffe in die Hand gegeben, zu sagen: Daß ihr das Wahlrecht
habt, das verdankt ihr uns. Daß ihr ein so schlechtes Wahlrecht
habt, das verdankt ihr den anderen. Wenn ihr ein besseres haben
wollt, so müßt ihr mit uns gehen.
In dem ursprünglichen Badenischen Wahlreformentwurf hatten
die ländlichen Dienstboten kein Wahlrecht. Das waren angeblich
210.000 Menschen, wahrscheinlich sind es viel mehr. Da haben wir
aber gesagt: Ihr könnt das schon machen, das ist ganz gut, wenn
ihr denen kein Wahlrecht gebt. Dann brechen wir aber in die
Dörfer ein, wie die hungrigen Wölfe, und werden den Bauern-
knechten erzählen: „Ihr seid die einzigen Leute in Österreich, die
kein Wahlrecht haben, weil ihr so stumpfe, treue Untertanen seid!
Macht doch den Schädel auf!" Diese Drohung hat selbst die Linke
und Graf Badeni verstanden, und nur der Falkenhayn ist so dumm,
daß er es nicht verstanden hat. (Rufe: „Der Hagenhofer auch
nicht!") Dem nehme ich es nicht so übel. (Heiterkeit.)
Also, Parteigenossen: Wir schließen die Wahlreformbewegung
nicht, wir nehmen nicht an, wir geben uns nicht zufrieden, wir
akzeptieren keine Abschlagszahlung, sondern, wenn man uns einen
Stein anstatt eines Brotes hinwirft, dann nehmen wir den Stein
auf, gehen mit dem Stein vorwärts und schleudern ihn dem Feind
ins Gesicht. (Lebhafter Beifall.) Das ist die Taktik, die wir ein-
schlagen müssen, das ist die einzige wirkliche revolutionäre Taktik,
die jedes Moment benützt, das benützt werden kann, um der
Arbeiterklasse mehr politische Macht zu geben und diese Taktik
wird, so hoffe ich auch, von der großen Majorität des Parteitages
als richtig erklärt werden. (Lebhafter Beifall.)
Schlußwort.
Die Debatte war lang, aber es ist sehr notwendig, daß der Par-
teitag mit dem Bewußtsein auseinandergeht, daß hier nichts ver-
Die Badenische Wahlreform. 175
borgen geblieben Ist, daß niemand im letzten Winkel .seines Herzens
etwas verborgen habe, was hier nielit zum Ausdruck gebrachl
werden konnte. Wir sind es den Genössen und uns schuldig, daß
volle Klarheit geschaffen werde. Die Anwürfe, welche gegen das
Referat und gegen die Anträge der Parteivertretung erhöhen
wurden, sind alle eigentlich auf einen Punkt zurückzuführen: Die
Wahlreform sei schlecht sie sei eine Beleidigung für die Arbeiter-
klasse und es sei unserer unwürdig, sieh mit ihr zu beschäftigen
Diejenigen, welche ineinen, und es gibt auch solche hier, daß man
die Badenische Wahlreform noch verhindern kann — das
bezweckt der Antrag aus Mittelmähren und der Antrag des Ge-
nossen Be rs t*), — sagen, daß wir alle Mittel in Bewegung setzen
müssen, um diese Wahlreform zu verhindern. Ich habe schon in
der Einleitung gesagt: Wenn uns jemand ein Mittel dazu angeben
kann, so werden wir es anwenden. Aber mit großen Worten ist
nichts getan. Wenn Genosse Berstl die 14 Tage oder 4 Wochen
— so lange wrird es dauern, bis der Entwurf das Abgeordneten-
haus passiert hat — auch noch so sehr ausnützt, um seine Rede
zu wiederholen, so wird dadurch die Wahlreform Badenis nicht
verhindert werden. Da die Wahlreform nicht zu verhindern ist, so
wird ihnen der Parteitag auf diesem Wege nicht folgen. Wir stehen
vor einer harten, vor einer unangenehmen Tatsache, aber vor einer
Tatsache. Und daraus müssen wir die Konsequenzen ziehen. Das
hat die Parteivertretung gewußt und darum hat sie den Antrag
eingebracht, der, wie ich überzeugt bin, auch angenommen werden
wird.
Der Antrag der Genossen des 3. Wiener Bezirkes besagt
im wesentlichen dasselbe. Der Vertreter dieses Bezirkes hat mich
beauftragt, hier zu erklären, daß er seinen Antrag zurück-
ziehe, wenn unserem Antrag beigefügt werde, daß in die Wahl-
rechtsbewegung unter der Parole der Beseitigung der
Kurien eingetreten werden soll. Ich finde, daß dies selbstver-
ständlich ist, und wir sind gern bereit, den Genossen in dieser Be-
ziehung entgegenzukommen.
Es ist weiters eine Reihe von Anträgen eingebracht worden, die
allerdings die Badenische Wahlreform als eine Tatsache ansehen,
aber zu einem anderen Schluß kommen als wir. Genosse Ger in**)
wünscht, daß wir die Mandate niederlegen, wenn wir sie haben.
Ich meine, wenn wir sie haben werden, dann werden wir darüber
weiter reden. Wir können doch nicht über Mandate, die vorläufig
noch andere haben, beschließen. Andere Anträge decken sich mit
dem, was die Parteivertretung beantragt hat, oder unterscheiden
sich nur wenig. Wir haben gesagt, daß unmittelbar nach Annahme
des Gesetzes die Parteivertretung alle Organisationen der zu-
künftigen Wahlkreise auffordern soll, ihre Vertrauensmänner zu
einer Konferenz einzuberufen. Es ist selbstverständlich, daß das
) Ein Advokat in Neunkirchen, der diesen Bezirk vertrat.
) Anton fierin, der italienische Vertreter von Meran und Rovercto.
176 Von Taatfe bis Badeni.
nicht anders möglich ist als durch unsere Bezirksorganisationen.
Aber unsere Kreisorganisationen, wie wir sie heute haben, ent-
sprechen nicht den neuen Wahlkreisen. Es muß speziell für die
Wahlorganisation der Kreise ein W'ahlkomitee eingesetzt werden,
damit die Organisation ausschließlich für den Wahlkampf
zentralisiert ist. Diese sind also nicht mit den Kreisvertretungen,
die wir heute haben, zu verwechseln. Das ist eine Notorgani-
sation, eine momentane Organisation, die geschaffen werden
muß. Die zukünftige Parteivertretung wird sich an die Kreisver-
tretungen zu wenden haben. Aber ausgehen soll die Sache von der
Parteivertretung. Diese hat den Moment zu bestimmen, in welchem
eingegriffen werden muß und es ist unmöglich, dies den einzelnen
Kreisvertretungen zu überlassen.
Es versteht sich von selbst, daß diese Wahlkreiskomitees, die
da gebildet werden sollen, autonom sind und nicht unter der
Euchtel dieser Parteivertretung, die man schrecklich zu fürchten
scheint, obwohl ihr der Vorwurf gemacht wird, daß sie nichts tut
(Heiterkeit), sondern die Kandidaten aufstellen werden, die sie
wollen; es versteht sich ebenso von selbst, daß sie das tun müssen
im Einvernehmen mit der Parteivertretung wegen der Einheitlich-
keit der Aktion. Die Parteivertretung ist nicht dazu da, Ihnen
Kandidaten zu oktroyieren, und selbst, wenn sie das tun wollte, so
glaube ich, hat die Energie der heutigen Verhandlung bewiesen, daß
Sie kräftig genug sind, um das zu verhindern. Aber die Parteiver-
tretung hat die Pflicht, einheitlich die Sache zu organisieren, zu
vermitteln, wo sich Widersprüche zeigen — das ist ihre Aufgabe
und darum ist der Antrag Daszynski*) notwendig. Der Antrag
Beer**), der noch vorliegt, spricht von einer Kronlandsleitung. Die
gibt es aber nicht. (Genosse Beer: Das ist ein Irrtum.) Das meine ich
auch! Ich möchte bitten, daß der Genosse seinen Antrag zurück-
zieht, weil er nur Verwirrung schafft.
Es liegt sodann eine Reihe von Anträgen in bezug auf die
Agitation vor. Zwei oder drei Anträge wünschen, daß man in die
Landtagswahlen eingreift, um für die Beseitigung der indirekten
Wahlen zu agitieren. Ja, Genossen, es gibt aber einige Kronländer,
wo in der nächsten Zeit Landtagswahlen gar nicht sein werden, so
in Böhmen und Galizien. Wir haben unsere Anträge deshalb etwas
allgemein gefaßt und ursprünglich gesagt: Man soll einfach in der
nächsten Zeit überhaupt auf die Landtage agitatorischen Einfluß
nehmen. Der Zusatzantrag des Genossen Resel***) sagt, man soll
außerdem bei den Landtags wählen das machen; wir sind damit
*) Ignaz Daszynski, der derzeitige polnische Sejm-Marschall, damals
Delegierter von Krakau, beantragte, die Aufstellung der Kandidaten sei
Sache der Kreisorganisationen, die sich darüber mit der Reichspartei-
vertretung ins Einvernehmen setzen sollen; sollte dieses Einvernehmen
nicht erzielt werden, so solle die Reichskonferenz entscheiden.
'*) Heinrich Beer, der Redakteur des „Metallarbeiters", von 1907 bis
1911 Abgeordneter von Dux.
**) Hans Resel, der nachmalige Abgeordnete von Graz.
Die Badenische Wahlreform. 177
einverstanden1, wenn irgendwo Landtagswahlen sind. Ein weiterer
Antrag wünscht, daß für die Bestimmung des Sonntags als
Wahltag eine besondere Agitation eingeleitet werde. Es ist sehr
wünschenswert, daß dies geschehe; ich möchte Sie aber bitten, dal.'.
Sie sich damit sehr beeilen, denn wenn Sie sich 14 Tage oder drei
Wochen Zeit lassen, würde es zu spät sein.
Es liegt schließlich ein Antrag vor, welcher sagt, daß man an
jenem Tage, wo im Abgeordnetenhaus die Abstimmung über den
Wahlreformentwurf stattfindet, überall große Versammlungen ab-
halten soll, welche gegen diese Wahlreform Protest erheben. Da-
gegen läßt sich absolut nichts sagen. Aber wollen Sie die Ver-
sammlungen nicht überschätzen. Die Versammlungen werden wohl
sehr hübsch sein, aber die Abstimmung über die Wahlreform im
Abgeordnetenhaus beeinflussen sie dadurch nicht. Und wenn Sie
in diesem Sinne die Versammlungen einleiten, ist es sehr gut, daß
wir formell an diesem Tage sagen: „Heute beweist du Regierung
und du Abgeordnetenhaus, was ihr für Leute seid und wir er-
klären euch heute: Ihr gebt uns eine Wahlreform, wir kennen
euch aber, wer ihr seid und wie euere Wahlreform aussieht."
Kinen weiteren Einfluß auf das Schicksal der Wahlreform hat dies
aber nicht.
Ich hätte mich noch mit dem Antrag Mornik*) zu beschäftigen,
aber verzeihen Sie, Parteigenossen, daß ich das nur sehr kurz
machen werde. Es ist eine alte Erfahrung, daß man nach zwei
Jahren viel klüger ist über die Dinge, die vor zwei Jahren waren,
als man es früher war, und der Genosse Mornik und noch eine
sehr kleine Anzahl Genossen im 1. Bezirk in Wien, die meinen, daß
sie heute unser Verhalten tadeln dürfen, werden nach zwei Jahren
ebenso überzeugt sein, daß ihr Urteil, das sie heute fällen, falsch
war. Sie werden auch gescheiter werden, ich verzweifle an ihnen
durchaus nicht. (Heiterkeit.) Parteigenossen! Ich würde über den
Antrag Mornik mich ungeheuer echauffieren, wenn ich glauben
würde, daß er sehr ernst zu nehmen sei. Er ist wirklich gar nicht
ernst zu nehmen. (Genosse Mornik: Also ein Spaß!) Kein Spaß,
er ist Ihnen heute heiliger Ernst, aber auch Sie werden vom Apfel
der Erkenntnis essen, wenn er Ihnen auch heute noch zu sauer ist.
(Lebhafte Heiterkeit.)
Parteigenossen! Die Parteivertretung war sich vollständig be-
wußt, daß sie nicht nur die Pflicht hat, die Partei zu führen und
die Geschäfte der Partei zu verwalten, sondern auch die Aufgabe
hat, der Prügelknabe zu sein für alle Schicksale, welche die Partei
während der Zeit erleidet. Wenn wir eine schlechte Wahlreform
kriegen, ist das natürlich die Schuld der Parteivertretung. Wenn
*) Mornik hatte beantragt, der Parteivertretung „wegen des zweifel-
haften Verhaltens dem Badenischen Wahlreformentwurf gegenüber" das
Mißtrauen auszusprechen. Der Antrag wurde mit allen gegen zwei Stimmen
abgelehnt. Die Anträge der Parteivertretung wurden übrigens in nament-
licher Abstimmung mit 101 gegen 9 Stimmen hei acht Sfimmenenthaltungeh
angenommen. Mornik vertrat den ersten Wiener Bezirk. Der Sonntag wurde
erst naeh dem Umsturz Wahltag.
Adler, Briefe. X. Dd. V2
178 Von Taaffe bis H a d c 1 1 i .
wir etwa in der Preßgesetzgebung einen Fortschritt machen, wenn
wir etwas in der Berggesetzgebung durchsetzen, ist nicht die
Parteivertretung daran schuld, sondern die Genossen. Was ver-
nünftig ist, das machen Sie, was ungeschickt ist, das machen wir.
(Lebhafte Heiterkeit.) Wer diese Teilung der Arbeit nicht über-
nehmen will (Heiterkeit), der soll sich an die Spitze einer Partei,
wie die unsrige ist, überhaupt nicht stellen.
Nun erlauben Sie, daß ich mich jetzt mit einem Moment befasse,
das in der Debatte wiederholt und in sehr merkwürdiger Weise
zum Ausdruck gekommen ist. Mitunter dieselben Genossen, welche
die Parteivertretung beschuldigen, daß sie den Wahlrechtskampf
nicht auch im letzten halben Jahre mit demselben Eifer fortgeführt
habe, wie unter der Koalition — und von dieser Ära hätte man
sprechen sollen und nicht von der Zeit der Taaffeschen Vorlage — ,
dieselben Genossen sagen: „Glaubt ihr denn, man kann immer mit
dem Wahlrecht kommen? Wir haben ja auch wirtschaftliche
Interessen." Dieselben Genossen, und auch Dr. Berstl, die ver-
langen, daß wir Himmel und Erde in Bewegung setzen sollen, um
den Badenischen Reformentwurf unmöglich zu machen. Ich nehme
zu seiner Ehre an, daß er so viel Vernunft hat, um zu wissen, daß
wir diesen Entwurf nicht verhindern können, anderseits aber wirft
er uns vor, daß wir die wirtschaftliche Bewegung vernachlässigen
und reine Politiker sind. Das sind wir eben nicht. Wir nehmen
die Arbeiterklasse als das, was sie ist, als eine zu politischen
Dingen durchaus durch ökonomische Momente bewegte Klasse.
Wir wissen genau, warum die Wahlrechtsbewegung bis zu einem
gewissen Punkte zu treiben war, wissen aber auch, warum sie
nicht weiter zu treiben war; die Arbeiterklasse in Österreich hat
das ganz instinktive Bewußtsein gehabt, daß in ihr die Kraft ruht,
ein Wahlrecht überhaupt zu bekommen, aber daß sie ohne parla-
mentarische Vertretung nicht fähig ist, so weit zu kommen, das
Aussehen dieser Wahlreform zu bestimmen. In dem Moment, wo
die Badenische Wahlreform ihr gesagt hat: Mag sein was will,
Stimmzettel bekommt ihr alle, in demselben Moment war die
Heftigkeit und Kraft der Wahlrechtsbewegung gebrochen. (Zu-
stimmung.) Glauben Sie mir, das haben nicht wir gemacht. Wir
wären ja dann Herrgötter, was wir wirklich nicht sind, aber die
Genossen von der Opposition, wenn ich so sagen darf, halten uns
dafür. Wir können nicht eine Bewegung machen, wir können nur
als Sprachrohr aussprechen, was in den Arbeiterinassen steckt, und
wenn Sie sagen, daß wir in der „Arbeiter-Zeitung" weniger gesagt
haben, als was die Arbeiterklasse denkt, dann wagen Sie einmal
diese Behauptung! Jch glaube, wenn wir uns eines Fehlers schuldig
gemacht haben, so haben wir eher, und das wird jeder zugeben
müssen, in dieser Beziehung den Wahlrechtskampf schärfer in dem
Blatte geführt, als er in den Organisationen und in den Massen der
Arbeiterschaft lebendig war. Das ist selbstverständlich, in dem
einzelnen Gehirn hat die eine Frage oder die andere die Vorhand.
Es ist psychologisch und physisch unmöglich, mit einer Frage
Die Badenische Wahlreform. 179
jahrelang die Massen in Bewegung zu halten; wir mußten es, um
eine politische Wirkung zu erzielen, aber wir mußten uns auch
endlich sagen: Das kommt, das können wir nicht verhindern, dar-
über hinauszugehen wäre heute eine Kraftvergeudung. Da sagt mir
freilich Genosse Berstl, und er hat da ungefähr gesprochen, nicht
wie ein sehr radikaler Genosse, sondern wie man das in Bourgeois-
blättern zu lesen bekommt und wie es die Fabrikanten uns Sozial-
demokraten nachsagen, daß wir hinausgehen aufs Land, die Leute
entflammen und dann kommt es zu Streiks, die wir dann nicht
unterstützen können. Genosse Berstl hat am allerwenigsten
Ursache, in diesem Tone zu sprechen und Genosse Berstl weiß
sehr wohl, er weiß es ganz genau, daß die Streiktaktik zu ver-
treten nicht unser Beruf, aber sein Geschäft ist. (Sehr gut! Ge-
nosse Dr. Berstl: Wir sprechen uns noch*)!) So stehen die Dinge,
und ich halte es der Öffentlichkeit gegenüber für notwendig, die
Parteivertretung gegen solche Beschuldigungen zu verwahren
(Beifall), die einfach mit den Tatsachen in gröbstem Widerspruch
stehen, die den Kern unserer Agitation mißverständlich auslegen
und die Massen, die noch unorganisiert sind, irreleiten. Wenn Sie
unseren Genossen solche Dinge vorerzählen, müssen wir auf das
energischeste dagegen protestieren, damit die Arbeiterschaft nicht
irregeführt werde über uns und unsere Ziele. (Lebhafter Beifall.)
Parteigenossen! Man hat uns schon vor zwei Jahren den Vor-
wurf gemacht, daß wir im Oktober des Jahres 1893 dem Grafen
Taaffe nicht aus der Patsche geholfen haben und daß wir für seine
Wahlreform nicht genug Spektakel gemacht haben**). (Rufe: Die wir
jetzt haben wollen.) Ganz richtig! Heute können wir dafür sein,
weil sie die Regierung nicht will (Heiterkeit), das ist ganz klar. Als
die Reform des Grafen Taaffe gekommen ist, was haben wir
getan? Wir haben in einer Resolution erklärt: Diese Wahlreform
ist eine unvollständige, sie enthält nicht das allgemeine, gleiche
und direkte Wahlrecht, aber sie ist eine Abschlagszahlung, die
wir annehmen und für die wir sind. Weiter zu gehen und dem
Grafen Taaffe durch Straßenkrawalle etwa gegen den Plener zu
helfen, dazu haben wir gar keine Lust gehabt. Ich sage Ihnen ganz
offen — es wurde uns das von gewissen Politikern zugemutet und
ich habe darauf zur Antwort gegeben: Dem Grafen Taaffe sollen
wir die Kastanien aus dem Feuer holen, der uns dann auf der
Straße vor dem Parlament abfangen wird, der sagen wird: „Jetzt
kommt ihr? Ja, blutige Köpfe, Ausnahmszustand und keine Wahl-
reform! Ihr habt euch ihrer unwürdig gemacht." In solche Fallen
geht die sozialdemokratische Parteivertretung nicht. Wenn von
dem kräftigen Widerstand gesprochen wurde, so ist dieser Wider-
*) Adler hat noch in dieser Rede diese Bemerkung abgeschwächt.
) Siehe darüber im siebenten Band der Adler-Sehritten die Rede auf dem
Parteitag 1894 („Die Taaffcsehe Wahlreform und der Generalstreik", Bd. VII,
Seite SO) und den Artikel in der „Neuen Zeit", 1894, Nr. 33 und 34 („Die
La«e in Österreich und der sozialdemokratische Parteitag**, Bd. VII,
Seite 91).
12*
180 \ on TaaJfe bis Badeni.
stand nicht gegen die Wahlreform des Grafen Taaffe gemacht
worden, das ist nicht wahr, er ist gemacht worden gegen die
Wahlreform der Koalition und gegen alle Reformen, die unter der
Koalition aufgetaucht sind. Der Widerstand gegen die Entwürfe
der Koalition war größer als gegen den des Grafen Badeni, weil
während der Koalition keine feste Wahlreform in der deutlichen
Absicht, sie durchzuführen, aufgetaucht ist. Nicht ein einzigesmal
haben Regierung und Parlament gesagt: Diese Wahlreform wollen
wir, diese machen wir. Wir haben uns auch nicht gegen eine einzelne
oder für eine einzelne echauffiert, wir haben die Leute vorwärts-
gepeitscht, bis sie mit ihrem Latein fertig wraren und sich unfähig
erklären mußten, etwas zu machen. Ein anderer Grund war der, weil
alle diese Wahlreformen zur Grundlage gehabt haben die Absper-
rung der Arbeiter in eine separate Kurie und heute nach dieser lan-
gen Debatte, nachdem über die Badenische Wahlreform und von mir
nicht zum mindesten gehörig geschimpft worden ist, erkläre ich,
daß der große Vorzug der Badenischen Wahlreform vor allen
andern Reformen — auch der Taaffeschen — welche alle gesagt
haben: Das Wahlrecht haben 1. die Fünfguldenmänner, 2. die beim
Militär gedient haben, 3. die zwei Jahre Krankenkasse haben usw.
— der ist, daß sie zum erstenmal sagt: Das Wahlrecht hat jeder
vierundzwanzigjährige Mann mit den und den kleinen Ausnahmen.
Das ist der große Unterschied. Und zweitens ist diese Wahlreform
die erste, welche es uns möglich macht, die Wahlbewregung als
Klassenkampf auszunützen, die uns nicht Mandate, sondern ein
Wahlrecht gibt. Die Sache liegt einfach so: Alle Wahlreform-
entwürfe, die von Plener abstammen — und das waren ja die
Entwürfe der Koalition alle — , alle wollten uns Mandate geben,
aber kein Wahlrecht. Die Badenische Wahlreform gibt uns ein
Wahlrecht, aber freilich keine Mandate. Wir haben in der Badeni-
schen Wahlreform auf viel weniger Mandate zu rechnen als in
irgendeiner anderen Wahlreform, die wir von der Koalition be-
kommen hätten. Aber wir haben einen Wahlkampf mit allen andern
Parteien, sie müssen sich uns stellen zum Gefechte und das ist ein
großer Vorzug; wir haben das Recht, in die Hütten einzubrechen,
wie Graf Hohenwart gesagt hat, und wir werden in ihre Hütten
einbrechen. Das ist der Grund, warum die Parteivertretung etwas
den Kampf gemildert hat, das ist der Grund, der die ganze Ar-
beiterschaft Österreichs veranlaßt hat, ganz anders über die Lage
zu denken.
Wenn die Haltung der „Arbeiter-Zeitung" angefochten wurde,
erlaube ich mir zu bemerken, daß wir beim Punkt „Presse" noch
darauf zurückkommen können. Die „Arbeiter-Zeitung" ist das
Reservoir, aus dem alle Argumente gegen die Badenische Wahl-
reform geschöpft wurden. (Widerspruch des Genossen R e s e 1.)
Es tut mir leid, aber ich habe hier auf dem Parteitag und auch
früher kein Argument gehört, das ich nicht vorher in der
„Arbeiter-Zeitung" gelesen hätte. (Oho-Rufe.) Ich bitte, es wird mir
lieb sein, wenn Sie mich darüber berichtigen. Die „Arbeiter-
Die Badenische Wahlreform, INI
Zeitung" hat nicht ein einziges Argument gegen die Badenische
Walilreform ausgelassen und es ist nicht richtig, wenn Sic ihr
darin einen Vorwurf machen. Ich glaube, daß wir es mit jeden)
anderen Blatte* in der Bekämpfung des Badeni aufnehmen können.
Und nun, Parteigenossen, erlauben Sie mir eine Bemerkung.
Die Sozialdemokratie ist eine Partei ganz eigentümlicher Art. Ihre
Wirksamkeit beruht nicht allein darauf, was sie tut, sondern vor
allem darauf, was sie ist. Das Vorhandensein der Sozialdemokratie,
daß es so viele Sozialdemokraten gibt, das ist das Wirksame. Und,
Parteigenossen, diejenigen von Ihnen, die mit einer höchst begreif-
lichen Ungeduld eine jede Woche, wo die Partei nicht eine grolle
Aktion veranstaltet, für eine verlorene halten, werden sich über-
zeugen, daß die Partei oft in der Stille mehr wächst als während
der größten und lärmendsten Aktion. (Zustimmung.) Die gewerk-
schaftliche Organisation ist sehr rasch gewachsen, hat vielfach nur
äußerlich die Grenzen abgesteckt, aber den Rahmen der Organi-
sation noch nicht ausgefüllt. Die nötigen Kräfte für die Wahlbewe-
gung aufzubringen, wird sehr schwer sein. Wir dürfen nicht glauben,
daß wir mit denselben Mitteln arbeiten können, mit denen bisher
gearbeitet wurde oder mit welchen andere Parteien bei der Wahl-
agitation arbeiten. Unsere Agitation wird eine lange vorbereitete
sein müssen. Vergessen Sie das nicht. (Zustimmung.) Wir können
auch die Organisation für die Wahlen nur dort suchen, wo sie ge-
schaffen ward, nicht von uns, sondern durch die kapitalistische
Entwicklung. Diese Organisation werden sie uns nicht nehmen
können. Ich wreiß nicht, welche Absichten und Pläne Sie beim
Punkt Organisation haben. Aber das sage ich Ihnen schon jetzt,
daß ich es für eine große Gefahr halten wTürde, wenn Sie wesent-
liche und einschneidende Änderungen in der Organisation in einem
Moment vornehmen würden, wo wir vor einer großen und um-
fassenden Aktion stehen. Ich meine, solche Änderungen müssen
verschoben werden.
Eine persönliche Bemerkung: Es wurde mir soeben mitgeteilt,
daß ich vom Genossen Dr. B e r s 1 1 behauptet hätte, es sei sein
„Geschäft", die Streiks zu machen. Das wollte ich nicht sagen. Das
versteht sich ja von selbst. Ich wrollte dem Charakter des Doktor
B e r s 1 1 durchaus nicht nahetreten, sondern habe gemeint, daß er
sich damit beschäftigt. (Genosse Dr. Berstl: Das ist nicht
wahr!) Das ist etwas anderes, aber es ist meine Meinung. Ich sage
also: Er beschäftigt sich damit, Streiks zu organisieren, da er weit
mehr von ihrer Wirksamkeit hält als wir, die er beschuldigt, für
gut halten. Damit ist die Sache für mich erledigt.
Nun hat eine Anzahl von nordböhmischen Genossen hier gesagt:
Das, was ihr wollt, ist vielleicht eine sehr notwendige Sache. Aber
wartet doch, bis die Wahlreform Gesetz ist. Das geht nicht. Der
Parteitag ist dazu da, um bindende Entschlüsse zu fassen und den
Genossen, die uns hiehergeschickt haben, auch etwas Bestimmtes
und Präzises zu sagen. (Zustimmung.)
182 Von Taaffe bis Badeni.
Wir können die Wahlreform nicht erst anerkennen, wenn sie
von beiden Häusern des Reichsrates angenommen und von der
Krone unterschrieben ist. Wir wissen, daß sehr viele Dinge, die
unterschrieben sind, nicht Gesetz werden und andere Dinge, die
noch nicht unterschrieben sind, Gesetz werden; und diese Einsicht
wollen wir hier benützen.
Es wird der Parteivertretung vorgeworfen, daß sie schon im
August oder September gewußt hat, wie die Wahlreform Badenis
aussehen werde. Ich hatte, wie Pernerstorf er ganz richtig
erraten hat, meine Kenntnisse nur aus den „Närodni Listy*)". Wenn
aber die Genossen glauben, daß wir so gescheit sein müssen, daß
wir alles lange zuvor wissen, dann sollten sie uns auch glauben,
daß wir heute bereits wissen, was alle Welt weiß und was die
Spatzen auf den Dächern pfeifen, daß die Wahlreformvorlage in
ein paar Wochen Gesetz sein wird. Man sagt uns einerseits, wir
sind zu vorsichtig gewesen und heute will man von uns, wir sollen
kurzsichtig sein.
Mit dem Beschluß, den der Parteitag unzweifelhaft fassen wird,
tritt die sozialdemokratische Partei in Österreich in eine neue
Epoche, zum erstenmal in einen modernen politischen Kampf mit
modernen politischen Mitteln. Ich gebe zu, daß diese Mittel ver-
kümmert sind; sie sind nicht so wirksam wie das gleiche und direkte
Wahlrecht. Es wird uns schwer gemacht, sie zu handhaben, durch
die Ausdehnung der Wahlbezirke; aber es ist denn doch zum ersten-
mal ein wirklicher politischer Kampf. Für diesen Kampf, Partei-
genossen, gilt es, uns zu rüsten, für diesen Kampf gilt es, mit Be-
stimmtheit und Entschlossenheit die Vorkehrungen zu treffen, nicht
zu fackeln, nicht Hasen nachzulaufen, die wir nicht fangen können.
Für uns steht die Frage so: Sollen wir zum Kampfe für das allge-
meine, gleiche und direkte Wahlrecht auch die Wahlagitation in
der fünften Kurie benützen oder nicht? Wir sagen, das müssen
wir tun. Ich glaube, wir können ohne Unbescheidenheit sagen, wenn
wir bei unseren elenden Zuständen, wTenn wir mit der Preßgesetz-
gebung, die wir haben, wenn wir mit unserm Versammlungsrecht,
mit unserm Vereinsgesetz und ohne jedes Wahlrecht so weit ge-
kommen sind, als wir heute sind, so werden wir mit dem neuen
Mittel keinen Rückschritt machen. (Lebhafte Zustimmung.)
Hier sitzt eine Reihe von Genossen, die schon einmal in Prag
waren, seitdem aber nicht mehr; es sitzt hier eine Reihe von Aus-
gewiesenen, die man nur aus Prag ausweisen konnte, weil man sie
erst in Ketten hiehergeschleppt hatte, es sitzt hier eine Anzahl von
Leuten, die monatelang in Untersuchungshaft gehalten wurden und
dann mitunter nur zu einem Monat oder nur zu ein paar Tagen
verurteilt wurden, nur um sie ausweisen zu können. Da sitzen Ge-
nossen, die auf Grund einer Anklage verurteilt wurden, die, wenn
man sie heute liest, wie eine Geschichte aus dem Mittelalter klingt
und das ist doch nur 12 bis 14 Jahre her. Gerade diese Partei-
) „Närodni Listy", das jungtschechische Hauptorgan.
Die Wahlreformdebatte Im Parlament. 183
genossen werden mir zugeben, wenn sie damals gedacht hätten,
daü sie im Jahre 1896 liier in Prag als Delegierte ZU einem Partei-
tag erscheinen werden, daß die Kerle, die sie verurteilt haben, und
die heute noch leben, es dulden müssen, daß wir hier aussprechen,
daß es in Osterreich nur eine vernünftige, zielbewußte und prak-
tische Partei gibt, die Sozialdemokratie, so würden sie im (iefäng-
nis gesagt haben, wir sitzen nicht umsonst da. Es sitzt hier ein
(ienosse, von dem schon die Rede war, er ist 10 Jahre im Kerker
gesessen*). Sagen wir es offen und er wird es nicht leugnen, er ist
mit ganz andern Anschauungen von der Welt hineingegangen, als
er heute hat. Er hat dem sogenannten „radikalen" Flügel der Partei
angehört und er wird selbst einsehen, daß diese Ansichten irrige
waren. Wenn man ihm gesagt hätte, daß nach ein paar Monaten,
nachdem er herausgekommen ist, hier ein sozialistischer Parteitag
sein wird, wären ihm die 10 Jahre ein wenig leichter geworden.
Wir lassen uns durch die Geschichte erziehen und das befähigt
uns auch, Geschichte zu machen. Die Sozialdemokratie ist eine
Partei, der es nicht darum zu tun ist, von der Revolution zu reden,
sondern die Revolution zu machen. Wenn man sie aber machen
will, dann muß man die Massen bereitstellen für den Kampf, und
dazu muß man jedes Mittel benützen, und wir müssen auch den
Vorwurf auf uns nehmen, den uns die Träumer machen, daß wir
zu praktische Leute sind. Ja, wir sind nüchtern und praktisch; aber
wir wissen, daß, wenn wir einen kühlen Kopf haben, dies nicht
hindert, daß wir ein warmes Herz haben. Der kühle Kopf wird aber
das warme Herz regieren, und so kommen wir zum Siege. (Leb-
hafter Beifall.)
Die Wahlreformdebatte im Parlament.
Versammlung bei der „B r e t z e n", 22, April 189 6**).
Wenn man sieht, wie die bisherigen Volksvertreter sich be-
nehmen, wenn sie darangehen, den Wunsch des Volkes in ihrer
Weise zu erfüllen, dann wird man sich erst klar wrerden, mit
welchen Schwierigkeiten wir hier in Österreich zu kämpfen haben.
Nicht das ist Gegenstand der Debatte, daß die Herren sich sagen:
Wir begreifen, daß das arbeitende Volk das allgemeine Wahlrecht
will, wir haben aber Gründe, nur ein beschränktes Wahlrecht zu ge-
währen. Sie stehen nicht einmal auf diesem Standpunkt; in jedem
Worte zeigen sie, daß ihnen das elende Zugeständnis abgepreßt
*) Schon Schuhmeier hatte beim Parteibericht darauf verwiesen. Es ist
das der Schuhmachergehilfe Franz Göpfhardt, der mit Rißmann zu-
sammen um die Mitte der achtziger Jahre in Graz der Gruppe der „Radi-
kalen" angehörte und dann zu zehn Jahren Kerker verurteilt
wurde. (Siehe Brügel, III. Bd., Seite 380.)
**) Am 20. April 1896 hatte die zweite Lesung der Badenischen Wahl-
reiorm begonnen. Den Bericht des Ausschusses erstattete der Liberale Dok-
tor (iötz. In der Debatte sprach auch der Feudale Graf Falkenhayn,
184 Von Taufte bis Badcni.
werden muß. Das wenige, was sie tun werden müssen, ist ein
widerwilliger Bückling vor der Majestät des Volkes. Was an dieser
Wahlreform gut ist, ist das Werk der Arbeiterschaft, was schlecht
an ihr ist, ist das niederträchtige Machwerk der Vertreter der be-
sitzenden Klassen. Die Herren entschuldigen sich in der Debatte
— nicht etwa für das, was schlecht ist an der Wahlreform — , son-
dern für das, was gut ist daran. Was fürchten denn diese Leute
eigentlich? Diese Wahlreform ist absolut nicht imstande, das
Majoritätsverhältnis zu verschieben. Sie hat nichts Gutes, als daß
sie den Beginn einer politischen Erziehung der Massen bedeuten
wird. Aber das ist es eben, was den Herren ein Dorn im Auge ist,
und um das möglichst hinauszuschieben oder zu verhindern, dazu
lebt wieder die Koalition auf. Man könnte glauben, daß wenigstens
auf diese fünfte Kurie jene Formen angewendet werden würden,
die jeder Einsichtsvolle als das notwendige Requisit der Wahl-
ausübung betrachtet. Aber das ist nicht der Fall. Früher war der
„Kampf" um das direkte Wahlrecht sogar ein Programmpunkt
der Liberalen, und wie schmählich verraten sie jetzt ihr eigenes
Programm! Durch die indirekten Wahlen verliert das Wahlrecht
als Mittel der politischen Erziehung sehr viel. Außerdem ist die
Nominierung der Wahlmänner notwendig, und man kann sich vor-
stellen, wie viel Maßregelungen daraus fließen werden, wie das
der Fälschung Tür und Tor öffnen wird. Die halbwegs anständigen
Leute werden sich sagen müssen : Wir stimmen für dieses
schlechte Gesetz nur dann, wenn die kleinlichen
Beschränkungen fallen, wenn vor allem das
Wahlrecht ein direktes ist. Die Jungtschechen müssen,
wenn sie wirklich Demokraten sind, sagen, daß sie jeden einzelnen
Liberalen in seinem Wahlbezirk annageln werden, wenn er es
wagt, für das indirekte Wahlrecht zu stimmen. Der Redner
charakterisiert nun die Verhältnisse in Galizien, wo die besitzlose
ländliche Bevölkerung rettungslos ihrer Schlachta ausgeliefert sei.
Er charakterisiert die Heuchelei und bodenlose Niederträchtigkeit
des Polenklubs, die sich gestern im Parlament wieder im vollen
Lichte gezeigt habe. Ein ekelhafteres Schauspiel gebe es nicht, als
wenn diese korrupte Bande Sittlichkeit predigt und sich dabei ge-
bärdet wie verrückt gewordene Staatsanwälte. Hierauf charakteri-
siert er das Verhalten der Liberalen, die immer für die direkten
Wahlen vor ihren Wählern deklamiert haben, wogegen jetzt
Dr. Ruß die Frechheit hat, gegen das direkte Wahlrecht aufzu-
der dagegen polemisierte, daß die Sozialdemokraten den Volkswillen für die
Quelle des Rechtes erklären. Die Quelle des Rechtes sei einerseits Gott,
andererseits die Gesetzgebung des Staates, in letzter Linie der Monarch...
Am 23. April war die Generaldebatte zu Ende und es wurde über das
Prinzip der fünften Kurie abgestimmt. Nur 61 Abgeordnete erklärten sich
für das allgemeine, gleiche Wahlrecht, 173 dagegen. Am Abend vor dieser
Abstimmung wurden nun in Wien zwei Massenversammlungen abgehalten.
Bei der „Bretzen" in Ottakring sprachen Dr. Ellenbogen. Adler und
Schuh meier.
Die neue Waffe. I 3
treten. Man kann aber die Herren mit Energie zwingen. Wenn
man ihnen droht, daß man ihren Wählern enthüllen wird, was ihre
Mandatare für Kerle sind, werden sie hoffentlich doch zur Raison
kommen. Der Redner charakterisiert nun den Modus der münd-
lichen Wahl. Es wäre möglich, dieses elende Gesetz noch ein
wenig zu verbessern, wenn die richtigen Männer da wären mit der
erforderlichen Energie. Mit solch rücksichtsloser Energie, wie sie-
dle Klerikalen gegen das Gesetz entwickeln. Das sind die ehrlich-
sten Gegner der Wahlreform; sie gestehen frank und frei, dal.» sie
sich vor dem Eindringen der Sozialdemokratie fürchten. Ealken-
hayn sagt, die Quelle des Rechtes ist nicht das Volk, sondern (iott.
Man kann über Religion denken, wie man will, aber das ist Läste-
rung, ein Mißbrauch des Gottesbegriffes zur brutalsten Volks-
unterdrückung. Wir gestehen es dem Falkenhayn zu, daß wir
politische Macht wollen. Wir haben uns auch unter harten Kämpfen
ein Stückchen davon errungen. Möge diese Wahlreform ausfallen
wie sie will, Parteigenossen, für uns ist die Wahlreform, die uns
die Gegner gewähren, nichts als ein Stein, den man uns statt Brot
gibt, aber ein Stein, den wir den Spendern ins Gesicht schleudern
werden, um sie zu zerschmettern. (Beifall.)
Die neue Waffe.
Versam m lang beim Dreher, 1 1. M a i 189 6*).
Adler weist beim ersten Punkt der Tagesordnung darauf hin,
daß wir eine Anzahl glaubwürdiger Zeugen haben, denen zufolge
die Vorfälle im Prater von den Antisemiten in gemeiner Weise
provoziert wurden. Leider hat es auch unter uns Leute gegeben,
die nicht die nötige Verachtung für dieses Gesindel hatten und sich
provozieren ließen. Die antisemitischen Blätter verraten die Ab-
*) Am 7. Mai 1896 war die Badenische Wahlreform im Abgeordneten-
haus in namentlicher Abstimmung mit 234 gegen 19 Stimmen angenommen
worden und es war kein Zweifel, daß sie nun Gesetz werden würde.
Tatsächlich wurde sie am 28. Mai auch vorn Herrenhaus angenommen
und am 14. Juni sanktioniert. Am 10. Mai forderte die Parteivertretung zu
den Vorbereitungen für die Wahlen auf, die unter der Parole stattfinden
sollten: „Weg mit den privilegierten Kurien! Weg mit der Interessen-
vertretung!" Am 11. Mai fanden aueh bereits mehrere Versammlungen statt,
die zu dem neuen Wahlrecht Stellung nahmen. Zugleich wurde aber auch
über die Vorfälle bei der Maifeier im Prater gesprochen, was der erste
Punkt der Tagesordnung war. Am 1. Mai hatten sich nämlich im Gasthaus
„Swoboda" im Prater die Christlichsozialen eingenistet und provozierten
von dort aus die Arbeiter, die ihre Maifeier wie gewöhnlich im Prater
begingen. r:s kam schließlich zu einem Steinbombardement, berittene Polizei,
mit dem bekannten Tobias A n ge r an der Spitze, ritt in die Arbeiter hinein
und Bosniaken marschierten auf. Die bürgerliche Presse hatte die
Arbeiter in der unerhörtesten Weise beschimpft, so daß sogar bei zwei
Blättern die Setzer sich weigerten, die Beschimpfungen, die sich auch gegen
sie richteten, zu setzen. Auch zu diesen Verleumdungen und Beschimpfungen
1H6 Von Taaffe bis Baden i.
sieht der Provokation, indem sie behaupten, das sei die letzte Mai-
feier gewesen. Aber die Maifeier hängt nicht ab von der gnädigen
Erlaubnis von oben. Die Antisemiten von heute unterscheiden sich
überhaupt von denen vor vier Wochen, sie haben eben gelernt,
daß man in manchen Vorzimmern die Löwenhäute ablegen muß.
Lueger ist regierungsfähig, die antisemitische Presse ist, wie es
die liberale schon früher war, polizeifähig geworden. Dieselben
Antisemiten, die im Vorjahr so entrüstet waren, daß bei der
Bürgermeisterwahl das Militär konsigniert war, finden es gerecht-
fertigt, daß man Ulanen und Bosniaken in den Prater marschieren
ließ. Aber eine Lehre haben wir aus alledem gezogen. Wenn viele
Parteigenossen uns vorwerfen, daß die Maifeier einen zu harm-
losen Charakter angenommen habe, wenn die Polizeipresse uns
höhnt, daß sich die revolutionäre, internationale Maifeier in
Spaziergänge auflöse, so werden wir dafür sorgen, daß die
nächsten Spaziergänge einen schneidigeren Charakter haben
werden. — Zum zweiten Punkte (Wahlreform) erklärt Genosse
Adler, daß diese Mißgeburt ihre Unmöglichkeit bei der ersten
und letzten Wahl beweisen werde. Wir werden das Wahlrecht
benützen, wie wir das Versammlungsgesetz trotz dem Polizei-
kommissär, das Preßgesetz trotz dem Staatsanwalt benützen, um
unsere Organisation zu kräftigen. Graf Badeni wird das Haus so
lange weiterbestehen lassen, als er kann. Trotzdem müssen wir
bereits jetzt zu arbeiten beginnen. Mit Annahme der Wahlreform
schließt ein bewegtes Kapitel der Geschichte der österreichischen
Arbeiterpartei vorläufig ab; benützen sie die neue Waffe, die uns
da geboten wird, und der endliche Sieg wird nicht ausbleiben.
Bericht an die Internationale.
An den internationalen sozialistischen Arbeiter- und Gewerk-
schaftskongreß in London 1896*).
Die geschichtliche Aufgabe der österreichischen Sozialdemokratie
ist eine weit schwierigere als die der meisten internationalen Bruder-
wurde in den Versammlungen Stellung genommen. Die Ereignisse beim
„Swoboda" hatten auch den Staatsanwalt in Bewegung gesetzt und
47 Arbeiter wurden zu insgesamt 2 4 .1 a h r e n, 1 1 K> Monaten Kerker
oder Arrest verurteilt.
In der Versammlung, die beim „Dreher" auf der Landstraße stattfand,
referierte Adler. Leider ist der Bericht, der über seine Rede erschien, nur
sehr kurz.
*) Der internationale Kongreß in London hat vom 27. Juli bis 1. August
1896 stattgefunden. (Siehe in den Adler-Schriften, Heft VII, Seite 69 f.) Der
internationale Sozialistenkongreß in Brüssel hat vom 14. bis 22. August
1891, der in Zürich vom 6. bis 12. August 1893 getagt. Die Berichte über
diese beiden internationalen Kongresse sind bereits oben auf den Seiten 80
bis 97 abgedruckt, weil sie über die Anfänge der Wahlrechtsbewe-
gung Aufschluß geben, während der Bericht an den Kongreß in London
sich auf das Endstadium bezieht.
Bericht an die Internationale. 1N7
Parteien. Klassen und Einrichtungen, die anderswo längst über-
wunden sind, spielen hier noch eine einflußreiche, ja vielfach aus-
schlaggebende Rolle, und die Sozialdemokratie hat nicht nur die
Arbeiterschaft zum Bewußtsein ihrer Interessen zu erziehen, sondern
auch noch die gewaltige Aufgabe zu leisten, die Reste feudaler
Herrschaft aus dem Wege zu räumen, die Macht des Polizeigeistes
zu brechen, die aus ökonomisch längst überwundenen Zeiten in
die österreichische Gegenwart hineinragen. Darum hat die öster-
reichische Sozialdemokratie vor allem gegen die politische Recht-
losigkeit zu kämpfen. Ein freies politisches Leben ist die unerläß-
liche Grundlage für den ökonomischen Existenzkampf des
Proletariats.
Dem Züricher Kongreß wurde über den Beginn des Kampfes
um das politische Wahlrecht berichtet. Mit leidenschaftlicher Kraft
wurde dieser Kampf begonnen. Schon dem ersten Ansturm der
Sozialdemokratie gelang es, die Teilnahmslosigkeit der öffentlichen
Meinung zu überwinden und das allgemeine, gleiche und direkte
Wahlrecht auf die Tagesordnung der öffentlichen Diskussion zu
setzen. Der Erfolg war, daß im Oktober 1893 die Regierung des
reaktionären Grafen Taaffe sich veranlaßt sah, einen Wahlreform-
entwurf einzubringen, der zwar die Vorrechte des Grundbesitzes
bestehen ließ, aber ein allgemeines Wahlrecht vorschlug, das die
bisher Rechtlosen den Bürgern und Bauern gleichsetzte. Das war
die Quittung für die großartige Agitationsarbeit, die die Arbeiter-
schaft zugunsten ihres obersten politischen Rechtes entfaltet hatte.
Die Kampfesorganisation aller reaktionären Klassen gegen die
Sozialdemokratie war zunächst niedergebrochen, und mehr als je
war die Erteilung des Wahlrechtes zu einer politischen Notwendig-
keit der allernächsten Zeit geworden, sollte nicht die politische
Maschine in Österreich gänzlich zum Stillstand gebracht werden.
Die Verblüffung, die Wut, die Verzweiflung, die sich des öster-
reichischen Parlaments sofort bemächtigten, waren nur zu erklär-
lich. Empört erhoben sich die drei großen reaktionären Parteien,
die des Adels, des Klerus und der Großbourgeoisie, und verbanden
sich zu einer Koalition gegen den Urheber eines ernsten politischen
Gedankens. Graf Taaffe wurde gestürzt, und die bisher einander
spinnefeindlichen Parteien vereinigten sich als „reaktionäre Masse"
gegen die Forderungen der Arbeiterschaft.
Am 23. November 1893 trat das Ministerium der Koalition vor
die Öffentlichkeit. Entstanden aus dem instinktiven Haß der
privilegierten Klasse gegen die besitz- und rechtlose und dem
Verlangen, die Erfüllung des Wunsches der letzteren nach
politischen Rechten zu verweigern, stand diese Koalition ander-
seits vor der der gesamten Öffentlichkeit klargewordenen Not-
wendigkeit, eine Wahlreform zu schaffen. Von vornherein war
somit das Ministerium Windischgrätz zu einer tückischen, ver-
logenen, lendenlahmen und unfruchtbaren Politik verurteilt. Die
Arbeiterschaft steigerte die Zähigkeit und Heftigkeit ihres Kampfes,
188 Von Taaffe bis Badcni.
sie versah ihn mit Akzenten, deren Leidenschaft bis dahin in
Österreich unerhört war, wenn man bedenkt, daß sie dem Ziel-
bewußtsein auch nicht einen Hauch seiner Klarheit raubte. Eine
Ära der maßlosesten Verfolgungen begann. Die Sozialdemokratie
antwortete mit der Drohung des Generalstreiks, ohne sich über
die Grenzen ihrer Kraft Illusionen hinzugeben. In der heim-
tückischesten Weise suchten Ministerium und Parlament die Ent-
scheidung in der Wahlrechtsfrage hinauszuschieben, sie schleppten
sie vom Ministerrat ins Plenum des Hauses, vom Plenum in den
Ausschuß, vom Ausschuß in ein Subkomitee, sie erklärten auch
dessen Beratungen für geheim, nichtssagende und unmögliche Ent-
würfe wurden fabriziert und publiziert, die Sitzungen des Parla-
ments mit der Beratung der folgenschwersten und umfangreichsten
Gesetzentwürfe vertrödelt. Indessen eilte die Agitation der Arbeiter-
schaft von Versammlung zu Versammlung. Stellenweise kam es
zu blutigen Scharmützeln zwischen Arbeitern und Polizei in den
Straßen der Hauptstädte. Zugleich aber trat der tötliche Volkshaß
der Koalition an allen Ecken zutage. Die Organisationsbestrebungen
der maßlos gedrückten Bergarbeiterschaft suchte sie durch er-
barmungsloses Niederknallen der Streikenden in Falkenau und
Ostrau*) im Blute zu ersticken. Das furchtbare Grubenunglück von
Karwin, wobei über 200 Bergarbeiter ums Leben kamen, deckte
die mörderische Schlamperei in den Betrieben der reichsten Grund-
herren auf, kurz die öffentliche Meinung wurde auf allen Seiten
von einer unaufhörlich sich steigernden Erbitterung gegen diese
schmählichste aller österreichischen Regierungen erfüllt. Und als
alle Verschleppungstaktik nichts mehr half, als das Ministerium,
von oben und unten zu einer Entscheidung gedrängt, den im ge-
*) Siehe Bd. VII, Seite 113, und Bd. VIII, Seite 403. In Falkenau wurden
am 4. Mai 1894 drei Bergarbeiter von den Gendarmen getötet und
acht verwundet, und in Polnisch-Ostrau wurden am 9. Mai vier-
zehn Arbeiter getötet, über zwanzig schwer verletzt. Wegen einer
Rede über die Schüsse in Falkenau und Ostrau wurde Adler am 18. De-
zember 1894 vom Bezirksgericht Ottakring zu einem Monat Arrest
verurteilt. (Siehe den Bericht darüber im Band „Adler vor Gericht".
Bd. II, Seite 210.)
Die Grubenkatastrophe in Karwin erfolgte am 15. Juni 1894 auf den
Schächten des Grafen Larisch durch schlagende Wetter. Die Opfer waren:
235 Tote und fünf Schwerverwundete. Das Ostrau-Karwiner Revier war
überaus reich an großen Katastrophen; gehörten doch die Gruben den
reichsten Aristokraten und dem Erzherzog Friedrich, so daß die Behörden
nicht gegen die Übertretung der Sicherheitsvorschriften aufzutreten wagten.
Die letzten Katastrophen waren folgende: 1885 Johann-Schacht des Grafen
Larisch und Bettina-Schacht des Freiherrn v. Rothschild, 167 Tote;
1887 Guttmannscher Sophien-Schacht, 14 Tote: 1888 Rothschild-
scher Tiefbauschacht, 10 Tote; 3. Jänner 1891 Dreifaltigkeits-Schacht des
Grafen W i 1 c z e k, 61 Tote; 16. März 1895 erzherzoglicher Hohen-
egger-Schacht, 52 Tote; 14. Jänner 1896 Feuersbrunst im Hermenegild-
Schacht der Nordbahn, 16 Tote, 18 Schwerverletzte. (Ernst Berner:
„Die Steinkohlengräber im Ostrau-Karwiner Bergrevier.")
Bericht an die Internationale. w
heimen Subkomitee ausgebrüteten Gesetzentwurf publizieren
mußte, war seine Schande offenbar, da brach die Koalition unter
dem aligemeinen Holm und der Verachtung der Bevölkerung
zusammen.
Das nun folgende Ministerium fand sieh mit dieser Notwendig-
keit mittels einer Halbheit ab. Das allgemeine Wahlrecht wurde
gewährt, aber als Anhängsel zum Privilegienwahlrecht: eine Kurie
des allgemeinen Wahlrechts von 12 Sitzen wurde den alten vier
Kurien mit 353 Sitzen angeflickt. Badeni gab so wenig als möglich.
Aber so widersinnig einzelne Bestimmungen seiner Wahlreform
sind, so ungeheuerlich groß die Wahlkreise, so verfälscht und ver-
dünnt das Wahlrecht ist, einen Vorzug hat sie: sie erkennt das
Prinzip der Allgemeinheit des Wahlrechts an und bedeutet
damit einen Fortschritt. Die Arbeiterschaft hat die Ausnützung
dieses Rechts zum Beschluß erhoben. Ihre unermüdliche Zähigkeit,
die opfermutige und zielbewußte Begeisterung, die sie bisher an
den Tag gelegt, sind verläßliche Bürgschaften dafür, daß sie mit
Hilfe des ihr widerwillig, aber notgedrungen gewährten Zugeständ-
nisses sich in nicht allzulanger Zeit das echte allgemeine, gleiche,
direkte und geheime Wahlrecht erobern wird.
In wenigen Monaten wird die österreichische Sozialdemokratie
zum ersten Male im Wahlkampf stehen, den sie unter den
schwierigsten Verhältnissen zu führen haben wird. Aber sie hofft
trotzdem Erfolge zu erringen und rechnet auf die tatkräftige
Sympathie aller Bruderparteien des Auslandes.
Der Kampf ums Wahlrecht hat die Kraft des österreichischen
Proletariats erhöht und sein politisches Gewicht vermehrt. Davon
gibt auch die Tatsache Zeugnis, daß die politische Verwaltung all-
mählich gezwungen ist, zu einer europäischen Praxis überzugehen.
Stand früher die brutale Unterdrückung der Arbeiterschaft auf der
Tagesordnung, sobald sie von einem politischen oder wirtschaft-
lichen Rechte Gebrauch machen wollte, so hat man sich heute
schon im allgemeinen an den Gedanken gewöhnt, daß die Arbeiter
ihre Vereine haben und ihre Versammlungen veranstalten, man
konfisziert ihre Presse nicht mehr so häufig wie früher, ja selbst
bei Streiks finden sich schon manchenorts die Behörden in eine
mehr zusehende und vermittelnde Rolle und der große Ziegel-
arbeiterstreik*) im Jahre 1895 in der Umgebung von Wien erlebte
am Schlüsse sogar das merkwürdige Schauspiel, daß sich Re-
gierung und Parlament gegen die Unternehmer erklärten — freilich
ein Ausnahmsfall, der nur durch die geradezu scheußlichen Ver-
hältnisse, in denen die Unternehmer die Ziegelarbeiter schmachten
ließen und wiederum durch die beispiellose Energie, mit der die
Gesamtarbeiterschaft sich für ihre Brüder einsetzte, zu erklären ist.
Der Kampf der österreichischen Sozialdemokratie ist aber auch
') Vom 16. April an. (Siehe Deutsch: „Geschichte der österreichischen
Gewerkschaftsbewegung", erste Auflage, Seite 221 f.)
190 Von Taaffe bis Badeni.
wesentlich erschwert durch die nationalen Verhältnisse des
Landes. Zwar haben die albernen Zwistigkeiten, die die nationalen
Bourgeoisgruppen auszeichnen, in der österreichischen Arbeiter-
schaft nie eine Rolle gespielt. Der internationale Gedanke war
immer in ihr so lebhaft, daß alle Bemühungen der nationalen
Parteien, die Arbeiter für ihre Sonderzwecke zu mißbrauchen,
regelmäßig kläglich gescheitert sind. Aber die sprachlichen Ver-
schiedenheiten bestehen einmal, und sie werden verschärft durch
geographische, intellektuelle und vor allem ökonomische
Differenzen. Die deutschen Gebiete sind industriell am weitesten
entwickelt. Langsam bildet sich aus dem tschechischen Klein-
bürgertum eine Großindustrie heraus. Die Alpenländer sind meist
der Sitz einer bäuerlichen Parzellenwirtschaft, die italienischen
Arbeiter sind zumeist nomadisierende und taglöhnernde Erd-
arbeiter, das polnische Bauern- und Industrieproletariat schmachtet
in Unwissenheit und tiefster Knechtschaft unter den polnischen
Schlachzizen dahin, die kleineren Nationen, Slowenen, Serbo-
kroaten usw. stehen auf der tiefsten Stufe der Intelligenz und sind
eine billige Beute des Klerikalismus. Und dennoch ist es der von
dem hohen Idealismus ihrer Ziele erfüllten Sozialdemokratie ge-
lungen, selbst diese ungeheuren Schwierigkeiten zu überwinden
und die volle Autonomie und Selbständigkeit aller nationalen
Gruppen des Proletariats zu sichern und trotzdem eine ganz Öster-
reich umfassende geschlossene, einheitliche, schlagfertige Armee
zu bilden. Der letzte Parteitag in Prag (April 1896) hat dieser Tat-
sache durch eine Organisationsbestimmung Ausdruck verliehen,
wonach die großen nationalen Gruppen ihre Exekutivkomitees
bilden, die zum Behufe gemeinsamer Aktionen zur Gesamtpartei-
vertretung der österreichischen Sozialdemokratie sich vereinigen.
Von den Fortschritten der sozialdemokratischen Propaganda
gibt die Verbreitung unserer Presse deutlichen Ausdruck. Die
Partei verfügt gegenwärtig über 65 Blätter politischen und ge-
werkschaftlichen Charakters in sechs verschiedenen Sprachen mit
einer Auflage von zusammen 229.000 Exemplaren, darunter über
den großen Gewinn eines Tagblattes („Arbeiter-Zeitung"), wras bei
den österreichischen Preßverhältnissen ein gewiß ehrenvoller
Beweis für die Entwicklung der österreichischen Arbeiter-
bewegung ist.
Auch die Frauenbewegung schreitet rüstig vorwärts,
und zwar sowohl auf politischem als insbesondere auch auf ge-
werkschaftlichem Gebiet.
Die Maifeier hat von Jahr zu Jahr an Ausbreitung ge-
wonnen. Der 1. Mai wird heute in ganz Österreich als regel-
mäßiger Feiertag behandelt. Die Unternehmerschaft geht zwar
noch vielfach mit Maßregelungen vor, doch vermochte das der
Kraft und Einmütigkeit der Demonstration bisher keinen Eintrag
zu tun. Die österreichische Arbeiterschaft, die den Arbeiterfeiertag
bisher, wie sie mit Stolz von sich sagen kann, am imposantesten
Bericht an die Internationale. l-*1
gefeiert hat, hält fest an Ihm, sie hat ihm einen großen Teil ihrer
Entwicklung zu verdanken.
Auf dem ( iebiet der g e w e r k s c h a M I i c h e n O r g a n i-
sation ist die Partei um ein ganz gewaltiges Stück nach vor-
wärts gegangen. Am Ende des Jahres 1895 hatten wir zirka
750 Gewerkschaftsvereine mit einem Mitgliederstand von etwa
90.000 zu verzeichnen, was gegen den Stand zwei Jahre vorher
einen Zuwachs von weit über 100 Prozent bedeutet. Sämtliche
Gewerkschaften haben sich in der Ge wer k seh af ts-
kontfmis sion und ihrem Sekretariat eine gemeinsame Ver-
tretung gegeben und die Möglichkeit planmäßiger, einheitlicher
Arbeit gesichert. Diese starke Entwicklung der gewerkschaftlichen
Bewegung ist in erster Linie dem durch die politische Bewegung
erwachten Klassenbewußtsein der Arbeiter zu verdanken. Denn
in Österreich arbeiten die beiden Ausdrucksformen der prole-
tarischen Bewegung harmonisch miteinander und füreinander. Die
Frage, ob nur gewerkschaftlich oder nur politisch, existiert nicht
mehr bei uns. Es ist der Arbeiterschaft zum klaren Bewußtsein
gekommen, daß nur ein Hand-in-Hand-Arbeiten, ein unaufhörliches
Ineinandergreifen der beiden Organisationsformen den Zwecken
der Organisation förderlich sein kann. So ist es denn auch ge-
lungen, die Bergarbeiter, die früher der politischen Bewegung
mißtrauisch und feindselig gegenüberstanden, von der Notwendig-
keit der politischen Betätigung zu überzeugen und sie der Gesamt-
organisation als treue Mitkämpfer anzuschließen. Freilich hat dabei
die Rückständigkeit und die Unvernunft der österreichischen Be-
hörden wacker mitgeholfen. Die Schüsse von Falkenau und Ostrau
haben mit ihrem Donner das schlafende politische Bewußtsein der
Bergarbeiter geweckt, und die grausame Anwendung des Heimats-
gesetzes, auf Grund dessen jeder um die Verbesserung seiner Lage
Ringende, jeder Streikende als Vagabund behandelt und aller
Existenzbedingungen beraubt wird, erhält fortwährend in der
Gesamtarbeiterschaft das Bewußtsein der Notwendigkeit des Zu-
sammenschlusses zum Zwecke der Erkämpfung politischer Rechte
und wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit.
So hat die sozialdemokratische Bewegung in den abgelaufenen
drei Jahren dem Gedanken der Befreiung der Gesamtheit auf dem
Wege des proletarischen Klassenkampfes durch unermüdliche, zähe
und opfermutige Arbeit gedient. Sie war in ihrem schwierigen
Kampfe gegen die überlieferte österreichische Borniertheit, gegen
die Engherzigkeit der besitzenden Klasse und den Stumpfsinn der
öffentlichen Meinung erhoben von dem großartigen Gedanken der
internationalen Solidarität des Gesamtproletariats. Wiederholt hatte
sie Gelegenheit, diesem Gedanken Ausdruck zu verleihen. Sie er-
wartet auch von dem Londoner Kongreß eine neuerliche tatkräftige
Förderung der internationalen Beziehungen unter den Bruder-
parteien.
Hoch die internationale Sozialdemokratie!
192 Von Taafie bis Badcni.
Die Eröffnung des Parlaments und die
Reichsratswahlen.
Versammlung beim Dreher, 13. September 189 6*).
Über die Aufgaben des nächsten Parlaments zu sprechen, ist
schwer; denn das Parlament hat nur eine Aufgabe, das ist. zu ver-
schwinden. Ein Parlament, das selbst anerkennen mußte, allerdings
weil man von außen seiner Einsicht etwas nachhalf, daß es nicht
zu Recht bestehe, hat nach dieser Anerkennung nichts zu tun, als
abzutreten. Aber bei uns in Österreich gehen die Dinge nicht nach
Vernunft, sondern nach der Einsicht einer jeweiligen Regierung,
und an der Spitze dieser Regierung steht heute ein Minister, der
seine Kraft zieht nicht aus der eigenen Einsicht und politischen
Erkenntnis, sondern aus dem Unverständnis der Parteien, nicht
aus der eigenen Energie, sondern aus der Schwachköpfigkeit und
Schwachmütigkeit der Parteien. Darum wird dieses Parlament so
lange konserviert, weil es ein bequemeres Werkzeug für eine
Regierung gar nicht mehr gibt. Wir haben schon seit jeher die
Inhaltslosigkeit der Schlagworte aller großen Parteien erkannt.
WTir haben den Liberalen nie geglaubt, daß sie für Fortschritt und
Freiheit kämpfen, wir erwarten aber auch nicht von der „christ-
lichen" Partei, daß sie für jene Grundsätze des Christentums ein-
trete, die sie stets im Munde führt. Aber das Bürgertum hat auch
seine eigenen Interessen bei jeder Gelegenheit an die Adeligen,
an die Klerikalen verraten, bei jeder Gelegenheit der Regierung einen
Bückling gemacht. Österreich ist das einzige Land in Europa,
wo es keine bürgerliche Partei mehr gibt, die auch nur den immer
steigenden Anforderungen des Militarismus entgegenzutreten
wagte. Wenn ein paar Gendarmen bei einem Streik schießen
können, so ist das Gefühl der Beruhigung, das Gefühl der Dankbar-
keit bei unseren Ausbeutern so groß, daß sie schon deshalb das
ganze Armeebudget mit Vergnügen annehmen, um so mehr, als
sie ja bei der Lieferung der Kanonen, Flinten, Kleider. Stiefel, selbst
die besten Geschäfte machen. Es ist uns gelungen, ein Wahlgesetz
zu erzwingen, das aus diesem Parlament gewiß noch keine Volks-
vertretung macht, das aber doch die Aussicht bietet, daß etwas
Hefe, etwas Sauerteig hineinkommt, daß im Parlament ein Spiegel
aufgestellt werden wird, worin sich die Herren werden besehen
können. Und da sie fürchten, daß sie darin eine sehr schlechte Figur
machen werden, und da sie vermuten, daß einsichtige Leute bereits
vor den Wahlen das erkennen, darum fürchten sie sich vor diesen
Wahlen, und darum, wie in jeder Not, buhlen sie vor allem um die
Gunst der Regierung. Heute können wir in der ganzen liberalen
Presse ein Jammergeheul bemerken; sie haben nämlich entdeckt,
der Badeni ist ein Klerikaler. Redner bespricht nun das Kompromiß
*) Am 1. Oktober 1896 trat das Parlament wieder zusammen und des-
halb wurde in den Garten von Dreher auf der Landstraße eine Versamm-
lung einberufen, in der Adler sprach.
Die Eröffnung des Parlaments und die Reichsratswahlen. 193
in Oberösterreich*), das darin bestehe, daß die „liberalen" Groß-
grundbesitzer erklären mußten, klerikal ZU sein. Nun schreien die
Liberalen: „Das hat der Baden] zustande gebracht, und wir dachten,
er ist unser Freund?" Natürlich, dieses (iesindel, das in der Koa-
lition mit den Klerikalen zusammenging, um eine ehrliche Wahl-
reform zu verhindern, dieses Gesindel hat, wie da einer aus (ializien
kam mit dem Kufe des schlauen Staatsmannes, der verbindliche
Händedrücke nach allen Seiten wechselte, gedacht, Händedrücke,
das ist etwas Liberales; da hofften sie, er werde Rücksicht auf
sie nehmen. Er sucht sich seine Majorität, wo er sie findet, ihm
ist vollständig gleichgültig, wer ihm sein Budget apportiert usw.
und wenn er die alte, verläßliche schwarze Schar hat, ist ihm das
lieber als jede andere. Bei uns ist die Macht der Regierung bei
den Wahlen eine ungeheure, nicht nur in Qalizien machen die
Bezirkshauptleute die Wahlen, daher möchte sich keine Partei die
Gunst der Regierung verscherzen. Da existiert eine große, angeb-
lich oppositionelle bürgerliche Partei, eine Partei, die das ganze
christliche Volk mit gleicher Liebe umfängt. Erinnern wir uns, wie
vor einem Jahre, wie noch vor sechs Monaten die Haltung der
Lueger-Partei gegenüber der Regierung war, wie sie damals sich
auf die Verfolgte hinausspielte, wie man gegen Badeni das Klein-
bürgertum aufbot. Es ist noch kein halbes Jahr vergangen, und
die Leute kommen sehr gut aus mit Badeni. Badeni hat in Wien
sehr viel gelernt, vor allem, daß der Lueger ein besseres Werk-
zeug ist als die alten Liberalen. Redner bespricht nun den Bauern-
tag, der den Bauern die Macht der antisemitischen Partei und ihren
guten WrHen, ihnen zu helfen, zeigen und ihnen die Parole für die
Wahlen geben solle. Da kommt ihnen nun der Badeni, soweit er
kann, entgegen. Will der Badeni vielleicht auch, wie der Lueger,
der jüdischen Ausbeutung ein Ende machen? Das fällt dem Badeni
wirklich nicht ein. Aber er weiß, daß der Lueger der jüdischen und
christlichen oder sonst einer Ausbeutung auch nicht ein Haar
krümmen wird, und darum sein Entgegenkommen; er ist gescheit
genug, zu wissen, daß die Bauern da zusammengeführt werden, um
in Regimenter und Kompanien eingeteilt und unter klerikalen
Korporalen und Leutnants zu den Wahlen geführt zu werden. Für
die nächste Zeit sind die Bauern für diese Politik gewonnen, aber
*) Für die Landtagswahlen in Oberösterreich war durch Vermittlung
der Regierung zwischen liberalen und klerikalen Großgrundbesitzern eine
Wahlvereinbarung zustande gekommen, wonach von den zehn Mandaten
der Großgrundbesitzerkurie zwei den Liberalen zugestanden wurden, unter
der Bedingung, daß nur „gemäßigte Liberale" gewählt werden dürften. Da-
für verpflichteten sich die liberalen Großgrundbesitzer, auf den seit zehn
Jahren immer wiederholten Protest gegen das — vom Reichsgericht als
ungesetzlich erklärte — Wahlrecht der geistlichen Pfründenbesitzer zu ver-
zichten und die beiden zu wählenden Abgeordneten mußten sich ver-
pflichten, „die Autorität der katholischen Kirche jeder-
zeit zu wahren" und besonders in konfessionellen Fragen den Konser-
vativen nicht entgegenzutreten. Auch im niederösterreichischen Landtag
wurde dann in der Großgrundbesitzerkurie eine gemeinsame Liste gewählt.
Adicr, Briefe. X. Bd. 13
194 Von Taaffe bis Badeni.
die rapide wirtschaftliche Entwicklung wird sie dazu bringen, zu
erkennen, daß sie nur hintergangen wurden, und daß auf diesem
Wege keine Hilfe zu finden ist. Wäre beim Bauerntag eine Dis-
kussion möglich, dann würden wohl viele schon heute auf die
Gegensätze aufmerksam. Redner erörtert die Frage des Heimat-
rechtes und der landwirtschaftlichen Zwangsgenossenschaften. Die
Christlichsozialen und Klerikalen werden die Bauern und Klein-
gewerbetreibenden so lange hinter sich haben, solange diese im
Rausche sind; die Sozialdemokratie wird die Leute haben, wenn
sie zu Verstand kommen, wenn sie nüchtern geworden sind, wenn
sie erkannt haben werden, daß der heutige Bauerntag nur ein
Schwindel war, nichts als wirklicher Bauernfang. Während die
Christlichsozialen früher nur den Badeni bekämpften, haben sie
jetzt einen anderen Feind entdeckt: die Sozialdemokraten. Die
christlichsoziale Partei wird sich nach und nach die Sympathien
des ganzen Bürgertums erwerben. Das Geldsackjudentum ist heute
schon wesentlich beruhigt, und es wird eine Zeit kommen, wo die
Antiliberalen werden erkannt und gewürdigt werden als viel
bessere, als viel schneidigere Vertreter des internationalen be-
schnittenen und unbeschnittenen Geldsackes, als die alten Liberalen
es waren. Bei allen Lohnkämpfen der letzten Zeit, auch dort, wo
sich (wie in Reichenberg) nur arische Arbeiter und jüdische Aus-
beuter gegenüberstanden, standen sie auf seiten der Ausbeuter.
Lueger weiß, daß er seine Leute nur ohne Programm zusammen-
halten kann, es handelt sich ihm nur darum, das Volk nicht zur
Besinnung kommen zu lassen. Bei den nächsten Reichsratswahlen
handelt es sich uns nicht darum, die zünftlerischen Kleingewerbe-
treibenden und Kleinbauern herüberzubekommen, sondern darum,
daß die Arbeiterschaft selbst ihre Pflicht tut. Die Schwierigkeit der
Organisation der Arbeiterschaft ist groß, aber unsere Organisation
hat ihren Stützpunkt dort, wo das Kapital die Arbeiter organisiert
und in eine gemeinsame Tretmühle hineinsteckt, damit sie für sie
fronen. Die Arbeiter werden in geschlossenen Zügen von den
Fabriken zur Wahlurne gehen und dort zeigen, daß sie mit vollem
Bewußtsein eintreten für die einzige Partei, die für sie kämpft, für
die Sozialdemokratie. (Beifall.)
Die Sozialdemokratie und die Gemeinderatswahlen. 195
Der Kampf um das Gemeinde-
und Landtagswahlrecht.
Die Sozialdemokratie und die Gemeinde-
ratswahlen.
Versammlung beim Stalehner, 8. September
1895*).
Alle Tage hören wir von den wilden Kämpfen, welche die
„reifen" Bürger Wiens in ihren Wählerversammlungen ausfechten.
Der Kampf dreht sich um Dinge, die die Arbeiterschaft kalt lassen,
*) Ende Februar 1894 war der liberale Bürgermeister von Wien Doktor
Johann Prix, der nach der Vereinigung Wiens mit den Vororten am
23. Juli 1891 zum Bürgermeister von „Groß-Wien" gewählt worden war,
plötzlich gestorben. Er erlitt infolge der von L u e g e r gegen ihn erhobenen
Beschuldigungen und Andeutungen, als ob er eine Million Gulden defrau-
diert hätte — eine Beschuldigung, die sich darauf reduzierte, daß er eine
Million für einen anderen Zweck, als den im Budget bestimmten, ver-
wendet hatte — einen Schlaganfall. Unter seinem Nachfolger Dr. Raimund
G r ü b 1 vollzog sich der Niedergang der liberalen Herrschaft. Bei den
Ersatzwahlen Ende März 1895 hatten die Liberalen wieder eine Niederlage
erlitten, so daß ihre Mehrheit nur noch zehn Stimmen betrug. Überdies war
die Partei durch innere Streitigkeiten geschwächt, so daß bei der Wahl
des ersten Vizebürgermeisters am 14. Mai der Liberale Dr. Albrecht
Richter nur noch mit 70 gegen 66 Stimmen, die auf Dr. Karl L u e g e r
entfielen, gewählt wurde, obwohl der Bürgermeister Dr. G r ü b 1 und der
zweite Vizebürgermeister Josef Matze nauer mit dem Rücktritt ge-
droht hatten. Darauf lehnte Richter die Wahl ab und Lueger wurde mit
65 gegen 2 Stimmen, die auf Richter entfielen, und gegen 69 leere Stimm-
zettel gewählt. Lueger versprach in seiner Antrittsrede eine durch-
greifende Änderung des Gemeindewahlrechtes. Gleich nach der Wahl
legten Grübl und Matzenauer ihre Stellen zurück und am 29. Mai wurde
Lueger im dritten Wahlgang zum Bürgermeister gewählt. Er lehnte aber
ab. Darauf wurde der Gemeinderat aufgelöst, der Bezirkshaupt-
mann Dr. Hans v. Friebeis mit der Besorgung der Geschäfte betraut
und ihm ein Beirat von 15 Gemeinderäten beigegeben. Bei den Wahlen
im September eroberten die Christlichsozialen den ganzen dritten Wahl-
körper, den Wahlkörper der kleinen Steuerzahler, und durch die Hilfe der
Beamten den größten Teil des zweiten Wahlkörpers — des Wahlkörpers
der mittleren Steuerzahler und der Intelligenz, der Lehrer und Beamten»
13*
196 Der Kampf um das Gemeinde- und Landtagswahlrecht.
wenigstens solange sie nichts dreinzureden hat. Das ist aber heute
noch immer der Fall. Von 280.000 Männern Wiens im wahlfähigen
Alter ist kaum ein Drittel wahlberechtigt. Darum besteht auch die
verrottete Cliquenwirtschaft. Man streitet nicht darüber, wie die
großen kommunalen Arbeiten zu machen sind, sondern wer sie
machen, wer den Profit einsacken soll. Der Kampf um die Macht
im Gemeinderat von Wien stellt sich dar als ein Kampf zwischen
dem Kleinbürgertum und dem Großbürgertum. Die Lage des Klein-
bürgertums ist bei uns wie überall eine sehr prekäre. Der Klein-
gewerbetreibende ist zu gleicher Zeit Lohnarbeiter und Ausbeuter;
dem Druck, den er von oben zu erleiden hat, gesellt sich der Druck
zu, den ihm die organisierte Arbeiterschaft entgegensetzt, und ohne
Zweifel ist sein Schicksal der Untergang. Die Kleinbürger sind auch
heute gar nicht mehr fähig, einen ernstlichen wirtschaftlichen Kampf
zu führen, sie verstehen es nicht einmal mehr, sich der Kampfmittel,
die ihnen das Gesetz darbietet, zu bedienen. Mittels der Genossen-
schaften hätten sich beispielsweise die Arbeiter, wenn die Gesetz-
gebung sie für sie geschaffen hätte, eine riesige Organisation auf-
gebaut. In der Meisterversammlung sind die Gehilfenvertreter völlig
ohnmächtig, und die ganze Gehilfenschaft fungiert in den Genossen-
schaften als Staffage. Und dennoch haben die Meister mit diesem
ausgezeichneten Organisationsmittel, das ihnen die Gesetzgebung
lieferte, nichts anzufangen gewußt, während die Arbeiterschaft diese
eigentlich arbeiterfeindliche Institution auf das äußerste auszu-
nutzen verstanden hat. Die Meister* gehören eben einer Klasse an,
die nicht mehr zum Kampfe fähig ist. Sie sind aber, wenigstens bei
uns, auch unfähig, sich aufzuraffen und sich zu sagen: „Prole-
tarier sind wir morgen, darum wollen wir schon heute mit
den Proletariern gehen!" Aus dem Bestreben der Kleingewerbe-
treibenden, sich doch als Klasse zu erhalten, erklärt sich ihre Sym-
pathie für den Antisemitismus. Sie denken zu borniert, um die ganze
gegenwärtige Wirtschaftsordnung für ihren Niedergang verant-
wortlich zu machen, und deswegen helfen sie sich mit den Schlag-
wörtern des Antisemitismus. Der Jude erscheint ihnen als Personi-
während der erste Wahlkörper, der Wahlkörper der größten Steuerzahler,
noch im Besitz der Liberalen blieb. Bei diesen Wahlen wurden in allen
drei Wahlkörpern für die Antisemiten — die vereinigten Christlich-
sozialen und Deutschnationalen — 43.776, für die Liberalen 22.868 Stimmen
abgegeben. Während die Antisemiten die Versammlungen der Liberalen
sprengten, suchten die Liberalen ihre wirtschaftliche Macht auszunützen.
So hat ein von der „Arbeiter-Zeitung" enthülltes Zirkular des Dr. Richter,
der Obmann des deutschfortschrittlichen Zentralkomitees war, großes Auf-
sehen erregt, weil er darin die großen Firmen aufforderte, die von ihnen
abhängigen Kleinmeister und Lieferanten zur Wahl der Liberalen zu
zwingen. Über das Gemeindewahlrecht siehe Seite 40 f.
Um den Standpunkt der Arbeiter zu den Gemeindewahlen zu kenn-
zeichnen, wurde für den 8. September eine Versammlung zum Stalehner
-einberufen, in der Adler über das Thema „Die Sozialdemokratie
und die Gemeindewahlen" sprach.
Die Sozialdemokratie mul die Qemeinderatswahien. 197
fikatiotl ihres Unglücks, während wir genau wissen, dal.'», wenn alle
.luden auf einmal vom Schauplatz verschwänden, damit kein Stein
aus dem herrschenden Qesellschaftsgebäude gefallen wäre. Der
Redner schildert nun die Versumpfung und den Verfall der liberalen
Partei, die es heute nicht einmal mehr wagen darf,
unter ihrem Namen vor die Massen zu treten. Sie
sind womöglich noch bornierter als ihre deiner. Ihre ganze Weis-
heit liest in ihrem ewigen Geschimpfe auf die Antisemiten. „Die
Antisemiten sind dumm, roh, Verleumder", das ist ihr ewiges Ge-
fasel, mehr wissen sie von ihren Gegnern nicht zu erzählen. Der
Redner charakterisiert nun die sogenannte „fortschrittliche Ge-
werbepartei" und die Gruppe der Sozialpolitiker. Die „Gewerbe-
partei" bestehe aus Leuten, die der Antisemitismus schließlich an-
widert, die sich aber unter dem Namen Liberale ebensowenig
hinauswagen, wie Leute, die bloß Schwimmhosen anhaben, auf die
Gasse gehen würden. Den Sozialpolitikern, den Leuten aus ihren
Reihen, die Geist und Wissen besitzen, verweigert die Bourgeoisie
den Einfluß, um die Macht ihrer bornierten Größen nicht zu beein-
trächtigen. Es ist ein trauriges Zeichen des Niederganges der herr-
schenden Klassen, daß Leute, die, wie der bekannte Professor
Philippovich*), den Mut haben, das zu sagen, was sie wissen, sich
zurückziehen müssen, um das Feld den Richters zu räumen.
Unsere Stellung zu diesem Wahlkampfe ist bald gegeben. Uns kann
es gleichgültig sein, ob die Liberalen oder die Antisemiten als Sieger
daraus hervorgehen. Siegen die Antisemiten, so werden sie ebenso-
wenig wie irgendwer anderer imstande sein, die wirtschaftliche
Entwicklung zu hemmen. Aus erzieherischen Gründen
wäre es aber sogar sehr wünschenswert, daß Lueger Bürgermeister
wird. Der Redner schildert nun das Gemeindewahlsystem, das wo-
möglich noch verrotteter und ungerechter sei als die Reichsrats-
wrahlordnung. Auch in der Gemeinde sei die Arbeiterschaft von der
Gesetzgebung ausgeschlossen, obwohl auch die Gemeinde gerade
von den Steuerleistungen der „NichtSteuerzahler" lebe. Die Arbeiter
erhalten die Gemeinde mit den Zinskreuzern und den Steuerzu-
schlägen, und der Ruf nach dem allgemeinen Wahlrecht werde sich
daher in absehbarer Zeit auch in der Gemeindepolitik geltend
machen. Heute sei niemand da, der energisch für die Erweiterung
des Gemeindewahlrechtes eintrete. Die Antisemiten tun zwar sehr
demokratisch und erklären bei jeder Gelegenheit mit Pathos, daß
sie das allgemeine Wahlrecht für den Reichsrat fordern, allein wir
wissen, was wir davon zu halten haben. Sie würden am liebsten
lebenslänglich für das allgemeine Wahlrecht eintreten.
(Heiterkeit.)
Fragen wir nun, welche Stellung die Kommune der Arbeiter-
schaft gegenüber einnimmt. Als Unternehmerin beute sie den
) Dr. ringen v. Philippovich, Professor der Nationalökonomie an
der Wiener Universität, der später auch als „Soziaipolitiker" in den nieder-
österreichischen Landtag gewählt wurde.
198 Der Kampf um das Gemeinde- und Landtagswahlrecht.
Arbeiter aus wie andere Kapitalisten, sie lebe von seinen Steuer-
kreuzern und gewähre ihm nicht einmal das Heimatsrecht. Die
meisten Arbeiter seien Fremdlinge in der Stadt, die von ihnen
lebe. Es sei das sehr wichtig zu konstatieren in einer Zeit, wo man
der sozialdemokratischen Arbeiterschaft so laut und so heftig
„Vaterlandslosigkeit" vorwirft. Die heutige Gesellschaft bietet dei
Arbeiterschaft kein Vaterland und bringt sie in die Lage, es sich
erst erkämpfen zu müssen. Aber wir werden es uns auch zu er-
kämpfen wissen. Kaiser Wilhelm hat uns in seinem Zorn eine Rotte*)
von Menschen genannt. Wir akzeptieren diese Bezeichnung, trotz
des feindseligen Beigeschmacks, den ihr unser gekrönter Gegner
gegeben hat. Ja, wir sind eine Rotte, wir werden uns zusammen-
rotten, um wegzufegen diejenigen, die heute im Alleinbesitz des
Vaterlandes sind, um d e n Anteil am Vaterland zu gewinnen, der
uns gebührt. Wir führen heute den Kampf um das allgemeine Wahl-
recht. Er ist zu wichtig, als daß wir uns durch den Kampf um den
Gemeinderat in Wien davon ablenken lassen sollten. Es wird die
Zeit kommen, wo wir mit einem selbständigen Kommunalprogramm
hervortreten werden. Heute läßt uns dieser Kampf kalt, und wir
können es nur mißbilligen, wenn sich Leute wie Genosse Bar-
d o r f**) von einer oder der anderen Partei als „Würzen" mißbrauchen
lassen. In unserem Kampfe um das Wahlrecht ist jetzt mit Rück-
sicht auf die Folge der Ereignisse eine notwendige Pause ein-
getreten, aber in kurzer Zeit werden wir wieder auf dem Platze sein
müssen. Wir werden den Badeni ebensowenig fürchten und mög-
licherweise ebenso schroff zu bekämpfen haben wie den Windisch-
grätz. (Rufe: Pfui Windischgrätz!) Genossen, lassen Sie die Toten
ruhen***), sparen Sie Ihre Pfuirufe, Sie werden sie vielleicht noch
brauchen. Am nächsten Sonntag schon wrerden wir auf der Feuer-
werkswieset) Gelegenheit haben, dem „kommenden Mann" die
nötigen Winke zu geben, und er mag im voraus überzeugt sein, daß
die Arbeiterschaft entschlossen ist, unentwegt für die Forderung
des allgemeinen Wahlrechtes weiterzukämpfen.
-;•:•
*) Am 2. September 1895 hatte Kaiser Wilhelm die Sozialdemokraten
eine Rotte von Menschen genannt, nicht wert, den Namen
Deutscher zu trage n.
**) Josef B a r d o r f, seinerzeit ein Führer der „Gemäßigten", hat sich
von den Liberalen eine Stelle in der Arbeitsvermittlung der Gemeinde
geben lassen und sich eingeredet, daß das eine sozialpolitische Tat der
Liberalen sei. Deshalb ist er in den Kämpfen zwischen Christlichsozialen
und Liberalen für die Liberalen eingetreten, die sich übrigens „fortschritt-
lich" nannten.
***) Das Koalitionsministerium Windischgrätz hat am 29. September
Badeni Platz gemacht.
t) Die Versammlung vom 15. September mußte wegen des schlechten
Wetters verschoben werden; sie fand dann am 22. September statt. (Siehe
Adlers Reden „Die starke Faust B a d e n i s" und „Begrüßung
Badeni s", Seite 154 f.)
Weder Lueger noch Badeni. i'''»
Weder Lueger noch Badeni.
V e r s a m m 1 u n g h e i der „B r e t z e n", 26. D e z e m i> e r
l 895*).
Es hat, wie wir wissen, Verwunderung erregt, daß die Sozial-
demokraten plötzlich mit Versammlungen hervortreten, wo von
Gemeinderatswahlen gesprochen werde. Es ist aber eigentlich
*) Am 29. Oktober 1895 wurde Lueger mit 93 von 137 Stimmen zum
Bürgermeister gewählt. Aber Graf Badeni, der am 29. September die
Regierung gebildet hatte, verweigerte die Bestätigung, solange er das
Reichsratsmandat habe. Am 13, November wurde aber Lueger neuerlich
zum Bürgermeister gewählt und darauf der Gemeinderat wieder auf-
gelöst. Die Christlichsozialen zogen demonstrierend in den Burghof.
Ihre kaisertreue Gesinnung hinderte sie nicht, gegen den Kaiser zu demon-
strieren, um ihn zum Nachgeben zu zwingen.
Im Februar 1896 fanden neuerlich Gemeindewahlen statt, und am
18. April wurde Lueger mit 96 Stimmen zum drittenmal zum
Bürgermeister gewählt. Am 27. April wurde er vom Kaiser in
Audienz empfangen, worauf er „vorläufig" auf sein Bürgermeisteramt ver-
zichtete. Nun wurde am 6. Mai 1896 Josef S t r o b a c h als sein Platz-
halter zum Bürgermeister und am 22. Mai Dr. Lueger zum ersten und
Dr. Neumayer — ein sogenannter Deutschnationaler, der sich aber
schon damals und erst recht später in nichts von den Christlichsozialen
unterschied; er wurde nach Luegers Tod bekanntlich selbst Bürger-
meister, mußte aber schließlich Weiskirchner Platz machen — zum
zweiten Vizebürgermeister gewählt. Am 11. März 1897, nach den ersten
Wahlen der fünften Kurie, trat Strobach zurück und am 8. April wurde
Lueger zum Bürgermeister gewählt und rasch bestätigt.
Bei den Wahlen vom Februar 1896 griff gleich nach der Auflösung des
Gemeinderates die Sozialdemokratie ein, um gegen das Wahlunrecht, das
die Arbeiter ausschloß, zu protestieren und beide Parteien anzuklagen.
Für den 26. Dezember 1895 wurden elf Volksversammlungen einberufen
mit der Tagesordnung „Die Gemeinderatswahlen und die Sozialdemo-
kratie". In einer Resolution, die in diesen Versammlungen beschlossen
wurde, hieß es unter anderem:
Angesichts der neuerlich bevorstehenden Gemeinderatswahlen
protestiert die Arbeiterschaft von Wien dagegen, daß mehr als zwei
Drittel der Bevölkerung rechtlos sind in der Gemeinde, wie sie es
im Staate sind. Der zu wählende Gemeinderat kann nichts anderes
sein als die Vertretung einer privilegierten Minorität und wird wie
bisher die Gemeindeverwaltung ausschließlich im Interesse der Be-
sitzenden führen. Die Wiener Arbeiterschaft hat mit Genugtuung die
endgültige und unwiderrufliche Beseitigung des liberalen Gemeinde-
regiments, der Willkürherrschaft einer kleinen Clique gesehen, aber
sie protestiert mit Entschiedenheit dagegen, daß die größere anti-
semitische Clique, die nun definitiv ans Ruder gelangt ist, sich als
„Volk von Wien" aufspielt, wozu ihr jede Berechtigung mangelt. Das
wirkliche Volk von Wien, die Ausgebeuteten aller Art und jeden
Grades, wird die kommenden Gemeinderatswahlen dazu ausnützen, um
laut und deutlich sein Recht zu verlangen. Die Arbeiter wollen in der
Gemeinde, deren Lasten sie zu tragen haben und deren Größe ihr
Werk ist, als heimatsberechtigte Vollbürger den ihnen gebührenden
Anteil an der Verwaltung durch Beseitigung der Wahlkörper und Ge-
200 Der Kampf um das Gemeinde- und Landtagswahlrecht.
verwunderlich, daß sie nicht schon lange in einen Gemeinderats-
wahlkampf eingetreten sind. Man hat geglaubt, daß es für Wien
und Österreich keine wichtigere Frage gebe, als ob Dr. Lueger
Bürgermeister werde oder nicht; es ist so weit gekommen, daß
man in letzter Zeit allen Ernstes davon gesprochen hat, hinter
Lueger und seinen Leuten stehe das ganze christliche Volk. Es
wäre an der Zeit, daß das wirkliche Volk von Wien sich wehre
und sage : „Ihr, die ihr das Volk gespielt, ihr seid
nicht das Volk, ihr seid eine kleine Minorität, ihr
habt ebensowenig das Recht, im Namen des
Volkes zu sprechen, wie die Liberalen, die ihr aus
der Ratsstube verdrängt hab t." (Beifall.) Die Sozial-
demokraten haben sich nicht in die Qemeinderatswahlen ein-
gemischt, weil der Kampf zwischen Liberalen und Antisemiten
noch nicht entschieden war. Die Sozialdemokraten wünschten
einen Sieg der Antisemiten, damit diese öffentlich be-
weisen, wie es mit ihren Versprechungen in der Praxis aussehe.
Allein Graf Badeni habe einen Strich durch die Rechnung gemacht,
eine Torheit und ein Unrecht begangen, Dr. Lueger die Bestäti-
gung versagt, welcher nunmehr als Märtyrer aufzutreten in der
Lage sei. Graf Badeni mußte wissen, daß diese Partei am Ruder
nichts zu leisten weiß und hat ihr Gelegenheit gegeben, Lärm zu
machen und eine Agitation zu entfalten mit dem Motto: „Gegen
Badeni, welcher dem vom Volke gewählten Bürgermeister die
Bestätigung verweigert hat." In ihrem Übermut haben die Anti-
semiten sich als Vertreter des Volkes von Wien aufgespielt, und
da war für die Sozialdemokraten der Moment gekommen, in den
Wahlkampf einzugreifen und zu beweisen, daß hinter den Anti-
semiten nur ein kleiner Bruchteil des Volkes marschiere. Man
wird uns von den Antisemiten verübeln, daß wir in den Wahl-
kampf eintreten; aber ob wir in den Wahlkampf eintreten oder
nicht, verkauft an die Juden sind wir immer. (Heiterkeit.) Man
wird uns einwenden : „ W arum seid ihr im August nicht
in den Wahlkampf eingetreten, und warum erst
jetzt?" Im August in den Wahlkampf einzutreten, wäre nicht
klug gewesen, weil es sich um eine Machtfrage zwischen Anti-
semiten und Liberalen handelte. Heute steht die Sache anders, die
Währung des Wahlrechtes für jeden in Wien wohnenden Inländer . . .
(Dann wurden die Forderungen an die Gemeinde angeführt und zum
Schluß gesagt:) Angesichts der Nichtbestätigung eines vom Gemeinde-
rat gewählten Bürgermeisters fordern wir vor allem: Erweiterung der
Gemeindeautonomie nach der Richtung, daß alle gesetzlichen Bestim-
mungen aufgehoben werden, die die Gültigkeit der Wahl der Gemeinde-
funktionäre einschränken und von der kaiserlichen Bestätigung und
dem Wohlwollen der Regierung abhängig machen. Die Arbeiterschaft
Wiens protestiert energisch gegen die Verschleppung der Wahlreform
und wird auch anläßlich der Gemeinderatswahlen- ihre Forderung
nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht erheben, nach
der Beseitigung jedes Wahlunrechts in Reich, Land und Gemeinde.
Bei der „Bretzen" sprach Dr. Adler. (Siehe Seite 40 f.)
Weder Lueser noch Badeni. 201
Antisemiten haben die Herrschaft definitiv, die Majorität ist für
die Liberalen vollständig ausgeschlossen, jetzt ist das eine Kapitel
ans, es kommt ein anderes. Die Sozialdemokraten werden den
Schlagworten der Antisemiten ein Programm entgegenstellen.
Jetzt müssen wir den Leuten sagen, was das Volk will. Wir wer-
den Antisemiten und Liberale zwingen, Farbe zu bekennen, und
deshalb hat die Partei beschlossen, sich am Wahlkampf zu beteili-
gen. Wenn die Antisemiten eine Volkspartei sind, müssen sie die
Wahlkörper abschaffen und das allgemeine Wahlrecht für den
Gemeinderat einführen. Wir glauben, daß der Schuhtnachergehilfe
heute geradeso reif ist wie sein Meister. Das Interesse für die Be-
seitigung des Wuchers ist bei beiden gleich. In den Provinzen
sitzen schon zahlreiche Parteigenossen in den Gemeindevertretun-
gen, auch wir in Wien müssen uns einsetzen, daß Hechte in den
Karpfenteich gelangen. Dr. Lueger hat sich oft als Demokrat de-
klariert, aber nie klar. Wir glauben auch, daß er für die Aufhebung
der Wahlkörper sein würde. Aber ob er dafür ist, daß jeder
24jährige Staatsbürger mit gleichem Rechte wählt, ist eine andere
Frage. Wir zweifeln, daß er für das allgemeine und gleiche Wahl-
recht sein wird. Liberale und Antiliberale proklamieren stets: Wir
Wiener! Und doch sind zwei Drittel der Bevölkerung W^iens
Fremde und werden als solche behandelt. Die bisherigen liberalen
Gemeindevertreter haben die Frechheit gehabt, gegen eine Reform
des Heimatsrechtes*) Stellung zu nehmen. Und doch ist diese Reform
für die Arbeiter höchst wichtig. Sie wissen ja, wie man die Arbeiter,
nachdem man sie ausgenützt, in ihre Heimatsgemeinden abschiebt,
wo sie ihr Armenrecht haben, das Recht zum Betteln. Wie hat sich
die Gemeindevertretung in anderen die Interessen der Arbeiter
berührenden Angelegenheiten verhalten? Sie wissen, daß der
Magistrat richterliche Funktionen in Gewerbeangelegenheiten aus-
übt. Haben Sie gefunden, daß der Magistrat unparteiisch war?
(Stürmisches Nein!) Der Magistrat hat als Gewerbebehörde erster
Instanz die Übelstände in den Werkstätten zu beseitigen, hat die
A>rbeiterschutzgesetze zur Durchführung zu bringen. Haben Sie
gehört, daß er seine Pflicht und Schuldigkeit getan hat? (Allge-
meines Nein!) Wir verlangen, daß die Gemeinde eine kommu-
nale Ge Werbeinspektion errichtet. Auch die Lösung der
Lebensmittelversorgungsfrage ist brennend für die Arbeiter. Ihrer
Lösung stehen zwei Faktoren entgegen. Nämlich erstens die großen
Fleisch- und Mehlwucherer, die Grundbesitzer und Mühlenbesitzer,
und zweitens die kleinen Wucherer: die Fleischer und Bäcker.
) Im Jahre 1894 hatte die Regierung eine Vorlage eingebracht, die
das Heimatsgesetz vom Jahre 1863 abänderte, indem sie jedem nach
zehnjährigem Aufenthalt in der Gemeinde das Recht gab, die Zuständig-
keit zu verlangen. Als das Gesetz endlich im Jahre 1896 beschlossen
wurde, geschah es nicht nur gegen den Widerstand der Liberalen,
sondern auch der Christlichsozialen, wenn auch diese den eigentlichen
Kampf mehr den Liberalen überließen und sich mit der Abstimmung für
den Schubwagen beifügten. Das (iesetz ist erst 1S99 in Kraft getreten.
202 Der Kampf um das Gemeinde- und Landtagswahlrecht.
Zwischen diese Lebensmittelproduzenten und die Konsumenten
schieben sich als dritte Ausbeutergruppe, als Parasiten, die
Zwischenhändler ein. Alle drei Gruppen haben ein Interesse daran,
daß die Arbeiter keine billigen und guten Lebensmittel bekom-
men. Alle diese Ausbeuter sind Wähler in der Gemeinde, die Ar-
beiter sind es nicht. Die Kommune hat das Recht, den Preis des
Brotes und Fleisches zu bestimmen, wagt es aber mit Rücksicht
auf ihre jetzigen Verhältnisse nicht zu tun. Die Kommune hat Ge-
meindeschlachthäuser und Gemeindebäckereien zu errichten und
Brot und Fleisch mit Umgehung der Zwischenhändler zu liefern.
Da würden aber die Meister Schaden haben! Heute hat die ganze
Wiener Bevölkerung den Schaden. Und wie könnte die Kommune
die Mittel für diese Institutionen aufbringen? Die Gemeinde läßt
reiche Ausbeutergesellschaften, wie die Gas-, die Tramway- und
die Transportgesellschaft, sich die Säcke füllen. Wer zahlt die Haus-
zinssteuer und die Zuschläge? Der Hausbesitzer nicht. Es ist die
Masse des arbeitenden Volkes. Auch da treibt man Wucher. Wir
sind für eine progressive Einkommen- und Vermögenssteuer. Auch
als Arbeitgeber ist die Kommune heute schäbig, und doch sollte
sie mit gutem Beispiel vorangehen. Wir wünschen auch, daß die
Kommune gemeinsam mit den Gewerkschaften die Arbeits-
vermittlung besorgt. Nachdem Genosse Dr. Adler noch
die mangelhafte Sanitäts- und Wohnungspolizei der bisherigen
Gemeindevertretung besprochen, erwähnt er die Nichtbestätigung
Dr. Luegers, die er als eine Verletzung der Autonomie
bezeichnet. Was haben die Antisemiten dagegen getan? Sie haben
einigen Lärm gemacht, aber sonst nichts. Die Antisemiten müßten,
wenn sie Demokraten wären, jetzt sagen: Weg mit dem § 25
des Gemeindestatuts*)! Die Sozialdemokraten werden dafür
sorgen, ihr kommunales Programm zur Diskussion zu bringen.
(Lebhafter Beifall.)
Die Rechtlosigkeit in der Gemeinde.
Versammlung im Katharinensaal, 2 0. Jänner
1896**).
Wir müssen in dem Moment, wo die Erteilung des Wahlrechtes
im Reiche nur verschleppt, aber nicht mehr bezweifelt werde,
auch die Verhältnisse der Gemeinde zu beeinflussen suchen. Der
Redner erörtert das Wahlrecht für den Gemeinderat und bezeichnet
die antisemitische Bewegung als die Emanzipation der kleinen
Leute und ihren Versuch, sich auf die eigenen Füße zu stellen.
-r) Dieser Paragraph bestimmte, daß der Bürgermeister von Wien der
Genehmigung des Kaisers bedürfe.
'*) Mit sechzehn Volksversammlungen trat am 20. Jänner 1896 die
Wiener Arbeiterschaft in die Gemeinderatswahlen ein. Die Tagesordnung
lautete: „Unsere Rechtlosigkeit in der Gemeinde." Im
Katharinensaal im ersten Bezirk sprach Dr. Adler.
i
I )ie ( iemeinderatswahlen. ~()-*
Nur wissen sie nielit, wie sie es anzupacken haben. Die anti-
semitische Qemeinderatsmajorität bedeutet die Herrschaft der
Majorität der Wähler, und diese wollen wir fragen, ob sie auch
wünschen, daß der Wille der wirklichen Majorität des Volkes
zur Geltung gelange. Wir stellen diese Frage durch unsere Beteili-
gung am Wahlkampf erst jetzt, weil die Macht der Liberalen
gebrochen ist, und weil wir uns in den Streit der Liberalen mit
den Antisemiten nicht einmischen wollten. Bei der notwendigen
Regelung des Heimatsrechtes wird es sich zeigen, was die Anti-
semiten unter den Interessen des Volkes verstehen. Wie bisher
werden in der Gemeinde die Hausagrarier das Heft in Händen
behalten, wie im Parlament die Großgrundbesitzer. Die Wahlaktion
wird sicher den Erfolg haben, daß man sich mit der liberalen Phrase
von „Freiheit und Fortschritt" und der antisemitischen Phrase vorn
..christlichen Volk" nicht wird fortfretten können. (Lebhafter Beifall.)
Die Gemeinderatswahlen.
Versammlung im Hotel „Union", 4. Februar 18 96*).
Dr. Adler als Referent verwies darauf, daß die Genossen in
der Provinz schon früher sich an Gemeinderatswahlen beteiligten.
Daß dies in Wien bisher nicht geschehen sei, habe darin seinen
Grund, daß wir um das Reichsratswahlrecht kämpften. Nun soll
aber auf sechs Jahre gewählt werden, und wir wollen nicht so
lange warten, bis wir das politische Wahlrecht erlangt haben, um
dann erst das Gemeindewahlrecht anzustreben. Ferner wollten wir
die Antisemiten in der Bekämpfung der Liberalen nicht hemmen.
Jetzt aber, da die Antiliberalen die Sieger sind, präsentieren wir
unser Programm. Es gibt viele Wähler, welche wissen, daß die
Antisemiten nur schreien, daß aber das Programm der Sozial-
demokraten das Richtige enthält. Wir rechnen indes nicht darauf,
daß es so viele sind, daß wir ein Mandat erringen werden. Unser
Programm entspricht den tatsächlichen Verhältnissen; Kom-
promisse enthält es nicht. Alles, was unmittelbar auf den
Menschen einwirkt, geht durch die Hand der Gemeinde; sie hat
für die Gesundheit der Einwohner zu sorgen. Es genügt voll-
kommen, daß das, was die Gesundheitswissenschaft verlangt, ge-
schieht. Jetzt sieht man bei uns nur dann auf Reinlichkeit, wenn
Epidemien drohen. Wir verlangen, daß ein gesundes Wohnen
möglich werde, daß nur Häuser mit gesunden Wohnungen gebaut
werden und daß eine Übervölkerung derselben verhindert werde.
*) Siehe die Bemerkungen zu der Rede Adlers bei den Gemeinderats-
wahlen in der Versammlung bei der „Bretzen" am 26. Dezember 1895.
Am 4. Februar fanden eine Reihe von Versammlungen statt. Im Hotel
.,Union" auf dem Aisergrund sprach Dr. Adler.
Eine Rede, die Adler am 3. Februar 1896 über das kommunale Pro-
gramm der Sozialdemokratie gehalten hat, ist im dritten Heft dieser
Schriften unter dem Titel „Über kommunale G e s u n d h e i t s-
pflege" abgedruckt. (J3d. III, Seite 77.)
204 Der Kampf um das Gemeinde- und Landtagswahlrecht.
Die schwerste Verzehrungssteuer ist nicht die auf Fleisch und
Wein, sondern die auf Luft, die wir einatmen. Wenn wir in Wien
eine nennenswerte Grundsteuer hätten, die gezahlt werden muß,
ob der Grund verbaut ist oder nicht, so würden viele Häuser
gebaut werden, während jetzt die Bauplätze Gegenstand der Spe-
kulation sind. Die Gemeinde wäre in der Lage, auf den ihr
gehörenden Grundstücken Wohnungen zu bauen, statt sie an
Private zu verkaufen, die mit denselben glänzende Geschäfte
machen. Wenn die Gemeinde heute überfüllte Wohnungen antrifft,
delogiert und schubiert sie die Bewohner. In das städtische Werk-
haus werden nur Zuständige aufgenommen. In den Arbeiter-
bezirken sterben von den Kindern bis zu einem Jahre dreimal
soviel wie in den reichen, die überlebenden werden die „hun-
gernden Schulkinder". Es ist eine Schande, daß in einer so reichen
Stadt viele Kinder auf eine Bettelsuppe angewiesen sind. (Stür-
mischer Beifall.) Die Stadt hat die P f 1 i c h t, die Schulkinder zu
verköstigen; in Frankreich geschieht dies jetzt schon in denjenigen
Städten, wo die Sozialisten die Majorität haben. Der Referent
spricht seine Verwunderung darüber aus, daß Dr. Lueger für das
Wahlrecht von dreißig Jahren an eintrete. Der Arbeiter altert mit
dreißig Jahren bereits, und wie wenige werden wirklich alt! Nur
wenn die Arbeiter in den Gemeihderat kommen werden, wird
auch ihr Programm verwirklicht werden. Jetzt ist es aber die
Elle, nach der die Kandidaten der Gegner gemessen werden. (Leb-
hafter Beifall.)
Kandidat im privilegierten Wahlkörper.
Deutschfortschrittliche Versammlung,
2 4. Februar 18 96*).
Dr. Adler erklärt, er wolle sich hier als Kandidat vorstellen,
obwohl er bei den Anwesenden kaum Aussicht habe, Stimmen zu
erhalten. Er sei auch verpflichtet, zu antworten auf die vielen
*) Am 13. November 1895 war der Wiener Gemeinderat aufgelöst
worden und die Wahlen fanden im Februar und März 1896 statt. Nun
errangen die Christlichsozialen einen noch größeren Sieg als im Sep-
tember. Am 20. Februar wählte der dritte Wahlkörper und die Anti-
semiten gewannen 3000, die Liberalen verloren 2000 Stimmen; die Sozial-
demokraten, die ebenfalls mit einem eigenen Kommunalprogramm in den
Kampf gezogen waren, erhielten 1100 Stimmen. Am 2. März wählte der
zweite, am 5. März der erste Wahlkörper; im zweiten Wahlkörper er-
hielten die Antisemiten 32 gegen 14 liberale Mandate, im ersten die
Liberalen 28 gegen 18 antisemitische Mandate. Die Antisemiten gewannen
im ersten Wahlkörper vier Mandate. Am 18. April wurde Lueger wieder
zum Bürgermeister gewählt.
Für den 24. Februar hatte nun das deutschfortschrittliche Wahlkomitee
der Innern Stadt eine Wählerversammlung des ersten und zweiten Wahl-
körpers einberufen und die Kandidaten beschäftigten sich vornehmlich mit
dem sozialdemokratischen Kommunalprogramm. Dann begründete Doktor
Heinrich F r i e d j u n g, warum er auf eine Wiederwahl verzichte. Er habe
Kandidat Im privilegierten Wahlkörper. 205
Äußerungen über das kommunale Programm der Sozialdemokratie.
Er wäre eigentlich der Mühe weiterer Ausführungen Überhoben
durch die Ausführungen des Dr. Fried jung, der mit seiner
„sozialpolitischen Vereinigung" einen Teil unserer Programmpunkte,
allerdings in wesentlich abgeschwächter Weise, im Qemeinderal
vertreten wollte, aber — und das war sein Fehler — mit der
liberalen Partei, während jeder Fortschritt nur zu erzielen ist im
Kampfe gegen die liberale Partei. Die Sozialdemokratie vertritt
die Interessen der Besitzlosen, im klaren Bewußtsein, daß die Klasse
der Besitzenden, deren Ausdruck die bürgerlichen Parteien sind,
dem sozialpolitischen Fortschritt Widerstand leisten werde. Die
Liberalen haben unser Programm sehr gelobt, aber zugleich erklärt,
mit seinen politischen Forderungen seien sie nicht einverstanden
und seine sozialen Forderungen seien undurchführbar. Wenn man
behauptet, es sei kein Geld da, um hungernden Kindern zu essen zu
geben, so sei das einfach eine Bankrotterklärung. (Wähler Heit*):
Es gibt keine hungernden Kinder in Wien.) Doktor
Adler fortsetzend : Das sagen Sie, obgleich Sie wissen,
daß gerade Kinder von Leuten, die von Ihnen ab-
hängig sind, hungern müssen. (Wähler Heit: Ich weiß
mehr über das Elend in Wien wie Sie.) Dr. Adler: Dann fällt
auch die letzte Entschuldigung für Sie weg, die
Ihnen noch Ihre eventuelle Unkenntnis geboten hätte. (Langanhalten-
der Lärm, Schlußrufe.) Mich stören Sie damit gar nicht, ich werde
genau so lange sprechen, als ich es für notwendig halte. — Redner
setzt nun auseinander, daß die besitzlosen Klassen weder von den
Liberalen noch von den Antisemiten etwas erwarten. (Rufe: Aber
den Antisemiten helfen Sie.) Dr. Adler: Denen hat nur Ihre
Unfähigkeit geholfen... Wir wünschen, daß die Anti-
als wichtigsten Punkt eines sozialpolitischen Kommunalprogramms ver-
langt, daß sich die Gemeinde an der Erbauung billiger Arbeiter-
wohnungen beteilige und das sei trotz dem Wohnungselend nicht
durchzusetzen. Dr. Friedjung, der bekannte Geschichtsschreiber, der nach-
mals so schwarzgelb offiziös wurde, war damals noch Sozialpolitiker.
— Dann sprach Adler.
*) Ein großer liberaler Geschäftsmann im Großhandelsviertel der
Inneren Stadt.
Der Zwischenruf dieses Wählers mußte um so sonderbarer wirken,
als gerade damals der „Zentralverein zur Beköstigung armer Schul-
kinder" eine Mitteilung veröffentlicht hatte, daß er im Schuljahr 1893/94
wohl 5292 Schulkinder gespeist hatte, daß aber Anmeldungen von 12.404
Kindern vorgelegen hatten, so daß er also mehr als 7000 hungernde
Schulkinder abgewiesen hatte. Die Forderung des sozialdemo-
kratischen Kommunalprogramms nach Schulausspeisung hatte bei den
Bürgerlichen allgemeine Entrüstung hervorgerufen und im Gemeinderat
hatte bereits am 11. Jänner 1895 der liberale Gemeinderat Boschan
dagegen mit dem Argument polemisiert, daß „nicht bloß die Schulkinder
hungrig seien, sondern auch die anderen Leute, so daß der Gemeinderat
die ganze Bevölkerung ernähren müßte". Bis zum Umsturz war die
öffentliche unentgeltliche Ausspeisung von Schulkindern von den Bürger-
lichen als Utopie hingestellt worden.
206 Der Kampf um das Gemeinde- und Landtagswahlrecht.
semiten in den Sattel kommen, damit sie bald dort anlangen, wo
Sie heute schon stehen, bei der definitiven Blamage. Sie haben gar
kein Recht, sich über die Kampfmethode der Gegner zu beschweren,
Sie, eine Partei, die mit „Zirkularen*)" arbeitet. (Furchtbares Ge-
schrei: Frechheit! Schluß! Hinaus!) Aber regen Sie sich nicht so
auf, ich bin bald zu Ende. Der Redner schließt nun mit folgenden
Worten: Fürchten Sie nichts, falls Sie es erleben sollten, daß Leute
aus Ihren Kreisen für uns stimmen. Sie tun es nur, weil sie die
liberale und antisemitische Partei gleichmäßig anwidert, und nur
so lange, als unsere einschneidenden wirtschaftlichen Forderungen
noch entfernt und nicht aktuell sind. Im Augenblick, wo es sich
darum handeln wird, den Interessenkampf zwischen Besitzenden
und Besitzlosen ernsthaft auszufechten, werden alle Mitglieder Ihrer
Klasse wissen, daß der aufrichtige und bleibende Anwalt des Geld-
sackes doch nur die Liberalen sind.
*
Ich muß es als eine Beleidigung zurückweisen, daß Herr Doktor
Richter**) sich erlaubt hat, seine Kampfesweise mit Zirkularen mit
den Lohnkämpfen der Arbeiter auch nur zu vergleichen. Wenn
Arbeiter und Unternehmer, um wirtschaftliche Vorteile zu erringen,
wirtschaftliche Pressionen anwenden, so ist das etwas an-
deres, als wenn das wirtschaftliche Übergewicht
mißbraucht wird, um abhängige Leute zur Ver-
leugnung ihrer politischen Überzeugung zu zwin-
gen. Empfinden Sie nicht den Unterschied? (Stürmische Rufe:
Nein! Nein! Nein! Das ist genau dasselbe!) — Doktor
Adler: Dann stehen Sie auf einem unglaublich
niedrigen sittlichen Niveau, meine Herren, und sind
somit gerichtet.
Die Landtagswahlreform der Christlich-
sozialen.
Versammlung beim „Heu rix", 2. März 1899***).
Die Wichtigkeit des Landtagswahlrechtes ist für die Arbeiter
nicht so sinnfällig wie etwa die des Reichsrats- und Gemeinde-
wahlrechtes. Aber das Landtagswahlrecht ist durchaus nicht eine
*) Von den Richterschen „Zirkularen", worin die großen Firmen auf-
gefordert wurden, die von ihnen abhängigen Kleinmeister zur Wahl der
Liberalen zu zwingen, ist oben bei der Versammlung vom 8. September
1895 die Rede.
**) Nach Adler hatte Dr. Richter gesprochen und seine „Zirkulare" mit
dem „Terrorismus" der Arbeiter zu vergleichen versucht. Mit Mühe
konnte dann Dr. Adler das Wort zu einer Berichtigung erhalten.
***) Am 25. Februar 1899 hatte der christlichsoziale Landesausschuß
Monsignore Dr. Scheicher dem Landtag den Entwurf einer Landtags-
wahlreform vorgelegt, der entgegen den Versprechungen der Christlich-
Die Landtagswahlreform der Christlichsozialen. 207
SO gleichgültige Sache, wie sie gewöhnlich von uns allen emp-
funden wird. Es ist für uns schon deshalb wichtig, weil der
Schwerpunkt der S chu 1 ve rwa 1 1 ung in den Landtagen lic^t
respektive in den von ihnen gewählten Landesausschüsscii. Heute
herrscht in Niederösterreich eine Verwaltung, die geradezu
gemeingefährlich ist, weil sie uns gerade an den empfindlichsten
Punkten trifft, an dem Punkte, der hier wichtiger ist als die
Gegenwart, das ist die Zukunft, wichtiger als wir selbst, das sind
unsere Kinder. (Beifall.) Aber außer der Schule liegt auch das
Armen- und das S a n i t ä t s w e s e n in den Händen des Land-
tages und des Landesausschusses. Die gegenwärtige Rechtlosigkeit
der breiten Massen des Volkes war nicht mehr festzuhalten. Das
Problem, das den Christlichsozialen gestellt war, war nun, einer-
seits den Schein zu erwecken, als ob sie das Unrecht beseitigen
wollten, und andererseits das Recht doch nicht zur Geltung
kommen zu lassen. Man muß gestehen, daß die Herren diese Auf-
gabe glänzend gelöst haben. Sie haben den Arbeitern einen
Brocken Rechtes in Aussicht gestellt, aber gleichzeitig in die Vor-
lage eine Reihe von Bestimmungen aufgenommen, von denen sie
wissen, daß sie die Liberalen nicht annehmen werden, so daß
daran die ganze Vorlage scheitern muß. Als Taaffe seinen Wahl-
reformantrag einbrachte, da haben die Christlichsozialen dafür
sehr geschwärmt, allerdings vielleicht nur deshalb, weil sie
wußten, daß er nicht angenommen werden würde, aber sie haben
damals die Liberalen und die Klerikalen auf das schärfste ange-
griffen, weil sie diese Wahlreform bekämpften. Heute, wo sie
selbst eine Wahlreform machen sollen, haben sie sich vollständig
zu den Anschauungen der Liberalen und der Klerikalen, zu den
Anschauungen der Koalition bekehrt. (Pfuirufe.) Das, was sie heute
den Arbeitern geben wollen, ist weit schlechter als die Badenische
Wahlreform. Alle Fehler und Schlechtigkeiten, die der Badeni
begangen hat, sind darin, und alle, die er nicht zu begehen wagte.
WTenn wir das allgemeine, gleiche Wahlrecht ver-
sozialen das allgemeine Wahlrecht fallen ließ, aber die Zahl der Abge-
ordneten von 78 auf 90 erhöhte; die drei Virilstimmen, ebenso die 16 Man-
date des Großgrundbesitzes sollten bleiben, desgleichen die Städte- und Land-
gemeindenkurie der Steuerzahler. Nur war in den Städten eine kleine
Verschiebung geplant. Wien und die Handelskammer sollten zusammen
25 Abgeordnete wählen, die übrigen Städte- und die Landgemeinden (die
bisher gesondert, die Städte 13, die Landgemeinden 21 Abgeordnete ge-
wählt hatten) sollten nun in gemeinsamer Kurie 34 Mandate erhalten.
Dazu sollte eine vierte Kurie des allgemeinen Wahlrechts mit 12 Man-
daten geschaffen werden. In dieser sollte jeder Steuerzahler, der drei
Jahre seßhaft und 24 Jahre alt war, das Wahlrecht haben. In der Wiener
Städtekurie sollten die Einkommensteuerzahler entrechtet werden und
der Zensus von 8 Kronen nur für die Erwerbsteuerzahler gelten. Diese
Lnndtagswahlreform ist allerdings dann nicht zustande gekommen. Der
Entwurf wurde auf Antrag Weiskirchners am 2. Juni abgelehnt und der
Landesausschuß beauftragt, einen neuen Entwurf auszuarbeiten. Aber
einige Tage danach wurde der Landtag geschlossen.
208 Der Kampf um das Gemeinde- und Landtagswahlrecht.
langen, dann sagt man uns: „Nur Schritt für Schritt! Man kann
das alte Unrecht nicht auf einmal zusammenreißen." Gut, stellen
wir uns auf diesen Standpunkt; aber dann muß die Ware, die uns
da verkauft werden soll, wenigstens echt sein, und sie muß vor
allem so sein, daß wir sie überhaupt bekommen können. Wenn
man uns aber eine schlechte Reform gibt und noch dazu in einer
Art, daß wir sie gar nicht bekommen können, so ist das nichts als
eine dumme und frivole Demagogie. Wenn man den Dr. Lueger
fragte, was es denn mit der Landtags- und Qemeindewahlreform
ist — und man mußte sich an den Lueger wenden, denn er ist der
Herr der Partei, oder vielmehr er ist nur nach außenhin der Herr,
in Wirklichkeit ist er nur der gehorsame Knecht jener Pfaffen und
Feudalen, die Niederösterreich in ihren Klauen halten — , dann
antwortete er lustig und g'spassig, wie er immer ist: „Ihr werdet
es schon erwarten, daß ihr eure Hiebe bekommt." Mögen die
Herren aber noch so übermütig mit ihrem Sieg vom 9. März*)
protzen, sie fürchten uns nach der Niederlage mehr, als sie uns
je gefürchtet haben. Wenn sie sich nicht so fürchteten, könnten sie
sich den Luxus der Gerechtigkeit gönnen. So schlecht sind sie
nicht, daß sie bloß der Schlechtigkeit wegen schlecht wären, sie
sind es nur dann, wenn sie etwas dabei profitieren. Mit der
Gerechtigkeit protzen, wäre schon schön, aber gescheiter ist es
doch, wenn die Sozialdemokraten nicht wählen können. Sicher ist
sicher!
Wir werden uns diese Wahlreform nicht ruhig gefallen lassen. Die
Arbeiter müssen jetzt in ganz Niederösterreich klar aussprechen*
daß sie den jesuitischen Schwindel durchschauten, und zwar den
christlichsozialen wie den liberalen Jesuitismus. Die liberalen
Jesuiten werden jetzt sagen, daß sie ja sehr gern den Arbeitern
zu ihrem Rechte verholfen hätten, aber man könne doch nicht von
ihnen verlangen, daß sie sich aufhängen. Das kann man von ihnen
gewiß nicht verlangen, aber was wir verlangen, ist, daß im Land-
tag die Reform in den alten Kurien von der Er-
weiterung des Wahlrechtes getrennt werde.
Zuerst muß von der Erweiterung des Wahlrechtes gesprochen
werden. Wenn das erledigt ist, mögen die Herren darum raufen,
wie sie die alten Kurien reformieren. Allerdings werden wir uns
auch erlauben, zu den Vorlagen des Pater Scheicher noch einige
Amendements zu stellen. Aber das müssen wir klar sagen: Wer
die Ausdehnung des Wahlrechtes in Verbindung
bringt mit der Änderung des Wahlrechtes in den
alten Kurien, der ist ein Heuchler und Pharisäer,
der den Arbeitern das Wahlrecht vorenthalten
will. (Lebhafter Beifall.) Die Arbeiter müssen den Kampf, der
ihnen jetzt bevorsteht, mit derselben Zähigkeit, Energie und Un-
ermüdlichkeit führen, wie sie den Kampf um das Reichstagswahl-
recht geführt haben. (Stürmischer Beifall.)
*) Die ersten Wahlen der fünften Kurie am 9. März 1897, wo die Christ-
lichsozialen alle fünf Wiener Mandate eroberten. (Siehe Bd. VIII, Seite 367 f.)
Das arbeitende Volk gegen die Luegerei. 209
Das arbeitende Volk gegen die Luegerei.
Versam m 1 u n g im Sofien s a a I, 5. März 18 9 9*).
Wenn es notwendig gewesen wäre, eine Begründung voraus-
zuschicken, warum wir uns für das Landtags- und Gemeindewahl-
recht so einsetzen wollen, wäre sie durch die Darlegungen meines
Vorredners vollauf gegeben. Wir haben liier an ein paar Stich-
proben erfahren, wie die wichtigsten Garantien der Zukunft bedroht
sind von Leuten, von denen man nicht sagen kann, daß sie voreilig
wären, daß sie zu viel versprechen und zu wenig halten dort, wo
sie die Hand nach der Schule ausstrecken. Die Auslieferung der
Schule an die Klerikalen, die Maßregelung von Lehrpersonen, die
sich dem widersetzen, die systematische Korruption der Lehrer
schon vom Seminar aus, das ist nicht der Abschluß, das ist bloß
der Anfang dessen, was uns an reaktionären Schulmaßnahmen zu-
gedacht ist. So schleichen sie bloß heran, die klerikalen Reaktionäre.
Dieses wichtige Gebiet ist aber nicht einmal das einzige, das in der
Kompetenz des Landtages steht. Da haben wir noch die Armen-
pflege, da haben wir ferner die Gesundheitspflege. Wie wird die
besorgt werden von Leuten, deren wissenschaftliche Einsicht zur
Zeit der Pestfälle sich in einem solchen Lichte gezeigt hat, daß es
eine Schande vor Europa war!
Es wird immer der Gegensatz zwischen Wien und dem flachen
Lande ins Treffen geführt, und da das Land noch mehr unter dem
Einfluß der geistlichen Herren steht als die Wiener Spießer, so
sucht man es gegen die Bevölkerung von Wien auszuspielen. Ja,
heißt es, da draußen walten ganz andere Interessen. Wien hat eine
viel größere Bevölkerung und fällt daher mehr ins Gewicht als das
ganze übrige Niederösterreich, aber auch dort ist die Bauernschaft
*) Während die Christlichsozialen ihre Landtagswahlreform einleiteten,
die die auf Grund des neuen Einkommensteuergesetzes zu Wählern ge-
wordenen Arbeiter entrechten sollte, planten sie das gleiche auch für die
Gemeinde. Aber zur Luegerei gehörte auch noch der Mißbrauch der
Macht gegen die Lehrer und die Klerikalisierung der Schule. Für Freitag
den 5. März hatte die Sozialdemokratie in den Sofiensaal eine Massen-
versammlung einberufen mit der Tagesordnung: 1. Das Attentat der
Christlichsozialen auf die Schule und die Stellung der Arbeiter dazu.
2. D i e neue Wahlordnung in Niederösterreich für Landtag und Ge-
meinde. Zu gleicher Zeit fand übrigens auch im Ronachersaal eine Protest-
versammlung der niederösterreichischen Lehrer gegen ihre Bedrückung
statt. Zu der gleichen Zeit hatte Lueger aber auch in die Volkshalle eine
Bauernversammlung einberufen, die für die Herabsetzung der Schulpflicht
eintreten sollte.
Die Versammlung im Sofiensaal war massenhaft besucht. Die Arbeiter
zogen in großen Zügen zur Versammlung und von der Versammlung.
Polizei war in Massen aufgeboten, um die Aufmärsche der Arbeiter zu
stören.
In der Versammlung referierte über den ersten Punkt Schuhmeier,
über den zweiten Adler.
Adler, Briefe. X. Bd. 14
10 Der Kampf um das Gemeinde- und Landtagswahlrecht.
nicht die einzige maßgebende Bevölkerungsschicht, die industrielle
Arbeiterschaft hat auch dort ein gewichtiges Wort dreinzureden.
Diese Leute, die ihren Kindern eine mangelhafte Schule bieten
wollen, arbeiten an der Herabdrückung des Niveaus nicht bloß der
ländlichen, sondern auch der industriellen, in letzter Linie aber
unserer großstädtischen Bevölkerung, denn viele Tausende von
Landbewohnern wandern alljährlich in Wien ein, um sich hier
dauernd niederzulassen.
Die Christlichsozialen fragen: Wie kommt es denn, daß ihr euch
heute erst so sehr um die Angelegenheiten des Landes und der
Gemeinde kümmert, warum nicht schon, solange die Liberalen
am Ruder waren? Das erklärt sich sehr einfach. Die Sozialdemo-
kratie ist seit zehn Jahren kolossal gewachsen, eine Menge Fragen
mußten ihr anfangs ziemlich fernliegen und konnten nur eine nach
der anderen für sie aktuell werden. Sie hatte ja genug zu tun mit dem
Ausbau ihrer Organisation und vor allem mit der Eroberung aller
politischen Rechte, die uns das Gesetz gewährleistete, deren An-
erkennung wir aber dennoch erst der Verwaltung in jahrelangen
Kämpfen mühsam abringen mußten. Heute aber sind wir genug
vorgeschritten, um uns auch auf dem Gebiete der Landes- und
Gemeindepolitik zu betätigen. Wir haben einen jahrelangen Kampf
um ein Stückchen Reichsratswahlrecht führen müssen, es steht
uns noch ein schwerer Kampf bevor. Der wird aber doch einiger-
maßen erleichtert werden dadurch, daß alle Welt einsehen muß,
daß man mit der Badenischen Wahlreform nichts getan hat, daß
das Parlament nun erst recht lebensunfähig ist. Wenn die Thun
und Kaizl*) am Ende ihres Latein sein werden, wird man sich ent-
schließen müssen, wieder an eine Volksvertretung zu appellieren,
und die wird nicht auf dieses verrottete Kuriensystem begründet
sein können, wenn sie in ersprießlicher Weise funktionieren soll.
Die Frage des Landtags- und Gemeindewahlrechtes ist lange
genug herumgeschoben worden und alt geworden. Sie war reif
in dem Moment, als für den Reichsrat das allgemeine Wahlrecht
eingeführt wurde, und sie ist akut geworden und unaufschiebbar
heute, wo der Landtag beisammen ist und ihm vom Landesaus-
schuß ein Entwurf vorgelegt wurde. Der Redner bespricht nun die
einzelnen Bestimmungen des Wahlreformentwurfes. Wenn die
fünfte Kurie des Badeni schon eine Erfindung war, nicht für das
Volk, sondern gegen das Volk, wenn sie ein ungenügendes Sur-
rogat war, wenn sie ein riesiger Volksbetrug war, so ist dies, was
*) Am 7. März 1898 war nach dem Rücktritt von Gautsch Graf Franz
Thun Ministerpräsident geworden, in dessen Ministerium als Finanz-
minister der Jungtscheche Dr. Josef Kaizl, als Handelsminister der
Deutschliberale Dr. Josef Maria v. Baernreither waren. Baernreither
trat schon am 3. Oktober 1898 zurück und sein Nachfolger wurde der
klerikale Tiroler Weingutsbesitzer Baron D i p a u 1 i. Dieses Ministerium
Thun-Kaizl regierte vornehmlich, da es die Obstruktion nicht zu bannen
vermochte, mit dem § 14.
Das arbeitende Volk gegen die Luegeri ^D
Pater Scheicher, der alte demokratische Katholik4), wie er sieh
genannt hat, gemacht hat, noch zehnmal schlechter und verwerf-
licher. Es ist schlechter schon im Ausmalt, weil die zwölf Mandate
ja nicht einmal relativ so viel Gewicht besitzen wie die 12, des
Badeni. Dazu kommt aber noch etwas. Als Taaffe seine Wahl-
reform vorlegte, da haben die Liberalen, Klerikalen und Polen
geschrien, daß ihr politischer Besitzstand angegriffen sei; und die
Badenische Reform ist nur deshalb glatt durchgegangen, weil der
Besitzstand der alten Parteien nicht angetastet wurde. Aber was
tun diesmal die Christlichsozialen? Sie wollen die Gelegenheit
benützen, um ihren Besitzstand nicht etwa nur zu erhalten, sondern
um ihn noch erheblich zu vermehren. Sie wollen die Herrschaft,
die sie bereits im Landtage innehaben, zu einer Alleinherrschaft
machen, und sie wollen damit das alte Wahlunrecht verewigen.
Wenn der Herr Dr. Lueger einen Augenblick sich seiner demokra-
tischen Vergangenheit erinnert und für den Landtag das allgemeine,
gleiche Wahlrecht oder die Taaffesche Wahlreform vorgeschlagen
hätte, so hätte das nicht auf mehr Hindernisse stoßen können als
diese erbärmliche Fälschung. Man hat heute die Vorlage so
gemacht, daß nicht einmal der elende Brocken, den man dem Volke
gibt, durchgehen kann. Hätte man aber eine ehrliche Wahlreform
gemacht, dann wäre hinter diesem Antrag ein Sturm von Seite
der Bevölkerung gekommen, der eine Abweisung unmöglich
gemacht hätte. Die Mandate der fünften Kurie sind in Niederöster-
reich ohne Ausnahme in die. Hände der Christlichsozialen gefallen.
Und der Herr Dr. Lueger hat uns oft, wenn wir vom Wahlrecht
sprachen, siegesgewiß zugerufen: „Könnt ihr es denn nicht er-
warten, daß ihr wieder eure Hiebe kriegt?" Warum sind die
Herren jetzt plötzlich so ängstlich? Sollten sie am Ende fürchten,
daß ihre Herrschaft über die Wählerschaft nicht mehr auf so festen
Füßen ruht wie vor zwei Jahren? Jetzt hat Herr Dr. Lueger die
Möglichkeit, uns neue Hiebe zu versetzen. Warum die Angst? Mit
allem Raffinement hat man alles so eingerichtet, daß nur ja die
Arbeiterschaft möglichst um ihr Recht gebracht wird. Die Wahl-
kreise sind so eingeteilt, daß die industrielle Arbeiterschaft nirgends
die Majorität haben kann. Man hat sogar aus dem Wahlkreise
Wiener-Neustadt zwei industrielle Bezirke, Mödling und Baden,
herausgerissen und in einen mehr ländlichen Wahlkreis hinein-
gesteckt, nur damit die industriellen Arbeiter in beiden Wahlkreisen
unterliegen.
Das stärkste Stück aber ist, daß diese schlechte Wahlordnung
auf dem Wege, den uns die Herren führen, gar nicht zu erreichen
ist. Die Herren sagen, und wir geben ihnen da Recht, daß das
Wahlrecht in den alten Kurien ungerecht ist, daß es der Inneren
Stadt und einigen anderen kleinen Bezirken Vorteile bringt zum
Nachteile der breiten Massen auf dem Lande. Das ist richtig.
Aber ihnen handelt es sich nicht daru m, das alte
Unrecht zu beseitigen, sondern an die Stelle des
*) Siehe über Scheicher Bd. VIII, Seite 408, Note.
14*
212 Der Kampf um das Gemeinde- und Landtagswahlrecht.
alten Unrechtes ein neues, an die Stelle der Privi-
legien der anderen ihre eigenen Privilegien zu
setzen. (Pfuirufe.)
Sie fühlen sich auch in ihrem alten Besitz nicht mehr sicher und
darum werfen sie alle jene, die bloß Einkommensteuer zahlen, die
Arbeiter, eine Menge Lehrer, Beamte, Privatangestellte, alle die
Leute, die ihre Volksfeindlichkeit durchschauen und ihnen gefähr-
lich werden könnten, aus den alten Kurien hinaus. Dieses Geschäft
wollen sie verbinden mit der Einführung dieser jämmerlichen Wahl-
reform. Natürlich wird diese Wahlreform auch von den anderen
Parteien bekämpft, deshalb, weil in den alten Kurien Veränderungen
gemacht werden sollen, die diese Parteien einfach umbringen. Wir
werden uns in den Streit um die alten Kurien nicht einlassen und
nicht entscheiden, was schlechter ist, ob die alten oder die neuen
Monopolisten. Wir erklären einfach: Macht in euren alten
Kurien, was ihr wollt, aber macht es nicht jetzt,
wo einzig das Recht der bisher Rechtlosen auf der Tagesordnung
stehen darf. Vor allem muß unsere Rechnung bereinigt sein; bloß
Vorspanndienste für eure Zwecke werden wir nicht leisten. Wir
weisen die Heuchelei der Christlichsozialen ebenso wie die der
Liberalen zurück und verlangen, daß jetzt allein über
das allgemeine Wahlrecht entschieden werde.
Dabei bemerken wir, die wir jahrelang ehrenvoll gegen die
Kapitalistenpartei liberaler Richtung gekämpft haben, daß die
neuen Herren nicht weniger kapitalistischen Interessen dienen,
dabei aber noch brutaler, gemeiner und bildungsfeindlicher sind
als die alten.
Wenn einmal Sozialdemokraten im Landtag wären, würde das
die Gewaltherrschaft der Christlichsozialen schon eindämmen. Die
ärgsten Gemeinheiten wird man nicht mehr erleben, wenn auch nur
ein einziger Vertreter der Arbeiterschaft im Landhaus sitzt. Die
Arbeiter werden heute von den Herren ja geradeso gemein
behandelt wie früher von den Liberalen. Das Verbrechen der
Christlichsozialen ist dabei ein größeres als das der alten Herr-
scher. Diese übten ihre brutal-kapitalistische Herrschaft in ganz
naiver Weise aus, die neuen Herren sind nicht mehr naive,
sondern raffinierte Vertreter kapitalistischer Interessen, sie
sind Leute, die, in der Maske der Arbeiterfreundlichkeit einher-
schreitend, ihre kapitalistischen Geschäfte besorgen.
Wir wissen, daß wir noch einige Jahre werden kämpfen müssen,
um unser volles Wahlrecht zu erringen, aber unser Programm ist
und bleibt es: Weg mit allen Kurien, allgemeines und gleiches
Wahlrecht für Landtag und Gemeinde! Da kommen sie uns freilich
wieder damit, daß volles Wahlrecht für den Landtag nur dem
gebühre, auf dessen Steuern Zuschläge für Landeszwecke gemacht
werden können. Als ob nicht jeder Arbeiter mit dem Wohnungs-
zins, mit den Zinskreuzern usw. für Landeszwecke steuerte! Das
ist alter liberaler Schwindel, gerade gut genug, daß
ihn die Christlichsozialen jetzt wieder aufnehmen. Doch damit
Das arbeitende Volk gegen die Luegcrei. 213
dürfen sie uns nicht kommen, und damit werden sie uns auch hei
der Qemeindewahlreform nicht kommen dürfen. Wir werden ihnen
auch dort auf die Finger sehen, und Lucger wird sicli nicht beklagen
dürfen, dal.! er hei seinem Wirken zu wenig Zuschauer hat. Die
Herren werfen uns vor, dali wir uns durch das Landtags Wahlrecht
vom Kampf gegen den Absolutismus ablenken lassen. Es muß
alles zu seiner Zeit geschehen. Auch auf dem Baume, der im
Sumpfboden des S 14 wurzelt, werden die Früchte schon reif
werden. Bis dieser Zeitpunkt kommt, werden wir es nicht unter-
lassen, den Baum, auf dessen Ästen der Graf Thun sitzt, zu
schütteln. Heute aber ist Lueger auf der Tagesordnung, und wir
werden den Moment, mit ihm abzurechnen, nicht versäumen.
Der Redner beantragt nun die Annahme folgender
Resolution:
Die heutige Volksversammlung sieht in der vom niederöster-
reichischen Landesausschuß beantragten Landtagswahlreform das not-
gedrungene Geständnis, daß es unmöglich geworden ist, den Massen des
Volkes das Wahlrecht in sämtliche Vertretungskörper noch weiter
vorzuenthalten:
zugleich aber erkennt sie in diesem Antrag den frevelhaften Versuch,
die Rechtlosen zu täuschen und ihnen statt der Gewährung
ihres anerkannten guten Rechtes einen jämmerlichen Brocken zu geben,
der überdies mit voller Absicht in einer Form dargeboten wird, die die
praktische Verwirklichung auch dieser elenden Wahlreform unmöglich
macht.
Die sozialdemokratische Arbeiterschaft Niederösterreichs brandmarkt
dieses Vorgehen der christlichsozialen Beherrscher des Landes als einen
faulen Schwindel, der nichts anderes offenbart als deren brutalen
Egoismus und ihre feige Heuchelei.
Die Versammlung erklärt insbesondere, daß jeder Antrag, die Aus-
dehnung des Wahlrechtes mit Verschiebungen in den privilegierten
Kurien zu verbinden, nur ein gleißnerischer Versuch sein kann, den
Schein zu retten, die Wahlreform aber zu vereiteln.
Einen weiteren Beweis für die Volksfeindlichkeit der Christlich-
sozialen sieht die Arbeiterschaft darin, daß der Landesausschuß die
Ausdehnung des Gemeinde Wahlrechtes unter den nichtigsten
Vorwänden abgelehnt hat. In Wien selbst wurde die hundertmal ver-
heißene Ausdehnung des Gemeindewahlrechtes durch den Bürgermeister
selbst bis heute verschleppt, und was von dem Inhalt seines Vor-
schlages bekannt ist, läßt erwarten, daß er ebenso wie das Machwerk
des Landesausschusses unzulänglich und vom borniertesten Klassen-
egoismus geleitet sein werde.
Die klassenbewußte Arbeiterschaft erklärt, daß sie angesichts dieser
Umtriebe der klerikalen Demagogen an ihrer gerechten Forderung fest-
hält, an dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht in
Stadt und Land, und daß sie weiß, daß es niemals dringender und
notwendiger war als jetzt, die politischen, kulturellen und wirtschaft-
lichen Interessen der besitzlosen Volksklassen gegen ihre gefährlichsten
Gegner zu verteidigen. Darum wird die Arbeiterschaft in Wien und
Niederösterreich diesen Wahlreehtskampf mit rücksichtsloser
214 Der Kampf um das Gemeinde- und Landtagswahlrecht.
Energie führen gegen die Feinde des Rechtes, der Wohl-
fahrt und der Zukunft der Arbeiterklasse*).
Der Redner schließt nun, indem er sagt: Es ist nicht viel, wenn
wir versprechen, für dieses Wahlrecht das zu tun, was wir für das
Reichsratswahlrecht taten, wenn wir versprechen, den Kampf zu
führen gegen eine Clique, die das Volk und die Jugend vergiften
will. Das feudale Regime im Reiche und das christlichsoziale in
unserem Kronlande sind innerlich verwandt; wenn wir gegen
Lueger kämpfen, so kämpfen wir nicht nur gegen den Verderber
von Wien, sondern zugleich gegen die ihm im Wesen so nahe-
stehenden Verderber von ganz Österreich. (Stürmischer Beifall.)
Vorbereitung des Wahlrechtsraubes.
Acht Versammlungen am 13. März 1899**).
Die Wahlreform, die Dr. Lueger eingebracht, ist ein großer Er-
folg der Arbeiter Wiens. Aber man anerkennt das Wahlrecht der
Arbeiterschaft mit dem Mund und sucht es dann wieder durch
*) Die Resolution wurde selbstverständlich mit großer Begeisterung
beschlossen.
**) Am 11. März 1899 hatte Lueger dem Gemeinderat den Entwurf
einer Gemeindewahlordnung mit Aufhebung der Wahlkörper, aber mit
der fünfjährigen Seßhaftigkeit vorgelegt. Außerdem sollte auch das
Gemeindestatut geändert und der Stadtrat abgeschafft werden. Die
Geschäftsordnung sollte durch Bestimmungen über die Einsetzung eines
Disziplinarausschusses und über die zur Ausschließung von Gemeinderäten
(den sogenannten Hausknechtparagraphen) ergänzt werden.
Lueger wollte die Komödie der Einführung des allgemeinen Wahlrechts
im Gemeinderat spielen. So wurde sowohl das Gemeindestatut wie die
Gemeindewahlreform in zwei Dauersitzungen im Gemeinderat durch-
beraten und schon am 22. März dem Landtag vorgelegt. Dann fuhr er
nach Rom zum Heiligen Vater. Indessen hatte Weiskirchner im Landtag
das allgemeine Wahlrecht umzubringen, und tatsächlich wurde schon am
14. April im Ausschuß des Landtages beschlossen, das Wahlkörpersystem
beizubehalten und den drei privilegierten Wahlkörpern einen vierten
Wahlkörper des allgemeinen Wahlrechts mit fünfjähriger Seßhaftigkeit
anzufügen. Auch die Zusammensetzung der Wahlkörper wurde im
Interesse der Christlichsozialen geändert. So wurden die Lehrer aus dem
zweiten in den dritten Wahlkörper verschoben, dafür der zweite Wahl-
körper durch die ernannten „Bürger" gesichert. Überdies wurden die
Einkommensteuerzahler entrechtet, indem für sie ein höherer Zensus be-
stimmt wurde als bei dem Erwerbsteuerzahler.
Das neue Einkommensteuergesetz, das im Jahre 1899 in Kraft getreten
war, hatte den Arbeitern auch die Steuer auferlegt und es war die Gefahr,
daß die Arbeiter als Einkommensteuerzahler in den proletarischen Be-
zirken den Christlichsozialen die Mehrheit im dritten Wahlkörper weg-
nehmen. Das war ja der wirkliche Grund gewesen, warum Lueger die
Wahlreform mit der Komödie des allgemeinen Wahlrechts schaffen wollte.
Am 17. Mai legte Weiskirchner dem Ausschuß bereits den neuen Ent-
wurf vor: er enthielt die Entrechtung der Einkommensteuerzahler und den
Vorbereitung des Wahlrechtsraubes. 215
Winkelzüge zu vereiteln. Dr. Lueger war genötigt, ein allgertieines
Wahlrecht in der oder jener Form einzubringen, weil einmal die
Arbeiterschaft schon bei den Reichsratswahlen mitgewählt hat, und
weil Lueger die privilegierten Wähler lange nicht mehr für so
sicher hält wie früher, wenn er sie vielleicht auch für gescheiter
hält, als sie sind. Wir müssen aber sagen, diese Wahlreform nimmt
alles auf, was, obwohl es vernünftig ist, Lueger nützen kann; sie
nimmt aber gar nichts auf, auch wenn es gerecht ist, sobald es ihm
schaden kann. Der Vergleich dieser Wahlreform mit der des Grafen
Taaffe, der letzthin gemacht wurde, ist falsch. Sie ist der gerade
Gegensatz. Die Taaffesche Wahlreform bietet ein allgemeines Wahl-
recht, diese aber ein höchst beschränktes. In der Taaffeschen war
keine Spur von einem gleichen Wahlrecht, hier wird es gewährt,
und gerade darin liegt ihre ganz wesentliche prinzipielle -Be-
deutung, die wir durchaus nicht verdunkeln, sondern im Gegen-
teil anerkennen müssen, und für die wir entschieden eintreten
müssen. Wenn die Christlichsozialen von dieser Wahlreform nicht
so entzückt sind, wie sie verpflichtet wären, so hat das gute Gründe.
Sie ahnen, es steckt etwas drinnen, das ihnen zwar heute nicht
schadet, sondern sogar nützt, was ihnen aber morgen gefährlich
werden kann. Der ersten Wahl ist Lueger sicher, bei der zweiten
aber werden auch andere Leute mitzureden haben. Aber er arbeitet
mit dem Moment und will den Glanz eines Volksmannes gewinnen.
Die Liberalen werden bei dieser Gelegenheit wieder lebendig. Sie
zeigen, wie borniert sie sind. Sie glauben, daß diese Wahlreform
nicht sanktioniert werden wird, und kämpfen trotzdem gerade
gegen das, was populär ist in dieser Vorlage. Vielleicht steckt da
vierten Wahlkörper mit 20 Mandaten, während die drei privilegierten Wahl-
körper je 46 Mandate hatten — allerdings war statt der fünfjährigen die
zweijährige Seßhaftigkeit eingeführt.
Dieser infame Wahlrechtsraub veranlaßte die Arbeiter zu stürmischen
Kundgebungen gegen Lueger, dessen verborgenes Spiel offenkundig war.
Am 4. Juni sollte im Musikvereinssaal eine Massenversammlung mit der
Tagesordnung: „Wie die Arbeiter Wiens um ihr Wahlrecht betrogen
werden" stattfinden; sie wurde aber verboten. Statt der Versammlung
hielten die Arbeiter nun einen Demonstrationsspaziergang auf der Ring-
straße ab, die von den Rufen „Pfui Lueger!" erdröhnte.
Am 17. Juni beschimpfte Lueger die Arbeiter im Gemeinderat als
„Bube n", die sich auf der Straße tumultuarisch benehmen — und vor
denen er Verachtung habe.
Die Regierung Thun wagte es angesichts des Widerstandes, der sich
nicht nur bei den Arbeitern gegen die Wahlordnung erhob, nicht, sie
sanktionieren zu lassen. Das war erst Herrn Dr. v. Wittek vorbehalten,
der am 21. Dezember 1899 eine provisorische Beamtenregierung bildete,
die bis zum 18. Jänner 1900 im Amt blieb. Sie hatte außer der Anwendung
des § 14 auch die Sanktionierung des Wahlrechtsraubes vorzunehmen.
Als die acht Versammlungen am 13. März 1899 unmittelbar nach der Ein-
bringung der Luegerschen Waldreform stattfanden, hatte man natürlich
noch keine Ahnung davon, daß Lueger nicht das allgemeine Wahlrecht,
sondern einen Betrug plante.
Beim Dreher au f der Landstraße sprach Adler.
216 Der Kampf um das Gemeinde- und Landtagswahlrecht.
ein Rest von Ehrlichkeit drinnen. Durch die Personaleinkommen-
steucr wären viele Arbeiter wahlberechtigt geworden, das ist viel-
leicht mit ein Grund für die Einbringung dieser Wahlreform. Lueger
sucht aber die Arbeiter möglichst auszuscheiden und hat da zu
einer Idee des Herrn v. Plener gegriffen, wie die Christlichsozialen
immer in den abgelegten Kleidern der Liberalen einherstolzieren.
Die Einführung des fünfjährigen Wohnsitzes ist aber eine Infamie.
(Lebhafter Beifall.) Aus einer Petition der Gemeinde Wien bei der
Schaffung des neuen Heimatsgesetzes geht hervor, daß ein Drittel,
mindestens aber ein Viertel der Bewohner Wiens vom Wahlrecht
ausgeschlossen sein dürfte. Diese Vorlage hat uns auch nicht ein
Wahlrecht der Frauen gebracht, trotzdem diese vieles besser als
wir verstehen würden von dem, was die Gemeinde besorgen muß.
Wenn aber die Regierung, wie die Liberalen hoffen, diese Wahl-
reform nicht genehmigen wollte, dann wird die Regierung
auchnoch etwasvonunserleben. In der Vorlage komme
noch die Bestimmung vor, daß der Staat der Gemeinde die Kosten
des übertragenen Wirkungskreises zahlen, und daß die Regierung
auch weniger Einfluß auf den selbständigen Wirkungskreis haben
solle. Da kann die Regierung leicht sagen, die Wahlreform gefällt
mir sehr gut, aber das andere kann ich nicht annehmen. Wir ver-
langen, daß das Wahlrecht allein gemacht werde, und über die
anderen Dinge werden wir später reden.
ini Jubiläum, -17
Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Ein Jubiläum.
Massenmeeting auf derPraterbahn, 2 6. Juli 190 3*).
Genossen und Genossinnen! Arbeiter und Arbeiterinnen von
Wien! Wir feiern heute ein Jubiläum. Zehn Jahre sind es her, daß
wir in den Kampf ums Wahlrecht eingetreten sind, zehn Jahre seit
jener Versammlung im Rathaus, die für immer denkwürdig bleiben
wird in der Geschichte dieses Landes. Wir haben damals den Weg
gezeigt, den Österreich gehen muß und wurden verhöhnt und ver-
lacht. Wir haben damals das Wahlrecht als den Ausweg aus den
österreichischen Wirren bezeichnet, damals, als noch niemand daran
dachte, den Weg zu betreten. Es hat sich damals ein alter Sünder,
Graf T a a f f e, gefunden, der einen Rest von politischem Verstand
zusammengerafft hat und der politischen Vernunft die Bahn ebnen
wollte. Da haben sich das Bürgertum, die Bürokratie, der Klerikalis-
mus zu einer starren Koalition zusammengetan und den Ver-
such erwürgt. Parteigenossen! Man hat uns hernach ein Stück von
dem, was wir wollten, gegeben. Wir haben genau gewußt, daß
dieses Schwindel- und Scheinwahlrecht, diese Ver-
fälschung des guten Rechtes weder dem Staate noch dem
Volke helfen kann. Aber was wir vom ersten Moment an
erkannten, dazu hat Österreich sechs Jahre gebraucht. Heute hat
auch der Schwindel der fünften Kurie gründlich Bankrott gemacht.
Man sehe sich um in Österreich. Alles ist verzweifelt, alles ist rat-
*) Am 25. Juni 1903 hatte Körber, nachdem die Jungtschechen zwei
Tage vorher wieder mit der Obstruktion eingesetzt hatten, das Parlament
vertagt, um sich wie die erste, so auch die zweite Halbjahrsrate des Bud-
gets mit dem § 14 selbst zu bewilligen. Darauf veröffentlichte am 5. Juli die
Gesamtparteivertretung der österreichischen Sozialdemokratie gemeinsam mit
dem Abgeordnetenverband ein Manifest, das die Arbeiter zum Kampfe
gegen dieses Parlament und gegen die alles korrumpierenden Wahlprivi-
legien aufforderte. Danach folgte im ganzen Reiche eine große Zahl von
Kundgebungen für das allgemeine, gleiche Wahlrecht. Eine der größten
dieser Kundgebungen war die Massenversammlung, die am 26. Juli auf der
Radrennbahn im Prater abgehalten wurde. Sie war von mehr als
30.000 Personen besucht und es wurde von drei Tribünen aus gesprochen.
Auch im Reiche fanden stürmische Kundgebungen statt. Nach einer
dieser Versammlungen, die am 7. September 1903 in Brunn stattfand,
kam es zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei, wobei
mehr als 20 Personen durch Säbelhiebe verletzt wurden.
218 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
los, und weil sie ganz verzweifelt sind, gehen sie in die Bäder, um
ein paar Wochen den Jammer hinausschieben zu können. Wenn sie
aber zurückkommen, dann beginnt wieder die alte Not, die nicht
mehr mit Flickwerk beseitigt werden kann! Dieser Staat hat
nur mehr eine Hilfe: das Volk selbst! (Brausende Zu-
stimmung.) Will man an das Volk appellieren, dann ist noch eine
Möglichkeit einer gesunden Entwicklung da. Um das zu tun, dazu
fehlen an den entscheidenden Stellen noch die Einsicht und der Mut.
An der Feigheit und Dummheit seiner Regierer
geht dieser Staat zugrunde. (Stürmischer Beifall.) Die
klare Wahrheit liegt deutlich, für jedermann greifbar, da. In einem
Staate, der geteilt ist nach Nationen, wo die nationalen Leiden-
schaften wüten, da gibt es nur eines, das die Nationen bändigen
kann: den Kampf der Klassen! Uns verbindet mit den Tschechen
da drüben die gemeinsame Not, die gemeinsame Hoffnung, die Not-
wendigkeit der gemeinsamen Entwicklung. Auch die anderen
Klassen haben ihre Gemeinsamkeiten. Das Wahlrecht muß ermög-
lichen, daß diese Klassengegensätze sich gegenüberstehen. Öster-
reich, das wissen heute schon alle, muß erneuert werden, sonst
wird es elender als die Türkei verrecken.
Man hat uns in Verdacht, daß wir dem „Staatsstreich"
das Wort reden. Nun, wir fürchten uns vor keinem Wort. Die Revo-
lution ist eine Sache, die mitunter auch von oben gemacht wird.
Wir sehen gar nicht ein, warum der Absolutismus, der in Österreich
nie aufgehört hat zu sein, nur Blödsinn produzieren muß (Heiter-
keit), warum er einmal nicht auch etwas Vernünftiges hervorrufen
soll. Übrigens hat das Parlament ja noch eine Möglichkeit offen.
Wenn es noch einen Funken von Verantwortlichkeitsgefühl und Ein-
sicht besitzt, dann wird es an sich selbst das Harakiri, den
Selbstmord vollführen. Will man die Wahlreform nicht
machen, dann wird Österreich am Schindanger*)
endigen, und uns ist es gleichgültig, wer es auf ihn wirft. Die
Verfassung ist gemacht worden von einem Bürgertum, das knecht-
selig und winselnd vor den Feudalen, feig zitternd vor dem Volke
war. Wir haben diese Verfassung nicht gemacht, wir haben dieses
Österreich nicht geschaffen, wir sind nicht dafür verantwortlich.
Von uns aus kann die Weltgeschichte mit Österreich machen, was
sie will, uns interessiert daran bloß das Schicksal der Arbeiter-
klasse. Daß der Weg aus dem Schlamm nicht einfach ist, wissen
wir. Dieses Parlament, das gefügig ist für alle Niedertracht und un-
fähig ist für alles Gute, stirbt an seiner Unfähigkeit, zu sein. Wo
sind die Dinge, die für Österreich wirklich notwendig sind? Wo ist
seit zehn Jahren ein Fortschritt gemacht worden, der den arbeiten-
den Klassen nützt? Nicht einmal die Alters- und Invali-
ditätsversicherun g**) können wir herauskriegen. Aber was
*) Dieses Bild hat Adler wiederholt gebraucht, so zum Beispiel in seinem
Referat über Parteitaktik auf dem Parteitag in Graz 1900. (Bd. VIII,
Seite 202 ff.)
**) Um die Regierung an das in der Thronrede gegebene Versprechen
der Altersversicherung zu erinnern, hatte die Partei einen Petitionssturm
Ein Jubiläum. 219
wir bekommen, das waren Wehrgesetze, die dem Kaiser zum
Frühstück von dressierten Munden gebracht wurden, wahrend die
Ungarn sich energisch zur Wehre setzen. Was wir bekommen, das
sind Zölle, die unsere nötigsten Nahrungsmittel verteuern sollen.
Wir sagen: Ein Parlament, das nichts anderes kann, brauchen wir
nicht!
Wir feiern heute das Jubiläum eines schweren Kampfes. Wie
der Kampf sein wird, in den wir heute eintreten, wissen wir nicht.
Ein entscheidender Kampf — vielleicht nicht morgen, vielleicht
nicht in einer Woche — wird uns nicht ausbleiben. Wir sind in
diesem Staate die einzigen, die sagen, was i s t. Die anderen
haben die Kanonen, die Polizisten, die Regimenter. Aber eines
haben wir, was sie nicht haben: die Vernunft! Die Fähigkeit,
zu erkennen, und den Mut, zu tun, was notwendig ist. Sie haben
früher Herrn v. Körber abfällig begrüßt. (Heiterkeit.) Der glatte
Herr wird sehr verwundert sein, denn er glaubt ja, ein sehr
moderner, sehr volksliebender und deshalb sehr volkstümlicher
Minister zu sein. (Heiterkeit.) Er wird fragen: Was habe ich denn
getan, um diese Begrüßung zu verdienen? Aber das ist ja gerade
das Verbrechen, dessen wir ihn beschuldigen, daß er das
nicht getan hat, was notwendig ist! (Stürmischer Beifall.
Polizeikommissär P i c h 1 e r unterbricht den Redner. Heftige Pfui-
rufe in der Versammlung.) Dr. Adler: Gut, ich brauche es nicht
mehr sagen, ich habe es schon gesagt. (Heiterkeit.) Wie Sie sehen,
gehöre ich nicht zu den Bewunderern des Herrn v. Körber*), ich
habe keine allzu große Meinung von seinen politischen Über-
zeugungen und seinem politischen Mut. Aber das muß ich doch zu
seiner Ehrenrettung sagen, so dumm ist der Mann nicht, daß er
sich darüber aufhielte, wenn man ihm politische Wahrheiten sagt.
(Heiterkeit.) Die Nervosität des Herrn Polizeikommissärs ist wohl
noch ein Stück alter Schule, eine alte Krankheit, die wieder zum
Ausbruch kommt. Oder — soll man das anders auslegen? Sind
das Vorzeichen eines nahenden Endes**)? Wenn die Polizei-
kommissäre anfangen, Redner zu unterbrechen, oder die Staats-
anwälte beginnen zu konfiszieren, so ist gewöhnlich nicht die
Arbeiterschaft, sondern das Ministerium in Gefahr. Es wäre ja kein
Wunder, wenn Herr v. Körber in seiner Haut nervös würde. Aber
ein Minister, der dumm wird, wäre noch rascher fertig als ein ge-
scheiter.
Wir werfen diesem Ministerium vor, daß es einen verbreche-
rischen Mangel an Mut hat. Die Rettung braucht kein Staatsstreich
zu sein, obzwar wir in Österreich nicht wehleidig zu sein brauchen,
eingeleitet, außerdem hatte der Verband einen Dringlichkeitsantrag einge-
bracht, der auch einstimmig beschlossen wurde. Alles war aber vergeblich.
*) Siehe auch das Schlußwort zur Parteitaktik auf dem Parteitag in
Aussig 1902, wo Adler ausführlich über das System Körber sprach.
(Bd. VIII, Seite 224 ff.)
'•*) Körber ist erst am 30. Dezember 1904 gefallen. Sein Nachfolger war
O a u t s c h.
220 Der Sickr des gleichen Wahlrechts.
der § 14, dieser chronische Staatsstreich, hat uns abgehärtet. Wenn
die Verfassung wegen einer Zuckersteuer, wegen militärischer
Steuern gebrochen wird, dann wird die alte Vettel, die Verfassung,
nicht mucksen dürfen, wenn sie einmal zugunsten des Volkes aus-
gelegt wird.
Wir stehen vor einem Kampfe, der Mut und vor allem Ausdauer
fordern wird. Einen Helfer haben wir neben uns: die geschichtliche
Notwendigkeit. Entweder Österreich bekommt ein gleiches
Wahlrecht oder es muß zugrunde gehen, wie es seine Herrscher
längst, nicht seine Völker verdient haben. Mit diesem Gedanken
treten wir in den Kampf, und wir werden sehen, wer
stärker ist, der egoistische Wahnwitz oder das
Recht des Volkes! Ich schließe mit dem Appell an die Wiener
Arbeiterschaft, ihre Pflicht zu tun bis ans Ende! Hoch das all-
gemeine, gleiche und direkte Wahlrecht! (Begeisterte Bravo- und
Hochrufe.)
Massenpsychologische Bedingungen.
Parteitag 19 03*).
Die Frage des Wahlrechts muß natürlich bei uns auf der Tages-
ordnung stehen, denn sie ist die grundlegende Frage der öster-
reichischen Politik. Gerade darum stehen wir vor der Schwierigkeit,
daß wir diese Not, die immer da ist, nicht immer zu einer brennen-
den, großen Agitation machen können. Unser politischer Kampf ist
wesentlich ein Kampf ums Wahlrecht; aber Sie können nicht er-
warten, irgendeine Bewegung auf längere Zeit in einer Höhe zu
erhalten, die die Leidenschaft in gleicher Weise zu entfalten vermag.
Das ist psychologisch, auch massenpsychologisch unmöglich. Wrir
müssen das Bewußtsein von der Elendigkeit unseres Wahlrechts
immer lebendig erhalten bei uns, bei den bürgerlichen Parteien, bei
der Regierung, aber wir können unmöglich fortwährend den Kampf
in jener Siedehitze, auf jener Höhe halten, in die er nur zu gewissen
*) Auf dem Parteitag, der vom 9. bis 13. November 1903 in Wien
stattfand, erstattete Vanek (Brunn) das Referat über die Wahl-
rechtsbewegung in tschechischer Sprache. Er verwies darauf, daß
in Brunn bereits Blut für das Wahlrecht geflossen sei, daß sich aber
nirgends, auch nicht in Wien ein Widerhall zeigte. Die Wahlrechts-
bewegung sei dadurch auf einen toten Punkt gekommen. Es sei nicht
mehr das nötige Feuer da. Die Aufgabe sei es, dem Feuer der Wahl-
rechtsbewegung eine Nahrung zu geben, daß es bald in ganz Österreich
zu einer mächtigen Flamme werde. Darauf antwortet nun Adler.
Die übrigen Reden Adlers auf diesem Parteitag, die er beim parlamen-
tarischen Bericht gehalten hat, sind in der Schriftenreihe „Victor Adler,
der Parteimann" unter dem Titel „Ekel am Staat" (VIII. Bd., Seite 232)
und „Militarismus und Demokratie" (IX. Bd., Seite 11) abge-
druckt; schließlich auch das Referat über den bevorstehenden internatio-
nalen Kongreß in Amsterdam (VII. Bd., Seite 23).
Massenpsychologische Bedingungen. 221
Zeiten, bei günstigen Gelegenheiten hinaufgetrieben werden kann.
Wenn ieh also glaube, daß wir für den Wahlrechtskampf tun, was
wir können, möchte ieh doch jenen Rednern entgegentreten, die in
dem Hinweis in der Resolution, daß das Proletariat schließlich auch
noch andere äußerste Mittel zur Verfügung hat, einen nicht oppor-
tunen, unerwünschten Hinweis auf den Generalstreik sehen. Wir
wissen nicht, ob das österreichische Proletariat zum Generalstreik
kommen wird, aber wir wissen ebensowenig, ob er uns erspart sein
wird. So gewissenlos es wäre, für die nächste Zeit einen General-
streik zu politischen Zwecken anzukündigen, ebenso unklug, ja un-
verantwortlich wäre es, den Generalstreik abzuschwören. Die Er-
fahrungen des Auslandes geben dazu keinen Anlaß. Der Generalstreik
in Belgien war für mich — im Gegensatz zu vielen Genossen — ein
Beweis, daß es bei einer tüchtigen Organisation möglich ist, den
Generalstreik eintreten zu lassen und, was ich früher für ganz un-
möglich hielt, auch zu beendigen. Ich habe den glorreichen Rückzug
der belgischen Genossen*) für einen der größten Erfolge der Organi-
sation gehalten, der je da war! Wir wissen alle: Was wir unterneh-
men, jede Aktion wird erst dann von großer Bedeutung, wenn wir
unsere Handlungen bewußt beginnen und auch bewußt beenden
können. Das schien beim Generalstreik unmöglich; nun zeigt es sich:
er ist in einer vernünftigen, besonnenen, klaren Weise zu Ende zu
führen. Darum bin ich nicht dafür, unsere Gegner zu beruhigen, daß
sie davor sicher sind. Wir würden in ihnen damit eine gefährliche
Illusion nähren. Abschwören wollen wir den Generalstreik nicht.
Wann, wie, ob, das steht dahin.
Die Genossinnen von der Frauenkonferenz, die über alles Er-
warten gut abgelaufen ist, bringen uns vor den Parteitag die Pro-
dukte ihrer Tätigkeit. Wir sollen ihre Resultate zur Kenntnis nehmen.
Wir haben ja nichts dagegen, daß das geschieht. Aber die Genossin-
nen dürfen nicht erwarten, daß wir uns hier, wo wir eine reichliche
Tagesordnung zu erledigen haben, auch noch eine Diskussion über
das Frauenwahlrecht aufdringen lassen. Wir sind mit unserem
Herzen (Heiterkeit) bei ihnen, aber wir haben jetzt aktuellere Dinge
zu erledigen.
*) Im Jahre 1902 versuchten die belgischen Arbeiter die Beschränkungen
des Wahlrechtes, die sie bei dem Generalstreik im Jahre 1893 hatten hin-
nehmen müssen — vor allem die Pluralstimmen — , durch einen General-
streik zu beseitigen. Aber obwohl dreihunderttausend Arbeiter daran teil-
nahmen und obwohl nicht nur die Beteiligung, sondern auch die all-
gemeine Begeisterung nicht geringer war als 1893, gelang es nicht, der
Bourgeoisie und ihrer Regierung auch nur die geringste Konzession abzu-
zwingen. Henriette Roland-Holst schreibt in ihrem Buch über
Generalstreik und Sozialdemokratie: Was den zweiten belgischen Streik
für das internationale Proletariat so äußerst wichtig macht, ist die Art,
in der die belgischen Arbeiter den Rückzug antraten. Es glückte ihnen, den
verlorenen Streik im richtigen Augenblick abzubrechen und die Bewegung
in bester Ordnung aufzuheben. Sie vollbrachte, was besiegten Heeren
immer als großer Ruhm angerechnet worden ist: sich nach der Niederlage
in vollkommenster Disziplin zurückzuziehen. (Zweite Auflage, Seite 60.)
222 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Die Arbeiter und das Privilegienparlament.
Versaminlungbeim Ron acher, 2 0. Dezember 190 3*).
Ich glaube nicht, daß irgendwo anders und andere Leute, als die
hier sind, heute, am Sonntag vor Weihnachten, den merkwürdigen
Geschmack haben, sich um Österreich zu kümmern. (Heiterkeit.)
Wir stehen vor dem Feste, und wo Österreich ist, da verschwindet
jede Freude am Feste; wo der Gedanke an unseren Staat ist, da
verschwindet jeder Frohmut. Aber so ist einmal die Arbeiterschaft,
und wäre sie nicht so, dann müßte man in der Tat verzweifeln.
Keine Klasse gibt es in diesem Lande, an die irgendeine Hoffnung
zu knüpfen ist, außer der Arbeiterschaft. Sehen Sie doch hin auf die
klerikale Gefahr. Es ist ja der alte Klerikalismus, nur in anderer
Tracht; früher war es der große Jesuitenhut, heute ist es der Frack
und die goldene Kette. Aber es ist der alte Klerikalismus. Wie war
er vom Bürgertum gehaßt und heute ist dies Bürgertum hier in
Wien in das klerikale Lager übergelaufen! Sie ergeben sich in ihr
Schicksal, sie lassen sich geduldig führen und scheren. (Beifall.)
Das Parlament, dessen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten
uns Pernerstorfer geschildert hat, ist heute in einem wesentlich
anderen Zustand, als es noch vor einigen Jahren war. Obstruktion
haben wir öfter gehabt, aber was heute ist, ist nicht nur die Un-
möglichkeit, auf diesem dürren Boden Gesetze wachsen zu sehen;
es ist der Verlust jedes Glaubens an sich selbst, der Verlust der
Selbstachtung des Parlaments.
Die einzigen, die dieses Parlament ernst nehmen, sind wir Sozial-
demokraten, ernst nehmen in dem Sinne, daß wir ein Parlament,
das von sich glaubt, daß es nicht leben und nicht sterben kann,
wenigstens zu einer Funktion drängen möchten: zum Krepieren.
(Lebhafter Beifall.) Unsere Abgeordneten haben — wir müssen
ihnen dafür dankbar sein — mit Selbstüberwindung und mit der
Beredsamkeit, die die Überzeugung gibt, und mit der Eindringlich-
keit, die die Erkenntnis der Logik der Tatsachen gibt, dem Parla-
ment gesagt: Dringlich ist für dieses Parlament nur das eine, daß
es in seiner heutigen Form verschwinde, daß es die Verfassung, an
*) Das Parlament war im Laufe des Jahres 1903 immer mehr ein Opfer
der schleichenden Obstruktion geworden, so daß Körber am 25. November
selbst erklärte, soweit es sich um die Gesetzgebung handle, herrsche die
Ruhe des Friedhofs. Am 9. Dezember wurde eine Reihe von Dring-
lichkeitsanträgen verhandelt: ein Antrag des Jungtschechen Dr. Forscht
auf Einsetzung eines Ausschusses zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung
und ein Antrag Ellenbogen auf Einsetzung eines 48gliedrigen Aus-
schusses zur Ausarbeitung eines Entwurfes einer neuen, auf dem all-
gemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht sowie auf der natio-
nalen Autonomie fußenden Verfassung. Der Antrag Ellenbogen wurde
— übrigens genau wie der andere — abgelehnt.
In der Versammlung, die darauf am Sonntag vor Weihnachten im
Ronachersaal stattfand, sprach zuerst Pernerstorfer, dann Adler.
Die Arbeiter und chis Privilegienparlament.
der dieser Staat krankt, beseitige. Was ist mit diesem Antrag*)
geschehen? Man hat unseren Redner reden lassen. Die einen haben.
wo er von der Selbständigkeil der Völker gesprochen hat, mit dem
Staatsrecht geantwortet und die deutschen Parteien habet) gar nicht
geantwortet. Die Leute, die im Jahre \W).\ der Taaffeschcn Wahl-
reforrn gegenüber jene verhängnisvolle Koalition geschlossen
haben, die Leute, an deren politischen Verbrechen der Staat heute
krankt, sie haben auf die einzig wichtige und dringliche Frage des
Staates keine Antwort gewußt. Nicht das leiseste Echo hat sich
aus diesen verödeten Herzen und vertrockneten Hirnen heraus-
locken lassen. Und die Regierung? Herr v. Körber ist gewiß ein
intelligenter Mann. Es wäre überhaupt unrecht, wenn man uns Öster-
reichern oder unseren Bürokraten den Vorwurf der Dummheit machen
würde. Was aber diesem Geschlecht fehlt und woran es auch Herrn
v. Körber fehlt, das ist der M u t. Nicht einen Funken von Mut hat er,
und so wird man ihm einmal nachsagen: Er war der Mann, der
alles weiß, aber gar nichts kann, der Mann, der sehr
gut weiß und begreift, wo das Übel steckt, der aber mit einem Blick
nach oben und einigen verschämten Liebesblicken nach unten für
den morgigen Tag sorgt; wenn er weiß, daß er morgen noch lebt,
so ist er zufrieden und um sich von Tag zu Tag zu fristen, opfert
er Stück für Stück das Wichtigste.
Wir sind in einem Zustand, wie niemals, so weit ich die Ge-
schichte kenne, ein Staat war. Wenn jemand ein Phantasiegemälde
entwerfen wollte von allen Verrücktheiten und Unmöglichkeiten,
die in einem Staate auf einem Punkte vereinigt werden könnten,
nie könnte er einen Staat konstruieren, wie dieses Österreich ist,
nie könnte er sich einen Zustand ausmalen, wie der politische Zu-
stand dieses Landes in diesem Augenblick ist. Wir stecken in einem
Staate, der nicht weiß, ob er selbständig ist oder nicht, in einem
Staate, der begründet ist auf die Notwendigkeit, alle zehn Jahre
einen Selbstmord begehen zu müssen, alle zehn Jahre seine wich-
tigsten Interessen preisgeben zu müssen,um zu einem Vertrag**) mit
einem Lande zu kommen, das ganz recht hat, sich um uns nicht zu
kümmern und das mit größter Kaltblütigkeit und Energie seine
Wege zur Selbständigkeit geht. Wir sind gezwungen, alle zehn
Jahre Ungarn nachzulaufen, und unsere ganze innere Politik ist
ja tatsächlich darauf gerichtet, daß alle zehn Jahre die Vertreter
der Völker Österreichs Verrat an den Interessen des Volkes üben
*) Mit dem Antrag Ellenbogen, von dem oben die Rede ist.
'*) Der „Ausgleich" mit Ungarn mußte alle zehn Jahre neu geschlossen
werden und zu diesem unpopulären Zwecke mußten die Parteien im Par-
lament zusammengekauft werden, da anders eine Mehrheit nieht zu be-
kommen war. Das brachte das österreichische Parlament in der zweiten
Hälfte des .Jahrzehnts immer in Unordnung; da der Ausgleich 1867 be-
gonnen hatte, immer in den Jahren von 2 bis 7 des Jahrzehnts. Statt durch
Änderung des Verhältnisses zu Ungarn diesen ständigen Markt im Parla-
ment zu beseitigen, bei dem die Parteien meist für nationale oder wirt-
schaftliche Konzessionen gekauft wurden, erzeugte man nationale Unruhe
224 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
müssen, um jenes widernatürliche Untertänigkeitsverhältnis zu
Ungarn aufrechtzuerhalten, an dem keine Klasse ein Interesse hat,
nur eine Familie in Österreich ganz allein. (Beifall.)
Aber dieser Wahnwitz könnte nicht aufrechterhalten werden,
wenn er nicht ermöglicht würde durch den Wahnwitz unserer
inneren Zustände. Wir haben eine Verfassung, die den Existenz-
bedingungen der Völker Österreichs niemals entsprochen hat, die
aber heute gerade mörderisch ist für die Entwicklung, eine Ver-
fassung, die der Fluch dieses Landes ist, die niemandem zugute
kommt als einigen feudalen Familien und den Klerikalen, die im
Schatten dieser Verfassung ihre schmutzigen Geschäfte machen.
(Beifall.) Ein baufälliges Gebäude hat Pernerstorfer diesen Staat
genannt, und doch gibt es eine Schicht, die sich in diesem Hause
wohl fühlt. In jedem baufälligen Haus fühlt sich das Ungeziefer
ganz wohl. (Lebhafter Beifall.) Das ist es, in allen Ritzen stecken
sie, die davon leben, daß sich die Völker nicht entwickeln können.
Dem Parlament ist nicht zu helfen. Heutzutage ist ein Parlament,
das Vertreter des Großgrundbesitzes, der Handelskammern und
Vertreter des allgemeinen Wahlrechtes in einem Saale vereinigt, un-
möglich, und es wird nie seine Pflicht tun können. Ein solches
Parlament ist nicht nur die Frucht der Sünde und des
Verbrechens an den Völkern, sondern es ist auch für immer
zur Untätigkeit und Unfähigkeit verdammt.
Alle die Künste, die man versucht, um diese Leute zu galvani-
sieren, zeigen bloß, daß der Verwesungsprozeß zu weit vor-
geschritten ist, um auch nur den Anschein eines Lebens zu erzielen.
Sie wissen, welche Rezepte man anwenden will. Man behandelt
das Parlament ja jetzt wie einen Tobsüchtigen und meint, wenn
man die Zwangsjacke einer Geschäftsordnung an-
wenden würde, so würde der Tobsüchtige zur Ruhe zu bringen
sein. Möglich, mit der Zwangsjacke kann man knebeln, kann
man zur Ruhe bringen, aber man hat mit ihr noch nie eine Leiche
lebendig gemacht, ja noch nicht einmal einen Tobsüchtigen v e r-
n ü n f t i g.
Ich glaube nicht, daß der Versuch, das Parlament mit einer
anderen Geschäftsordnung flott zu machen, diese Zumutung, das
Parlament solle sich am eigenen Zopfe aus dem Sumpfe ziehen,
sich wiederholen wird. Wir haben dem Parlament den einzigen
Weg gewiesen, den es ehrlich gehen kann: Leben kann es nicht in
diesem Zustand, leben kann es nicht, wenn es begründet bleibt
auf dem Unrecht, auf der Vergewaltigung und Beschwindelung der
und statt durch einen nationalen Ausgleich diese zu beseitigen — was
nun wieder wegen der Dringlichkeit des parlamentarischen Marktes für den
Ausgleich schwer war — , vermehrte man sie noch, wie sich bei den
Sprachenverordnungen gezeigt hatte. Und wenn man das Parlament so
zerstört hatte, um den Ausgleich im Interesse des Kaisers zu schließen
— was immer mit Opfern Österreichs geschehen mußte — glaubte
man dann durch eine Geschäftsordnung der Krankheit des Parlaments bei-
kommen zu können: wie 1897, so jetzt und später.
Die Arbeiter uikI das Privilegienparlament. 225
großen Massen. Das einzige, was es konnte, wäre, sich selbst
umzubringen, einen ehrenvollen Tod zu sterben. (Lebhafter
Heifall.)
Und was nun? Wir müssen zusehen, dal.» Österreich eine
Lächerlichkeit und ein Objekt des Mitleids und der Verachtung
für das Ausland wird und müssen zusehen, wie die wirtschaftlichen
Interessen der breiten Massen auf das kläglichste mißachtet wer-
den. Wir können daran nichts ändern. Aber welche Hoffnung
haben denn die anderen? Es ist ein bezeichnendes Wort von Mon-
signore Scheich er gesprochen worden. Kr hat erzählt: Ja, der
Thronfolger, der weiß ganz genau, wie die Sache steht. Wenn wir
marschiere n*), meint der Thronfolger, dann werden sich die
Einigkeit und der Staat schon wieder herstellen lassen! Die Bajo-
nette sind also heute noch, wie wir sehen, die ultima ratio der
Politiker, denen die Zukunft dieses Landes schließlich überwiesen
werden wird. «Herr Scheicher hat dieses Wort sehr bewundert.
Er hat es in seiner Jesuitenschule eben nicht anders gelernt. Wir
aber wissen, wohin die Bajonette führen und wir wissen, daß die
Bajonette alles können, nur nicht einen Staat
retten, der dem Untergang geweiht ist. (Lebhafter
Beifall.)
Nun nennt man es „S t a a t s s t r e i c h", wrenn man davon
hört, daß die Verfassung beseitigt und eine neue geschaffen werden
soll. Aber ist es weniger Staatsstreich, wenn Stück für Stück vom
Parlament weggenommen wird? Ist es weniger Staatsstreich, wenn
alles, was im Staate wichtig ist, nicht mehr durch das Parlament,
sondern durch die Regierung geschieht, wenn Gesetze von der
Regierung gegeben werden, wenn die Verfassung Tag für Tag bei
Seite geschoben und in den Staub getreten wird? Ist ein Staats-
streich etwas Schlimmeres als die beständige Verhöhnung und Ver-
neinung dieser Verfassung? Wir leben in einem Zustande, der un-
haltbar, unmöglich ist, der den Ekel an allen öffentlichen Angelegen-
heiten in jedem denkenden Menschen heraufbeschwören muß. Sie
werden wahrscheinlich die Empfindung haben, daß ich dieser Regie-
rung zu viel Ehre antue, wenn ich meinte, daß sie eine so vernünftige
Sache machen wird, wie es die ist, eine Verfassung, die ab-
gestorben, gemeingefährlich und schädlich ge-
worden ist, zu beseitigen und den Boden für eine neue
Verfassung zu schaffen, eine Konstituante einzuberufen
und zu sagen : „Das alte Haus ist unbrauchbar. Bauen
wirunseinneuesHau s!" Eine so vernünftige, eine so selbst-
verständliche Sache kann man von einer österreichischen Regierung
nicht erwarten. Das kann man doch von Leuten nicht erwarten,
*) Der Thronfolger Franz Ferdinand hatte die Vorstellung, daß man
Ungarn unterwerfen müsse. Diese Auffassung wurde in zahllosen Versionen,
meist von den Christlichsozialen, die sich als die Popularisierer seiner An-
schauungen ansahen, kolportiert. So soll er gesagt haben: „Wir brauchen
wieder einen Haynau!" „Ungarn muß alle hundert Jahre einmal unterworfen
werden!" „Man muß in Ungarn einmarschieren!"
Adler, Briefe. X. Bd. 15
226 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
die uns seit Jahrhunderten beherrschen und uns an alles andere
eher gewöhnt haben als an Ehrlichkeit und Mut. (Lebhafter
Beifall.) Das wäre eine Überschätzung derer, die uns beherrschen.
So lange noch ein anderer Ausweg bleibt, und sei er noch so blöd-
sinnig, sei. er noch so verwerflich, sei er politisch noch so nieder-
trächtig: ihn wird man benützen. Aber es kommt die Zeit, wo das
nicht mehr geht, wo die eiserne Notwendigkeit den Wider-
strebendsten Verstand und Entschlossenheit einpaukt. Ich habe
keine Hoffnung auf den Verstand der Herrschenden. Aber ich habe
die feste Hoffnung auf die innere Logik und die Notwendigkeit der
Dinge. Die Naturgesetze und die Gesetze der Geschichte bestehen
doch auch für dieses Land. Wir können zunächst nichts anderes
tun als warten, aber diese Zeit müssen wir nützlich ausfüllen zur
Aufklärung der Massen. Es wird eine Zeit kommen, wo die Arbeiter-
schaft lauter, leidenschaftlicher und energischer sprechen wird, als
es heute von Nutzen wäre. (Lebhafter Beifall.) Heute müssen wir
uns sammeln und unsere Kräfte aufsparen. Ich sehe es als ein gutes
Zeichen an, daß wir Sozialdemokraten auch heute hier zusammen-
gekommen sind. Vielleicht gibt es Ihnen wie mir etwas Freude und
etwas Hoffnung, daß, wenn alles in diesem Staate wert ist zu ver-
schwinden, wenn alles verfault und zugrunde geht, wenn nichts
da ist, das nicht von der Korruption und der Feigheit zerfressen
wird, doch in diesem Staate eines lebt und gesund ist: das
kämpfende Proletariat, dem alle unsere Hoffnungen gehören. (Leb-
hafter Beifall.)
Der Wahlrechtskampf beginnt.
Böhmische Landeskonferenz, 2 3. Juli 1905*).
Es ist für mich eine ernste Freude, namens der Exekutive der
sozialdemokratischen Partei in Österreich den böhmischen Landtag
des Proletariats begrüßen zu können, der fürwahr mehr das Volk
*) Die Landeskonferenz der Sozialdemokraten Böhmens, auf der Adler
diese Begrüßungsrede hielt, hat am 23. Juli 1905 im Saal der Produkten-
börse in Prag getagt. Auf der Tagesordnung stand nur die Beratung des
Kampfes für das Landtagswahlrecht. Aber über alles Erwarten hinaus
wurde diese Konferenz die Einleitung des Kampfes nicht nur für das Land-
tagswahlrecht, sondern mehr noch für das Wahlrecht zum Reichsrat und
in dieser Hinsicht eine historische Tagung. Die Bedeutung der Konferenz
zeigte sich schon in der starken Beschickung. 541 Delegierte — 304 Tsche-
chen und 237 Deutsche — waren erschienen; aus Wien waren für die
Parteiexekutive Adler, S e i t z und S k a r e t gekommen.
Mit den Landtagen hatte es seine besondere Bewandtnis. Sie waren
noch reaktionärere Körperschaften als der Reichsrat, die Landtagswahl-
ordnungen noch viel engherziger als die Reichsratswahlordnung. In den
Landtagen — und das gilt ganz besonders für den böhmischen Landtag —
waren die Feudalen geradezu die Herren. Aus ihren Kreisen wurde vom
Kaiser der Landmarschall ernannt, der selbstherrlich die Tagesordnung
bestimmte und ohne ihre Zustimmung konnte keine Änderung der Landes-
Der Wahlrechtskampf beginnt. '££1
Böhmens repräsentiert als die Clique, die sich heute diesen Namen
anmaßt. Der Kampf, den Sie nun wieder aufnehmen, ist nicht von
heute und Sie dürfen nicht holten, daß Sie ihn morgen beenden
Ordnung vorgenommen werden. Der böhmische Landtag zahlte 242 Ab-
geordnete: davon TU ans der Kurie des ( iroßgrundbesitzes (davon wieder
16 vom fideikommissarischen Großgrundbesitz), 87 ans Städten und
Handelskammern, 7() ans den Landgemeinden. Außerdem hatten vier
Bischöfe und zwei Universitätsrektoren im Landtag Sitz und stimme.
Da nun zu jeder Änderung der Landesordnung die Anwesenheit von
mindestens drei Vierteln aller Abgeordneten erforderlich war, hatten es
die Großgrundbesitzer in der Hand, jede Änderung der Wahlordnung zu
verhindern. Nun war seit einiger Zeit der Landtag durch die Obstruktion
der Deutschen arbeitsunfähig gemacht und die Regierung wollte deshalb
durch Einführung sogenannter „nationaler Kurien", die in allen
nationalen Angelegenheiten ein Vetorecht erhalten sollten (mit ihnen sollte
übrigens bezeichnenderweise die Großgrundbesitzerkurie gleichberechtigt
sein), den Frieden im Landtag wieder herstellen. Aber eine Änderung der
Landesordnung war nicht mehr möglich, ohne daß man zugleich auch den
Arbeitern das Wahlrecht gab. Seit dem Jahre 1897 besaßen die
Arbeiter das Wahlrecht für den Reichsrat, allerdings bloß in der Form
der fünften Kurie. Diese fünfte Kurie, die den Arbeitern ein winziges Stück-
chen Recht gab und sie um den größten Teil ihres Rechtes betrog, wollte
man nun auch in die Landtage verpflanzen. In einigen war das bereits
geschehen. Doch hatte K ö r b e r das Prinzip aufgestellt, daß die fünfte
Kurie im Landtag doppelt so viel Abgeordnete haben müsse, als sie aus
jenem Lande in den Reichsrat entsendete. Dadurch wurden auch die
riesigen Wahlkreise der Reichsratskurie verkleinert und die Aussichten
der Arbeiter, eine Vertretung im Landtag zu erhalten, vergrößert. So hatte
zum Beispiel Steiermark im Reichsrat vier Abgeordnete der fünften Kurie,
darunter keinen einzigen Sozialdemokraten, im Landtag mit acht Wahl-
kreisen zwei Sozialdemokraten. Aber G a u t s c h wollte die Arbeiter selbst
um dieses winzige Recht bringen; und er hatte deshalb dem
Landtag von Böhmen eine Vorlage angekündigt, die der allgemeinen Kurie
bloß 18 Mandate, genau so viel, wie im Reichsrat, geben wollte.
Mit diesem Wechselbalg hatte sich der Landesparteitag zu befassen
und er sagte ihm einstimmig den schärfsten Kampf an. Die Konferenz
atmete revolutionären Geist. Alle Redner sprachen es aus, daß diese
Reform nicht Gesetz werden dürfe und daß in ganz Böhmen eine große
Wahlrechtsbewegung, wie sie in den neunziger Jahren für das
Reichsratswahlrecht durchgeführt wurde, nun auch für das Landtagswahl-
recht einsetzen müsse. Im Namen der Parteileitung versprach Dr. Adler
den böhmischen Genossen die stärkste Unterstützung der ganzen Partei,
Seitz die Unterstützung im Parlament. Wie die Wahlrechtsbewegung
aussehen werde, darüber wurde der Regierung in den Reden, wie auch
in der Resolution kein Zweifel gelassen. Schon der erste Referent Nemec
(Prag, tschechisch) sagte: „Wir werden um unser Recht mit den Waffen
kämpfen, die uns die Regierung aufzwingt... Mit den Argumenten
der Straße werden wir den Herren in die Ohren rufen, daß wir das
allgemeine, gleiche Wahlrecht wollen." Und ebenso deutlich sprach es der
deutsehe Referent Seliger (Teplitz) aus, daß die böhmischen Arbeiter
nicht nur mit Versammlungen, mit Zeitungsblättern und Flugschriften
kämpfen werden, sondern daß sie, wenn es notwendig werden wird, auch
auf der Straße sich ihr Recht zu holen gewillt sind. Auch
die Referenten über die nun einzuschlagende Taktik, Steiner (Prag,
15*
228 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
werden. Hier in Prag*) haben wir im Jahre 1896 über die Niedertracht
der Badenischen Kurie das Urteil gesprochen. Wir haben gewarnt,
wir haben genau vorausgesehen, welche vergiftende Wirkungen
diese fünfte Kurie haben muß. Wir haben vorausgesagt, daß sie
nicht nur ein Unrecht an der arbeitenden Klasse ist, sondern daß
der Staat selbst daran zugrunde gehen muß. (Lebhafte Zu-
stimmung.) Aber Herr v. Gautsch ist um kein Haar besser, als es
Badeni war. Unsere Regierungen haben in diesem Moment, wo dieses
Österreich zusammenkracht, wo es in seinen Wurzeln erschüttert
ist, keine andere Sorge, als wie hypnotisiert auf die Interessen einer
Handvoll Feudalen hinzublicken, und ihre ganze Sorge, wenn sie
darangehen, dem Lande Böhmen ein neues Wahlgesetz zu geben,
ist, daß nur um des Himmels willen das Privileg und das Veto
dieser Handvoll Adeligen nicht tangiert werde. Das ist das Ver-
brechen dieser österreichischen Staatsmänner ohne Unterschied
der Nationalität. Denn die Dummheit ist bei uns eine internationale
Einrichtung. (Heiterkeit.)
Der Kampf, den Sie führen, ist ein Kampf, der wahrhaftig nicht
Böhmen allein angeht; und es ist kein Zweifel, daß jede politische
Angelegenheit, die Böhmen betrifft, und erst recht eine solche
Wahlordnung, weit hinaus über die Grenzen des Landes politische
Bedeutung hat. Und wenn es Ihnen gelänge, diese Giftwurzel der
fünften Kurie wirklich auszureißen, ja, wenn es Ihnen nur gelingen
wird, dieses freche Attentat, das die Regierung auf die Ehre der
böhmischen Arbeiterschaft vorhat, mit der gebührenden Ent-
schiedenheit zurückzuweisen, dann haben Sie ein Werk getan nicht
allein für Böhmen, sondern dann haben Sie für uns alle in
Österreich gearbeitet. (Lebhafter Beifall.) Wir sind den
Wahlrechtskampf gewöhnt, gewöhnt, hart und mühsam und immer
wieder kämpfen zu müssen; aber wenn ein solch entscheidender
Moment kommt wie heute, dann darf die Arbeiterschaft von ihren
Vertretern erwarten, daß jeder auf seinem Posten sei und jeder
tschechisch) und Schäfer (Reichenberg, deutsch) kündigten einen er-
bitterten Kampf und die Argumente der Straße an.
Eine Resolution sagte dann den schärfsten Kampf an.
Am 24. September fand bereits auf dem fiavlicekplatz in Prag eine
Massenversammlung statt, in der unter anderen auch Masaryk sprach.
Am 10. Oktober ruhte in ganz Prag die Arbeit. Nun entschloß sich die
Regierung, die Zahl der Mandate zu verdoppeln: statt 18 sollte die all-
gemeine Wählerklasse 36 Mandate erhalten. Aber die Arbeiter waren
damit nicht zu beruhigen.
Inzwischen hatte die russische Revolution Fortschritte gemacht
und Franz Josef hatte am 8. September in Ungarn durch K r i s t o t f y
und Fejervary das allgemeine Wahlrecht versprochen. Es kam zu der
Reichskonferenz vom 22. September, die den Kampf für das allgemeine
Wahlrecht proklamierte. (Siehe dazu die Bemerkungen bei Adlers Rede
auf der Reichskonferenz, Bd. VIII, Seite 254 ff.)
*) Auf dem Parteitag, der auf der Schützeninsel in Prag vom 5. bis
11. August 1896 stattfand. (Siehe Adlers Rede über Badenis Wahl-
reform weiter oben, Seite 162 f.)
Der Wahlrechtskampf beginnt. 229
seine Pflicht tue. Diese Konferenz - eine Konferenz, wie icli noch
keine gesehen habe, seitdem ich in der Partei hin zeigt, daß Sie
sich der Wichtigkeit des Moments bewußt sind. (Beifall.) Die Regie^
rung wird uns verstehen, die privilegierten Parteien werden uns
verstellen. Und wenn sie uns nicht verstehen wollen, dann werden
Sie die Mittel finden, ihnen das Verständnis beizubringen. In diesem
Sinne begrüße ich Sie und wünsche Ihren Verhandlungen und dem
Kampfe, der Ihnen nun bevorsteht, vollen Erfolg. (Stürmischer Hei-
fall.)
Gruß an die russische Revolution*).
Es ist selbstverständlich, daß wir, nachdem wir die Arbeit, die
uns obliegt, in so außerordentlich zufriedenstellender Weise erledigt
haben, uns auch dessen erinnern, was heute, wo immer es Prole-
tarier gibt, ihre erste Sorge ist. Uns alle beseelt neben der täglichen
mühseligen Arbeit ein Gefühl der Sehnsucht und des Wunsches,
des Qebetes, wenn wir beten könnten, für die Revolution in
Rußland. Seit fünfzig Jahren und länger wird dieser Kampf ge-
führt und die Älteren von uns werden es sich gestehen müssen, daß
wir oft daran gezweifelt haben, ob wir diesen Tag erleben werden,
der endlich gekommen ist, den Tag, da die blutige Regierung des
Zaren erzittert vor dem Schritte der Revolution. Auch die Bürger-
lichen haben ja sehr viel Sympathien dafür, daß es in Rußland zu
etwas Liberalismus komme. Was die aber wollen und das, was jene
wollen, die seit einem Menschenalter ihr Blut, ihre Freiheit, ihr
Leben hinopfern, die in den Verließen der Peter- und Paulsfestung,
in den Bleibergwerken am Ural, in den Steppen Sibiriens zugrunde
gehen: das ist ein ganz anderes Ideal. Und nicht bloße Sympathie
ist es, was wir den Russen und Polen in ihren Kämpfen entgegen-
bringen. Es ist unser Herzblut, das mit ihnen ist . . . Es ist das glor-
reichste Schauspiel, das wir erleben konnten, und es ist hoffentlich
der Beginn einer neuen Zukunft für Europa. (Stürmischer Beifall.)
*) Nachdem die Resolution über den Wahlrechtskampf unter großem
Jubel einstimmig beschlossen worden war, legten Adler und Johanis
(tschechisch) folgende Resolution vor:
Die Vertreter des Proletariats Böhmens beider Nationen blicken mit
leidenschaftlicher Bewunderung und aller Hoffnung
ihres Herzens auf das revolutionäre Proletariat Ruß-
lands und Polens, das jenen heldenmütigen Kampf gegen den
blutigen Zarismus führt, der die Stütze und der Verbündete aller Unter-
drücker der Völker Europas ist.
Die Sozialdemokraten Böhmens senden ihren russischen und pol-
nischen Genossen innigsten Gruß brüderlicher Solidari-
tät.
Auch diese Resolution wurde unter den Rufen „Hoch die Revo-
lution!" einstimmig beschlossen und dann die Konferenz geschlossen.
(Siehe auch die Rede, die Adler beim Ausbruch der russischen Revolution
«ehalten hat, Bd. VIII, Seite 271 ff., sowie später die Rede vom 21. Jänner
1900, dem (i e d e n k t a g der Revolution", und schließlich auch die
vom 17. März 1917 beim Ausbruch der zweiten Revolution.)
230 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Vor 120 Jahren hat die Revolution im Westen begonnen; heute
beginnt eine revolutionäre Ära im Osten. Es ist ein geschichtlicher
Moment und es kann keine Versammlung von Sozialdemokraten
geben, die sich dieses Moments und der Verpflichtung, die das
Proletariat ihm gegenüber hat, nicht bewußt wäre. (Neuerlicher Bei-
fall.)
Gautsch und die ungarische Wahlreform.
Wählerversammlung, 11. September 190 5.
Die Aufforderung, in diesem Bezirk in den Wahlkampf*) zu
treten, ergeht in einem politisch bedeutsamen Moment. Niemals
vielleicht mehr als heute war es nötig, daß im Parlament die
*) Am 9. September hatte der ungarische Minister des Innern, Josef
K r i s t o f f y, vor seinen Wählern in Nemet-Bogsan in einer Rede
als das einzige Mittel, Ordnung in die ungarische Krise zu bringen, das
allgemeine Wahlrecht hingestellt. In Ungarn hatte nämlich am Ende des
vorigen Jahres die Opposition der Unabhängigkeitspartei das Parlament
mit Gewalt zerstört, worauf der größenwahnsinnige Ministerpräsident, Graf
Stephan T i s z a, in der Überzeugung, die Opposition zu zerschmettern,
das Parlament aufgelöst hatte. Ja er soll in dem Vertrauen auf seine
zaubergewaltige Erscheinung zum Teil sogar auch die Anwendung des in
Ungarn üblichen Mittels der Wahlbeeinflussung eingeschränkt haben. Das
Ergebnis war, daß neben 151 Liberalen (Anhängern Tiszas) 159 Mitglieder der
48er-Unabhängigkeitspartei Kossuths und 82 andere Oppositionelle gewählt
wurden. Da die Regierung also in der Minderheit war, mußte Tisza zurück-
treten. Zum Präsidenten wurde der Führer der Unabhängigkeitspartei
J u s t h gewählt. Aber eine Regierung aus den Parteien der koalierten
Opposition zu bilden, war nicht möglich, da sie nicht nur die Zolltrennung
von Österreich, sondern auch die selbständige ungarische Armee, zunächst
die ungarische Kommandosprache bei den ungarischen Regimentern ver-
langte.
Verhandlungen des Kaisers mit dem Grafen Andrassy als dem Ver-
trauensmann der Koalition zerschlugen sich und als am 2. Juni mit großer
Mehrheit ein Antrag Kossuth auf Schaffung eines autonomen ungarischen
Zolltarifs beschlossen wurde, betraute Franz Josef den früheren Honved-
minister (Minister der ungarischen Landwehr) und General der kaiser-
lichen Trabantenleibgarde, den greisen Baron Geza F e j e r v a r y (er ist
1833 geboren und ist 1914, kurz vor dem Kriege, gestorben), mit der Bildung
eines Kabinetts. Dieser konnte aber keine Politiker für sein Ministerium
gewinnen, sondern nur ungarische Beamte, unter ihnen als Minister des
Innern den Obergespan Kristoffy, einen Mann von altem ungarischen
Adel, der aber in der Staatsverwaltung den unheilvollen Einfluß der unga-
rischen Aristokratie kennengelernt hatte, die die ganze staatliche und auto-
nome (Komitats-) Verwaltung beherrschte. Obwohl ein von Fejervary
verlesenes königliches Handschreiben erklärte, die Regierung solle nur
die Bildung eines parlamentarischen Ministeriums vorbereiten, wurde er
von allen Parteien, auch von den Liberalen, abgelehnt. Das Parlament be-
schloß ein Mißtrauensvotum, worauf Fejervary das Parlament vertagte.
Die Koalition erklärte darauf die Regierung für verfassungswidrig und die
städtischen Munizipien und die ländlichen Komitate beschlossen, der ver-
fassungswidrigen Regierung die Steuern und Rekruten zu verweigern.
Gautsch und die ungarische Wahlreform. 231
Stimme der sozialdemokratischen Arbeiterschaft gehört wird. In
dem hoffnungslosen Sumpf bewegt es sich endlich und es sieht aus,
als oh es zu einer Entscheidung kommen könnte. Dem Schwindel
Unter diesen Umständen hielt Kristoffy seine Rede, in der er erklärte, daß
die sozialen Ideen die staatsrechtlichen ersetzen sollten und darum das all-
gemeine Wahlrecht eingeführt werden solle.
Die Rede hatte den Wahlrechtskampf der ungarischen Arbeiter von
neuem entflammt, zugleich aber auch den der österreichischen Arbeiter,
zumal da man erfuhr, daß der österreichische Ministerpräsident Baron
Qautsch am 10. September im Kronrat in Ischl gegen die Einführung
des allgemeinen Wahlrechts in Ungarn wegen der Rückwirkung auf
Österreich Einspruch erhoben habe.
Man hörte auch, daß Fejervary seine Demission überreicht hatte und
wußte nicht, ob sie angenommen werde.
Wie die Auffassung in Österreich war, kann man daraus ersehen, daß
die „Arbeiter-Zeitung" noch in der Nummer vom 13. September, als die
Koalition bereits den Antrag eingebracht hatte, die Regierung in den An-
klagezustand zu versetzen, schrieb:
„Der Kaiser hat die Vorschläge seiner ungarischen Regierung heute
endgültig abgelehnt und die Regierung Fejervary hat die Konsequenzen
gezogen : ihre Demission ist überreicht und ange-
nommen. Bekanntlich ist Fejervary noch gestern nach Wien ge-
kommen, um dem Kaiser über die Beschlüsse des Vormittags abge-
haltenen Ministerrates zu berichten. Daß die Beschlüsse eingeholt
wurden, deutet darauf hin, daß der Kaiser seinen Ministern angesonnen
hat, den durch die Rede des Ministers des Innern so feierlich prokla-
mierten Standpunkt aufzugeben, also entweder in die Entstellung oder
Verschleppung der Wahlreform zu willigen. Die Minister haben das ab-
gelehnt — wir glauben: mit sehr entschiedenen Worten — und Fejer-
vary bevollmächtigt, im Falle der Weigerung der Krone, der Reform
des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes die Zustimmung zu geben,
dem Kaiser das Demissionsgesuch zu unterbreiten. Dazu haben sie auch
wirklich guten Grund gehabt, denn es steht so ziemlich fest, daß der
Kaiser das Reformprogramm in Ischl angenommen, für das Wahl-
reform g e s e t z die Vorsanktion gegeben, seine Ent-
scheidung aber nun, als Wirkung des Einspruches des Gautsch, zurück-
nimmt. Auch heute wurde Fejervary erst dann vor den Kaiser gelassen,
nachdem Gautsch Audienz gehabt, also Gelegenheit hatte, seine Hetze
gegen die ungarische Reform zu wiederholen. Nach Fejervary kam dann
Graf Goluchowski zu Worte, der gleichfalls seine „Ratschläge" er-
neuerte. Mittlerweile war Fejervary bei dem Chef der Kabinettskanzlei
Freiherrn v. Schießl. Nachmittags erschien er zur zweiten Audienz, wo
dann die Ablehnung der Reform entschieden wurde. Baron Fejervary
überreichte nun die Demission seines Kabinetts und der Kaiser nahm
sie an. Baron Fejervary reist erst morgen nach Budapest zurück; ob
er im Abgeordnetenhaus erscheinen wird, ist nicht sicher. Noch weniger
wahrscheinlich ist es von den übrigen Ministern; diese sollen ent-
schlossen sein, die Mitteilung von ihrem Rücktritt dem Präsidenten
„durch einen Dienstmann" zuzuschicken.
Was jetzt kommen wird, ist klar. Da die Krone durch Lukacs mit
der Koalition bereits verhandeln ließ, so wird die Geschichte nun sehr
rasch vor sich gehen: die Koalitionsführer wurden schon heute geladen
und sie werden vielleicht noch vor Freitag in Wien sein. Die Krone
232 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
des Dualismus ein Ende zu machen und damit die Vorbedingung
zu schaffen für die Erfüllung unserer historischen Aufgabe, den
Kampf gegen den kapitalistischen Staat, das ist heute unsere erste
Pflicht. Wir haben uns nie an dem demagogischen Kampfe gegen
Ungarn beteiligt, wie ihn die Christlichsozialen betrieben haben;
aber wir wünschen die staatsrechtliche Trennung von Ungarn, um
dann eine vernünftige wirtschaftliche Verbindung einzugehen. Aber
was die Dynastie und die ihr Nahestehenden wollen, ist das Umge-
kehrte. Die wirtschaftliche Übervorteilung Österreichs durch
erhält den „Verzicht" auf die magyarische Kommandosprache und die
Koalition wird von dem Gespenst des allgemeinen und gleichen Rechtes
befreit. Und es wird wieder Eljen! gerufen werden, der König der ge-
liebte Herrscher und die koalierten Rebellen die treuen Ungarn sein.
Was die Hauptsache ist und war."
Das war damals noch nicht richtig. Franz Josef hielt noch einige Zeit
an Fejervary fest und verriet die Wahlreform erst später an die Koalition.
— Siehe im achten Band dieser Schriften Adlers Reden auf den beiden
Reichskonferenzen, vom 22. September („D ie verratenen Ungar n",
Bd. VIII, Seite 254 ff.) und vom 27. September 1908 („Das Ende des
cäsaristischen Traume s", Bd. VIII, Seite 258 ff.) sowie die dazu-
gehörigen erläuternden Bemerkungen in der Fußnote. Ladislaus L u k a c s,
von dem in den Bemerkungen der „Arbeiter-Zeitung" als Vermittler gegen
die Wahlreform die Rede ist, ist im Jahre 1912, nach dem Mißlingen der
Gewaltregierung des Grafen Khuen-Hedervary, Ministerpräsident ge-
worden, um das, was Khuen mit Gewalt nicht durchzusetzen vermochte
— nämlich die Bewilligung der habsburgischen Militärforderungen — , mit
List und Korruption zu erreichen. Aber die Unabhängigkeitspartei ging ihm
nicht in die Falle. Am 18. September 1912 erklärte der ehemalige Staats-
sekretär im Finanzministerium, Abgeordneter Zoltan D e s y, der Vize-
präsident der Kossuth-Partei, öffentlich, daß der Ministerpräsident Lukacs
— der auch in einer anonymen Broschüre zahlreicher privater Korruptions-
affären beschuldigt worden war, ohne den Mut zur Klage zu haben — , der
„größte P a n a m i s t" sei. Diese Beschuldigung belegte er mit einer
ganzen Menge von Tatsachen. Am 3. Juni 1913 wurde D e s y vom Buda-
pester Strafgerichtshof mit der Begründung freigesprochen, daß er den
Wahrheitsbeweis erbracht habe, und obwohl sich Franz Josef be-
mühte, ihn zu halten, mußte Lukacs zurücktreten und zu seinem Nach-
folger wurde Graf Stephan T i s z a ernannt.
Die Versammlung in Hambergers Saal in Margareten, in der Adler
sprach, war eigentlich eine Wählerversammlung. Es mußten nämlich nach
dem verstorbenen Wiener Vizebürgermeister Strobach in der Zensus-
kurie in Margareten für den Reichsrat und auf dem Aisergrund für den
Landtag Nachwahlen vorgenommen werden. In Margareten kandidierte
gegen den Christlichsozialen Professor Sturm von den Sozialdemokraten
R e u m a n n, auf dem Aisergrund gegen den Pater W o 1 n y der Sozial-
politiker Z e m a n n, der auch von den Sozialdemokraten unterstützt wurde.
Bei den Wahlen am 10. Oktober wurde Sturm mit 5184 Stimmen gewählt;
Reumann erhielt immerhin 3216 Stimmen. In den Landtag wurde Pater
Wolny mit 6006 gegen 2301 Stimmen gewählt.
Adler sprach natürlich vornehmlich über die Versuche des Barons
Gautsch, die Wahlreform in Ungarn zu verhindern.
Gautsch war am 31. Dezember 1904, nach Körbers Rücktritt, an die
Spitze der Regierung getreten.
Qautsch und die ungarische Wahlreform. 233
Ungarn geniert sie niclit im geringsten. Sic interessiert das, was
wir nicht wollen: das Phantom der Großmacht, der unsere Kinder
und unser (ield geopfert werden, die große einheitliche Armee.
Wenn wir ein wirkliches Volksparlament hatten, das sich darum
auch seiner Kraft bewußt wäre, dann wäre die notwendige
Trennung der siamesischen Zwillinge längst vollzogen. Wir haben
aber nur Parteien, die heulen können, aber nicht handeln, die immer
ihren Blick nach oben richten und sich um keinen Preis mit der
Ungnade von oben beladen wollen.
Der Konflikt der Krone mit Ungarn hat sich so zugespitzt, daß
es schließlich um ein Symbol, die Kommandosprache, geht. Da
kommt nun, da der Karren nicht weiter kann, ein Ministerpräsident,
der in einer verzweifelten Situation die Regierung angetreten hat,
und mit ihm ein Mann als Minister, den man bisher nicht kannte,
und es passiert etwas Wunderliches. Ein ungarischer Minister, der
von der Krone ernannt ist, spricht wie ein vernünftiger Politiker.
Der Mann sagt, die militärischen Forderungen seien die Sorgen
einer dünnen herrschenden Schicht, und der Konflikt könne nur
dadurch beigelegt werden, daß man die ernsten Interessen der
Bevölkerung erfüllt. Es schien sehr vernünftig, daß es hieß: „Wir
wollen appellieren an den Willen des Volkes!" Aber darum
war es nicht glaubhaft.
Kristoffy hat als Privatmann vom allgemeinen Wahlrecht
gesprochen. Die ungarischen Sozialdemokraten haben
ihn natürlich als Minister beim Worte genommen und sie haben mit
Recht gesagt : „Nun istunsereForderungvonbeiden
streitenden Parteien anerkannt, vom Minister und
längst schon von den radikalen Parteien der Koalition, die sich
rühmten, die wahren Volksparteien zu sein!" Die ungarischen
Sozialdemokraten verlangten die Erfüllung ihrer Forderung und
sie haben einen mannhaften Kampf um ihr Recht unternommen.
Ich gestehe nun, daß ich nie ernstlich geglaubt habe, daß in
Wien die entscheidenden Faktoren einen lichten Moment haben
können, der länger dauert als eben einen Moment. Ich glaube heute
noch nicht, daß Kristoffy offizielle Erlaubnis gehabt hat, vernünftige
Politik zu machen. Vielleicht war es aber doch so. Vielleicht konnte
man in der ärgsten Not, die so oft beten lehrt, statt des Gebetes
ein Gran politischer Vernunft produzieren. In diesem Moment ist
nun die österreichische auf den Plan getreten und hat geschrien:
Es besteht große Gefahr für Österreich. In Ungarn soll etwas Ver-
nünftiges geschehen. Das ist die Gefahr, daß sich Recht und
Vernunft ausbreiten wie eine Seuche, über die Leitha kommen und
unser ältestes Gerumpel wegraffen. Herrn G a u t s c h, den alten
Theresianisten*) — wir haben zwei gemeingefährliche Erziehungs-
institute in Österreich: das Theresianum und Kalksburg, sie liefern
die politischen Jesuiten und die jesuitischen Politiker — , diesen
*) Qautsch war Direktor des Theresianums gewesen, der Anstalt, an
der die langen Adeligen erzogen wurden. In Kalksburtf war ein Jesuiten-
konvikt mit einem von ihnen geleiteten Gymnasium.
234 Der Sic« des gleichen Wahlrechts.
Gautsch kennen wir lange. Er hat als Unterrichtsminister die Volks-
schule im Kleinverschleiß an die Pfaffen ausgeliefert. Vielleicht ist
er ein „Liberaler" wie die alten Bürokraten, aber er ist weich
und biegsam, wenn die hochwürdigen Herren und die Magnaten
kommen. Man hört ihn förmlich, wie er alleruntertänigst das alte
Gewissen wachruft mit der Frage: „Was werden die Erzbischöfe
und die Magnaten dazu sagen?" Der Mann ist zu allem zu
brauchen. Er hat die Taaffesche Wahlreform mit eingebracht und
er konnte dann ohne Wahlreform wieder Minister sein*). Er kann es
rechts und er kann es links. Die blöden nationalen Deutschen
heißen ihn ihren Mann und die blöden nationalen Tschechen den
ihren und er foppt sie beide. Sein Wort hat viel vermocht, denn in
ihm verkörpert sich alles, was volksfeindlich, was reaktionär ist.
Dieselbe Regierung, die sich jedesmal vor Ungarn ins Mauseloch
verkrochen hat, wagt jetzt eine Einmischung, zu der sie zugunsten
der wirklichen Interessen Österreichs nie den Mut gefunden hätte,
zugunsten der reaktionären Niedertracht. (Lebhafter Beifall.)
Drüben steht es genau so. Kossuth und Apponyi, die großen
revolutionären Helden, die einen Höllenlärm anfingen, wenn ihre
wirtschaftlichen Vorteile durch Einmischung Österreichs bedroht
würden, greifen gierig nach der Hand des schwarzgelben Gautsch,
weil er der Träger der Reaktion, der Träger der Privilegien ist.
Wir kennen Gautsch. Er hat sich enthüllt als Feind des Rechtes der
Arbeiter durch die Impertinenz seiner böhmischen Landtagswahl-
reform. Und weil er der Feind unseres Rechtes ist, tritt er den
Ungarn in den Weg.
Gautsch sagt, man dürfe keine Wahlreform in Ungarn inachen,
weil sonst die radikalen Elemente in Österreich eine Umwälzung
herbeiführen würden. Er irrt sich, wenn er glaubt, daß
das allein von ihm abhängt. Gewiß, es wäre eine
Förderung unseres Kampfes, wenn es in Ungarn zu einem Fort-
schritt käme. Aber er wird kommen trotz Gautsch und
Kossuth. Mit dem Wahlrecht spielt man nicht, und ist die Katz'
aus dem Sack, ist es schwer, sie wieder ganz einzufangen. (Leb-
hafte Zustimmung.) Wir in Österreich warten nur auf den Moment,
der uns günstig ist, und wir werden den Moment für den Einsatz
unserer ganzen Kraft so wählen, daß auch das Ziel erreicht
werden kann. (Stürmischer Beifall.)
In einer solchen Zeit ist es nötig, daß keine Gelegenheit ver-
säumt wird, um dem Willen des arbeitenden Volkes Ausdruck zu
geben, und daß jeder, der es kann, seine Stimme abgebe für eine
klare und rücksichtslose Politik, nicht für die christlichsoziale
zweideutige und heuchlerische. Genossen, Sie werden mit den
Christlichsozialen zu kämpfen haben, also nicht mit Leuten, die mit
Prinzipien, mit der Kraft der ehrlichen Überzeugung streiten,
sondern mit Leuten, die entschlossen sind, jeden Kniff und jede
niedrige Umgehung und jeden Terrorismus zu üben. Ich kann Sie
*) Gautsch war im Ministerium des Grafen Taaffe Unterrichtsminister
gewesen und dann wieder im Ministerium Badeni.
im Zeichen des ersten Sieges. 235
nur bitten, machen Sic am 10. Oktober l:lirc der Partei und Ehre
dem alten, erprobten Genossen, der Ihr Kandidat ist. (Lebhalter
Beifall.)
Im Zeichen des ersten Sieges.
Versammlung im Sofie ns aal am 2 4. Oktober 190 5*).
Vor allem spreche ich Ihnen meinen herzlichen Dank aus für
die Freude, die Sie über meine Wahl zum Abgeordneten
haben. (Hochrufe.) Auch ich freue mich, nicht wegen des Amtes,
das ich übernehme, sondern auch deshalb, weil die Wahl eine
machtvolle Demonstration der Arbeiter Nordböhmens — dieser
erprobten Kerntruppen der internationalen Sozialdemokratie — für
*) Am 18. Oktober 1905 wurde Dr. Adler im Reichenberger Wahlkreis
der fünften Kurie mit 30.096 gegen 13.881 alldeutsche und
4860 christlichsoziale Stimmen gewählt, nachdem Josef H a n n i c h. um in
dem bevorstehenden Endstadium des Wahlrechtskampfes Adlers Mitarbeit an
dem parlamentarischen Kampf zu ermöglichen, das Mandat zurückgelegt
hatte. (Hannich wurde nach der Erringung des Wahlrechtes im Wahlkreis
Rumburg in das Parlament gewählt.)
Nachdem am 22. September die sozialdemokratische Reichskonferenz
den schärfsten Kampf für das allgemeine Wahlrecht beschlossen hatte,
fanden in ganz Österreich große Wahlrechtskundgebungen statt. (Siehe
Bd. VIII, Seite 254 ff.)
Am 26. September trat das Abgeordnetenhaus wieder zusammen und
hier bestritt Gautsch, der von den Sozialdemokraten mit einem Sturm der
Entrüstung empfangen wurde, daß er sich im Kronrat gegen die ungarische
Wahlreform ausgesprochen habe. Er erklärte, er sei kein prinzipieller
Gegner der Erweiterung des Wahlrechtes, halte aber die Einführung des
allgemeinen Wahlrechtes „mit Rücksicht darauf, daß das allgemeine Wahl-
recht, wenn es die Gewähr seines Bestandes in sich tragen solle, nur auf
der festen und dauernden Unterlage einer Ordnung unserer nationalen
Verhältnisse ruhen kann", zurzeit für unmöglich. Die Sozialdemokraten
(Daszynski und Genossen), aber auch die slawischen Abgeordneten,
und zwar der Jungtscheche P a c a k, der tschechische Nationalsozialist
C h o c, der Slowenischklerikale S u s t e r s i c, der polnische Demokrat
Breiter, hatten sofort Dringlichkeitsanträge für das allgemeine, gleiche
Wahlrecht eingebracht. Nachdem die Debatte über die Erklärung des
Ministerpräsidenten zu Ende gegangen war, begann am 5. Oktober die
Verhandlung der Dringlichkeitsanträge, zu denen auch noch ein Antrag
Dr. Ebenhoch für die deutschen Klerikalen („Katholische Volkspartei")
gekommen war. Dieser forderte die Regierung auf, „ungesäumt Studien
zu machen und Erhebungen zu pflegen, welche zum Ziele haben, an die
Stelle der gegenwärtigen ungerechten Wahlordnung ehemöglichst einen
Gesetzentwurf betreffend die Einführung des allgemeinen, geheimen und
direkten Wahlrechtes mit Berücksichtigung der nationalen, kulturellen,
wirtschaftlichen und sozialen Verschiedenheiten Österreichs vorzulegen.
{Über die Debatte siehe auch Bd. VIII, Seite 255, Anmerkung.)
Am 6. Oktober wurde abgestimmt. Die Dringlichkeit — das ist die
sofortige Verhandlung der Anträge — zu deren Annahme die Zweidrittel-
mehrheit notwendig gewesen wäre, wurde zwar abgelehnt. Aber immerhin
236 Der Sie;; des gleichen Wahlrechts.
das gleiche Wahlrecht war. Im Zeichen des gleichen
Wahlrechts haben wir den Wahlkampf geführt und im
Zeichen des gleichen Wahlrechts werden wir im Reichsrat den
Kampf führen. (Beifall.)
Der Kampf ist uns nicht neu. Seitdem es eine Sozialdemokratie
in Österreich gibt, hat sie für das allgemeine, gleiche Wahlrecht
kämpfen müssen, und hier in diesem Saale haben wir allen Anlaß,
uns jener stolzen Kämpfe zu erinnern, die wir in den neunziger
Jahren geführt haben. Freilich, dieser Kampf hat nicht zu dem
Ziele geführt, das wir wollten. In Österreich siegt die Vernunft
nicht leicht und die Unvernunft ist nicht leicht umzubringen. Aber
das bißchen, das wir erkämpft haben, haben wir allein erkämpft,
allein gegen eine Welt von Gegnern, gegen eine Welt von Dumm-
heit, von protzenhafter Borniertheit, von eingenisteten Vorurteilen.
Heute stehen die Dinge anders. Hier an dieser Stelle haben wir
die Wahlreform des Grafen Taaffe verurteilt*) und wir haben hier
vorausgesagt, daß, wer nicht den Mut hat, das Kuriensystem von
Grund aus auszurotten, nicht imstande ist, aus Österreich einen
vernünftigen, einen erträglichen Staat zu machen. Die Wahlreform
des Jahres 1893 war von Anbeginn eine halbe und sie wurde im
Jahre 1896 aus einer halben zu einer verpfuschten Viertelreform.
Für uns war diese fünfte Kurie nie mehr als eine Waffe, um
weiter zu kämpfen, und ein Redner hat damals auf dem Partei-
tag gesagt: Mit einem Eselskinnbacken hat Simson die Philister
geschlagen, so mag uns denn auch diese fünfte Kurie als eine
solche Waffe dienen. Wir haben diese Waffe ausgenützt. Wir haben
den Widerstand, wir haben die Einsicht und Kraft des Proletariats
gesteigert. Aber der Weg zum Ziele hängt nicht allein von unserer
Kraft ab, sondern auch von der sinkenden Macht der Gegner. Wenn
wir Fortschritte gemacht haben, so hat noch mehr Fortschritte
gemacht die Zersetzung, die Fäulnis des Staates. Die Sünde
des Unrechts, des Verbrechens am Volke hat sich
blutig gerächt, nicht an denen, an denen sie verübt wurde,
sondern sie hat den Staat erfaßt in allen seinen Gliedern bis zu
seiner Spitze, und Fäulnis, Elend, Ohnmacht sind die Folgen des
Verbrechens an dem gleichen Recht. (Stürmische Zustimmung.)
Wir sind nicht klüger geworden, denn was wir heute wissen,
wußten wir längst, aber die anderen sind nicht mehr
dieselben, die sie waren. Stück für Stück ist zusammen-
gebrochen, was an diesem Staate lebensfähig schien, bis zur abso-
zeigte sich, daß die Mehrheit des Abgeordnetenhauses für
die Wahlreform sei. Für die Dringlichkeit stimmten 155, dagegen nur
114 Abgeordnete! Unter den Gegnern waren noch 52 Großgrundbesitzer
und sechs Vertreter der Handelskammern.
Es war der erste Sieg im Wahlrechtskampf.
Unter solchen Umständen fand nun auch die Versammlung im Sofien-
saal statt.
*) Siehe die große Rede Adlers im Sofiensaal am 16. Oktober 1893-
im ersten Abschnitt dieses Bandes, Seite 117 f.
Im Zeichen des ersten Siemes. 237
luten Impotenz ist dieses Parlament herabgesunken, eiri klägliches
Wesen, unfähig, irgend etwas Gutes ZU tun, und kaum noch fähig,
Schaden anzurichten. Es liegt nur wie ein Kadaver auf dem Wege,
den die Völker Österreichs gehen müssen, und wir haben nichts
ZU tun, als diesen Kadaver wegzuräumen. (Lebhafter Beifall.)
Das spüren endlich nicht nur wir, die es längst wußten, sondern
sie spüren es jetzt schon selbst. Es gibt keinen Menschen mehr, der
es wagen würde, fest, bestimmt und ohne Winkelzüge für das
heutige Walilunrecht einzutreten. Es gibt keinen Menschen mehr,
der sich das Zeugnis ausstellen würde, daß er so frech, daß er so
dumm ist, dieses System, auf dem heute unser Parlament ruht,
als ein mögliches weiterhin gelten zu lassen. Was uns entgegen-
steht, das sind wesentlich kleinliche Borniertheiten, kleinliche
Egoismen und vor allem die Feigheit, zu der alle, die hier Politik
machen, erzogen sind durch dieses Privileg, das sie nicht den Mut
haben, zu beseitigen. (Beifall.) Es ist ja ein merkwürdiges Schau-
spiel, daß das gleiche Recht heute fast nur noch Freunde hat. Wir
sind nicht so töricht, alle diese Leute für echt zu nehmen, die heute
mit dem gleichen Wahlrecht protzen, die aber wohl gern lebens-
länglich Anträge für das gleiche Wahlrecht stellen möchten. (Heiter-
keit.) Wir wissen auch, daß sich an das gleiche Recht Hoffnungen
gewissenloser Demagogen knüpfen, schwarzer, schwarzgelber und
in allen Farben. Aber wir wissen auch, daß das nicht anders geht.
Alle diese Siege zeigen nur, daß die Leute, die das heutige
Privilegienwahlrecht noch halten, einschlechtes
Gewissen haben; sie zeigen, daß es nur einer Ope-
ration bedarf, die für die privilegierten Schichten schmerzlich
sein mag, von der aber jeder heute weiß, daß sie lebensrettend und
unvermeidlich ist. Die Operation durchzuführen, dazu gehört aller-
dings einiger Mut; aber die Operation muß gemacht werden, und
die Sozialdemokratie innerhalb und außerhalb des Parlaments wird
der Träger der notwendigen Dinge sein. Das zeigen die mächtigen
Demonstrationen in Prag, Brunn, Lemberg, Innsbruck. Überall
sehen Sie, wie die Arbeiter auf die Tagesordnung das
gleiche Recht setzen.
Die Entscheidungsschlacht aber wird selbstverständlich im Reichs-
rat geschlagen werden. Und da werden wir dem Feinde begegnen,
der vor allem zu überwinden ist, der Verkörperung des alten,
völkererstickenden Österreich, der Verkörperung der Volksver-
knechtung und Volksverdummung, der Verkörperung des schwarz-
gelben Polizeistaates und der schwarzgelben Volksfeinde: da
werden wir -jenem Ministerpräsidenten Baron Gautsch begegnen
(stürmische Pfuirufe und Rufe: Nieder mit Gautsch!), der sich uns
in den Weg stellt, nicht mit Brutalität, sondern mit jener glatten,
öligen, nichtssagenden Phrasenhaftigkeit des Höflings, jener Ge-
dankenlosigkeit, die nicht zu packen ist, weil sie aus den Händen
gleitet — so schleimig ist sie. Über dieses Hindernis werden wir
hinweg müssen. Herr Gautsch, der einen Beweis seiner staats-
männischen Klugheit gegeben hat, indem er das Wahlrecht in
Ungarn verhindern wollte, um den Wahlrechtskampf in Österreich
238 Der Sic«; des gleichen Wahlrechts.
zu vermeiden (Heiterkeit) — Sie sehen, wie schlau er ist und wie
gut ihm sein Plan gelungen ist. (Heiterkeit.) — , dieser Mann wird
nicht so leicht nachgeben. Aber das können wir sagen: Herr
Gautsch wird entweder nachgeben oder er wird
gehen! (Stürmischer Beifall.) Herr Gautsch kann mit der Auf-
lösung des Parlaments drohen, es schreckt uns nicht. Er schreckt
sich selbst mehr damit. (Heiterkeit.) Herr Gautsch wird Schwierig-
keiten machen, er wird zu verschleppen suchen. Aber es wird ihm
nichts nützen, und zwar aus einem sehr triftigen Grunde. Das
Parlament hat normalerweise kaum noch ein Jahr zu leben. Nach
einem Jahre ist seine Funktion zu Ende, und bei jedem, der poli-
tisch denkt in Österreich, bis hinein in die Reihen der Deutschen,
die in diesem Kurienwahnsinn angeblich ein nationales Gut
schützen, bis hinein in die Reihen der Großgrundbesitzer und der
Polen, ja bis hinauf, wo in Österreich immer die Entscheidung steht,
überall gibt es ein Grauen, das Grauen davor, daß noch
einmal sechs solche Jahre bevorstehen sollen mit
diesem unfähigen Jammer von einem Parlament. Und darum
spricht jeder: Jetzt ist der Moment, wo diese politische Arbeit ge-
leistet werden muß. Es ist die Schicksalsstunde Öster-
reichs, die in diesem Augenblick schlägt, ein Moment, wie er
nicht so leicht wiederkommt, und wenn die alle das nicht verstehen,
die Sozialdemokratie versteht den Moment. (Stürmischer, anhalten-
der Beifall.) Sie versteht ihn und sie wird ihn auszunützen wissen.
Wir sind nicht jugendliche Stürmer, wir sind keine Schwärmer,
keine leichtsinnigen Menschen. Wir wissen sehr gut — und wir
haben gezeigt, daß wir wissen, daß es Zeiten gibt, wo man nicht
vorwärts kann. Aber so wie es töricht ist, das Eisen schmieden zu
wollen, wenn es kalt ist, so wäre es Wahnsinn und Verbrechen,
das Eisen nicht zu schmieden, wenn es glüht, und wir sind uns
jetzt bewußt: Das Eisen ist heiß, jetzt muß es geschmiedet werden I
Für uns gibt es kein Zurück, für uns gibt es kein Aufhalten.
Alle Mittel, die der Arbeiterschaft zur Verfügung stehen, um
ihre Macht in die Wagschale zu legen, werden wir ausnützen, wenn
es sein muß, bis auf das letzte Mittel. (Wild hervor-
brechender Beifall.) Wir wissen sehr genau, daß dieser Kampf
Opfer kosten kann. Nicht leichtfertig wollen wir Opfer bringen,
nicht leichtfertig verlangen wir Opfer von den Massen. Aber wir
stehen im Dienste der geschichtlichen Notwendigkeit, der Not-
wendigkeit für den Staat, aber auch der Lebensnotwendigkeit für
das Proletariat. Wir können diesen Zustand einfach nicht mehr
aushalten, wir können in dieser faulen Stickluft nicht mehr leben.
Das Proletariat ist lebendig, es drängt vorwärts. Da ist eine Masse
von Millionen fähiger, entwicklungsfähiger, lebendiger, lebens-
lustiger und lebenswürdiger Menschen, und sie will nicht ersticken
an der Dummheit da oben, sie will nicht zugrunde gehen an der
Feigheit dieser Cliquen. (Stürmischer Beifall.) Wir müssen vor-
wärts. Es ist eine Lebensfrage geworden für uns. Das Maß der
Opfer hängt nicht von uns ab, nicht von dem Mut, den wir aufzu-
bringen haben. Das Maß von Opfern wird bestimmt durch die Tor-
Im /eichen des eisten Siey.es. 239
licit und durch den verbrecherischen Wahnsinn unserer Gegner.
Wir stehen heute nicht mehr allein mit der Forderung nach dem
gleichen Recht und wir stoßen niemand zurück, der mit uns geht.
Aber wer sich uns in den Weg stellt - sei es die Borniertheit von
oben, sei es die altbürgerliche, verknöcherte Borniertheit unserer
Bourgeoisie in einzelnen Schichten, die politisch zu denken völlig
aufgehört haben und nur mehr Phrasen papageienhaft nachreden
können, die wie aus dem Traume aufseufzen und Dinge sagen, die
sie vor zwanzig Jahren gedacht haben und die heute kein waches
Hirn mehr passieren können — den werden wir niederringen. Der
Stein, der auf dem Wege des Proletariats liegt,
muß weggeräumt werden! (Neuerlicher andauernder Bei-
fall.)
Es ist ein geschichtlicher Moment und wir wollen würdig sein
dieses großen Moments. Wir wissen, daß das gleiche Wahlrecht
nicht das Ende unseres Kampfes, sondern der Anfang ist. Aber
dieser Anfang muß gemacht werden, es koste, was
e s w o 1 1 e. In diesem Sinne wollen wir unseren Kampf führen, und
wenn Sie bei der Eröffnung des Parlaments in hellen Scharen, in
dichtgedrängten Zügen sich dem Parlament zeigen werden, dann
soll Sie der Stolz und das Bewußtsein begleiten, daß Sie in hoher
Funktion stehen, daß Sie tun, was andere versäumt haben. An dem
Tage unseres Sieges, an dem Tage, wo es in Österreich eine Volks-
vertretung geben wird, wo das Proletariat die Möglichkeit haben
wird, sich zu entwickeln, an diesem Tage eröffnet sich für uns eine
neue Welt von Aufgaben, eine neue Welt von Kämpfen. Aber bevor
wir dazu kommen, müssen wir das Auge fest und unab-
lässig auf diesen ersten Fortschritt gerichtet
haben. Das Wahlunrecht muß verschwinden, das
gleiche Recht, die erste Lebensbedingung des
Proletariats, muß erkämpft werden — mit allen
Opfern, mit voller Entschlossenheit, deren die
Arbeiterschaft fähig ist. (Brausender Beifall.)
Zu diesem Kampfe rufen wir Sie auf! Diesen Kampf kündigen
wir den Gegnern des Rechtes des Volkes an! Diesen Kampf, un-
erbittlich und unablässig, kündigen wir der Regierung des Herrn
Qautsch an, kündigen wir den alten Parteien an und allen, die an
Österreich ein Interesse haben. Wir kündigen vor allem
der Krone an, daß die Völker Österreichs nicht gesonnen sind,
sich schlechter behandeln zu lassen als die Völker Ungarns. (Un-
geheurer, minutenlanger Beifall.) Wenn man in früheren Jahren
gefragt hat, ob die Arbeiterschaft reif geworden ist für das Wahl-
recht, so stellt heute eine so lächerliche Frage niemand mehr. Aber
zuletzt war die Frage, ob man oben reif geworden ist (Heiterkeit
und Beifall), und da wir als Erfolg schwerer pädagogischer Maß-
regeln und ernster Lebenserfahrungen endlich die Reife sich so
glorreich entwickeln sehen, so werden wir dafür sorgen, daß nicht
nur die eine Hälfte reif sei und die andere grün bleibe. (Heiterkeit
und Beifall.) Das ist ein unmöglicher Zustand, und wenn die Päd-
agogik am Ende noch nicht vollen Erfolg gehabt haben sollte, und
240 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
ungleichmäßig angewendet worden wäre, so sind wir bereit,
unserenteils das übrige beizutragen und unsere Quote voll zu zahlen.
(Heiterkeit und starker Beifall.)
Der Kampf ist schwer, der Kampf ist ernst. Aber er ist un-
vermeidlich und darum werden Sie ihn führen mit jener Würde,
mit jener Besonnenheit, mit jenem Gefühl der Verantwortung, das
die Sozialdemokratie in Österreich immer ausgezeichnet hat, aber
auch mit Tapferkeit, Rücksichtslosigkeit und Opfermut. Es lebe
das gleiche Recht! Es lebe der Kampf für das
gleiche Recht! (Brausende, begeisterte Hochrufe auf das
gleiche Wahlrecht. Die Hüte werden geschwenkt.)
Der Parteitag des Wahlrechtskampfes.
Begrüßung. — Parteitag 19 05*).
Wir hatten seit dem Hainfelder Parteitag, seit Weihnachten 1888,
in einer ganzen Reihe von Versammlungen der Vertrauensmänner
wichtige entscheidende Fragen zu erörtern. Wir haben unser
Programm ausgebaut, unsere Prinzipien oft in heißen Rede-
schlachten überprüft, wir haben die ungeheuren Schwierigkeiten,
eine internationale Organisation in diesem Staate aufzubauen, bis
zu dem Grade überwunden, daß wir trotz der Selbständigkeit
aller nationalen Gruppen eine geeinte, schlagfertige Partei ge-
schaffen haben; wir haben während dieser Zeit viele Stürme be-
standen und wir können zufrieden sein mit der Arbeit, die wir
geleistet haben. Als wir die Partei neu gründeten, als wir sie aus
den Trümmern wieder aufbauten, hatten wir über Österreich ein
System der Unterdrückung und Knechtung, ein System, dessen
*) Der Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie, der am Abend
des 30. Oktober 1905 im Ottakringer Arbeiterheim zusammentrat, war ein
richtiger Parteitag des Wahlrechtskampfes. Auf der Tagesordnung standen
unter anderem folgende Gegenstände: „Die österreichische Krise und das
Wahlrecht" (Berichterstatter Wilhelm Ellenbogen und Anton Nemec)
und „Der Generalstreik" (Berichterstatter Victor Adler und Josef
Steiner). Außerdem wurde auch bei dem Parteibericht und beim Frak-
tionsbericht über den Wahlrechtskampf gesprochen. Adlers Referat über
den Generalstreik ist im siebenten Band dieser Sammlung im Kapitel
vom Generalstreik abgedruckt (Bd. VII, Seite 126 ff.), eine Rede Adlers in
der Debatte über den Fraktionsbericht, den Pernerstorfer erstattet hatte,
im achten Band im Kapitel von der Gesamtpartei unter dem Titel „Nationale
Reibungsflächen". (Bd. VIII, Seite 73 ff.) .
Während des Referates von Ellenbogen über die österreichische.
Krise und die Wahlreform traf die Nachricht vom Verfassungsmanifest des
Zaren ein, das „alle jene Volksklassen, die bisher vom Wahlrecht voll-
ständig ausgeschlossen waren, nun zur Teilnahme an der Duma" berief.
Sofort wurde die Sitzung unterbrochen. Auf Antrag Pernerstorfers wurde
eine Resolution beschlossen, die die sofortige Einberufung des Reichsrats
forderte, um „das langjährige Unrecht seiner Existenz zu sühnen und an
die Stelle eines verabscheuungswürdigen Privilegienparlaments eine wirk-
liche Volksvertretung zu setzen". Zugleich wurde erklärt, daß das Prole-
Der Parteitag des Wahlrechtskampfes. 241
Absicht es war, jede Regung des Proletariats zu töten. Wir, die
Sozialdemokratie — und nur die Sozialdemokratie haben in einer
großen Reihe von Kämpfen, auf die wir stolz sein können nicht
allein wegen des Mutes und der Aufopferung, sondern, was in
Österreich noch viel schwerer, aber auch viel notwendiger ist,
wiegen der Zähigkeit und Unverdrossenheit, die sich niemals der
Verzweiflung ergab — dem Proletariat den nötigen Bewegungs-
raum erobert und wir haben heute immerhin einen Zustand, in dem
man politisch arbeiten kann. Früher bestand der Hauptinhalt
unserer Beratungen in Beschwerden über die politische Unter-
drückung und über die Hemmnisse, die uns die Behörden in den
Weg legten, Beschwerden, die wir heute in einem unvergleichlich
geringeren Umfang vorzubringen haben. Wir haben viele schwere
Kämpfe geführt. Aber niemals sind wir meines Erinnerns zu einem
so kritischen Zeitpunkt zusammengekommen wie heute.
Dieser Parteitag, der der Parteitag des Wahlrechts-
kampfes sein wird, erinnert uns ein wenig an den Parteitag
des Jahres 1894, nicht nur wegen der Analogie, als auch vielmehr
wegen der Unterschiede. Damals war der Parteitag zu einer Zeit,
wo die Aktion nicht mehr möglich war, wobei ich es vollständig
unerörtert lasse, ob sie vorher möglich gewesen wäre. Als wir
damals berieten, was zu tun wäre — wobei auch der General-
streik in Erwägung gezogen wurde — da mußten wir zu dem
Schlüsse kommen: Die Schlacht ist verloren! Die Schlacht war
verloren, da auch durch die größte Anstrengung des Proletariats
in jenem Zeitpunkt die Sache nicht mehr zu retten war. Heute
stehen die Dinge wesentlich anders. Eine Koalition gegen
das Wahlrecht ist heute nicht mehr möglich. Die
Leute, die damals das Verbrechen begangen haben, die Wahl-
tariat entschlossen ist, „allen Verschleppungsversuchen, wenn es sein muß,
auch mit den äußersten Mitteln entgegenzutreten". Daszynski rief die
Delegierten zu einer Demonstration, die sofort vor dem Parlament statt-
finden sollte.
Abends fand die gewaltige Demonstration vor dem Parlament statt.
Auch in zahlreichen anderen Orten Österreichs wurde demonstriert. Am
nächsten Tage, am 1. November, referierte Adler dann über den General-
streik. Außer einer Resolution wurde auch ein Manifest an das Prole-
tariat beschlossen, das mit folgenden Worten schließt:
Wir sind entschlossen, diesen Kampf mit dem Massenstreik, mit den
äußersten Mitteln zu führen.
Aber unsere Worte richten sich auch an unsere Gegner. Die Ver-
ständigen unter ihnen mahnen wir, die Unverständigen warnen wir, den
Böswilligen kündigen wir unerbittlichen Krieg an.
Arbeitendes Volk! Auf zum Kampf! Auf zum entschlossenen Kampt,
der nicht früher beendet werden kann, als bis wir im Siege nach Hause
tragen das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht!
Arn nächsten Tage floß bereits in Wien, nach der Versammlung in den
Sofiensälen, und in Prag Blut.
Schon in der Begrüßungsansprache hob Adler die Bedeutung
des Kongresses als eines Parteitages des Wahlrechtskampfes hervor.
Adler, Briefe. X. Bd. IG
242 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
reform zu verhindern, sind schwer bestraft. Der Staat hat für jenes
Verbrechen schwer gebüßt. Die Erfahrungen dieser Jahre sind die,
daß heute alle — ob sie es sich zugestehen oder nicht — erkennen,
daß der Weg, den das Parlament damals gegangen ist, ein Holz-
weg war. Das gesamte Proletariat vor allem ist heute in einem
ganz anderen Maße als damals von dem Bewußtsein erfaßt, daß es
so nicht weiter geht. Wir halten diesen Zustand nicht
1 ä n g e r a u s! Es ist eine Möglichkeit da, nun einen entscheidenden
Vorstoß zu führen, und die Notwendigkeit, ihn zu führen, ist in dem
Hirn jedes Arbeiters so lebendig, daß der Vorstoß mit der ganzen
Wucht geführt werden wird, deren das österreichische Proletariat
fähig ist. (Lebhafter Beifall.) Die Gesamtexekutive hat natürlich
jene Weisheit, die jedem zukommt, der ein Amt hat (Heiterkeit);
aber Sie würden uns überschätzen, wenn Sie vermuten würden,
daß es unsere Schlauheit oder Weisheit, unsere Voraussicht oder
gar Prophetengabe war, daß wir diesen Parteitag zu diesem Zeit-
punkt einberufen haben. Der Parteitag hätte ebensogut acht
Wochen früher sein können oder sechs Wochen später. Es ist mehr
oder weniger ein Zufall, daß er gerade in dem Moment zusammen-
tritt, wo er notwendig ist und wo er so wirksam sein kann wie
nicht einen Tag früher und nicht einen Tag später. Wir treten
diesmal — ein Glück, das uns selten beschieden war — in einem
Augenblick zusammen, wo wir aber auch noch die Zeit und die
Möglichkeit haben, das zu tun, was diese Verhältnisse notwendig
machen, in einem Augenblick, der ein wirklich revolutionäres
Auftreten im Interesse der Arbeiter Österreichs wesentlich er-
leichtert, ja für jeden zum Herzensbedürfnis macht.
Seit Monaten sehen wir im Osten einen Kampf, an dem jeder
von uns mit seinem ganzen Herzen hängt, dem wir mit mehr als
mit brüderlicher Sympathie folgen, einen Kampf, dem wir mit
jedem Schlage unseres Herzens folgen, den wir als das wichtigste,
als das entscheidende Ereignis unseres Jahrhunderts empfinden,
dem wir zugleich mit dem leidenschaftlichen Wunsche folgen,
etwas dazu beitragen zu können, daß der heldenmütige Kampf
unserer russischen und polnischen Brüder mit einem Siege ende
(lebhafter Beifall), daß die russische Revolution über die russische
Despotie triumphiere. Aber soviel leidenschaftliche Wünsche wir
haben, soviel wir selbst mittun möchten, wir können ihnen nicht
helfen, wir können nur zusehen. Aber eines können wir. Ich
erinnere Sie an ein Gedicht von Freiligrath, es heißt „W i e n". Das
Gedicht richtet sich an die deutschen Revolutionäre, die damals
um das von Windischgrätz belagerte Wien bekümmert waren, und
es hat die Absicht, der deutschen Revolution zu sagen: Ihr könnt
Wien nicht retten, ihr könnt nur kämpfen, wo ihr seid! Wenn wir
noch beten könnten, so heißt es dort, wir beteten für Wien. Aber
dann heißt es zum Schluß : Den Jellacic zu schlagen,
schlage deinen Jellacic! (Lebhafter Beifall.) Wir können
der russischen Revolution nicht helfen, aber wir können in unserem
Lande, auf unserem Boden für unser Volk, für unser Proletariat in
Der Parteitag des Wahlrechtskampfes. 24^
unseren Kampfformen und mit unseren Kampfmitteln alles tun, um
einigermaßen mil Ehren vor jenen Helden und Märtyrern, die dort
drüben kämpfen, zu bestehen. (Heifall.) Mögen sie ihre Aufgabe
lösen. Bescheiden wir uns, der unseren zu dienen. Und wenn wir
einen Wunsch für uns selber haben, so ist es der, daß es diesem
Parteitag gegönnt sein möge, die Kräfte dieser Arbeiterschaft, die
unter den Sünden dieses Österreichs aus tausenden Wunden blutet,
einmal in einem Moment, der siegversprechend ist, zusammenzu-
raffen zu einem festen, entscheidenden Schlage. (Beifall.) Das ist
die Aufgabe dieses Parteitages. Es ist eine große, es ist eine poli-
tische Aufgabe, wie sie selten so schön, so entscheidend, so groß
der proletarischen Politik gestellt wird.
Nicht nur die Wiener Genossen, auch die Gesamtpartei war
wiederholt Vorwürfen ausgesetzt und es gibt niemand unter uns,
der sich nicht immer wieder selbst das Gewissen erforscht hat,
ob wir denn zur rechten Zeit immer das Richtige und Notwendige
getan haben. Gestatten Sie, daß ich Ihnen meine Meinung sage —
denn es handelt sich da ein wenig auch um mich, den Sie als einen
besonnenen Mann kennen, ja, der als Bremser in den weitesten
Parteikreisen berüchtigt ist. (Heiterkeit.) Gewiß war in diesen
fünfzehn Jahren der Kampf um das Wahlrecht nicht immer auf der
gleichen Höhe. Wir haben uns, als wir den Kampf begannen, den
Weg zum, Siege viel kürzer vorgestellt, und wir meinten damals,
in einem Ansturm bis ans Ziel dringen zu können. Das war nicht
möglich; aber nicht deshalb, weil es uns an Mut gemangelt hätte
oder weil wir eine Schlacht versäumt hätten, wo wir hätten siegen
können. Es ist ein Gebot unserer Pflicht als Vertrauensmänner der
Partei, daß wir die Kraft der Partei nicht ins Feld führen zu
Zeiten, wo sie mit großer Wahrscheinlichkeit verschwendet sein
müßte. Aber so wie die Besonnenheit eine Pflicht ist, die uns unsere
Verantwortlichkeit auferlegt, wo es die Pflicht der Partei ist, abzu-
warten und ruhig zu bleiben: so legt uns dieselbe Verantwortlich-
keit die Pflicht auf, den entscheidenden Moment zu benützen, um
mit der ganzen Kraft vorzugehen — wenn es möglich ist. Partei-
genossen ! Wir erachten jetzt alle diesen Moment
für gekommen. (Stürmischer Beifall.) Wir können natürlich
keine Garantie übernehmen für das Maß österreichischer Dumm-
heit, österreichischer staatsmännischer moral insanity, wir können
keine Verantwortung dafür übernehmen, was die anderen tun.
Aber eines wissen wir: daß die Verhältnisse für uns
noch niemals so günstig gelegen sind wie heute.
Wir wissen, daß da gestern*) ein Manifest einer ungarischen
*) Am 28. Oktober brachte Fejervary im ungarischen Reichstag die
Vorlage auf Einführung des allgemeinen Wahlrechtes ein. Wie die Krone
dann aber das allgemeine Wahlrecht in Ungarn verriet, um ihre Militär-
forderungen durchzusetzen, darüber siehe die F3cmerkungen zu den Reden
auf den Rcichskonfercnzen 1905 und 1908 im Kapitel „Ungarn". (Bd. VIII,
Seite 254, ,,I) ie verratenen Ungar n"; Seite 258, „Das Ende des
cäsaristi sehen Traume s".)
16*
244 Der Sie* des gleichen Wahlrechts.
Regierung erschienen ist, das vom Kaiser genehmigt jst, wo vorn
allgemeinen, gleichen Wahlrecht in Ungarn die Rede ist. Und
wenn wir auch auf diesen Anhänger des gleichen Wahlrechtes, der
da in letzter Stunde so überraschend gewonnen wurde, vielleicht
persönlich nicht einen so großen Wert legen, und wenn wir auch
seinen Fanatismus für das gleiche Wahlrecht durchaus nicht über-
schätzen (Heiterkeit), so erkennen wir doch, daß damit ein großes
— ich möchte sagen mechanisches — Hindernis für unseren Kampf
hinweggeräumt worden ist. Und dann: zum erstenmal haben wir
im Parlament eine Majorität — ich will gar nicht sagen, für das
Wahlrecht — aber doch eine Majorität, die nicht mehr gegen das
Wahlrecht sein kann. Und im Parlament bis in den kleinsten
elendesten Landtag von Krain — ich bitte die Genossen von
Laibach um Entschuldigung (Heiterkeit) — , überall sehen wir die
Tatsache, daß das Wahlrecht nun im Bewußtsein aller Menschen
ist. Wir waren früher allein mit unserem Schmerz. Niemand hat
an das Wahlrecht gedacht als wir. Heute kann kein Mensch an
etwas anderes denken als an das Wahlrecht. Gewiß, sie werden
es noch versuchen, dagegen zu arbeiten. Aber sie haben ein
schlechtes Gewissen und vor allem: sie haben nicht mehr
den Glauben an ihre Sache. Und schließlich haben wir —
das sehen wir vor allem an den glänzenden Demonstrationen der
letzten Wochen — niemals eine Zeit gehabt, wo das Proletariat
so von dem Bewußtsein erfüllt war, daß jetzt der Moment ge-
kommen ist, wo uns das ganze Proletariat förmlich entgegen-
schreit: Jetzt vorwärts! Führt uns zum Kampfe! und
wo wir zugleich nach kühler Erwägung aller Faktoren zu dem
Schlüsse kommen, daß der entscheidende Moment gekommen ist,
und daß es nun die nächste, die einzige Aufgabe ist,
diesen Kampf vorzubereiten. (Stürmischer Beifall.)
Das Proletariat hat nun keine andere Aufgabe! Genossen aller
Nationen! Ich fordere Sie auf, stellen Sie alles andere zurück! Wenn
Lassalle recht hatte, daß man das Wahlrecht nur erobern kann,
wenn man unablässig daran denkt und alles andere ausscheidet,
so ist das gewiß richtig und allein möglich in dem Moment, wro die
Schlacht beginnt. Wir stehen am Beginn des Kampfes. Wir können
heute nicht feststellen, bis zu welchen Formen und zu welchen
Mitteln und Kampfmethoden uns dieser Kampf führen wird. Aber
wir wissen : wir stehenamVorabenddiesesKampfes!
Und ich bitte Sie, Delegierte und Gäste, ich bitte
alle Sozialdemokraten, in diesem Moment all ihr
Denken, alle ihre Energie, alle ihre Kraft und ihre
revolutionäre Entschlossenheit auf diesen einen
Kampf zu konzentrieren. (Stürmischer Beifall.) In diesem
Sinne wollen wir den Parteitag führen und in diesem Sinne begrüße
ich Sie im Namen der deutschen Exekutive! Der Parteitag wird
das Signal geben zu einem Kampfe, der uns, so hoffen wir, Ehre
und Sieg bringen wird! Es lebe die revolutionäre, die völker-
befreiende Sozialdemokratie! (Lebhafter Beifall und Hochrufe.)
Taktik im Wahlrechtskampf. 245
Taktik im Wahlrechtskampf
Parteitag 1 9 05*).
Ls ist selbstverständlich, daß der Bericht des Rarteivorstandes
nicht diskutiert werden kann, ohne daß man verschiedentlich auch
von den anderen Punkten der Tagesordnung spricht. Aber ich will
mich einschränken und nur folgendes sagen; Die Genossen Borek
und Tusar haben sich mit der Haitun« der Wiener beschäftigt und
einer hat gerade mich als das Karnickel bezeichnet, das diesmal
nicht angefangen hat. (Heiterkeit.) Wir haben auf der Konferenz
dem Qautsch den Krieg angesagt. Wir haben gewußt, daß dieser
Krieg im Abgeordnetenhaus schwer zu führen ist, und diejenigen,
die sich über die Aktion abenteuerliche Vorstellungen gemacht
haben, sind selbst schuld daran, wenn ihre Erwartungen nicht in
Erfüllung gegangen sind. (Beifall.) Wir anderen können nur sagen,
daß wir über den Verlauf der von unseren Abgeordneten im
Parlament angezündeten Bewegung auf das freudigste überrascht
sind. Denn unsere Aktion konnte sich nicht darauf beschränken,
Herrn Gautsch durch unsere Abgeordneten mehr oder weniger
freundlich zu empfangen, sondern es sollte vor allem auch dort
jener Feldzug begonnen werden, der nun in vollem Gange ist.
(Zustimmung.) Ich habe in einer Versammlung in Margareten**)
gesagt: Warten wir ab, bis es Zeit sein wird, einzugreifen. Daß
wir den richtigen Zeitpunkt abwarten, ist ebenso notwendig, als
daß wir irrt richtigen eingreifen. Es war diesmal Ihnen in Böhmen
vorbehalten, den Eröffnungskampf zu führen. Aber es war ganz
ausgeschlossen, daß wir in Niederösterreich den Kampf für das
böhmische Landtagswahlrecht führen (Zwischenrufe: Für das
niederösterreichische!) und den Kampf für das niederösterreichi-
sche Landtagswahlrecht. Sie nehmen es mir nicht übel — das ver-
stehen wir besser. Wir können und wollen uns da nicht in eine
Diskussion der Einzelheiten einlassen, aber wir wollten uns vor
allem mit gutem Bedacht aller Verhältnisse unsere Kräfte für jene
Kämpfe aufsparen, wo Wien berufen ist, gewissermaßen als die
Delegation des gesamten österreichischen Proletariats vorauszu-
gehen. (Stürmischer Beifall.) Wir sind weit entfernt, das, was Sie
getan haben, zu unterschätzen, wir erkennen es an; aber wenn wir
*) Beim Bericht der Gesamtparteivertretung, den Skaret erstattete,
Kam es zu einer Debatte über den Wahlrechtskampf, in die auch Adler
eingriff, zumal da gleich die ersten Redner Vorwürfe erhoben. Es waren
das die tschechischen Redner Edmund Bore k, Redakteur des tschechischen
Blattes in Pardubitz, später Redakteur der „Dllnicke Listy" in Wien, dann
Vlastimil Tusar, Redakteur der „Rovnosf in Brunn, später Abgeord-
neter von Brunn, nach dem Umsturz tschechoslowakischer Minister-
präsident und dann Gesandter in Berlin.
, + ) Die Versammlung beim „Hamberger" am ll. September 1905, in der
Adler über Gautsch und die ungarische W a h I r e f o r m sprach.
246 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Ihnen nicht hineingeredet haben, wie Sie Ihre Aktion führen, so
müssen auch Sie die Güte haben — nicht, als ob wir Ihnen die
Kritik wehrten — , aber doch etwas Vertrauen zu uns zu haben.
(Beifall.) Wir führen diesen Kampf nicht zum erstenmal und haben
auch schon Beweise erbracht, daß wir im entscheidenden Moment
das Notwendige zu tun wissen. Ich bin ja sehr erfreut, wenn man
uns vorwärts drängt; aber wir glauben doch, diese Mahnungen
nicht notwendig zu haben. Die Kunst des Wartens ist auch eine
schwierige Kunst und Sie werden Sie in Ihrer politischen Ent-
wicklung auch noch lernen.
Wahlrechtssonntag.
Der Aufmarsch vor dem Parlament,
5. November 19 05*).
Parteigenossen, Arbeiter! Ihr seid heute hierher gekommen, um
in machtvoller Demonstration zu verkünden, daß endlich die Stunde
gekommen ist, wo die Schmach des politischen Unrechts fallen muß,
daß es kein Zögern, kein Verschleppen mehr gibt.
(Lauter Beifall.) Herr Qautsch hat gestern die „Abendpost"
sprechen lassen; bei der Regierung beginnt es langsam zu tagen.
(Heiterkeit.) Das ist unser erster Erfolg. Das Wahlrecht ist auf dem
*) Nach der großen Demonstration, die im Anschluß an den Parteitag
am Abend des 31. Oktober auf der Wiener Ringstraße veranstaltet worden
war, fand dann am 2. November eine Riesenversammlung im Sofiensaal
statt. Daran schloß sich ein Massenspaziergang auf dem Ring an,
den die Polizei zu hindern suchte. Er endigte in einem blutigen Zu-
sammenstoß, wobei gegen hundert Personen verwundet
wurden. In allen Städten fanden um diese Zeit, wie es das Manifest des
Parteitags verlangte, Massenversammlungen statt, in denen der ent-
schlossene Wille zur Durchführung des Massenstreiks zum Ausdruck kam.
Am 4. November veröffentlichte die „Wiener Abendpost", das offiziöse
Abendblatt der amtlichen „Wiener Zeitung", eine Erklärung der Regie-
rung, in der festgestellt wurde, daß sich im Parlament „der grundsätzliche
Widerstand gegen eine weitgehende Änderung der Grundlagen des Wahl-
rechts erheblich abgeschwächt" habe. Wenn die Regierung auch darauf
bedacht sei, das Verlangen nach einer zeitgemäßen Umgestaltung des
Wahlrechts zu fördern und seiner Erfüllung zuzuführen, so sei sie auch
verpflichtet, um künftiger Änderungen des öffentlichen Rechtes willen
nicht die öffentliche Ordnung stören zu lassen . . . Die Regierung sei ent-
schlossen, mit allen gesetzlichen Mitteln Ausschreitungen ent-
gegenzutreten. „Es liegt im Interesse der Volkskreise, die die
Reform wünschen, durch ihr Verhalten zu bezeugen, daß sie in jedem
Sinne politisch reif sind — auch für ein neues Wahlrecht. Das Parlament,
nicht die Straße ist der Ort, wo die Entscheidung darüber zu fallen hat."
Am Abend des 4. November kam es aber in Prag, wo schon früher Zu-
sammenstöße mit der Polizei gewesen, ja sogar Barrikaden gebaut worden
waren, zu einem blutigen Massaker, für das der Polizeipräsident
Wahlrechtssonntag. Kampf i>is ans linde. 247
Marsche, die Arbeiterschaft wird dafür sorgen, daß es auf dem
Wege nicht stecken bleibt. (Tosender Beifall.) Wir sagen
es ganz deutlich und bestimmt: Es darf und kann nicht noch
einmal Wahlen -geben unter diesem K u r i e n w a h 1-
recht! Das nächste Parlament muß aus dem allge-
meinen, gleichen und direkten Wahlrecht hervor-
gehen! (Tosender, jubelnder Beifall.) Die Bewegung der Massen
ist im Fluß und keine Macht wird sie aufzuhalten ver-
mögen, bevor sie ihr Ziel erreicht hat. (Hoch das
Wahlrecht!) Genossen! Ihr habt heute die rote Fahne auf dem
Hause der Privilegienschande aufgepflanzt zum Zeichen, daß ihr es
weihen wollt, zum Hause einer wahren Volksver-
tretung! Dieser roten Fahne, unter der die Proletarier
kämpfen, die für Rußland die Freiheit glorreich erstritten haben,
unter der die vorwärtsschreitende Menschheit vereinigt ist, ihr
bringen wir ein Hoch! (Dreimaliges, sich über die Massen fort-
pflanzendes Hoch!) Und nun, Genossen! Wir sind pünktliche Leute,
pünktlich sind wir erschienen, pünktlich wollen wir abziehen, wie
wir es angekündigt. Geht ruhig nach Hause, ihr werdet zur Stelle
sein, wenn wir euch wieder rufen! Auf Wiedersehen! Hoch das
allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht! (Brausender Jubel.)
Kampf bis ans Ende.
Sieben Versammlungen am 6. November 190 5*).
Ich bin später gekommen, um Ihnen sagen zu können, daß heute
in Prag nicht Arbeiter niedergeschossen und niedergesäbelt
wurden. Aber es ist in Prag nicht Ruhe in dem Sinne, als ob das
Proletariat geschreckt wäre. Morgen wird dort ein Manifest er-
scheinen, in dem die Sozialdemokratie sagt: Trotz Revolver der
Kfikava die Verantwortung trug. Ein Arbeiter und ein Student wurden
getötet, viele verletzt. Auch an anderen Orten kam es zu blutigen
Zusammenstößen. Am nächsten Tage erließ der Statthalter von Böhmen
eine Kundmachung, in der er mit den „äußersten Mitteln" drohte.
Am Sonntag den 5. November veranstaltete die sozialdemokratische
Partei nun einen Aufmarsch vor dem Parlament. „Hundert-
tausend Rechtlose (so schrieb die »Arbeiter-Zeitung«) folgten dem Rufe
und scharten sich um das rote Banner, das stolz vor dem Parlament
wehte, das von den Flaggenstangen herniedergrüßte — nach des Volkes
Willen". Auf dem Flaggenmast, an dem sonst die schwarzgelbe Fahne an-
gebracht war, hatten Proletarier diesmal rote Fahnen angebracht. Von der
Bellaria bis zur Universität standen die Massen. Vor dem Parlament hielt
Adler eine Ansprache.
*) Am Tage nach dem großen Aufmarsch vor dem Parlament fanden
wieder sieben Versammlungen in Wien statt. In der Versammlung im Favo-
rittier Arbeiterheim sprach nach Winarsky Dr. Adler.
248 Der Sie^c des gleichen Wahlrechts.
Polizisten und trotz Säbel der Dragoner gehen wir unseren Kampf
bis ans Ende. (Stürmische Rufe des Beifalls.) An der Bahre des
Proletariers, der sein Leben gelassen hat für das Wahlrecht, leisten
wir den Schwur, daß wir geben, was wir haben, und leisten, was
in unserer Macht liegt, um zu erreichen, was die Notwendigkeit
für den Staat und vor allem für das Proletariat ist. Der erste
Schritt ist gemacht. Schon der Beschluß des Parteitages und der
erste Tritt in den Straßen haben die Regierung zur — Vernunft
ist zu viel gesagt, aber zu einer Ahnung von dem gebracht, was
etwa die Vernunft sein könnte. Der Erklärung der Regierung sieht
man an, daß die Furcht der Lehrmeister der Er-
kenntnis war. (Laute Zustimmung.) Nicht um das Recht ist
es ihr zu tun, sondern die Furcht hat sie gezwungen, sich auf den
rechten Weg zu begeben. Aber sie wird den Weg nicht weiter-
gehen, wenn wir nicht hinter ihr stehen. (Rufe von allen Seiten:
So ist es!) Was wir dabei darbringen, ist das Kostbarste und
Köstlichste: das Blut des Volkes. Wir sind nicht gesonnen, ver-
schwenderisch umzugehen mit dem höchsten Gute, wir wollen nicht
einen Tropfen mehr opfern auf dem Altar des österreichischen
Wahnsinns, als nötig ist. Kein Tropfen wird vergossen werden
durch unsere Schuld. Jeder Tropfen Blut fällt auf das Gewissen
der Regierenden, die sich noch heute frivol und gewissenlos dem
widersetzen, was sie nicht nur als Recht, sondern als unvermeid-
liche Notwendigkeit längst erkannt haben müssen. Es handelt sich
nun darum, daß das heutige Parlament die Wahlreform be-
schließt, daß unter keiner Bedingung nach dem
heutigen Wahlrecht mehr gewählt wird. (Begeister-
ter Beifall.) Studiert ist genug. Ein weiteres Studium hält Öster-
reich nicht aus und vor allem nicht die Arbeiterschaft. Herr
v. Gautsch darf nicht glauben, daß er uns über dieses eine Jahr
hinüberfoppen könnte. Haben Sie, Genossen, das Vertrauen zu uns,
daß wir nicht mehr von Ihnen verlangen werden, als was un-
bedingt nötig ist, aber auch, daß uns von dem, was sein muß,
nichts zurückhalten wird. Die Regierung wünscht „R u h e".
Nun, sie kann sich eine Atempause leicht verschaffen. S i e
braucht nur deutlich und freiwillig zu erklären,
daß sie dem Reichs rat bei seinem Zusammen-
treten ein Gesetz vorlegen wird über das all-
gemeine, gleiche Wahlrecht. Sie braucht es nur so feier-
lich zu versprechen, wie es in Ungarn geschehen ist, und sie hat
so lange eine Pause, bis wir uns am Tage der Parlamentseröffnung
zu überzeugen kommen, ob sie das Versprechen einlöst. (Großer
Applaus.) Wenn ihr Wunsch nach Ruhe aber nicht so groß ist als
ihre Verstocktheit und ihr Wunsch, uns zum besten zu halten, wird
Herr v. Gautsch keine Ruhe haben. (Rufe: Pfui Gautsch!) Das ist
nicht nötig, der Mann ist entwicklungsfähig. (Ruf: Aber wann!)
Das ist eben die Frage. Nimmt er Vernunft nicht an, wird er gehen.
Wir bleiben! (Brausender, immer von neuem einsetzender
Applaus.)
Das sterbende Privilegienparlament. 24^
Das sterbende Privilegienparlament,
\ e r s a in in I u 11 g der (i e h i 1 f c n v e r t r c t c r i m U a t li a u s,
I 1. No vc in her I 905*).
Als ich zu dieser Versammlung kam, habe ich mich erinnert, daß
hier auf dem Platz, wo jetzt die Votivkirche und das Rathaus
*) Am IS. Oktober wurde Dr. Adler, nachdem Josef Haimieh das Mandat
zurückgelegt hatte, im Reichenberger Wahlkreis der fünften Kurie zum
Abgeordneten gewählt und konnte am 28. November, an dem Tag der
großen Kundgebung, in das Parlament eintreten. Nach den großen Ver-
sammlungen am 5. November wiederholten sich die Kundgebungen für die
Wahlreform im ganzen Reiche. In Prag war es am 5. November zu Zu-
sammenstößen gekommen und der Statthalter erwog bereits die Prokla-
mierung des Standrechtes und des Ausnahmezustandes. Inzwischen hatte sich
ein Kampf der E i s e n b a h n e r, der ursprünglich wegen der Teuerungs-
zulage in Brüx im nordböhmischen Kohlenrevier ausgebrochen war, ver-
schärft. Als nach dem Parteitag die Arbeiterschaft in den Wahlrechts-
kampf eintrat, erörterte man in den Kreisen der Eisenbahner die Frage des
Massenstreiks und am 5. November beschlossen die Vertrauensmänner der
sozialdemokratischen Eisenbahner auf einer Konferenz in Prag, die passive
Resistenz, die bis dahin nur im Brüxer Revier und nur zugunsten der wirt-
schaftlichen Forderung geübt wurde, auf alle Bahnen in ganz Böhmen aus-
zudehnen und sie zugleich als Demonstration für das allgemeine Wahlrecht
aufzufassen; am nächsten Tage beschloß die Exekutive der sozialdemo-
kratischen Eisenbahner — nachdem eine Intervention des Abgeordneten
Ellenbogen und des Eisenbahnerobmanns T o m s c h i k den Eisenbahn-
minister bloß zu Zugeständnissen für das Brüxer Revier, und zwar im
Betrag von einer Million Kronen jährlich zu bewegen vermocht hatte — die
Ausdehnung der passiven Resistenz — oder, wie man es damals auch
nannte, der Obstruktion — der Eisenbahner auf das ganze österreichische
Eisenbahnnetz der Staatsbahnen wie der Privatbahnen. Ausdrücklich
wurde den wirtschaftlichen Forderungen noch das allgemeine, gleiche
Wahlrecht angefügt. Die Parole wurde mit Begeisterung aufgenommen.
Schon am nächsten Tage wurde die passive Resistenz — die genaue,
wortgemäße Einhaltung der bürokratischen Vorschriften — in fast allen
Stationen geübt und, obwohl, um die öffentliche Meinung nicht gegen die
Eisenbahner einzunehmen (wie es kurz vorher bei der passiven Resistenz
in Italien gewesen war), die Personenzüge von der passiven Resistenz
ausgenommen waren, waren schon nach wenigen Stunden die Bahnhöfe
„verstopft". Die Industriellen schickten eine Deputation nach der anderen
in das Ministerium, um über ihre Not zu jammern und die Regierung zum
Einschreiten zu veranlassen. Tatsächlich versuchte die Regierung der Ob-
struktion zunächst mit Drohungen beizukommen. Aber die Drohungen
hatten keinen Erfolg. Man plante sogar, nach italienischem Beispiel, die
militärpflichtigen Eisenbahner zum Militärdienst einzuberufen, um durch
die „Militarisierung" der Eisenbahner den Kampf zu beenden. Man hatte
bereits, wie bekannt wurde, in der Staatsdruckerei die Einberufungskarten
drucken lassen. Zugleich allerdings wurden auf Veranlassung der Indu-
striellen, deren Betriebe stillstanden, Verhandlungen mit den Eisenbahner-
organisationen gepflogen.
Während aber diese Verhandlungen noch im Gange waren, waren in
der Politik wichtige Dinge vor sich gegangen. Unter dem Druck der Wahl-
rechtsbewegung, in der auch die Gewerkschaften bereits den Generalstreik
250 Der Sieg des Kleichen Wahlrechts.
stehen, im Jahre 1869 die erste große Massendemonstration*) für das
allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht stattgefunden hat. Sechs-
unddreißig Jahre sind es her, daß die Arbeiterschaft zum erstenmal
erwogen, ließ am 11. November Gautsch eine Abordnung der Industriellen
zu sich kommen und erklärte ihnen, „der Träger der Krone habe sich nie-
mals den Forderungen der Zeit verschlossen und die Regierung werde
schon in der ersten Sitzung des Abgeordnetenhauses ihre Haltung in der
Wahlrechtsfrage kennzeichnen". Sie beschäftige sich bereits mit der Be-
arbeitung der Wahlreform, die „auf moderner Grundlage beruhen und den
Ansprüchen der Zeit genügen werde". Es werde dann Sache des Parla-
ments sein, die Reform noch in dieser Legislaturperiode zum Abschluß zu
bringen.
Als am Samstag den 11. November diese Erklärung bekannt wurde,
gingen die Verhandlungen mit den Eisenbahnern rascher vor sich. Die
Regierung steigerte auch ihr materielles Zugeständnis von 3 bis 4 auf
5 bis 6 Millionen und nun konnte am 12. November die Obstruktion bei-
gelegt werden. Daß bei dieser Beilegung die materiellen Erfolge eine ge-
ringere Rolle gespielt hatten als das allgemeine Wahlrecht, geht daraus
hervor, daß vier Wochen später wegen der materiellen Forderungen eine
neue passive Resistenz ausbrach, die nach langwierigen Verhandlungen zu
einem Erfolg führte.
Die Woche nach der Erklärung des Ministers an die Industriellen war
in ganz Österreich mit zahllosen Versammlungen und Gewerkschafts-
konferenzen ausgefüllt, die der Organisierung des Massenstreiks dienten.
Da erfuhr man auch aus einer Kundgebung der halbamtlichen „Wiener
Abendpost", des Abendblattes der amtlichen „Wiener Zeitung", daß der
Kaiser, der in Ungarn das allgemeine Wahlrecht in seinem Programm habe,
auch in Österreich das allgemeine Wahlrecht wolle.
Am 12. November, einem Sonntag, fanden nicht weniger als fünf große
Wahlrechtsversammlungen und sowohl vormittags als nachmittags an zahl-
reichen Orten Demonstrationen statt, bei denen die rote Fahne voran-
getragen wurde. Adler sprach in zwei Versammlungen.
In der Volkshalle des Rathauses fand eine Versammlung der Gehilfen-
vertreter der Genossenschaften statt, die schon längst geplant war, um
gegen die von den Zünftlern geplante Änderung der Gewerbeordnung zu
protestieren. Nun lautete ihre Tagesordnung: „Die geplante Ab-
änderung der Gewerbeordnung und das allgemeine,
gleiche und direkte Wahlrecht." Das Referat erstattete der
Gehilfenobmann der Kleidermacher, der nachherige Abgeordnete S m i t k a.
Dann sprachen Pernerstorfer und Adler, die sich vornehmlich mit
dem Wahlrecht beschäftigten. In einer Resolution wurde dagegen protestiert,
daß das sterbende Privilegienparlament noch ein solches Gesetz beschließe,
ohne sich um die Forderungen der Arbeiter nach Verbesserung des Arbeiter-
schutzes zu kümmern, und es wurde verlangt, daß die Reform der Ge-
werbeordnung dem auf Grund des allgemeinen Wahlrechtes gewählten
Parlament überlassen bleibe.
*) Diese Massendemonstration der Wiener Arbeiter vor dem Parlament,
die dann die Verhaftung der Mitglieder der Deputation und den Hoch-
verratsprozeß gegen die Arbeiterführer zur Folge hatte, aber den
Arbeitern doch das Koalitionsgesetz als Errungenschaft brachte,
fand am 13. Dezember 1869 statt. Das Parlament war allerdings damals
noch nicht das heutige Parlament, sondern ein großer Holzbau in der Nähe
der Votivkirche. Das jetzige Parlament wurde erst in den Jahren 1875 bis
Das sterbende Privilegienparlament. 251
erwacht ist, und ihr erster Ruf war: „Wir wollen das allgemeine,
gleiche Wahlrecht!" (Stürmische Bravorufe.) Und ich erinnere mich
auch an einen anderen Tag, an jenen {). Juli 189.?, wo hier in der
Volkshalle und im Arkadenhof und draußen vor dem Rathause un-
gezählte Tausende versammelt waren und den Wahlrechtskampf
begannen, der seitdem nicht mehr gerastet hat. Diese beiden läge
waren geschichtlich für das österreichische Proletariat, sie waren
auch geschichtlich für den Staat und für alle Völker Österreichs.
Ein geschichtlicher Tag ist es auch heute, wo wir hier versammelt
sind, denn wir haben heute von der Regierung nicht das Ver-
sprechen, nicht die Verheißung, sondern die Verpflichtung anerkannt
erhalten, daß sie diesem Parlament die Wahlreform vorlegen und
daß dieses Parlament die Wahlreform zu Ende führen wird. (Stür-
mischer Beifall.) Damit hat unser Kampf einen Punkt erreicht, der
nicht etwa seine Fortsetzung überflüssig macht, der uns aber
immerhin sagt, daß das schwerste Stück getan ist. Denn nichts ist
schwerer in Österreich, wo man sich an das Elend schon so ge-
wöhnt hat, als den Stein ins Rollen zu bringen. Aber nun ist er im
Rollen, und daß er auf dem Wege nicht liegen bleibt, dafür wird das
österreichische Proletariat sorgen. (Stürmischer Beifall.) Gewiß, es
war nicht unsere Kraft allein, die uns die Möglichkeit gibt, für
Österreich das zu schaffen, was schon lange eine Notwendigkeit
war. Wenn sich die herrschenden Staatsmänner auch recht lange
gesträubt haben, Vernunft anzunehmen, so liegen die Dinge heute
so, daß die Geschichte über sie hinweggehen würde, wenn sie sich
noch länger sträubten. Aber wir wissen, daß unsere Aufgabe in
unserem Augenblick die ist, die Gunst des Moments zu benützen
und den entscheidenden Schritt mit eiserner Entschlossenheit zu
tun und mit jener Unnachgiebigkeit, die kein Zögern, kein Nach-
lassen duldet. (Beifall.)
Wir haben im Jahre 1897 gemeint, es werde nur noch jene eine
Wahl nach dem Schandsystem der Kurien möglich sein. Wir haben
Österreich überschätzt. Es hat nur sechs Jahre gedauert, daß
dieser Fluch auf uns lastete und noch ein zweitesmal mußten wir
eine solche Wahl über uns ergehen lassen. Aber nun ist es zu
Ende und es darf und wird keine Wahl mehr geben, die unter
diesem System stattfindet. (Großer Beifall.) Die Krone hat ihre
Zustimmung gegeben. Die Regierung sieht ein, was ihre Pflicht ist,
der dritte Faktor, das Parlament, wird in wenigen Tagen
zusammentreten und der vierte und entscheidende Faktor, das
Proletariat, wird dafür sorgen, daß das Parlament auch erkennt
1883 von Theophil Hansen erbaut, das Neue Rathaus 1872 bis 1883 von
Friedrich v. Schmidt, die Universität 1873 bis 1883 von Heinrich
v. Ferstel, die Votivkirche — zur Erinnerung an das Attentat des
ungarischen Schneidergesellen Liebesny auf den Kaiser Franz Josef vom
Jahre 1851 — 1856 bis 1879 ebenfalls von Ferstel, das Burgtheater 1880
bis 1886 nach den Plänen Gottfried S e m p e r s von Karl v. H a s e u a u e r.
Jene erste große Demonstration vor dem Parlament war also ganz
anderswo als die Wahlrechtsdemonstrationen vor dem Parlament.
Über die Demonstration vom 9. Juli 1893 ist oben berichtet worden.
252 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
und deutlich vor Augen hat. was seine verdammte Pflicht und
Schuldigkeit ist. Wir erwarten Sie wieder auf diesem historischen
Boden am Tage der Parlamentseröffnung und wir sind überzeugt,
Sie werden kommen. (Stürmischer Beifall.) Sie werden es ver-
stehen, diesem Tage jene Weihe und Wrürde zu. geben, die ihm
eigen sein muß. Denn dieser Tag ist der Beginn des Endes
des sterbenden Parlaments. Gewiß ist der Weg zum
gleichen Wahlrecht noch lange nicht zu Ende gegangen. Gewiß
wird man versuchen, es zu verderben. Aber wie wenige Wochen
ist es denn her, daß Baron Gautsch noch hoffte, nicht nur das
Wahlrecht in Österreich, sondern auch das in Ungarn verhindern
zu können! Wir hätten ja auch nicht geglaubt, daß aus diesem
Saulus so rasch ein Paulus werden wird. (Heiterkeit.) Wir ver-
lassen uns nicht auf die Festigkeit und Beständigkeit des guten
Willens der Regierung, aber wir haben das festeste Vertrauen zum
österreichischen Proletariat, das hinter diesem Parlament stehen
wird, wie es -hinter der Regierung gestanden ist. Wir haben nicht
Vertrauen zur Regierung, aber wir haben alles Vertrauen zu uns
selber.
Sie werden sich nicht einschläfern lassen, Sie werden nicht
glauben, daß nun schon die Tage der Rast gekommen sind, aber
Sie werden auch wissen, daß dieser Kampf, der mit einer sieg-
reichen Schlacht begonnen hat, alle die Monate, die er noch dauern
wird, mit derselben Bestimmtheit und Kraft, aber auch mit der-
selben Klugheit weiter geführt werden muß wie bisher. Der Partei-
tag hat aus Ihren Herzen gesprochen, als er verkündete, daß die
Arbeiter vor keinem Opfer zurückschrecken und, wenn notwendig,
selbst den Massenstreik mit allen seinen Konsequenzen auf sich
nehmen werden. Das wissen wir. aber wie wir verpflichtet sind;
jedes notwendige Opfer zu bringen, so sind wir auch verpflichtet,
kein Opfer zu bringen, das überflüssig wäre. Deshalb führen Sie
den Kampf mit derselben Bestimmtheit weiter! Seien Sie gewärtig
unseres Rufes! Halten Sie sich bereit zum Kampf! Auf Wiedersehen
vor dem Parlament am Tage seiner Eröffnung. Bis dahin können
wir eine gewisse Ruhe eintreten lassen. Nicht etwa daß wir den
Kampf aussetzen würden, aber wir können jene Demonstration, die
eine Demonstration nicht nur für Wien, sondern für ganz Öster-
reich sein wird, vorbereiten, daß sie groß und mächtig und imposant
werde, damit sie entscheidend sei und das bringe, was um jeden
Preis erobert werden muß, das allgemeine, gleiche und direkte
Wahlrecht. (Stürmischer, andauernder Beifall.)
Die Massenversammlung im Kolosse u m*).
Der Kampf, den wir jetzt führen, den führen wir seit vielen
Jahren, seit dem ersten Erwachen der österreichischen Arbeiter-
klasse. Es ist vielleicht an der Zeit, heute daran zu erinnern, daß die
erste große Demonstration der Wiener Arbeiter am 13. Dezember
*) Adler sprach dann noch im Kolosseum im neunten Bezirk. Auch diese
Versammlung war übervoll. Wenigstens 4000 Personen erfüllten die aus-
Das sterbende PrivllcKiönparlament.
L869 vor allem gegolten hat dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht.
35 Jahre des Kampfes um das gleiche Recfal ein langer Weg, ein
Weg«, der bedeckt ist mit Opfern ohne Zahl, und noeh sind wir nieht
am Ziele. Aber nicht mir wir sind marschiert, auch der Staat hat
seinen Weg gemacht, und während die Arbeiterklasse stark und
mächtig geworden ist, ist dieser Staat unter dem Einfluß des Un-
rechtes, das er zur Grundlage seiner politischen Existenz gemacht
hat, Stück für Stück zurückgegangen. Bis zur völligen Ohnmacht,
zur völligen Lahmlegung alles wirtschaftlichen und politischen Fort-
schrittes. Dasselbe Unrecht, das für uns ein Hindernis ist, ist für die
anderen Klassen mehr als ein Hindernis — es lahmt sie, es tötet sie.
Die Entwicklung hat uns recht gegeben Punkt für Punkt und die
starrköpfigsten Exzellenzen fangen heute an, einzusehen, daß sie
Vernunft annehmen müssen, weil sonst die Vernunft über
sie h i n w e g s c h r e i t e t. (Stürmischer Beifall.)
Eine Epoche der R e v o 1 u t i 0 n e n ist angebrochen; vom
Osten, wo die zarische Despotie nun im Kote liegt, kam der Anstoß,
wie er einst aus dem Westen gekommen ist. Das österreichische
Proletariat begreift seine Zeit und ist entschlossen, zu tun, was seine
Pflicht ist. Bedenken wir nur, was sich seit wenigen Wochen er-
eignet hat. Da war vor allem unser Parteitag, der nichts anderes
war als ein wohlüberdachter Motivenbericht für den einzigen Be-
schluß, den Kampf zu Ende zu führen mit allen Mitteln, die dem
Proletariat zu Gebote stehen. Es kam dann das Blutvergießen in der
Babenbergerstraße und es kam dann der große Sonntag von Wien
und Prag, wo wir verkünden konnten, daß die Regierung den ersten
Schritt getan und erklärt habe, „daß die Wahlreform in die Wege
geleitet" wurde (Rufe: Pfui Qautsch! Heuchler!) Genossen! Sie
müssen das Pfui! doch ein wenig modulieren; allen Sündern steht
der Weg zur Tugend offen und schon hat gestern die Regierung
den zweiten Schritt getan. (Ein Genosse ruft: Komödie!) Sie
täuschen sich, das ist keine Komödie. Sie unterschätzen den
Druck, unter dem die Regierung steht. Wenn Sie sagen: „Es ist
nicht ihr eigener Wille, vernünftig zu sein", sei das zugegeben. Aus
eigener Erkenntnis hätte sich Herr v. Gautsch politisch nicht so
rasch entwickelt; aber er hat gute Lehren im Inland sowohl wie im
Ausland. (Heiterkeit und stürmische Zustimmung.) Sie sind recht ein-
dringlich mit ihren Lektionen und — können auch minderbegabte
Schüler zwingen, den Kopf ordentlich aufzumachen. (Heiterkeit.)
Der Dümmste muß begreifen, daß die Arbeiterschaft den heutigen
Zustand nicht mehr aushält und daß es mit den Komödien
und mit dem V e r s t e c k e n s p i e 1 e n jetzt zu Ende ist
(Stürmischer Beifall und Händeklatschen.)
Und jetzt ist noch die eindringliche Lehre dazu gekommen, die
die Eisenbahner geben. Sie dürfen nicht etwa glauben, daß die
gedehnten Haupt- und Nebenräume des Etablissements. Von den Galerien
herab wehten, wie es jetzt üblich geworden war, rote Fahnen.
Nach Adler sprach Gemeinderat Reu mann. Nach der Versammlung
zog ein Teil der Teilnehmer mit roten Fahnen vor das Rathaus.
254 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
sozialdemokratische Partei es notwendig gehabt hat, den Eisen-
bahnern zu sagen: „Vergeßt bei euren Forderungen das Wahlrecht
nicht! Nehmt uns mit auf eurem Karren!" Nein! Mit Naturgewalt
ist das hervorgebrochen und ist zu einem Zeichen geworden, das
ein Ministerpräsident verstehen muß. So hat denn die Regierung
gestern erklärt, daß sie fortfährt, lernfähig zu sein. Das ist es,
worauf es ankommt. Wir wollen nicht mehr Neuwahlen
habenaufQrundderaltenKurienschande, wir wollen
nicht wieder um sechs Jahre geprellt werden. Die karge Lebenszeit,
die das Parlament noch hat, muß es benützen zu der einzig ver-
nünftigen Tat, die es noch leisten kann: sich selbst zu be-
seitigen und Platz zu machen dem Volksparla-
ment. Die gestrige Erklärung des Herrn v. Qautsch enthält eine
Verpflichtung, die die Regierung bindet und die Krone bindet.
Der dritte Faktor ist das Parlament, und diesen zu veranlassen,
seine Pflicht zu tun, dazu wird der vierte und entschei-
dende Faktor, die Arbeiterklasse, die so lange Nach-
sicht übte mit den schwachen Intelligenzen, das Notwendige leisten.
(Stürmischer Beifall.) Wenn Opfer nötig sind, wird sie die öster-
reichische Arbeiterschaft zu bringen wissen und sie wird auch vor
dem Massenstreik nicht zurückbeben. Es sieht für diesen Augen-
blick so aus, als ob wir es uns würden ersparen können, diese
schwere und opfervolle Waffe zu ergreifen. Aber wo immer und
wann immer eine Stockung eintreten sollte, werden wir sie mit
ihrem vollen Gewicht und ihrer ganzen Wucht einsetzen und alles
auf uns nehmen, um unser gleiches Recht zu erobern. (Stürmischer,
anhaltender Beifall und Händeklatschen.)
Lueger als Erfinder.
Sechs Versammlungen, 2 6. November 190 5*).
Es ist eine große und in ihrer Art einzige Sache, die sich in den
letzten Monaten in Österreich vollzogen hat. Heute gibt es wirklich
keinen ernsthaften Widerstand mehr gegen das allgemeine und
gleiche Wahlrecht. Das ist selbstverständlich nicht ein Verdienst
der Sozialdemokraten allein, selbstverständlich ist es nur das Ver-
dienst der Sozialdemokraten, daß sie den richtigen Moment erkannt
und im richtigen Moment getan haben, was getan werden mußte. Dem
Ministerium Gautsch ist es nicht an der Wiege gesungen worden,
zu welcher Erkenntnis es sich durchringen werde binnen vierzehn
Tagen. Wir sehen, das Licht der Erkenntnis, die Erleuchtung kommt
heute so wie einst rasch über die Menschen: aber sie kommt nicht
*) Zwei Tage vor der Parlamentseröffnung, am Sonntag, hielten die
Wiener Arbeiter wieder sechs Versammlungen ab. Die Versamm-
lungen standen schon ganz unter dem Eindruck der bevorstehenden
Demonstration, die für den Tag der Parlamentseröffnung geplant war. Die
Versammlungen richteten sich auch gegen die Christlichsozialen, die sich
einerseits als die Erfinder des allgemeinen Wahlrechtes aufspielten und
andererseits es durch eine lange Seßhaftigkeit verschlechtern wollten.
Lueger als Erfinder. 255
immer und ausschließlich von oben, es wird immer mehr so, daß
die Erleuchtung von unten kommt über die
Men seilen. (Lebhafte Heiterkeit und Beifall.) Ernste offene
Feinde haben wir nirgends mehr. Mit den paar Großgrundbesitzern,
die noch intrigieren, wird man ja fertig werden. Es wäre ja das
einfachste, man schickte die Herren sämtlich ins Herrenhaus.
Anders steht die Sache bei den Christlichsozialen, die nicht nur
erklären, sie seien Freunde des allgemeinen Wahlrechtes; Herr
Dr. Lueger erklärte speziell noch, daß er der Erfinder des
allgemeinen, gleichen Wahlrechtes ist. (Heiterkeit.)
Man muß Herrn Dr. Lueger wirklich bedauern, daß er politisch ein
wenig heruntergekommen ist und sich von so billigen Lorbeeren
nähren muß. Es ist auch töricht, daß sie über die große Manifestation
der Arbeiterschaft, die für Dienstag bevorsteht, geflissentlich die
abenteuerlichsten Gerüchte verbreiten. Ja, wenn die Herrschaften
durchaus ihre Spießer in Angst setzen wollen — wir werden die
Kosten nicht tragen für die schmutzigen Hosen der Leute. (Heiter-
keit.) Nicht einen Moment an diesem Tage wird man
an die Christlichsozialen denken. (Lebhafter Beifall.)
Wir lachen über all diese Dinge.
Wir, die wir ja kein Amt haben, gescheit zu sein, durchschauen
den Schwindel, aber unsere hohen und höchsten Herrschaften lassen
sich durch die christlichsozialen Lügenmärchen ins Bockshorn
jagen. Es werden für Dienstag die verrücktesten Vor-
bereitungen getroffen. Es wird Militär angesammelt in Massen,
die Hofburg wird bewaffnet sein bis an die Zähne
und der Rest wird eine furchtbare Blamage für die Angst-
meier sein. Begreifen denn die Herrschaften nicht, daß wir wirklich
derzeit und vorläufig in der Hofburg nichts zu suchen haben? Wir
sind mit der Hofburg bis auf weiteres ganz zufrieden. Die Hofburg
hat sich zum Wahlrecht für Ungarn bekannt, sie hat sich nach
einiger Überlegung auch zum Wahlrecht in Österreich bekehrt.
Nun, dabei können wir es ruhig lassen! (Beifall.) Die Angst ist
völlig überflüssig, die Revolution, vor der die Christlichsozialen
Angst haben, hat überhaupt das Eigentümliche, daß sie nicht an-
gesagt wird für einen bestimmten Tag und eine bestimmte Stunde
wie eine Hoffestlichkeit; nein, wenn sie notwendig geworden ist,
dann kommt sie stets über Nacht, sie kommt, wenn man sie arn
wenigsten erwartet. Parteigenossen! Wir sind wohl so weit und wir
dürfen annehmen, daß wir das Wahlrecht bekommen werden, ganz
ohne die gefürchtete „Revolution". Es hat genügt, daß die Herren
ein klein wenig zur Vernunft kamen und das Hindernis für die
Wahlreform war beseitigt. Die Herren machen sich nur lächerlich
mit ihren Vorbereitungen. Wir brauchen uns aber darüber gar nicht
aufzuregen, daß das Militär sehr zeitlich hingehen wird, auf un-
bewohnten Straßen, damit man es weniger sieht. Das ist erstlich
ausgemacht. Genossen! Wenn Sie aber trotzdem solchen Militärs
ansichtig werden sollten und die ganze Armee der Pickelhauben in
Tätigkeit sehen, dann sagen Sie sich: Na, wenn ein Souverän
kommt, so muß ja alles ausrücken, und es ist nicht mehr als
"256 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
recht und b i 1 1 i g, a 1 s daß dem s o u v e r ä n e n V o 1 k auf
den Straßen von Wien alle militärischen Ehren
erwiesen werden. (Schallende Heiterkeit und Beifall.)
Jetzt beginnt der Kampf um die einzelnen Bestimmungen des
Wahlgesetzes. Die Christlichsozialen wünschen das allgemeine
Wahlrecht verbrämt mit fünfjähriger, und wenn das nicht erreicht
werden sollte, so wenigstens mit der dreijährigen Seß-
haftigkeit. Wir können dem Herrn Lueger heute schon sagen:
Daraus wird nichts; das ist ganz ausgeschlossen.
Es handelt sich uns durchaus nicht um die Zahl der Mandate, aber
wir können nicht dulden, daß man diejenigen Schichten von
Arbeitern, die durch die wirtschaftlichen Verhältnisse gezwungen
sind, nur einen Teil des Jahres in einem Orte zu arbeiten, ihres
Rechtes beraubt. Es sind das nicht nur Bauarbeiter, sondern
Zehntausende von Arbeitern aller Saisongewerbe, die nicht zu
ihrem Vergnügen und wegen ihrer Gesundheit reisen, sondern ihrer
Arbeit nachgehen. Um diesen Punkt wird ein heißer Kampf geführt
werden und es ist gar nicht ausgeschlossen — ich sage
das mit Bewußtsein dessen, was ich ausspreche — , es ist gar nicht
ausgeschlossen, daß wir gezwungen sein könnten, fürdasRecht
einer solchen Schichte der Arbeiterschaft einen
besonderen Kampf bis aufs äußerste zu führen.
(Allgemeiner Beifall.)
Die Erklärung des Ministerpräsidenten
Gautsch.
Parlament, 3 0. November 1905*).
Meine Herren! Erlauben Sie, daß ich an die Erklärung des
Herrn Ministerpräsidenten und insbesondere an seine letzten Aus-
führungen, die sich auf die Wahlreform bezogen, einige Bemer-
*) Als am 28. November das Parlament zusammentrat, erreichte die Be-
wegung den Höhepunkt. In ganz Österreich fanden Kundgebungen statt.
In Wien zog eine Viertelmillion Menschen in stummer Demonstration mit
Fahnen und Standarten am Parlament vorbei und überreichte durch eine
Abordnung unter der Führung der Abgeordneten Pernerstorfe r,
Daszynski und Hybesch den Präsidenten beider Häuser und dem
Ministerpräsidenten die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht. Volle
vier Stunden dauerte der Aufmarsch der Achterreihen vor dem Parlament,
während im Parlament selbst der Minister in einer Erklärung versprach,
daß die Regierung alles aufbieten werde, um die Vorlagen, die dem Volke
das allgemeine Wahlrecht bringen sollen, „spätestens im Februar auf der;
Tisch des Hauses zu legen". An diese Erklärung schloß sich eine Debatte,
in der auch Adler sprach, der am 18. Oktober in Reichenberg zum Abge-
ordneten gewählt worden war. (Darüber, sowie über den großen Kampf
der Eisenbahner, der mit materiellen Forderungen begonnen hatte
und bald zu einem Kampf für das allgemeine Wahlrecht wurde, siehe die
Bemerkungen bei der Versammlung vom 12. November „Das sterbende
Privilegienparlamen t".)
Die Erklärung des Ministerpräsidenten dänisch. ^r>7
kungen knüpfe. Der unmittelbare Vorredner hat das Wort des
Ministerpräsidenten von den Volksnptwendigkeiten zitiert. Es ist
nichts Neues, daß die sogenannten Staatsnotwendigkeiten als Volks-
notwendigkeiten erklärt und ausgegeben werden. Das, was wir
verlangen, ist — und das möchten wir einmal von der Regierung
und vom Parlament hören — , daß die V 0 1 k s n 0 t w e n d.i g-
k e i t e n auch Staats not wendigkeiten sein sollen.
(Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)
Was die Frage des Verhältnisses zu Ungarn anlangt
und insbesondere die Armeefrage, so waren die Ausführungen des
Abgeordneten Dr. Sylvester*) ein getreuer Ausdruck der Lage dieses
Hauses. Dr. Sylvester tragt, wo den Ungarn gegenüber in diesem
Hause ein gemeinsames Interesse und die erforderliche Kraft be-
steht. Wir kommen nicht einmal dazu, sagte er, Delegationen zu
wählen. Ich glaube, er möchte am allerliebsten — und das ent-
spricht so ganz der Zerfahrenheit, die in den Parteien dieses Hauses
steckt — Delegationen wählen, sie zugleich aber auch
abschaffen. Er beklagt sich darüber — und das mit Recht — ,
daß der Ministerpräsident eine Rede hält, die alle möglichen Dinge
enthält, aber nicht davon spricht, daß in diesem Augenblick öster-
reichische Kriegsschiffe eine Expedition unternehmen, von deren
ersprießlicher Tätigkeit nicht alle Staatsbürger überzeugt sind, zu
der aber die Zustimmung einer maßgebenden Körperschaft nicht
eingeholt wurde. Wir sind ein armes, ein blutarmes Parlament;
aber so arm sind wir doch nicht, daß die Minister über derartige
Dinge einfach mit Stillschweigen hinweggehen dürften. Ich will aber
annehmen, daß der Ministerpräsident gerade mit diesem
Stillschweigen andeuten wollte, daß man mit
diesem Parlament keine besonderen Umstände
zu machen brauche (Heiterkeit), daß das Haus in seinem
heutigen Zustand von der Regierung nicht die Rücksicht verdient,
die jedes andere Parlament erfährt und vielleicht sollte gerade
dieses Stillschweigen, diese etwas despektierliche Behandlung, die
der Ministerpräsident uns hat angedeihen lassen, eines der Argu-
mente sein, dieses Haus zu beseitigen und an seine Stelle ein Haus
zu setzen, mit dem man anständig reden muß.
Dieses Haus genießt im Volke nicht viel Ansehen, es genießt
aber bei der Regierung noch viel weniger Ansehen, und das
schlimmste ist, es genießt bei sich selbst gar kein An-
sehen. Wenn es ein ausschlaggebendes Motiv für Sie alle ohne
Unterschied der Partei gibt, zu sagen, dieses Haus muß weg und
Österreich muß eine Volksvertretung bekommen, so muß es d a s
sein, daß Sie alle das Bewußtsein haben. Sie leben in einer
schweren Krise des Staates, welche die wirtschaftlichen und
politischen Interessen aller Völker in allen ihren Klassen auf das
) Der Deutschnationale Dr. Julius Sylvester, der nachmalige Präsi-
dent des Abgeordnetenhauses, unmittelbar nach dem Umsturz in der revo-
lutionären Regierung als Staatsnotar zur Beurkundung der Beschlüsse
des Staatsrates bestellt.
Adler, Briefe. X. Bd. 17
258 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
tiefste berührt, in einer Schicksalsstunde dieses Reiches, mit einer
schwachen Regierung, die nicht klar weiß, was sie will — und
wann hätten wir eine andere gehabt? — , aber auch ohne jede
Vertreter der Interessen der Bevölkerung, ohne Kraft, sich ein
Urteil darüber zu bilden, was notwendig ist, und insbesondere auch
ohne Kraft, das durchzusetzen, was man will.
Was in Ungarn geschieht ist gewiß nicht sehr erhebend. Die
Adelsclique, diese Junkerrebellion, die drüben Volksvertretung
spielt, ist vom Standpunkt der Interessen der Massen des Volkes
kein erbaulicher Anblick, aber das müssen wir sagen: respektabel
ist es doch, die Kerle hauen doch drein, sie fühlen sich; sie wollen
etwas — etwas Falsches, aber sie haben Mut. Bei uns aber ist
nicht die Spur davon. Dieses Parlament ist nicht mehr fähig, etwas
Gutes zu schaffen; es ist aber auch nicht mehr fähig, etwas
Schlechtes zu tun; es ist vollständig überflüssig geworden; es ist
unfähig, einen entscheidenden politischen Schritt zu tun. Diese
Empfindung haben Sie, auch wenn Sie anders reden und
wenn Sie Ihr Gewissen übertäuben aus Gründen des Parteiegois-
mus — ich will nicht sagen: des Mandatsegoismus. Wenn Sie mit
sich allein sind, müssen Sie zugeben: Österreich ist jetzt
wehrlos, es hat keine Vertretung und kein Parla-
ment, das aktionsfähig wäre.
Geben Sie sich keiner Täuschung hin, daß Sie durch Beschlüsse,
durch kleine Bandeleien, durch gewundene Resolutionen, die kein
Mensch liest, die nichts besagen, nur in langen Perioden verbergen,
daß man nicht nur nichts will, sondern sich nicht einmal getraut,
anzudeuten, daß man etwas wollen könnte, daß Sie dadurch die
Wahlreform aufhalten könnten. Aus diesem Hause wird nichts
mehr, in diesem Hause ist nichts mehr zu machen und darum muß
es weg. Das ist der Grund, warum dieses Haus beseitigt werden
muß, und darum haben es die Sozialdemokraten begrüßt, daß der
Ministerpräsident in seiner Erklärung feierlich, verbindlich ausge-
sprochen hat, daß er das Gesetz, das das allgemeine, gleiche und
direkte Wahlrecht begründet, hier einbringen will und daß er selbst
erklärte, daß eine Regierung den Namen einer Regierung nicht
verdienen würde, wenn sie das nicht täte. Wenn das schon
Baron Gautsch einsieht, dann wäre es höchste
Zeit, daß auch Sie es einsehen. (Lebhafte Heiterkeit.)
Wir haben vor einigen Wochen hier einen Dringlichkeitsantrag
eingebracht, der dem Ministerpräsidenten, der sich gegen das all-
gemeine Wahlrecht in Ungarn erklärte, das Mißtrauen aussprach.
Ich teile Ihnen mit, daß wir diesen Dringlichkeitsantrag zurück-
gezogen haben, denn er ist obsolet geworden. Damit will ich
aber nicht sagen, daß wir zu Baron Gautsch allzu großes Ver-
trauen hätten, und wenn wir erklären, daß wir ihm nicht mißtrauen,
so sagen wir doch noch lange nicht, daß wir ihm
trauen. Aber immerhin müssen wir sagen, der Ministerpräsident
ist so lernfähig, als man es von einem Bürokraten älterer Schule
in Österreich verlangen kann. (Heiterkeit und Beifall.)
Die Erklärung des Ministerpräsidenten Oautsch.
Allerdings, wir sind nicht verwöhnt durch diese Herren da oben.
Aber wir geben ZU : I n d e n 1 e t z ( e n M o n a t e n h a t s i e h d e r
Ministerpräsident r e e li t g U t entwickelt. Kr bei t
seinerzeit geleugnet oder, sagen wir, er bat geglaubt, es nicht
zugestehen zu dürfen, daß er die Einführung des allgemeinen Wahl-
rechtes in Ungarn nicht Kern sieht, weil, wenn es dort eingeführt
würde, bei uns eine Wahlrechtsbewegung erzeugt werden könnte,
die gefährlich wäre. Seine Voraussetzung hat sich eigentlich auch
bestätigt. Ja, es hat nicht einmal so viel gebraucht, daß das allge-
meine Wahlrecht in Ungarn Gesetz wird, und es ist hier in Öster-
reich eine Wahlrechtsbewegung entstanden, die sich sehen lassen
kann. Der Ministerpräsident hat sich nur darin geirrt, daß er ge-
meint hat, daß das Entstehen dieser Bewegung davon abhängig ist,
ob er es wünscht oder nicht, oder ob die Sache in Ungarn Fort-
schritte macht oder nicht. Und er hat sich auch noch in etwas
geirrt. Er hat noch im September gemeint, das Wahlrecht könne
nur „auf der festen Unterlage der Ordnung unserer nationalen Ver-
hältnisse" geschaffen werden. Er hat damals noch von den „Sied-
lungs- und Schichtungsverhältnissen" gesprochen, die das allge-
meine und gleiche Recht unmöglich machen. Aber die Dinge sind
gar nicht so mysteriös, als man sie hinstellt. Sie machen sich immer
selbst solche Geschichten vor. In Wirklichkeit ist die Sache ganz
einfach. Wir haben national einheitliche und wohl einige national
gemischte Gebiete, aber lange nicht so viel, als angenommen ward.
Die Schichtungsverhältnisse, die existieren auch; das heißt, es gibt
auch bei uns Klassengegensätze, aber das ist keine Ent-
deckung, die großen Scharfsinn erfordern würde, und wenn wir
warten* wollten, bis diese Schichtungsverhältnisse beseitigt sind, so
dürfte dies etwas langwierig werden. (Heiterkeit.) Vor allem
anderen ist ja der Kampf ums Wahlrecht eine Wirkung dieser
berühmten Schichtungsverhältnisse, nämlich die Wirkung der Tat-
sache, daß die Schicht der Arbeiterklasse zum
Selbstbewußtsein und zu einem selbständigen
Willen gekommen ist und zu einem so kräftigen,
klaren, energischen und einem so wenig zu leug-
nenden Ausdruck dieses Willens, daß sie selbst
das durchsetzen wird, was in Österreich immer
am schwersten durchzusetzen war: das Vernünf-
tige und das Gerechte! (Sehr gut ! bei den Sozial-
demokraten.)
Nun ist der Minister den Dingen nähergetreten. Er hat am
29. September sehr skeptisch über das Wahlrecht gesprochen; er
hat am 6. Oktober eine Erklärung abgegeben — damals muß er
gerade im Zustand des Mauserns gewesen sein (Heiterkeit) — ,
in der er sich nicht recht entschließen konnte, die aber noch recht
lahm war. Vorgestern haben wir hier eine energische, vernünftige,
klare Erklärung gehört, die in ihren großen Zügen ganz
gut gestimmt hat zu dem, was s i c h z u r s e 1 b e n
Stunde vor den 'Foren dieses Hauses und in allen
17*
260 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Städten Österreichs begeben hat. (Sehr richtig ! bei
den Sozialdemokraten.) Zur selben Stunde hat nämlich der beste
Teil, der politisch klarste, der politisch wolle ndste Teil
aller Völker Österreichs erklärt, daß er es nicht mehr länger aus-
hält und nicht geneigt ist, es länger zu ertragen, daß die Völker
Österreichs ohne Vertretung bleiben, daß es ihre Würde und ihre
Interessen unmöglich machen, noch einmal die Schande und
Schmach zu erleben, an Wahlen heranzutreten, die ein Abgeord-
netenhaus erzeugen, das keine Volksvertretung ist. Die Demon-
strationen sind der beste Kommentar dafür, wie recht Baron
Gautsch hatte, wenn er erklärte, es sei einfach ausge-
schlossen, die Wahlreform nicht zu machen. Es ist
unerläßlich und unvermeidlich, sie zu machen, und darum ist es das
klügste, Sie sträuben sich nicht.
Es ist eine Kraftvergeudung von Ihrer Seite, es ist durchaus
unökonomisch, wenn wir hier darüber streiten; diese Schlacht
ist im Wesen entschieden; Österreich kann nicht mehr
anders, als eine Volksvertretung mit dem allgemeinen Wahlrecht
haben, und alles, was Sie dem entgegensetzen, hier im Hause wie
außerhalb, alle Kabalen und Intriguen, alle Deklarationen, alle
Einwürfe dienen nur dazu, den Streit zu vergiften, ihn in
eine verkehrte Bahn zu lenken, in einen Weg, der
falsch ist und von dem Sie selbst sehr gut wissen,
daß er falsch ist. Diese Intriguen könnten schließlich dahin
führen, daß ein Kampf, der heute überflüssig ist, noch einmal
geführt werden müßte. (Lebhafter Beifall.)
Baron Gautsch hat diesmal sehr vernünftig gesprochen; aber
wie lange die Vernunft bei einer österreichischen Regierung dauert,
ist nie recht sicher. Mir geht es bei solchen Regierungs-
erklärungen immer wie dem Till Eulenspiegel. Wenn es hinunter-
geht, wenn man uns verfolgt, unsere Presse knebelt, unsere Frei-
heiten beschränkt, dann habe ich das Gefühl, wir werden das alles
überwinden, jetzt wird es bald wieder bergauf gehen. Aber wenn
eine Regierung in Österreich vernünftig redet, da denke ich immer:
Halt, da ist Gefahr, da kommt bei dem Umspringen des WTindes der
politische Cretinismus Austriacus wieder oben-
auf. (Heiterkeit.) Hoffen wir, daß die Episode dieser Schwankungen
vorbei ist. Aber ich verlasse mich nicht darauf und niemand sollte
sich darauf verlassen, nicht auf die Krone und nicht auf die Regie-
rung. Es ist sehr erfreulich und es ist durchaus notwendig gewesen,
daß die Krone ihre Genehmigung zur Einbringung des Wahlgesetzes
erteilt hat, und es stimmt dies durchaus zu der Haltung, die die
Krone in Ungarn einnehmen mußte. Wir sind gewiß in Österreich
auch von der Krone nicht gerade an eine geradlinige Politik ge-
wöhnt. Aber ich möchte doch diejenigen warnen, die dem Wahl-
recht Hindernisse bereiten möchten und die auf die Kur z-
atmigkeit der Vernunft da oben spekulieren. Es ist nicht
meine Sache, zu untersuchen, wie es mit dem Verantwortlichkeits-
geiühl oben bestellt ist. Sie, meine Herren, aber, Sie sind verant-
I He Erklärung des Ministerpräsidenten Qautsch. 261
wörtlich, und wenn Sic diese schwankende Haltung oben benutzen
und Ihre lnlrigucn darauf bauen wollen, dann laden Sie eine
schwere Verantwortung auf sich. (Bravo! Bravo!) Sic jeder
persönlich (Sehr richtig!), und es wird Leute geben,
die Sie auch persönlich zur Verantwortung
ziehen werden. (Beifall und Händeklatschen bei den Sozial-
demokraten.)
Ich spreche nicht als ein Drohender, sondern ich konstatiere nur
eine Tatsache. Wer, und wäre er der erbittertste Feind der Sozial-
demokratie, die Demonstration von vorgestern gesehen hat, der
muß Respekt vor diesem Schauspiel gehabt und
die Energie und die Selbstverleugnung dieser
großen Massen erkannt haben. Diese Hunderttausende,
die vorübergezogen sind, sie sind selbstverständlich entrüstet und
empört, weil sie ausgeschlossen sind aus diesem Hause und weil sie
es empfinden, daß hier der Ort ist, an welchem ihre Interessen
vertreten werden müßten, aber nicht vertreten werden. Haben Sie
selbst nicht immer, wenn Sie an dieses Parlament denken, das
Gefühl, daß Sie ausspucken müssen? Und nun erst diese Massen,
die da vorübergezogen sind! Die haben selbstverständlich andere
Gefühle als die der Freundschaft für diesen Privilegientempel. Es
fällt uns nicht ein, zu drohen, aber auf die Tatsachen
müssen w i r weisen. Baron Gautsch ist der Ansicht, daß die
Wahlreform am raschesten gedeihen werde, wenn Ruhe und Ord-
nung herrschen. Ruhe und Ordnung, das bedeutet für ihn, daß keine
Demonstration ist. Eine andere Ruhe und Ordnung kennt er nicht.
Wir sind — entschuldigen Sie — nicht dieser Ansicht und wir
glauben, daß wir das besser verstehen. Er hat auch gesagt, er sei
weit davon entfernt, sich das „Tempo" seiner politischen Entwick-
lung durch Demonstrationen beschleunigen zu lassen. Gewiß, wir
sind ganz unschuldig daran und wir glauben wirklich, der heilige Geist
ist über ihn gekommen (Heiterkeit) ; aberwir vermuten, daß
diesmal der heilige Geist ausnahmsweise statt
vonobenvonuntengekommenist. (Lebhafte Heiterkeit.)
Wir drohen Ihnen nicht; aber wir sagen Ihnen, daß diejenigen, die
das Verschleppen der Wahlreform auf ihr Gewissen nehmen
würden — ob sie nun auf der Regierungsbank oder auf diesen
Bänken hier sitzen — , der Tatsache einer Volksbewe-
gunggegenüberstellen, ein er Tatsach e, die soeine
Tatsache ist, wie irgendeine Naturtatsache (Sehr
richtig !) und die ihre Folgen und ihre Wirkung mit
der grausamen Konsequenz einer elementaren
Tatsache haben wird. (Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Wir, die wir zur Beobachtung dieser Naturerscheinung einen
besseren Standpunkt haben, wir sagen Ihnen, daß die Arbeiter-
schaft, auch die sozialdemokratisch nicht organisierte Arbeiter-
schaft erregt, ja mehr als erregt ist, daß sie das feste
Bewußtsein in sich trägt, daß, wenndieWahlreform nicht
amacht werden sollte, jedes Opfer gebracht
262 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
werden müßte, um sie durchzusetzen. (Beifall und
Händeklatschen bei den Sozialdemokraten.) Das ist nicht eine
rednerische Phrase, sondern ich und jeder meiner Parteigenossen
weiß, daß, wenn nicht unser Verantwortlichkeits-
gefühl wäre, wenn wir der Stimmung der Massen
freien Lauf ließen, wir bereits in einem weit vor-
geschritteneren Stadium der Erhebung wäre n.
(Sehr richtig!) Jedes Wort, das von den Gegnern der Wahlreform
fällt, wird mit Recht als ein Verrat am Volke aufgefaßt.
Wenn wir in den nächsten Wahlkampf unter dem alten Wahlgesetz
eintreten würden, dann würde sich eine Situation herausbilden, die
ich mir schlechthin nicht vorstellen kann, von der sich niemand
eine Vorstellung macht. Wie kann jemand denken, daß
man Österreich noch einmal auf sechs Jahre de m
blanken Unsinn, der blanken Ohnmacht, der
blanken Schande vor dem Ausland ausliefern
soll? (Beifall bei den Sozialdemokraten.) Sie müssen doch die
Empfindung haben, daß das nicht geht, daß die Wahlreform sein
muß. Aber, wenn sie sein muß, dann haben Sie doch die Güte, d i e
Opfer, die Sie sich selbst und den Massen aufer-
legen, möglichst zu verringern.
Wir haben bei den Demonstrationen in Wien und Prag Blut
fließen gesehen; es ist vorgestern, dank der brutalen Borniertheit
von ein paar Fabrikanten, auch in einzelnen Orten Mährens Blut
geflossen. Dieses Blut wird natürlich immer damit motiviert: Es
gilt nicht der Verteidigung der Privilegien, es wird nur die
Ruhe und Ordnung verteidigt. Aber wenn Arbeiter, wie
in Austerlitz*), in einer Fabrik ein paar Fensterscheiben zerstörten,
dann lautet das Gesetz nicht: Zahn um Zahn, sondern: Um
Fensterscheiben Menschenleben. (Beifall bei den
Sozialdemokraten.) Die Zusammenstöße in Wien haben viel Unwillen
erregt, obwohl sie nicht direkt auf das Konto des Polizeipräsidiums
zu setzen sind. Gewiß sind dem Polizeipräsidium diese Zusammen-
stöße unangenehm. Aber die Verantwortung dafür tragen nicht nur
die Wachleute, die ausgerüstet mit dem Rechte der öffentlichen
Gewalttätigkeit sind, dadurch, daß man ihnen einen Säbel in die
Hand drückt. Solche Zusammenstöße sind eine Folge
davon, daß alle früheren Gewalttätigkeiten der
Polizei nicht bestraft wurden; weil man, um nur
eine Tatsache anzuführen, den Einbruch ins
Arbeiterheim**), von dem man wußte, wer ihn be-
gangen hat, ungesühnt ließ.
*) In Austerlitz in Mähren waren in der Redlichschen Zucker-
fabrik nach einer Versammlung am 28. November einige Fenster ein-
geworfen worden, darauf feuerten die Gendarmen eine Salve ab, durch die
ein Arbeiter getötet und zwanzig verletzt wurden.
**) Am 7. November 1902 war Victor Adler, der im Jahre vorher zum
Landtagsabgeordneten von Favoriten gewählt worden war, mit 6223 Stim-
men gegen den Christlichsozialen Prochazka, der 6262 Stimmen erhielt,
Die Erklärung des Ministerpräsidenten Qautsch.
Abgeordneter Pernerstorfer: Banditensireiche !
Abgeordneter Dr. Adler: Wenn man Leuten, die man auf wehr-
lose Menschen losläßt, ihre Verhrcclien verzeiht, wenn man eine
Immunität für schwere körperliche Verletzung statuiert, darf man
sich nicht wundern, daß sich solche Dinge immer wiederholen.
Diese kleinen Dinge dürften immerhin davon ein Bild geben, wozu
es käme, wenn die Bewegung größeren Umfang gewinnen müßte,
aus dem Grunde, daß sich in diesem Hause ernstliche Hindernisse
gegen das Wahlrecht fänden. Ich kann Ihnen darum nur empfehlen,
daß Sie das, was der Ministerpräsident gesagt hat, sehr ernst
nehmen, daß Sie sich mit der Unerläßlichkeit, ans Werk zu gehen,
vertraut machen, und daß Sie die Sache nicht hinausziehen.
Was die Einzelheiten anlangt, ist der Ministerpräsident aller-
dings noch nicht so weit entwickelt, als wir es wünschen würden.
Die Regierung steht noch immer unter der Suggestion, die insbe-
sondere von der linken Seite dieses Hauses, von den deutschen
Abgeordneten, ausgeübt wird, daß es so ungeheuer schwer und ein
furchtbares Problem ist, eine für Österreich passende Wahlreform
zu machen und unter einer solchen Suggestion stehen auch die
Polen. Allerdings ist die Suggestion der Polen viel einfacher. Die
Polen haben es ja nicht notwendig, mit Psychologie zu arbeiten
(Heiterkeit), sie sagen einfach brutal: Hier sitzen wir und wir
wünschen auch, hier sitzen zu bleiben. Wir sind die Verfechter des
polnischen Volkes, wir wünschen, diese Verfechter seiner Inter-
essen lebenslänglich zu bleiben (Heiterkeit), weil bekanntlich
niemand dieses wichtige und lukrative Geschäft
so gut trifft wie wir. (Heiterkeit und Beifall.) Diese Weisheit
aber ist keine Suggestion, sondern brutale Gewalt. So ist es bei
den Polen. Die Deutschen aber sind ein Volk von Gelehrten, es
genügt ihnen nicht, eine Sache klar zu sehen, sie betreiben noch
ein umfassendes Quellenstudium. Wir wissen alle, schon seit Kind-
heit, daß zweimal zwei vier ist. Aber das genügt uns nicht. Man
weiß ja nicht, ob nicht die letzten Forschungen doch nachgewiesen
haben, daß es etwas mehr ist. Deshalb, ehe wir uns entschließen,
•ein Urteil zu fällen, müssen wir noch alle möglichen Bücher nach-
lesen, wie es damit steht. (Lebhafte Heiterkeit.) Man wird uns hier
eine Unmasse von Ziffern auftischen, von Ziffern, die — ich habe
alle diese Bücher gelesen — größtenteils falsch sind, auch Ihre,
Herr Peschka*), das sind agrarische Ziffern. (Heiterkeit.) Man wird
uns beweisen, daß das Parlament des allgemeinen, gleichen und
unterlegen. Als die Arbeiter aus der Versammlung im Arbeiterheim ab-
zogen, wurden sie von der Wache überfallen und plötzlich drangen die
Wachleute auch in das Arbeiterheim ein, zerschlugen die Fenster und
hieben mit den Säbeln auf die Arbeiter ein. 15 Arbeiter wurden
schwer, zahlreiche leicht verletzt. Siehe auch Adlers Reden
nach der Stichwahl und bei der Enthüllung des Gedenksteines am
12. Februar 1905.
*) Ein deutscher Agrarier, der später deutscher Landsmannminister
wurde.
264 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
direkten Wahlrechts etwas anders aussehen wird als das gegen-
wärtige Kurienparlament. Davon bin ich ja selbst überzeugt und,
wenn ich nicht glauben würde, daß infolge der Reform auch ein
paar andere Herren hereinkommen, würde ich ja nicht für die
Wahlreform eintreten. (Lebhafte Heiterkeit.)
Können Sie sich denn, meine Herren, ein größeres Unglück, ein
schlimmeres Haus vorstellen als dieses? Wenn selbst der Teufel-
alle seine List aufwenden und sich überlegen würde, wie er ein
Haus zusammenbringen könnte, das für Österreich nicht paßt,
das Österreich lähmt und seine Entwicklung unmöglich macht,
könnte er dann etwas Schlimmeres zuwege bringen als dieses
Haus? Zu verderben ist doch wirklich nichts am österreichischen
Parlament, wozu also die Angst für das Parlament? Aber die
Deutschen erklären, sie haben Angst für die deutsche Nation.
Diese Angst berührt mich sehr eigentümlich. Die Deutschen in
diesem Hause können doch nicht behaupten, daß, sie, die privile-
gierten Abgeordneten, die deutsche Nation darstellen; und so
entpuppt sich ihre Angst für die deutsche Nation
in eine Angst vor der deutschen Nation. (Beifall bei
den Sozialdemokraten.) Sie fürchten nicht für die Inter-
essen des deutschen Volkes, sondern sie fürchten
sich vor dem Willen des deutschen Volkes. (Leb-
hafter Beifall bei den Sozialdemokraten.) Wie viele Wahlbezirke
gibt es denn, wo Deutsche mit Tschechen kämpfen? Sie fürchten
nicht, daß irgend ein Bezirk an die Majorität einer anderen Nation
ausgeliefert wird, sondern sie fürchten, daß die Ver-
tretung ihres Volkes an einen wirklichen Ver-
treter dieses Volkes übergehen könnte.
Aber machen Sie denn wenigstens eine vernünftige Klassen-
politik? Wir würden es vollständig begreifen, wenn jede Klasse
für ihre Interessen, wenn das deutsche und das tschechische Bürger-
tum für die politische Vertretung ihrer Klasse eintreten würde.
Aber das tun Sie in Wirklichkeit gar nicht! Das deutsche
Bürgertum hat allen Grund, sich vor dem tsche-
chischen einfach zu schämen. Ich will nicht die Motive
untersuchen, aus denen das tschechische Bürgertum so vernünftig
handelt. Das tschechische ist klug, das deutsche unklug. Warum
müssen denn die Deutschen immer vor aller Welt zeigen und
bekennen, daß die politischen Vertreter ihres Bürgertums, die noch
dazu immer unter der Protektion eines Hochadels standen, die
ihrer gar nicht würdig ist, sich jedem politischen Fortschritt mit
Klauen und mit Zähnen widersetzt haben? Müssen Sie sich denn
immer von den Klerikalen, deren Erbschaft in der Selbstberäuche-
rung jetzt. die Christlichsozialen übernommen haben, sagen lassen,
daß die Erweiterung des Wahlrechtes die Klerikalen durchgesetzt
haben? Sie haben es ja nicht aus Liebe getan, als sie den Fünf-
guldenmännern das Wahlrecht gaben; sie haben es stets verstanden,
eine Erweiterung des Wahlrechts mit einem Wahlrechtsraub zu
verbinden; aber es ist freilich wahr, daß alles, was sich in Öster-
Die Erklärung des Ministerpräsidenten Qautsch.
reich als Erweiterung des politischen Rechtes vollzogen hat, sich
g 6 g c 11 das d c n t s c li e B ü r g e r t n im vollzogen hat
(Sehr richtig!), und das ist ein Verbrechen an Ihnen
selbst, es war stets der schwerste Fehler, den Sie
begehen konnten. Warum wollen Sie diesen Fehler wieder
besehen? Sie können dabei nichts profitieren, sondern nur zugrunde
gehen.
Allerdings, wir haben auch Freunde des allgemeinen Wahl-
rechts, daß es einfach zum Davonlaufen ist; wenn Herr Dr. Lueger
sagt, er ist ein Freund des allgemeinen Wahlrechts, „verbrämt"
mit der fünfjährigen Seßhaftigkeit, wenn die Deutschnationalen
erklären, sie stimmen für das allgemeine Wahlrecht, aber erst
muß die deutsche Staatssprache eingeführt und die Trennung
Ungarns und die Loslösung Qaliziens vollzogen sein, so sind diese
Freunde des allgemeinen Wahlrechts ein mäßiger Vorteil; sie
stehen ganz auf derselben Linie wie Graf Dzieduszycki, der gesagt
hat, er ist für das allgemeine Wahlrecht, aber nur, wenn Qalizien
125 Mandate erhält. Und dann kommt Herr Gautsch und sagt, das
Parlament soll die Photographie eines Landes sein. Herr Gautsch
hat da, ohne Absicht gewiß, das Wort eines Mannes variiert, das
sonst nicht in so erlauchter Gesellschaft zitiert wird: Mirabeaus.
Es ist Herrn v. Gautsch nicht an der Wiege gesungen worden, daß
er einmal Mirabeau zitieren wird (Heiterkeit); aber dieses Bild
paßt auch sonst auf diesen Fall. Es gibt gute und schlechte Photo-
graphen und die schlechtesten sind, die zuviel retuschieren
und aus der Photographie eine Karikatur nach
ihrem Gusto machen. Dieser Vergleich ist sehr gefährlich
und über den Grad des Retuschierens könnte sehr leicht ein Streit
entstehen, der sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, während welcher
die Feinde des Wahlrechts ihre Intrigen spinnen würden. Ich
fordere hier feierlich und ich glaube wirklich im Namen der
Massen zu sprechen, die auf das allgemeine Wahlrecht warten, ich
appelliere an die Freunde des Wahlrechts hüben und drüben, an
Tschechen und Deutsche, daß sie sich nicht irremachen lassen,
nicht irremachen und in Konflikte hineinjagen
lassen, die keine Konflikte sind.
Man hat weiter von der Abstufung der Wahlkreise gesprochen.
Wir stehen im Prinzip auf dem Standpunkt ganz gleicher Wahl-
bezirke nach der Volkszählung; da wir aber wissen, daß es ausge-
schlossen ist, dies durchzusetzen, sagen wir: was vernünftig ist,
was hier vorgekehrt werden kann, dem werden wir uns fügen und
wir haben auch eine Begründung für einen Unterschied in der
Wählerzahl der einzelnen Wahlbezirke*), eine Begründung, die aller-
*) lim den Widerstand der Deutschbürtfcrlichen zu überwinden, hatte
A. Friedrich (unter welchem Pseudonym sich der Chefredakteur der
„Arbeiter-Zeitung" Friedrich A u s t e r 1 i t z verbarg) in Pernerstorfers
„Deutschen Worten" den Vorschlag gemacht, die Wahlkreise nach der
lerleistung der Bezirke verschieden Kroß zu machen, wodurch den.
266 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
dings etwas anderes ist als die berühmte Steuerleistung. Denn die
Steuerleistung ist von den ehrlichen Freunden des Wahlrechts nur
gemeint als ein Maßstab, nicht aber als ein Rechtsgrund, aus dem
das Wahlrecht fließt, und es ist ein Maßstab, der sogar falsch ist
und durch die Bevölkerungszahl korrigiert werden muß. Von
polnischer Seite wird man ja gewiß für die Gleichheit des Wahl-
rechts bis zum Exzeß eintreten; man wird vor nichts zurück-
schrecken, bevor das Recht des letzten ruthenischen Bauern
gleichgestellt ist dem Rechte des Bürgers in Wien. (Heiterkeit.)
Man wird mathematisch das gleiche Wahlrecht mit einem Fanatis-
mus aufgreifen, daß wir alle Mühe haben werden, uns dieser
mörderischen Freundschaft zu erwehren. Wenn wir aber größere
Wahlkreise im Osten akzeptieren als in den deutschen oder
tschechischen städtischen und Industriebezirken, so können wir das
mit gutem Gewissen tun, weil wir damit eine sehr nahe Zukunft
eskomptieren. Wenn Sie heute Wien, Briinn, Kladno, Pilsen,
Reichenberg einem rein agrarischen Bezirk im Osten oder Süden
gleichsetzen, da wie dort 61.000 Einwohner als Grundlage für ein
Mandat annehmen, so haben Sie bereits bei den näch-
sten Wahlen, gewiß aber bei den zweitnächsten
darin die stärkste Ungerechtigkeit zuungunsten
der industriellen Arbeiter und der städtischen
Bevölkerung begangen. (So ist es !) Es versteht sich von
selbst, daß sich die städtischen und industriellen Zentren an Be-
völkerung und Wählerzahl um das Vielfache rascher vermehren
als die anderen Teile. Wir sehen, wie in Deutschland der Reichstag
mittels dieser erstarrten Einteilung unter die pommerschen Junker
gebeugt wird. Wenn die Herren außerdem darin eine Sicherung
ihrer nationalen Interessen sehen, so wollen wir uns darüber freuen,
daß wir ihnen eine Freude machen können.
Wir meinen allerdings, daß die Wahrung der Interessen eines
Volkes mit der Zahl der Stimmen, die es im Hause hat, nur sehr
unwesentlich zusammenhängt. Wo die Deutschen hier wirklich
stark waren, waren sie es nicht, als sie die Majorität waren, sondern
nur dann, wenn sie Minorität waren. Das sind also Torheiten!
Niemand, der das gleiche Recht will, will irgendein Volk verge-
waltigen, im Gegenteil! Er will das Volk erst zum Wort
bringen. Und glauben Sie, daß der deutsche Arbeiter einen
deutschen Großgrundbesitzer für einen Vertreter seiner Volks-
interessen ansieht? Wenn Sie aber meinen, daß der deutsche
Arbeiter nationale Interessen nicht ebenso hat wie Sie, so täuschen
Sie sich: die deutschen Arbeiter, die tschechischen Arbeiter haben
ihre nationalen Interessen, ihr volles nationales Bewußtsein, und
für die Entwicklung dieses nationalen Bewußt-
seins und die Aufnahme nationaler Kultur in den
kulturell höherstehenden westlichen Ländern gegenüber den unkultivierten
östlichen ein Übergewicht verschafft würde. Diese Formel konnte auch von
den Tschechen akzeptiert werden und sie ermöglichte die Überwindung
der Gegenargumente der deutschen Bourgeoisie.
Die Erklärung des Ministerpräsidenten Qautsch, '^>7
M a s S e ii cl e s V 0 1 k e S h a b e n wir inte r n a t i o n a I c
S 0 Z i a l d e m 0 k raten mehr getan als Sie alle Z u-
s a in in e n. (Lebhafter Beifall hei den Sozialdemokraten.) Das sage
ich, ohne Unterschied für alle Parteien, die hier vertreten sind: Die
nationalen Interessen werden nicht wehrlos gemacht, wenn einige
der Herren, die jetzt im Besitz ihrer Mandate allmählich unsicher
zu werden beginnen, ihrer endlich in Zukunft endgültig verlustig
werden sollten. Trauer tragen mag um die Herren wer will, das
deutsche Volk wird es nicht. Seien Sie überhaupt nicht so ängstlich!
Es gab eine Zeit, wo der „deutsche Besitzstand" nicht nur durch
die Wahlordnung geschützt war, sondern auch durch Polizei, wo
man gemeint hat, der Bezirkshauptmann, der die internationale
Bande in Zucht und Ordnung hält, sei die eigentliche Stütze der
deutschen Nation; eine Zeit, wo nicht nur die sozialdemokratische
wie jede oppositionelle Presse geknebelt war. Was haben Sie
damit erreicht? Nichts als Blamagen und den verdienten Haß
der Bevölkerung. Sehr gegen das Interesse des
deutschen Volkes handeln Sie, wenn Sie den
deutschen Namen immer wieder mit allen volks-
feindlichen Einrichtungen, volksfeindlichen Ge-
setzen und Gewalttätigkeiten in Verbindung
bringen. Wir Deutschen sind allerdings von Feinden umgeben,
aber das sind nicht Feinde der deutschen Sprache und des deutschen
Volkes. Die deutsche Sprache hat in Österreich immer eine doppelte
Funktion gehabt. Die deutsche Sprache ist die Muttersprache des
deutschen Volksstammes. Als solche lieben wir sie und als solcher
will ihr auch kein Fremder etwas tun. Die deutsche Sprache ist
aber auch die Amtssprache jenes schwarz-gelben
Österreich, das von je ein Feind aller Völker und
auch des deutschen Volkes war. In dieser deutschen
Sprache hat man Ungarn vergewaltigt und man hat heute die
Früchte davon; in dieser deutschen Sprache hat man die Italiener,
die Tschechen, die Polen vergewaltigt. Es hat keinen politi-
schen Galgen gegeben, der nicht schwarz-gelb
war, und es hat kein Bluturteil gegeben, das nicht
in deutscher Sprache verfaßt war. (Lebhafter Beifall
bei den Sozialdemokraten.) Diese Schmach hat man der deutschen
Sprache angetan, undwenn Sie Deutsche sind und eine
Empfindung dafür haben, müssen Sie aufstehen
und sagen: Nein! Alles soll die deutsche Sprache
sein, aber nicht die Staats-, Amts- und Unter-
drückungssprache dieses alten Österreich. (Beifall
bei den Sozialdemokraten.) Diese Schmach müssen Sie selbst
abwehren; Sie haben jetzt eine Gelegenheit, sich zu reinigen, sich
selbst zu erneuern, und es ist ein Verbrechen a n I h n e n
selbst, wenn Sie diese Gelegenheit nicht
ergreifen. Die Bewegung geht über Sie hinweg,
wenn Sie nicht mit ihr gehen. Sehen Sie andere an, zum
Beispiel die Christlichsozialen, wie sie schnell aufsteigen und auf
268 Der Sieg des gleichen Wahlrechte
den rollenden Wagen sich zu retten suchen. (Sehr gut! bei den
Sozialdemokraten.) Sie müssen es nicht so wenig aufrichtig, so
wenig geschickt machen. Machen Sie es vernünftiger, ehrlicher,
würdiger.
Wir sind ja auch in den Baron Oautsch nicht verliebt. Die
Christlichsozialen wundern sich immer furchtbar, wenn wir
..ministeriell" werden. Aber jedesmal, wenn die Sozial-
demokraten so ausschauen, als wären sie mini-
steriell, ist das Gegenteil der Fall: Da ist immer
das Unglaubliche eingetreten, daß ein Minister
vernünftig geworden ist. (Heiterkeit.) Wie der Körber
angefangen hat, die alten Polizeigeschichten wegzuschmeißen,
haben wir gesagt, er ist ein vernünftiger Minister. Da hat man
geschrien, wir sind Körber-Husaren, Jetzt ist es wieder nicht recht,
daß, wenn „Pfui Gautsch!" gerufen wird, wir sagen, man soll sich
das aufheben, bis schlechtere Zeiten kommen. Wie Baron Gautsch
jetzt ist, ist es ja ganz in der Ordnung, nur ist er ein bißchen zu
wenig energisch. Wenn vielleicht die Herren vom Großgrundbesitz,
denen er zugänglicher ist und die er in seiner Einfalt — verzeihen
Sie das harte Wort — für tiefsinnige Staatsmänner hält, kommen
und ihm zureden, werden wir schon um die Erlaubnis bitten, Herrn
Gautsch in seinem politischen Verständnis etwas nachzuhelfen und
denHerren in der Besonnenheit nachzuhelfen, die
Dinge nicht auf die Spitze zu treiben. (So ist es! bei
den Sozialdemokraten.) Ein Großgrundbesitzmandat mag ja eine
sehr angenehme Sache sein, aber der bessere Teil davon
ist doch der — Großgrundbesitz. (Heiterkeit.) Begnügen
Sie sich mit dem! Sie sind doch wirklich versorgt. (Schallende
Heiterkeit.) Wenn Baron Gautsch in Aussicht gestellt hat, er wolle
das Herrenhaus renovieren, ob er Sie nun ernennen oder hinein-
wählen lassen wird, irgendeine Gelegenheit zum Wege ins Herren-
haus wird es ja für Sie geben, und das ist ja viel besser,
viel standesgemäßer für Sie. (Heiterkeit.) Hier leben Sie
doch nur unter dem Pöbel, der Ihnen immer nur so unangenehme
Dinge sagt. (Lebhafter Beifall.)
Nun kommen die Dinge, in denen Baron Gautsch schwach
geworden ist. Er hat das Bestreben, Sie zu beruhigen, und erzählt:
Für die Landtage bleibt es bei den Kurien*), die Landtage sind etwas
anderes als der Reichsrat. Von Herrn v. Körber hat man es umge-
kehrt gehört, man müsse in den Landtagen auch die fünfte Kurie
einführen, damit es genau so ist wie im Reichsrat. Aber darüber,
wie das allgemeine Wahlrecht im Reichsrat auf die Landtage
wirken wird, braucht man sich jetzt wirklich nicht den Kopf zu
zerbrechen. Das werden wir schon beizeiten sehen. Mit der Kom-
bination Wahlreform und Geschäftsordnung**) hat sich dann der Herr
*) In den Landtagen ist das Kuriensystem bis zum Umsturz geblieben.
**) Gautsch hatte in seiner Erklärung auch davon gesprochen, daß mit
der Wahlreform eine zweckmäßige Umgestaltung der Geschäftsordnung
Die Erklärung; des Ministerpräsidenten Qautsch. 2Ö9
Ministerpräsident auf ein (iel)iet begeben, von dem es in seinem
eigenen Interesse gescheiter gewesen wäre, er hatte davon ge-
schwiegen. Mit der Geschäftsordnung ist es ähnlich wie mit den Spiel-
regeln beim Tarock. So lange man sieh daran halt, sind sie sehr gut.
Aber was nützen Ihnen die besten Spielregeln, wenn Ihnen der Partner
die Karten ins Gesicht wirft? (Lebhafte Heiterkeit.) In einem guten
Hanse funktioniert auch eine schlechte Geschäftsordnung famos
und in einem schlechten Hause nützt Ihnen die beste Geschäfts-
ordnung nichts. Abgesehen davon, daß sie eine Absurdität und
unwirksam ist, ist diese Idee auch eine Unmöglichkeit. Sie können
doch diesem Hause nicht gestatten, eine neue Geschäftsordnung zu
machen. Wie können Sie denn die erste Volksver-
tretung, die w i r haben werden, unter die Kuratel
dieses Privilegien haus es setzen? Wie kommt dieses
Haus, das sich selbst nicht führen kann, dazu, einer
künftigen Volksvertretung ein Mißtrauensvotum zu geben, ihr
pädagogische Lehren zu erteilen? (Beifall.) Die Geschichte von der
Geschäftsordnung ist wohl nicht auf dem Mistbeet des Baron
Gautsch gewachsen, sondern das ist eine jener Intrigen, die von
rückwärts kommen . . .
(Während dieser Ausführungen des Redners fällt von der
zweiten Galerie eine Anzahl von Blättern in die Bänke der Abge-
ordneten; Unruhe und Zwischenrufe. — Rufe: Es ist eine private
Bittschrift!)
Abgeordneter Dr. Adler (fortfahrend): Im Laufe der Dinge wird
man vom Pluralitätswahlrecht, vom Proportionalwahlrecht, von der
Wahlpflicht sprechen; aber das sind lauter Dinge, die von vorn-
herein ausgeschlossen werden müßten. Das Proportionalwahlrecht
ist allerdings eine vorgeschrittene Form des Wahlrechts und die
Sozialdemokraten wünschen sogar programmatisch seine Ein-
führung. Sie wünschen noch mehr: Das Wahlrecht vom 21. Lebens-
jahr an und das Frauenwahlrecht.
Abgeordneter Glöckner*): Oje!
Abgeordneter Dr. Adler: Lassen Sie's gut sein! Auch diese
Erweiterungen des Wahlrechts werden einmal kommen. Aber wir
bescheiden uns heute mit dem, was jetzt möglich, durchführbar
und notwendig ist, und halten jede Erschwerung des gleichen Wahl-
rechts durch Künstlichkeiten für eine Feindseligkeit gegen das
gleiche Wahlrecht, für eine Gefahr. Uns wäre das Proportional-
wahlrecht ja sehr angenehm. Wir würden in Niederösterreich mehr
als die vier Mandate bekommen, die wir heute haben; wir sind ja
mehr als zwei Fünftel der Wählerschaft. Die Vergrößerung der
Wahlbezirke, die für das Proportionalwahlrecht notwendig ist,
vor sich gehen solle, und hatte auch ein Gesetz ü b e*r die
Geschäftsordnung durchsetzen wollen.
) Ein biederer deiitschnationaler Spießer ans Neustadt an der Tarel-
fichte, vertrat die Landgemeinden von Reichenberg. Im zweiten Parlament
allgemeinen Wahlrechtes ivi! tauchte er wieder als Abgeordneter von
Gablonz auf.
270 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
stellt im Widerspruch zu der Notwendigkeit, kleine und national
einheitliche Wahlkreise zu schaffen. Wollen Sie das Proportional-
wahlsystem zwischen den Nationen entscheiden lassen? Sie können
sie doch gleich national abgrenzen und für die national gemischten
Bezirke haben Sie in Mähren*) einen Vorgang getroffen, den man,
wenn er nicht durch den Widersinn der fünften Kurie und durch die
Sünde der kleinen Zahl von Mandaten verdorben wäre, als einen
durchaus zielgemäßen und aussichtsvollen Versuch
ansehen könnte und zu dem man die Mährer beglückwünschen
müßte. Aber das Proportionalwahlrecht ist ein schwieriges System
und es erhebt sich da gleich die Frage, welches von den vielen
Systemen man da einführen soll. Darum sollte man diese Frage
nicht aufwerfen. Und wozu läßt der Ministerpräsident das Plural-
wahlsystem**) „studieren"? Denn ich halte ihn nicht für so
unvernünftig, daß er seine Zeit selbst an so überflüssige Dinge
wendet. Das Pluralwahlsystem ist in Belgien kom-
plett bankerott, es ist nur der größte Unterschlupf für alle
Wahlmogeleien. Wenn es schon schwer ist, zu kontrollieren, daß
jeder Wähler mit seiner einen Stimme in die Wählerliste kommt,
wie schwer ist es, zu kontrollieren, ob er mit seinem richtigen
Gewicht darin ist, ob er wirklich die Kinder hat, die Steuer zahlt,
den Titel besitzt, daß er eine zweite, eine dritte Stimme erhält?
Die W a h 1 p f 1 i c h t***) aber ist derZwang, mit dem man die Stimme
desjenigen, der von der Politik nichts weiß, sich für die Politik
nicht interessiert, gegen die politisch interessierten Menschen aus-
spielen %will.
Abgeordneter Glöckner: Schutz gegen Terrorismus!
Abgeordneter Dr. Adler: Nicht Schutz vor Terroris-
mus, sondern Gelegenheit zu Terrorismus auf der
breitesten Grundlage! Wenn der Bürgermeister auf dem
Lande zum Bauern sagt: „Du mußt wählen!*' so weiß der Bauer
schon, daß das heißt: „Du mußt diesen und jenen wählen!" Wenn
in Wien der Magistrat den Auftrag gibt: „Du mußt wählen!" so
weiß der Mann, er muß den Herrn Bürgermeister wählen.
Abgeordneter Noske: Wo ist denn die geheime Wahl?
Abgeordneter Dr. Adler: Wo ist sie denn heute? Heute werden
nicht in Ruthenien, sondern in Wien, nicht Analphabeten, sondern
Leute, die sehr gut lesen und schreiben können, Gasarbeiter,
*) In Mähren wurde nach dem von Renner gemachten Vorschlag bei
den Landtagswahlen der nationale Kataster eingeführt, der dann
später auch in die neue Wahlordnung kam. Danach mußte sich jeder
Wähler zu einer Nation bekennen und ganz Mähren wurde in zweierlei
nach der Nation verschiedene Wahlkreise geteilt. (Siehe Bd. VIII, Seite 141 f.)
**) I>ie Frage des Plural Wahlrechtes hat später eine große Rolle
in den Beratungen gespielt. (Siehe die Reden Adlers darüber am 3. Oktober
und am 21. November 1906.)
***) Die Wahlpflicht hat Geßmann dann als fakultative Einrich-
tung, deren Einführung vom Landtag abhing, durchgesetzt. (Siehe die
Rede Adlers am 1. Oktober 1906.)
Die Erklärung des Ministerpräsidenten Qautsch. 271
Tramw iiyleutc, Straßenarbeiter in langen Reihen von einem Aui-
selier, einem Beamten zur Wahlurne geführt*)... I e mehr Sie
für reine W a li I e n s i n d, U in s o weniger d ü r f e n Sic
die W a li 1 p f 1 i e li t einführen. Woran appelliert denn die
Wahl? An den bewußten Willen des Wählers. Es ist durchaus
1 a 1 s e h, L e u t e, d i e k e i n e n p o 1 i t i s c h e n W i ! 1 e n h a b e m
mechanisch zur Wahl zu zwingen. Der Ministerpräsi-
dent hat dann zugegeben, daß ejn Wahlrechtsverlust pro praeterito
ausgeschlossen sein muß. Daraus hat er den Schluß gezogen, daß
jede Knüpfung des Wahlrechts an irgendeine Form des Erwerbs
und des sogenannten Bildungszensus ausgeschlossen sein muß. Mit
Recht: Nicht nur weil der Bildungszensus den Ausschluß der
Analphabeten bedeutet. Es gibt eine Menge Leute, die sehr gut
lesen und schreiben können, die man aber nicht zu den Gebildeten
zählen kann, dagegen Leute, die sehr ungrammatikalisch schreiben,
die aber gewiß mehr politische Bildung haben, als eine große Menge
von Leuten, die schreiben und lesen können, aber sehr selten
davon Gebrauch machen. Die Herrschaften, die haupt-
sächlich die Speiskarte lesen (Heiterkeit) und höchstens ein Witz-
blatt, haben nicht mehr Bildungszensus als der Arbeiter, der seinen
Willen und sein Urteil gebildet hat in der harten Erfahrung seines
Lebens, in offener Erkenntnis der wirtschaftlichen Verhältnisse,
unter denen er lebt, und auch durch die Schule, die ihm die Organi-
sation gegeben hat. Also ein Bildungszensus ist selbstverständlich
ausgeschlossen.
Das Prinzip, daß niemand das Wahlrecht genommen werden
soll, der es hat, ist sehr gut. Wie kommt dann aber der Minister-
präsident dazu, eine Verlängerung der Seßhaftigkeit
für möglich zu halten? (Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)
Der Herr, der das ausgetüftelt hat, ist gewiß ein Juris t, und ein
Jurist kann alles beweisen. So kann er auch beweisen, daß man
demjenigen, der jetzt auf Grund einer sechsmonatigen Seßhaftigkeit
das Wahlrecht hat, dieses nehmen kann und es ihm zugleich nicht
nehmen kann. Eine andere Annahme der Seßhaftigkeit als jene, die
technisch unbedingt erforderlich ist, ist nichts anderes als eine
Einschränkung des allgemeinen Wahlrechts, als
ein Raub an den heute Berechtigten und eine Ent-
rechtungineinemUmfang, vondemmanvielleicht
keine rechte Vorstellung hat. Es gibt zum Beispiel in
Wien eine ganze Reihe von Arbeiterbranchen, deren Wahlrecht
schon bei einer sechsmonatigen Seßhaftigkeit gefährdet, bei einer
zwölfmonatigen aber sicher verloren ist, und diese Arbeiter sind
nicht etwa Vagabunden, Lumpenproletariat, sondern qualifi-
zierte Arbeiter, deren Arbeit aber an eine Saison gebunden
ist, die während eines Teiles des Jahres an einem Orte, dann an
') Dieser Wahlterrorismus hat zusammen mit dem Wahlschwindel des
Magistrats den Christlichsozialen, die die Herrschaft in der Gemeinde dank
dem Wahlkörpcrsystcm hatten, bei Wahlen helfen müssen.
272 Der Sieg des gleiche!) Wahlrechts.
einem anderen Orte arbeiten müssen. Am 31. Jänner zum Beispiel
waren in der Bezirkskrankenkasse etwa 10.000 Arbeiter, die über
24 Jahre alt waren, eingetragen. Im Juli 32.000. (Hört! Hört! bei
den Sozialdemokraten.) Das sind durchwegs qualifizierte Arbeiter,
die, wenn sie ihre Tätigkeit in Wien vollendet haben, an einen
anderen Ort übersiedeln, um dort weiterzuarbeiten.
Abgeordneter Kienmann*): Dann sind sie ja dort wahlberechtigt!
Abgeordneter Pernerstorf er: Nein! Dort auch nicht!
Abgeordneter Dr. Adler: Ähnlich ist es mit den Schneidern,
Schustern, Schlossern und Tischlern, die zum Beispiel
in die Kurorte gehen, überhaupt mit allen Arbeitern, deren Arbeit
mit dem noblen Leben der noblen Welt zusammenhängt. Diese
Leute können doch nicht deshalb, weil sie, um Ihnen das
Leben in den Kurorten bequem zu machen, dorthin
gehen, ihr Wahlrecht verlieren, während Sie, die Sie um
diese Zeit Ihre Wohnung hier behalten, auch das Wahlrecht
behalten. Das will aber eine Partei, die angeblich die Partei des
kleinen Mannes ist, die sich christlich und sozial nennt, die sich als
die einzige Volkspartei aufspielt. Ich sage Ihnen ganz einfach,
daraus wird nichts, das ist etwas, was sich die
Arbeiter nicht gefallen lassen, und es ist besser, Sie
verschwenden nicht zu viel Mühe darauf.
Abgeordneter Schuhmeier: Das sollen sich die Herren nur aus
dem Kopfe schlagen!
Abgeordneter Dr. Adler: Was führt der Ministerpräsident zur
Unterstützung dieses Planes an? Mit Lueger ist die Sache einfach;
der sagt ehrlich: Wir wollen die Seßhaftigkeit, damit „Ös abidraht
werd'ts**)!" Das ist ein verständlicher Standpunkt (Heiterkeit), wenn
auch nicht sehr tiefsinnig. Daß der Bürgermeister sich dabei ver-
rechnet, ist Nebensache. Wir werden durch die Seßhaftigkeit nicht
„abidraht" und ein vernünftiges, ehrliches Wahlrecht bedeutet nicht
unsere Allmacht. Jede vernünftige Wahlordnung wird selbstver-
ständlich auch der Arbeiterschaft eine Vertretung geben. Um diese
Grenzgebiete im mandatspolitischen Sinne handelt es sich uns aber
nicht; es handelt sich nicht um Mandate, sondern um das Recht
der Arbeiter; es handelt sich uns darum, daß diese Leute nicht
degradiert werden, weil Lueger den Größenwahn hat und sich
einbildet, er müsse zeigen, er könne etwas durchsetzen; natürlich
nichts Vernünftiges, nur Volksverrat, nur Entrechtung. Er will
eben seine Macht zeigen. Ich kündige Ihnen aber an, daß das ein
Kriegsfall für die Arbeiterschaft ist. (Lebhafte
Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Wir lassen keinem
Teile des arbeitenden Volkes wegen der Laune
und des Vorurteils, wegen des brutalen Egoismus
*) Deutschnationaler Vertreter von Wiener-Neustadt.
**) Bei den Landtagswahlen im Jahre 1902, bei denen Adler mit knapper
Minderheit unterlag (siehe oben), gab Lueger das geflügelte Wort von sich:
„Rtsch! Obidraht!"
Die Verschwörung der Qeheimräte« ~?-'j
einer kleinen Schicht sein Recht nehmen; wir
werden unsere Brüder nicht im Stiche lassen,
deshalb, weil sie von einem Orte zum anderen gehen müssen, um
Arbeit zu suchen. Dem Ministerpräsidenten aber sage ich, er solle
sich von den dummen Phrasen nicht betören und einreden lassen,
daß das mit dem nationalen Schutz etwas zu tun hat.
Jeder, der die Verhältnisse kennt, kann über diesen Unsinn nur
lachen. Der Ministerpräsident soll diese Sache, die er mit einiger
Energie angepackt hat, doch nicht durch solche Verball-
hornungen kompromittieren. Er soll sich nicht mit den
ärgsten Feinden dieser Sache solidarisch erklären. (Lebhafte Zu-
stimmung bei den Sozialdemokraten.) Der Ministerpräsident hat
angekündigt, er werde die Wahlreform spätestens i m
Februar einbringen. Warum bringt er sie denn nicht
jetzt vor Weihnachten ein? Warum nicht wenigstens am
ersten Tage, wenn das Parlament wieder zu-
sammentritt? Jede Verzögerung ist eine Gefahr
nicht nur für die Wahlreform, sondern auch für
den öffentlichen Frieden in Österreich. (Lebhafte
Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)
Ob die Massen ein Recht haben, mißtrauisch zu sein oder nicht,
darauf kommt es wirklich nicht an. Ich meine, daß man sich doch
nur wundern kann, wenn es in Österreich noch einen Menschen
gibt, der zu einer Regierung und zu einem Parlament Vertrauen
hat, der den Optimismus aufbringt, zu glauben, daß etwas Ver-
nünftiges geschehen kann. Nicht Vertrauen zu Gautsch
und zum Parlament ist es, wenn ich an die Wahlreform
glaube, sondern Vertrauen zur Arbeiterklasse
Österreichs, die das Werk so weit vorgeschoben
hat und die es schieben wird bis ans Ende. (Lebhafter
Beifall und Händeklatschen bei den Sozialdemokraten. Der Redner
wird von den Parteigenossen beglückwünscht.)
Die Verschwörung der Geheimräte.
Versammlung, 5. Dezember 1905*).
Wir sind auf dem Sprung, das Wahlrecht zu bekommen. Sie
begreifen, daß das einigen Leuten im Abgeordneten- und Herren-
hause nicht ganz angenehm ist. Das ist nicht zu verwundern, auf-
richtig gesagt, ich war auf Schlimmeres gefaßt, auf anderes als auf
") Als Gautsch am 28. November die Erklärung im Parlament abgegeben
hatte, begann die Hetze der Wahlreformfeinde gegen ihn sich zu verdichten.
Die Abgeordneten aus der Kurie des Großgrundbesitzes, die sich am
meisten gefährdet sahen, hielten mit den polnischen Schlachzizen und
einigen Klerikalen geheime Konventikel ab, in denen die ehemaligen
Minister, die den Titel von geheimen Räten hatten — es waren das vor
allen Graf Stürgkh, Dr. v. B a e r n r e i t h e r, der ehemalige galizische
Minister Graf Pininski und andere — , das große Wort führten. Als
aber diese „Verschwörung der Geheimräte" in offener Parlamentssitzung
Adler, Briete. X. Bd. ls
274 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
dieses Meer von Albernheiten: ich war nicht darauf gefaßt, daß
schließlich keiner der Herren die Courage haben wird zu sagen:
Ich bin ein Feind des allgemeinen Wahlrechtes. Selbstverständlich
vom Jungtschechenführer Kramarsch aufgedeckt wurde und auch die
Presse genaue Einzelheiten darüber berichtete, mußten die Intrigen wieder
auf ein anderes Gebiet übertragen werden: in das Herrenhaus. Hier, wo die
Junker ja ganz unter sich waren, sollte die erste Schlacht geschlagen
werden. Am 2. Dezember rückten die Herrenhäusler gleich mit dem
gröbsten Geschütz gegen Gautsch los. Schon der erste Redner, der ehe-
malige Ministerpräsident Graf Thun — der sich bekanntlich später doch
mit der Wahlreform abfand — erklärte, kein Vertrauen mehr zu dieser
Regierung zu haben, die den „Pressionen der Gasse", dem „gewaltsamen
Terrorismus" nachgebe, die „unreife Ideen lanciere" und einen „voll-
kommenen Umsturz der Verfassung" plane. Der Führer der sogenannten
„verfassungstreuen" oder liberalen Herrenhäusler, Fürst Karl Auersperg,
warf der Regierung vor, daß sie die sozialdemokratischen Demonstrationen
leite, da „der ungesetzliche Aufzug der 250.000 Arbeiter in seiner
klassischen Durchführung ohne Mithilfe der Regierung gar nicht möglich
gewesen wäre". Es sei eine „namenlose Schwäche", daß die Regierung
diesen Aufzug duldete. Und er verlangte, daß die Regierung den Kampf
gegen die Sozialdemokratie energisch aufnehme. Ähnlich sprachen alle
übrigen Redner, die der Regierung besonders den Vorwurf machten, daß
sie die Demonstration vor dem Parlament nicht unterdrückt habe. Am
radikalsten ging Fürst Schwarzenberg los, der schon eine sozia-
listische Mehrheit im Abgeordnetenhaus voraussah, die den Kaiser absetzen
und — ganz im Ernst! — den „Simplizissimus" (das radikale satirische
Witzblatt in München) zum Amtsblatt machen werde. Einmütig erklärten
sich alle Redner gegen die Regierung, selbst wenn sie, wie Graf Schön-
born und Professor Lammasch, das allgemeine Wahlrecht für un-
vermeidlich erklärten.
Als sich Gautsch zur Erwiderung erhob, meinte man, er werde seine
Demission ankündigen. Aber statt dessen ging Gautsch zum Gegenangriff
über. Er begann mit der Erklärung, daß er das ihm ausgesprochene Miß-
trauen einfach zur Kenntnis nehme, wie er ja viele Unannehmlichkeiten in
seinem Amt ertragen müsse. Dann widerlegte er den Vorwurf der
Schwäche gegenüber den Demonstrationen. Er habe dem Statthalter von
Böhmen die Vollmacht gegeben, den Ausnahmezustand und das Standrecht
zu verhängen; beides sei aber überflüssig geworden, da die Unruhen auch
von selbst aufhörten. Gegenüber dem Verlangen, den durch das Gesetz ver-
botenen Aufzug der Wiener Arbeiter mit Gewalt zu verhindern, sprach
der Minister folgende Worte, die besonders vermerkt zu werden verdienen:
„Ich sehe, daß es leider Politiker gibt, bei denen merkwürdigerweise
stets derartigen Dingen gegenüber der erste Gedanke derjenige ist,
welcher bei anderen Menschen der Weisheit letzter Schluß ist, nämlich
die ultima ratio. Vielleicht könnte ich an die geehrten Herren Redner die
Gegenfrage richten, welches Urteil in allen Kreisen gefällt worden wäre,
wenn ein ungeheures Unglück, wenn der Verlust zahlloser Menschen-
leben zu beklagen gewesen wäre, ob man dann nicht gesagt hätte, die
Anwendung der Gewalt sei unrichtig gewesen, man hätte mit einer
anderen Methode viel Besseres und viel Richtigeres erreicht."
Dann erklärte der Ministerpräsident, er habe in diesen zwei Monaten
die Überzeugung gewonnen, daß die Frage der Wahlreform „nicht mehr
ohne Lösung bleiben könne, wenn nicht große Gefahren
He Verschwörung der Qeheimräte. ~7:>
sind die gräflichen Herren, die ja die Regierung Österreichs kon-
traktlich übernommen haben, nicht sehr vergnügt, daL'> sie nun das
(ieschäft aufgeben sollen. Wir versuchten sie im Abgeordneten-
hause zu trösten. (Heiterkeit.) Die Herren Stürgkh, Baernreither
und andere können ja unter dem allgemeinen Wahlrecht kandidieren,
sie verlieren ja weder das aktive noch das passive Wahlrecht, und
es ist doch kein Zweifel, daß erprobte politische Kapazitäten deren
Weisheit sich im Laufe der Jahrzehnte gezeigt hat, wieder
gewählt werden. (Heiterkeit.) Nur der großmächtige Prinz
Schwarzenberg hat erklärt, er würde nicht kandidieren, weil
er doch nicht hinabsteigen kann zu dem „Schwefel", den man in
einer Wählerversammlung vorbringen muß. Wenn Sie nun lesen,
was dieser Prinz in dieser erlauchten, reifen, ja überreifen Ver-
sammlung gesagt, welchen blanken Unsinn, da können Sie sich
denken, was er sich erst unter einem Wählerversammlungsschwefel
vorstellt. Es würde dem Fürsten allerdings schwer fallen, in eine
Versammlung hinausgehen, noch schwerer aber, wie die preußischen
Junker, mit Erfolg zu kandidieren! Denen hat nämlich B i s-
m a r c k mit jener Genialität, die ihm Lassalle soufflierte, erspart,
sich durch die Niedertracht eines Kampfes gegen das allgemeine
Wahlrecht zu kompromittieren. Nun, je mehr sich diese Herren in
Österreich, je mehr sich die besitzenden Klassen gegen das Recht
des Volkes sträuben, um so schwerer wird es ihnen dann werden,
vor dem allgemeinen Wahlrecht zu bestehen. (Zustimmung.) Darum
herbeigeführt werden solle n". Das allgemeine Wahlrecht sei
auch für die Arbeitsfähigkeit des Abgeordnetenhauses notwendig. Zum
Schluß erklärte er mit erhobener Stimme, er werde auf dem betretenen
Wege weiterschreiten bis ans Ende, trotz aller Hinder-
nisse, trotz aller Schwierigkeiten und Hemmnisse.
Und dieses Ende könne nur sein der Erfolg oder der Sturz der
Regierung. (In der Tat ist ja Gautsch Ende April zurückgetreten, weil
er den Widerstand der Wahlreformfeinde nicht überwinden konnte, die ihm
seine Rede nicht verziehen. Und am 1. Mai wurde, um die empörten
Arbeiter zu beruhigen, mitgeteilt, daß Prinz Hohenlohe, der „rote Prinz",
an seine Stelle komme.)
Die Energie des Ministerpräsidenten imponierte aber doch dem Herren-
haus. Der Widerstand verstummte und zahlreiche Herrenhäusler applau-
dierten sogar. Nach dieser Schlacht verloren auch die Wahlrechtsfeinde im
Abgeordnetenhaus den Mut, offen gegen Gautsch aufzutreten. Überdies
wurden einige von ihnen — darunter der Führer des Polenklubs, Graf
Dzieduszycki — zu einer Audienz zum Kaiser beschieden, der ihnen
unverblümt heraussagte, daß Baron Gautsch sein Vertrauen habe. Die Folge
war, daß die Reden der adeligen Herren im Abgeordnetenhaus nun zwar
auch mit einer Polemik gegen das allgemeine Wahlrecht anfingen, aber
damit endeten, daß man die Vorlage der Regierung prüfen werde; und die
weitere Folge war, daß Gautsch am 6. Dezember das Budgetprovisorium
— dessen Ablehnung seinen Sturz herbeigeführt hätte — im Ausschuß
nahezu einstimmig bewilligt erhielt.
Für den 5. Dezember waren auch zwei Massenversammlungen ein-
berufen, in denen die Wiener Arbeiter den Herrenhäuslern die Antwort
Kaben. Im Verbandsheim der Krankenhassen in Mariahilf sprach Adler.
18*
27(3 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
bin ich gar nicht so unglücklich darüber, wenn sie sich ordentlich
ausleeren. (Heiterkeit.) Im Gegenteil, mir sind die falschen Freunde
des allgemeinen Wahlrechtes viel unangenehmer als die echten
Feinde. (Lebhafter Beifall.)
Im Grunde haben alle Redner im Herrenhause dem Minister-
präsidenten hauptsächlich zum Vorwurf gemacht, daß er die ganze
Wahlrechtsbewegung nicht „verboten" hat. Ja warum strömt denn
die Donau ins Schwarze Meer, man hätte doch bei Donau-Eschingen
bloß die Hand vorzuhalten! (Heiterkeit.) Die Herren meinen wirk-
lich, wenn die Welt einmal einen Ruck nach vorwärts macht, so ist
daran nur die Schlamperei der Polizei schuld. (Schallendes Ge-
lächter.) Aber wenn wir eine Partei wären, die einzuschüchtern
ist, so hätten wir seit Wochen und besonders am 28. November
Grund dazu gehabt, wir wußten ja, daß nicht bloß die Polizei, son-
dern auch das Militär scharfe Bereitschaftsbefehle
hatte! Seit wann klagt man Minister an, weil sie kein Blut ver-
gießen? Wir haben uns nicht zu Herrn v. Gautsch bekehrt und
Gautsch gewiß nicht zur Sozialdemokratie, er hat sich bloß ein
Stück Vernunft zu eigen gemacht. Wir haben ja doch schließlich
kein Monopol auf Vernunft. Muß denn die Vernunft in Öster-
reich immer obdachlos bleiben, bis die Sozialdemokratie
sie beherbergt? (Heiterkeit.) Heute stehen übrigens nicht mehr die
Sozialdemokraten allein, sondern die Massen aller Völker wider die
Privilegierten! Der Graf Dzieduszycki (vereinzelte Pfuirufe) —
lassen Sie den alten Herrn gehen, warum sollen wir uns darüber
ärgern, daß unsere Feinde dumm sind? (Heiterkeit) — , der Prinz
Schwarzenberg, der Professor Lammasch, so ein Schildknappe des
Grafen Schönborn, waren über den 28. November ganz verblüfft.
Ich begreife das, denn wir selbst wraren ja über diese Stärke,
auch diese Stärke der Disziplin, erstaunt. Das war ein Ereignis,
das weit hinausgeht über die Bedeutung des Wahlrechtskampfes;
dieser Tag in seiner musterhaften, bloß durch den eigenen Willen,
durch die Macht des Gedankens herbeigeführten Ordnung zeigte,
zu welchen Taten das Proletariat noch berufen sein wird! (Brau-
sender Beifall.)
Diese Lammasch' und Schwarzenbergs meinen natürlich: Wenn
etwas in Ordnung ist, dann ist die Polizei dahinter! (Heiterkeit.)
Selbstverständlich hat die Regierung nicht nur nicht mit-
geholfen, sondern sie hat unsere Kraft zu zersplittern gesucht.
Die Regierung hat alles getan, um die Demonstrationen zu ver-
hindern und zu verkleinern! Zwei, drei Tage vor der Demonstration
ist an alle Arbeiter sämtlicher Staatsbetriebe ein
Erlaß gekommen, worin allen Arbeitern bei den Eisenbahnen,
im Arsenal, in den Tabakfabriken, in der Staats-
druckerei verboten worden ist, sich an der Demonstration zu
beteiligen; in der Provinz wurde Delegierten, die mit der Deputa-
tion hätten gehen sollen, sogar der Urlaubverweigert. (Rufe:
Hört! Unglaublich!) So hat Herr v. Gautsch unsere Demonstration
„begünstigt"! Wir haben den Staatsbediensteten gesagt: Arbeitet
Die Verschwörung der Oehelmräti 277
nur, diesmal brauchen wir euch nicht. Wenn es ernst wird, wissen
wir, da 1.1 wir auf euch zählen können! (Stürmischer Beifall.) Man
redet von den roten Fahnen. Daß wir die mitnehmen, hatten
wir in der „Arbeiter-Zeitung" angekündigt und man weiß, daß wir
Wort halten. Die Polizei hätte in zwanzig Bezirken zwanzig
Schlachten schlagen müssen, um sie wegzunehmen. Meint dieser
Fürst Sch warzenber.g wirklich, daß Herr v. Gautsch, nur
weil das rote Tuch den Herrn Schwarzenberg so nervös macht,
die Verpflichtung hatte, ein so niederträchtiger Schurke zu sein und
Blut in Strömen fließen zu lassen? Wieviel Blut der Fürst Aue r s-
perg für seine Nerven und seine geschichtlichen Bedürfnisse
braucht, wissen wir nicht; aber wenn er durchaus Blut seilen will,
so soll er gefälligst sich selbst zur Ader lassen. (Heiterkeit.) Die
Herren haben nur die eine Entschuldigung: Sie wissen wirklich
nicht, was sie reden! (Zustimmung.)
Auch im Herrenhause ist von der Seßhaftigkeit die Rede
gewesen. Der Arbeiter, der seiner Arbeit nachgeht, soll zur Strafe
dafür in seinem Wahlrecht verkürzt werden. Herr L u e g e r hat
freilich erklärt, diejenigen, die nicht in Wien zuständig
sind, sollen einfach in „L e i t o m i s c h 1" wählen. Wie dumm
das ist, geht schon daraus hervor, daß er in einem Atem von der
Wahlpflicht redete. Ja, wie soll der Proletarier denn am Wahl-
tag nach „Leitomischr kommen? Stellt sich der Lueger vor, daß
am Wahltag sämtliche Sch üb wagen in Tätigkeit ge-
setzt werden und die Wähler per Schub in die Zustän-
digkeitsgemeinde gebracht werden, um dort ihrer Wahl-
pflicht zu genügen? (Schallendes Gelächter.) Das ist also der
reine Blödsinn! Trotzdem hat der Ministerpräsident in seine Rede
auch einen Hinweis auf die Seßhaftigkeit aufgenommen. In Wahrheit
soll die Seßhaftigkeit höchstens dazu dienen, daß der Magistrat
bequemer Wahlschwindel treiben kann! Die Arbeiterschaft
wird, wie ich schon im Parlament erklärt habe, diese Erhöhung der
Seßhaftigkeitsdauer nicht dulden. (Stürmischer Beifall.) >
Hinter den Kulissen wird gemogelt und geschachert, aber da-
gegen hat die Regierung ein Mittel: So bald als möglich mit dem
Gesetz herauskommen! Der Widerstand gegen die Wahlreform ist
überall zu brechen, weil er nirgendwo so stark ist. Wo ist er am
stärksten? Bei denen, die sich immer als die Kaisertreuesten
ausgeben! Ja, ist denn die „loyale Ergebung" in den Willen des
Monarchen nur dann angebracht, wenn die Gelder für die Blut-
steuer bewilligt werden? Verschwindet denn die berühmte Kaiser-
treue, wenn da oben ein einzigesmal etwas gewollt wird, was dem
Volke notwendig ist? Versagt dieser .»Patriotismus", wenn der
Wille des Volkes und der Wille des Kaisers zusammen-
fallen? (Stürmische Zustimmung.) Das Wichtigste ist, daß das
Proletariat auf der Wacht bleibt! Wir haben Weihnachten vor uns,
wir werden stillere Tage sehen. Aber ich sage der Regierung von
hier aus: Wenn die Wahlrechtsbewegung ruhiger
wird, schwächer wird sie nicht einen Moment!
278 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
(Brausender Beifall.) Wir werden, wenn es nötig ist, noch ganz
andere Höhepunkte der Bewegung erreichen! Wir wünschen es
nicht! Aber nicht wir bestimmen die Taktik des Proletariats und
das Maß unserer Opfer, sondern das bestimmt der Widerstand der
herrschenden Klassen! Das allgemeine Wahlrecht bot einen ver-
läßlichen Hüter: das Proletariat von ganz Österreich! Deshalb sind
wir des Sieges sicher! (Stürmischer Beifall.)
Die Antwort an die Wahlrechtsfeinde.
Versammlung im Sofiensaal, 10. Dezember 190 5*).
Werte Genossen! Wir sind bei einem Abschnitt unseres Wahl-
rechtskampfes angelangt, der eine ganz neue Situation für uns
schafft. Durch viele Jahre haben wir erst beweisen müssen, mit
allen möglichen Argumenten, daß es notwendig ist, die Wahlreform
zu machen. Es mußte erst der vollständige Bankrott des Parla-
ments kommen, es mußte erst der vollständige Bankrott des
Staates dazu kommen, es mußte sich erst erweisen, daß dieser
Staat und dieses Parlament unfähig sind, auch nur die primitivste
Aufgabe zu lösen, daß das Parlament weder der Gesetzgebung für
Österreich mehr fähig ist und noch weniger fähig ist, die großen
und schwierigen Probleme zu lösen, die unser Verhältnis zu Ungarn
*) Die Schlacht gegen die Herrenhäusler hatte Gautsch wohl gewonnen,
aber dafür begannen die Wahlrechtsfeinde mit schleichenden Intrigen. Des-
halb wurde für Sonntag den 10. Dezember in den Soiiensaal, der so viele
Wahlrechtsdemonstrationen gesehen hatte, eine Massenversammlung ein-
berufen mit der Tagesordnung: „Die Wahlreform und das Parlament." Die
eigentliche Tagesordnung war aber die Antwort an die Wahlrechtsfeinde.
Deshalb erschienen auch die Arbeiter, obwohl es in Strömen regnete, in
solchen Massen, daß der riesige Saal mit allen Logen und Galerien gesteckt
voll war, so daß die Ordner kaum einen Gang zur Rednertribüne freihalten
konnten. Winarsky begrüßte die Versammlung mit einem Hinweis darauf,
daß sich seit der machtvollen Demonstration vom 28. November eine selt-
same Koalition zusammengefunden habe: abgewirtschaftete Minister, feudale
Adelige, polnische Schlachzizen, radikale Tschechischnationale, radikale
Deutschnationale und Christlichsoziale, die nichts gemeinsam haben als den
Haß gegen die Arbeiter und gegen das gleiche Recht. Als erster Redner
sprach Ellenbogen, der auf das falsche Spiel der Christlichsozialen hin-
wies, die sich bekanntlich später als die eigentlichen Erfinder des Wahl-
rechtes aufspielten. Deshalb seien diese Sätze aus seiner Rede angeführt:
„. . . Es ist auch sehr bezeichnend für ^die Christlichsozialen, die ihre Liebe
zum Wahlrecht nicht oft genug beteuern können, Herrn Lueger mit dem
Grafen Sternberg im Abgeordnetenhaus herumwandeln zu sehen und
den wütenden Wahlrechtsfeind Sternberg als den Generalredner der
Christlichsozialen zu finden (Pfui!), dem sie schließlich zu seiner
echt christlichsozialen Kundgebung gratulierten. Ebenso merkwürdig war
es, daß man die beiden entgegengesetzten Pole Franko Stein und Prinz
Liechtenstein so innig beisammen sah. Gesprochen haben die Christ-
lichsozialen in der Debatte nicht. Sie haben es nicht nötig, denn ihre
wahre Meinung über das Wahlrecht haben ohnedies die Choc, Sternberg,
Stürgkh und Dzieduszycki gesagt." — Dann sprach Adler und nach ihm
S e i t z und Schuhmeier.
Die Antwort an die Wahlrechtsfeinde. '^
aufgibt. Kurz und gut, es mußte his an die Wand gerannt werden,
bis der dicke Schädel doch den Eindruck gewann, es gehe wirklich
nicht mehr. Wir sind in i\cr letzten Zeit mehrfach angegriffen
und angezapft worden als die Partei, die mit der Regierung und
dem Kaiser so gut steht. (Heiterkeit.) Darauf legen wir gar keinen
Wert. Natürlich, die Herren meinen, wir sollten gerade dieser
Regierung, die die Wahlreform zum politischen Inhalt hat,
Schwierigkeiten machen. Sie meinen, wir sollten unsere Opposition
mit besonderem Eifer der Regierung gerade in dem Moment ent-
gegensetzen, wo sie endlich das tut, was wir seit dreißig Jahren
verlangen. So dumm sind wir nicht. Die Sozialdemokratie ist eine
prinzipiell revolutionäre Partei, aber in unseren Prinzipien und in
unserem Parteiprogramm steht nichts von einer Verpflichtung der
Partei zu einer blödsinnigen Taktik. (Lebhafter Beifall.) Im Gegen-
teil: wir haben die Verpflichtung, unter allen Umständen das Recht
•des Volkes mit den zu jeder Zeit möglichen, anwendbaren und
erfolgreichen Mitteln durchzusetzen, und es fällt uns gar nicht ein,
das Spiel der geheimen Feinde des Wahlrechtes zu spielen und in
diesem Moment dieser Regierung Schwierigkeiten zu machen. Aber
andererseits dürfen wir nicht vergessen, daß diese Regierung eine
— österreichische Regierung ist. (Heiterkeit.) Wir dürfen nicht
darauf vergessen, daß der Herr Ministerpräsident zwar rasch ge-
lernt hat*), aber daß es denn doch nicht ganz sicher ist, ob das,
was er so rasch aufgenommen hat, auch haften wird. Nicht nur wir
haben Argumente, und wenn sich allerdings die Argumente von
der Straße in Österreich so wie in allen Ländern und allen
Jahrhunderten als kraftvoll erwiesen haben, so dürfen wir nicht
vergessen, daß es auch Argumente der Vorzimmer, Argumente der
Beichtstühle, daß es auch Argumente gibt, die ausgehen von jenen
Junkern, die, wenn sie sich auch modern gebärden, sich nicht vor
dem gleichen Wahlrecht so sehr fürchten als vor dem neuen Öster-
reich, das aus dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht entspringen
wird. (Zustimmung.)
Die Herren, die im Abgeordnetenhaus mit halben Sätzen zögernd
und feig für oder gegen das Wahlrecht reden, die fürchten um ihr
Mandat. Aber wenn die Wahlkreiseinteilung erschienen sein wird,
wird jeder nur rasch schauen: Wo ist mein Mandat? (Heiterkeit.)
Die Leute sind nicht so gefährlich. Die einen werden ja ihr Mandat
darin finden und die anderen, die werden schon wissen, daß nichts
zu machen ist. Gefährlich sind jene, denen es nicht bloß um die
persönlichen Mandate geht, sondern um die Herrschaft
iiirer Klasse; und die herrschende Klasse ist die feudale
Aristokratie, die heute noch zusammen mit dem militärischen
Klüngel tatsächlich herrscht und die sich heute der christlich-
sozialen Demagogie als Werkzeug bedient. Wenn die Christlich-
sozialen und ihre Patrone immer davon sprechen, daß sie immer
*) Am 10. September hatte sich Gautsch noch im Kronrat gegen das all-
gemeine Wahlrecht in Ungarn weisen der Rückwirkung auf Österreich aus-
gesprochen.
280 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Freunde des allgemeinen, gleichen Wahlrechtes waren (Heiterkeit)
— bitte, das ist beim Dr. Lueger sehr sicher, der Mann war
während seiner langen Laufbahn für so viel Dinge, daß es geradezu
ein Wunder wäre, wenn er nicht einmal auch für das allgemeine
Wahlrecht gewesen wäre (erneute Heiterkeit) — ; aber wichtig ist,
wie sich die Herren das Wahlrecht vorstellen. Sie möchten auf dem
„gleichen Wahlrecht" etablieren die Herrschaft derselben Leute, die
heute herrschen, die Herrschaft von Pfaff, Adel und Kapital, und
möchten daher das allgemeine und gleiche Wahlrecht am lieb-
sten selber einführen; sie möchten nicht, daß Herr Qautsch
das macht. Ein großer Politiker im II. Bezirk, Herr Oppenberger*),
hat den Vorschlag gemacht, man möchte doch den Lueger zum
Ministerpräsidenten machen. Er hat gemeint, es wäre schon ein
schweres Unglück für die Stadt Wien, wenn sie ihren Bürger-
meister hergeben müßte; aber mit blutendem Herzen möchte sie
das Opfer auf dem Altar des Vaterlandes darbringen. (Schallende
Heiterkeit.) Das glauben wir schon. Ohne Wahlrechtsraub gibt es
bei ihnen keine Wahlreform.
" Die Regierung ist heute, wie es scheint, entschlossen, die Wahl-
reform zu machen, aber wie weit diese Kraft reicht, ist doch nicht
ganz sicher, und es wird notwendig sein, die Quellen dieser Kraft
lebendig zu erhalten. Das alte Rom war einmal in so einer Situation,
als die Karthager und Hannibal im Anzüge waren. Damals hat man
die Römer aufgeschreckt mit dem Rufe: Hannibal ante portas**)!
Und damit hat man sie zu vernünftigen und notwendigen Maßregeln
gebracht. Das tut heute jeder oben, der das Wahlrecht will. Gewiß;
aber das notwendigste ist eben der Hannibal, daß wirklich der Hanni-
bal vor den Toren steht. (Stürmischer Beifall.) Daß sich die Regie-
rung auf uns verlassen kann, daß wir das auch von ihr so geliebte
Wahlrecht nicht verlassen werden, das ist gewiß. Wir möchten
nur wünschen, daß wir uns auch auf sie so verlassen könnten.
Zwischen jetzt und der Einbringung der Wahlrechtsvorlage liegen
die Weihnachtsferien und für die Regierung die Zeit, wo sie mit
ihren Statistikern und Referenten und allen Statthaltereien die
Wahlrechtsgesetzgebungen aller Länder prüft und überall das
Beste, mitunter auch das minder Gute übersetzen und importieren
läßt. DieseZeitkannmanihrzumStudiumgernver-
gönnen. Aber ich möchte von dieser Stelle aus sagen, die Regie-
rung soll nicht glauben, daß, wenn es ruhiger wird um Weih-
nachten, darum die Bewegung schwächer geworden ist. Bei dem
leisesten Zeichen einer Schwäche, da wird sich sofort die Stärke
der Bewegung von neuem und in verstärktem Umfang offenbaren.
(Beifall.)
Ein so gebildeter Herr, wie der Prinz Liechtenstein — er ist
bekanntlich der „feinste Kopf" seiner Partei — , hat vor ein paar
Tagen in diesem katholisch-politischen Verein in der Leopoldstadt,
*) Eine christlichsoziale Bezirksgröße im zweiten Wiener Bezirk, Gast-
wirt und Stadtrat.
**) Hannibal vor den Toren!
Hie Antwort an die Wahli hl feinde. 281
wo jci/t das Zentrum der politischen Überlegung der Christlich-
sozialen sein soll, auch von der Wahlreform im einzelnen ge-
sprochen und gemeint, die fünfjährige Seßhaftigkeit1"), die muß sein,
denn man kann doch nicht den Wanderarbeitern die Majorität über
die ansässige Bevölkerung Rehen, das wäre ein Plural Wahl-
recht. (Heiterkeit.) Was er sich bei dein Worte Pluralwahlrecht
gedacht hat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat er sich gedacht,
bei seinem Publikum ist das eine Fremdwort so gut wie das
atidere, sie verstehen es ja doch nicht. Aber dann sagte er auch,
die Leute können ja in ihrer Heimat wählen und es soll ihnen da
alle mögliche Erleichterung gewährt werden, nämlich weil er auch
für die Wahlpflicht ist. Denken Sie sich, am Takre der Wahl
werden die Leute, die nicht zuständig sind, mit allen Erleichte-
rungen in die Heimat gebracht (schallende Heiterkeit und Zwischen-
ruf: Per Schub!), damit sie die seßhafte Wiener Bevölkerung
nicht durch das Pluralwahlrecht majorisieren. So blödsinnig das
ist — ohne Herrn Liechtenstein nahetreten zu wrollen, er ist ein
sehr pfiffiger Herr, und wenn er etwas ganz Dummes sagt, so weiß
er, warum er dumm redet — , so schließt das die Gefahr nicht aus.
Zur Abwehr eines solchen Planes gehört nicht allein das Argument,
daß es ein Wahnwitz ist, sondern gehört auch die Erklärung, daß
das arbeitende Volk sich das nicht gefallen läßt.
Ein Gesetz nach dem Ideal des Herrn Lueger würde etwa so aus-
schauen: „Das Wahlrecht hat jeder 24jährige Mann in Österreich.
Ausgeschlossen sind erstens die Geisteskranken, zweitens
die Verbrecher und drittens die Leute, die sich in den letzten
fünf Jahren einmal entfernten, um Arbeit zu suchen. (Tosende
Pfuirufe.) Diese Politiker haben die Gewissenlosigkeit, für ganz
Österreich ein Wahlrecht zu empfehlen, das angepaßt ist den
speziellen politischen Wahlmogelbedürfnissen hier in Wien.
Es ist ausgeschlossen, daß das verwirklicht werden
könnte; aber es ist nur darum ausgeschlossen, nicht weil es ein
Verbrechen wäre, sondern nur darum, weil es sich die Arbeiter-
schaft nicht gefallen läßt. Wir haben gezeigt, daß wir nicht mit
leeren Worten drohen, sondern daß wir halten, was wir sagen.
Wir haben auch gezeigt, daß wir Maß zu halten wissen und daß
wir die Kraft des Proletariats, die dem Kampfe für das Wahlrecht
dienen soll, auch zu schonen wissen. Aber so wie wir Selbst-
beherrschung, Disziplin und Zucht zu üben wissen, so erklären wir
immer wieder, daß das, was wir angekündigt haben, ebenso kein
leeres Wort war. Wenn ein Tag kommen sollte, an dem die Regie-
rung zu schwach sich erweist, der Wahlreform weiterzuhelfen, so
werden wir aufstehen und werden die Kraft finden, den
Wagen weiterzuschieben, und sei es mit dem Massenstreik.
(Brausender Beifall.) In aller Ruhe, in aller Nüchternheit sagen wir:
Geht es mit Gautsch — gut; kann er es nicht, dann werden wir es
*) Die fünfjährige Seßhaftigkeit war die Erfindung der Christliehsozialen,
die sie dam auch für den Geineinderat einzuführen versuchten. Allerdings
haben sie darauf dann verzichtet.
282 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
besorgen. Vorläufig geht es ja mit Gautsch ganz gut. Die Wahl-
reform wird im nächsten Jahre sicher reinlich, bestimmt und
definitiv erledigt werden. In diesem Sinne gehen wir heuer freudig
in die Ferien, um neugestärkt mit der alten Entschlossenheit und
alten Rücksichtslosigkeit wiederzukehren zum alten Kampfe im
neuen Jahre. (Brausender Beifall.)
Gedenktag der russischen Revolution.
Versammlung am 21. Jänner 190 6*).
Werte Genossen und Genossinnen! Heute vor einem Jahre haben
wir Minute für Minute mit angespanntem Sinne auf die Nachrichten
aus Petersburg gewartet. Wir wußten, es wird sich sehr Großes
ereignen; wir wußten, daß die Revolution in Rußland an diesem
Tage hinaustreten wird ans Licht. Die Revolution in Rußland dauert
länger als ein Jahr; Jahrzehnte sind es, daß in den Eingeweiden
der Völker Rußlands die Revolution arbeitet; aber ans Licht ge-
treten ist sie, als nicht nur die Empörung möglich war, als der Zu-
sammenbruch des zarischen Reiches gekommen war. Vor hundert
Jahren hat man gesagt: Europa wird republikanisch oder kosakisch
sein, und der Zarismus hat sich mit Europa nicht begnügt, er wollte
Asien kosakisch machen. Ein Raubzug ist nach dem Osten unter-
nommen worden, ein Raubzug der Kapitalisten aller Länder; denn
an dem Zarismus, an dieser Unternehmung der Unterdrückung und
Ausbeutung aller Völker, an dem sind die Kapitalisten
aller Länder als Aktionäre beteiligt (allgemeine Rufe :
Sehr richtig!), und zwar diejenigen nicht zum wenigsten, die
am meisten heute zetern und wimmern über die Greuel, die sie
selbst verbrochen, und deren Nutznießer sie von jeher gewesen
und gehofft haben, immer zu bleiben. (Lebhafte Zustimmung.) Von
dem Moment an, da der Krieg erklärt wurde — was jetzt genau
zwei Jahre sind — , folgte Niederlage auf Niederlage der russischen
Armee und Sieg auf Sieg der Japaner, des kleinen, verachteten
Volkes. Neujahr 1905 erfolgte die Übergabe von Port Arthur
und damit der vernichtende Schlag der russischen Armee. (Brau-
*) Im Kampfe um die Wahlreform war auch der Hinweis auf die russi-
sche Revolution ein wichtiges Argument. Deshalb hat Adler in der Ver-
sammlung, die am Jahrestag der Revolution im Hotel Savoy veranstaltet
wurde, die Gedenkrede gehalten. Man sieht aus der Rede, wie förmlich
jeder Satz da auf Österreich zielt.
Nach Adler sprach übrigens auch der russische Genosse Teplow, der
an den revolutionären Kämpfen in Moskau hervorragend teilgenommen
hatte. In der Resolution, die auf Adlers Antrag beschlossen wurde, wird
das Versprechen gegeben, den Wahlrechtskampf mit Mut, Zähigkeit und
vor keinem Hindernis zurückschreckender Rücksichtslosigkeit zu Ende zu
führen. (Siehe übrigens Adlers Rede auf dem böhmischen Landesparteitag
am 23. Juli, Seite 229, dann die Rede bei Ausbruch der russischen Revo-
lution am 26. Jänner 1905 (Bd. VIII, Seite 271) sowie auch die Rede über
die Märzrevolution des Jahres 1917.)
Gedenktag der russischen Revolution. 283
sonder Jubel.) Damit war in Rußland das Regiment im I n n e r 11 s o
erschüttert, d a ß der Ansturm der r e v o 1 n t i 0 tl a r e n
Klasse E r f o I g li a b e n k o mite n n d m u ß t e.
Was wir in Rußland vor uns sehen, ist der Zusammen-
b r u c h d e r Unfähigkeit, mit den Mitteln der äußeren brutalen
Gewalt dieses System noch ferner aufrechtzuerhalten an diesem
Orte, und zugleich der Umsturz, der aktiv von den revo-
lutionären Klassen geführt wird. Der Kapitalismus ist gezüchtet
worden von der zarischen Regierung, und wie es im Kommunisti-
schen Manifest schon stellt: „Der Kapitalismus zeugt sich selbst
seine Totengräber", so hat der Kapitalismus unter dem Protektorat
und alsWerkzeugdesZaren gezüchtet seinen eigenen Toten-
gräber: das revolutionäre Proletariat, das plötzlich auf
die Bühne tritt, nachdem es gewachsen ist und durchsetzt wurde in
mühevoller Arbeit mit revolutionären Ideen. Während des ganzen
Jahres, das jenem 22. Jänner vorherging, haben wir in ganz Ruß-
land, insbesondere aber in den Industriezentren: in Petersburg,
in Moskau, in Odessa, in Polen auch in Lodz und War-
schau, einzelne Bewegungen und Streiks, die beginnen und wieder
erlöschen, aber die schon einen ganz anderen Charakter haben als
jene primitiven Lohnbewegungen um einzelne wirtschaftliche Forde-
rungen. Damit verbindet sich eine große Bewegung der Intelligenz,
eine große Bewegung in den Spitzen des Bürgertums und auch des
Landadels; denn auch für diese Klasse ist die zaristische Knechtschaft
schon eine Kette, die ihre Entwicklung hemmt, und die besten von
ihnen vereinigen sich und demonstrieren offen für Konstitu-
tion und politischeFreiheit, und jede Niederlage auf dem
mandschurischen Kriegsschauplatz hat ihr Echo in Rußland selbst.
Aber all das bleibt nur Symptom eines im Anzüge Seienden, bis mit
einem Schlag im Jänner das Proletariat selbst im Herzen des Reiches
in Petersburg auf die Straße tritt. Diese Bewegung ist geknüpft an
den Namen des Priesters Q a p o n und der Mann wirdunster b-
lich bleiben in der Geschichte, was und wer auch immer
der Träger dieses Namens sein mag. Ob Gapon ein bewußtes
Werkzeug war der polizistischen Gewerkschaften, die zur geistigen
Knechtung des Proletariats von der Regierung gegründet worden
waren, wissen wir nicht; was wir aber wissen, ist, daß das Werk,
das er übte, größer wurde als er, und daß es ihn mit sich
fortriß, und daß er in den Tagen des Jänner, als es zum Ernst kam,
ergriffen wurde von den sozialdemokratischen Ideen, die in dieselben
Gewerkschaften von unseren Genossen in hundertfältiger Arbeit
hineingetragen worden waren. Gapon war in diesen Tagen des
Jahres 1905 ein Werkzeug der Weltgeschichte, und so
ganz hat er sein Leben und die Bedeutung seines Lebens erschöpft
in diesen Tagen, daß es gleichgültig ist, wer er geworden und was
er gewesen, als er verschwand in jenen Tagen. In diesen
wenigen Tagen hat er die Bedeutung seines
Lebens konsumiert. Dieser Mann also sammelte die Waffen
in diesen Tagen und formulierte den letzten Appell an den Zaren,
284 Der Sic& des gleichen Wahlrechts.
der mit ehernen Lettern in das Buch der Geschichte gegraben ist.
(Lebhafter Heifall.)
Es war ein Streik, der begonnen hatte in den Putilow-
Werkstätten, die ebenso ihren Namen in der Geschichte be-
halten, von denen alle Streikbewegungen ausgegangen. Der Streik
brach infolge der Maßregelung einiger Arbeiter aus, riß aber nicht
nur die 12.000 Arbeiter jener Werkstätten mit, sondern noch
weitere 30.000 der Eisenbahnen und weiterer Werkstätten
und wurde plötzlich eine Aktion von geschichtlichem Cha-
rakter. In diesen Streikversammlungen, da zeigten sich auch
neben den Agitatoren der zarischen gelben Gewerkschaften
unsere Männer und Frauen: sozialdemokratische Arbeiter und
Arbeiterinnen, Studenten und Studentinnen, die an dem Werke der
Revolution seit Jahrzehnten gearbeitet haben. Ihre Stimme gewinnt
Einfluß und Gewicht und nun ist der ganze Charakter dieser Be-
wegung umgewandelt. Gapon richtet an den Zaren die Worte: „Wir
Arbeiter sind elende beschimpfte Sklaven. Als die Grenze unserer
Geduld erreicht war, haben wir die Arbeit eingestellt. Wir haben
unsere Herren nur gebeten, uns das zu geben, ohne das zu
leben eine Qual ist. Aber alles ist abgelehnt ... Das Be-
amtentum besteht aus Räubern und Dieben... Es
führt Rußland immer mehr an den Rand des Ab-
grundes. Das Volk ist jeglicher Möglichkeit beraubt, seine Wün-
sche und Forderungen auszudrücken und an der Festsetzung der
Besteuerung und Staatsausgaben teilzunehmen. Wir wollen
liebersterben, aisunter solchenGe setzen weite r-
leben. Mögen unter solchen Verhältnissen die Kapitalisten und die
Beamten leben. Kaiser, hilf deinem Volke! Vernichte die
Scheidewand zwischen dir und deinem Volke...
Befiehl die Erfüllung unserer Bitte und du machst Rußland glück-
lich; wenn nicht, so sterben wir hier. Wir haben nur zwei WTege:
die Freiheit und das Glück oder das Grab. Wir
bringen gern unser Leben Rußland zum Opfer da r."
— Und dann wurde der letzte Appell an das Väterchen gerichtet
und es freundlich eingeladen, zu kommen: „Das ganze Volk ver-
traut dir und hat beschlossen, morgen um 2 Uhr nachmittags vor
dem Winterpalais zu erscheinen, um dir seine Not zu klagen. Wenn
du, wankelmütig, nicht vor dem Volke erscheinst, dann zer-
reißest du das moralische Band zwischen dir und
dem Volke und das Vertrauen wird schwinden, da
unschuldiges Blut zwischen dir und dem Volke
f 1 i e ß e n w i r d. Erscheine morgen vor deinem Volke und empfange
mutigen Geistes unsere Ergebenheitsadresse. Ich, der Ver-
treter der Arbeiter, und meine tapferen Arbeitsgenossen
verbürgen dir die U n v e r 1 e t z 1 i ch k e i t deiner
P e r s o n."
Diese Menschen haben noch Vertrauen gehabt zum Zaren,
aber er nicht zu ihnen. Sie sind vor den Winterpalast ge-
zogen, aber nicht ihn haben sie dort gefunden. Er war längst ge-
Qedenktag der russischen Revolution. 285
flohen (Rufe : Der Feigling!) nach Zarskoje Selo, in sein Schloß am
Meere; aber noch ist er nicht zurückgekehrt, noch lebt er dort als
Gefangener des Zarismus selbst. Die Hunderttausende Arbeiter, die
zum Winterpalast hingezogen sind mit Weib und Kind, mit Kifchen-
fahnen an der Spitze, gläubig, um ihre Ergebenheit, ihre Treue, iiir
festes Vertrauen dem „Vater" dort zu beweisen, sie wurden
empfangen mit Flintenschüssen der Leibgarderegimenter, von den
Nagaiken der Kosaken, und ein Blutbad wurde angerichtet unter
ihnen, bei dem nicht Frau, nicht Kind geschont wurde, und noch
heute weiß man es nicht, wieviel Tote es waren. (Allgemeine tiefe
Bewegung im Saale.) Zum erstenmal in diesem Feldzug haben die
russischen Regimenter eine Schlacht gewonnen (tosende Pfuirufe);
aber auch dieser Sieg war nur das Vorspiel der großen Niederlagen
des Zarismus; denn nicht erstickt, sondern geweiht wurde
die Revolution mit dem Blute der Proletarier, das
da vergossen wurde. In einer Woche schon verbreitete sich der
Streik und die proletarische Bewegung über ganz Rußland; am
28. Jänner erfaßte sie bereits Polen und in Warschau und in
Lodz beginnt jener gewaltige Generalstreik, der bis lange
nach Ostern währt und der in seiner Art selbst in dieser Helden-
geschichte der Revolution etwas ganz Unerhörtes ist. Was
damals und seither geschehen ist, war nicht ein planmäßiger Feld-
zug. Töricht ist die Meinung, daß eine Gruppe von Menschen, daß
eine Partei, und wäre sie noch so einflußreich, die Weltgeschichte
lenken könne. Das revolutionäre Proletariat Rußlands selbst ist
der Faktor, der in Bewegung ist, und dieser Machtfaktor ist selbst
nur ein Teil dieses Prozesses, und was wir an Revolutionären sehen,
das sind nur Träger einer Bewegung, für die sie arbeiten, für die
sie sich opfern können, die aber keine Menschenmacht
zu leiten, zu lenken oder gar aufzuhalten vermag.
Eine Stadt nach der anderen sehen wir dann sich erheben, es
folgt die unerhörte Expedition des „Potemkin*)", die unerhörte
Episode der Revolte der Marinesoldaten in den Häfen des Nordens;
überall geht die göttliche Autorität des Zarismus plötzlich mit einem
Riß verloren und nun schwanken der Zar und seine Räte zwischen
Repressalien und Zugeständnissen. Im Jänner kommen Ver-
sprechungen von Freiheit und Reformen, im Juni das Dumaver-
sprechen B u 1 y g i n s**), der mit seinem Wahlrecht die Duma zu einer
Karikatur eines Parlaments machen wollte, und am 30. Oktober
*) Der Panzerkreuzer „Knias Potemkin", der durch seine revolutionäre
Fahrt bekannt ist.
**) Der Innenminister Bulygin veröffentlichte am 26. Juni folgenden
Verfassungsentwurf: Die Duma sollte einen vom Zaren ernannten Präsi-
denten haben. Sie selbst sollte in zehn Abteilungen, jede für ein Ressort,
geteilt werden. Die Kompetenzen der Duma sollten die gleichen sein wie
die des Reichsrates. Jedes Geschäft sollte zuerst von einer Abteilung der
Duma geprüft werden, dann vor die Plenarversammlung kommen und von
dort vor den Reichsrat. Über das Wahl verfahren wurde noch nichts mit-
geteilt, weil in der Regierung noch Meinungsverschiedenheiten bestanden.
286 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
endlich jenes Manifest des Zaren, das Freiheit, ein wirkliches Par-
lament und den Eid des Zaren auf diese Verfassung verspricht. Aber
wenn Zaren können, so verraten sie ihre Eide, womöglich noch
bevor sie sie geleistet (allgemeine Pfuirufe), und so haben wir den
Versuch einer Gegenrevolution als die Hoffnung des Zaren und
jenes Witte, den die Bürgerlichen aller Länder bewundern wegen
seiner Klugheit und Geschicklichkeit, dessen ganze Politik
aber heute darauf hinausläuft, die Völker Ruß-
lands zu betrügen um den Erfolg der Revolution.
Direkt offiziell von der Polizei und den Administrativbehörden
wurden die schwarzen Banden geführt gegen die Juden; so
heißt es; aber sie wurden auch gehetzt gegen die Arbeiter, gegen
die Intelligenz, kurz gegen alles, was revolutionär ist. Es wurde
geplündert und gemordet und Untaten wurden verübt, für die unsere
Sprache keinen Ausdruck findet. Und nun meinen die Menschen —
und das sollte erzielt werden — , diese Greuel wären die Folge der
Revolution, während sie der Ausdruck der Gegenrevolu-
tion sind und ihre Möglichkeit allein darin begründet ist, daß
die Revolution erst heute kommt. Dieselben Leute aber, die hier
in der europäischen Presse über die Greuel in Kischinew und Odessa
blutige Tränen weinen und Sammlungen veranstalten für die un-
glücklichen Juden, die bringen die gegebenen Kreuzer in Mil-
lionen herein dadurch, daß sie ihr Vermögen angelegt haben
in den großen Geschäftsunternehmungen des Zarismus. Der Roth-
schild, der vor einigen Tagen auf einem Meeting in London für
die armen, geplünderten und gemordeten Juden gesprochen hat,
hätte schweigen können, aber seine Millionen hätte er
aus Rußland, zurückziehen sollen. Die Juden finden sich
in den Reihen der Revolutionäre in einem würdigen Prozentsatz,
aber die Gegenrevolution in Rußland, die wird geradezu von jüdi-
schen und christlichen Kapitalisten Westeuropas finanziert. (Pfui-
rufe.)
Diese furchtbare Gegenrevolution hat aber auch Schichten ge-
weckt und zur Gegenorganisation und Gegenaktion gezwungen,
die bis dahin stillgelegen waren. Im letzten Viertel des vorigen
Jahres kam eine Periode, wo Rußland ein anderer Staat geworden
ist, wo eine Preßfreiheit geübt wird, wie wir sie nicht kennen. Es
ist ein merkwürdiges Schauspiel, daß mitten in dieser Aktion, wo
jede Fiber angespannt ist, sich zugleich das geistige Leben
aller Völker mit einem Schlage blitzartig ungeahnt entwickelt.
Daneben geht aber noch ein anderes her. Der Zersetzung des inneren
Verwaltungsorganismus geht parallel das Auseinanderfallen
des Reiches. Was wir heute in Polen, auf dem Kaukasus, in
Finnland und Esthland sehen, das ist nicht nur Klassenkampf, das
ist vor allem auch der Kampf der Völker um ihre nationale
Befreiung. Da sind Tatsachen geschaffen worden, die sich nicht
mehr rückgängig machen lassen. Rußland kann Polen nicht mehr
erdrosseln, kann Finnland nicht mehr beherrschen wie eine Provinz,
Polen ist frei geworden, aber nicht durch den polnischen Adel,
Gedenktag der russischen Revolution. 2^7
nicht durch das Bürgertum oder jene, die sich für die Wortführer
des polnischen Volkes ausgeben, sondern frei geworden
d u r c li das polnische Proletariat. (Beifall.)
Mitten im Kampfe stehen wir noch heute, und es sieht aus, als
wäre die Revolution wieder an einem ihrer Ruhepunkte an-
gekommen, wie schon so oft während der letzten zwei Jahre, und
als würde der Zar neue Kraft sammeln. J a der Zar, der nicht
wagen darf, seine letzten Truppen aus Ostasien zurückzubringen,
der seine Regimenter sorgfältig auswählen muß, die er dem Volke
entgegenstellt, der Zar und die Zarenclique, die den Glauben an
sich selbst längst verloren haben; die haben gegen sich nicht allein
ein Bürgertum und eine Intelligenz, die auch nicht mehr die Früchte
ihrer Opfer aufgeben werden, sondern vor allem ein Proletariat,
das in den letzten Jahren in rapiden Schritten vorwärts gegangen
ist und gelernt hat, proletarisch zu kämpfen und pro-
letarische Waffen zu handhaben. Und darum haben die
russischen Genossen Beispiele gegeben, die für die proletari-
schen Kämpfe fruchtbar sein werden für alle Län-
der und für alle Zeiten. Der politische Massen-
streik, den wir in Polen nicht nur die Produktion, sondern auch
das ganze Nervensystem des Staates lahmlegen sahen, wird gewiß
noch in der Geschichte der proletarischen Kämpfe häufig eine wich-
tige Rolle spielen. Aber die russische Revolution hat uns auch ge-
zeigt, daß die Annahme, die Zeit des Gewaltkampfes auf der
Straße wäre für immer vorbei, nicht für alle Zeiten, Völker und
Zustände richtig ist. Was haben die Revolutionäre in Warschau und
Lodz mit den kleinen Revolvern, den berühmt gewordenen
Brownings, nicht alles geleistet! Und die ungeheuren Kämpfe in
Moskau, wo man mit Kanonen den Kampf führen mußte, weil die
Infanterie nicht sicher war! Aber diese Ereignisse zeigen uns, daß
die Methoden des Kampfes der Revolution und die Methoden des
Kampfes des Proletariats nicht auszurechnen sind im einzelnen, und
daß nichts törichter ist, als von irgendeiner Methode des Kampfes
zu sagen, sie ist die einzig e, die wir anwenden müssen, oder zu
sagen, die werden wir niemals üben, sie ist unmöglich
geworden.
Parteigenossen! Die russische Revolution hat für das gesamte
politische System der Welt eine ungeheure und heute in ihren
Folgen noch gar nicht abzumessende Bedeutung. Was Sie heute
von europäischen Verwicklungen, neuen Bündnissen der Staaten
sehen, diese Ratlosigkeit, Erregtheit und Nervosität, ist im letzten
Grunde die Folge der ungeheuren Tatsache, daß durch die Revolu-
tion in Rußland der mächtigste politische Faktor un-
sicher geworden ist. Es ist, als wie wenn aus diesem politi-
schen Bau der Tragbalken plötzlich herausgezogen worden wäre.
Alle Politik in den reaktionären Staaten hat auf dem
sicheren Vertrauen beruht: wenn es schlimm geht, der große starke
Onkel in Petersburg kann noch helfen. Und nun ist das so ganz
anders geworden. So viel Ströme der Reaktion sind nie von
288 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Rußland Redrungen, so viel Revolution ist nie von Westen nach
Osten getragen worden, als heute aus diesem siedenden
Kessel der Revolution in Rußland von revolutio-
närer Energie aus dem Osten herüberströmt nach
Europa. (Brausender Beifall.) Die Staaten und ihre Diplomaten
können sich nicht freimachen davon und das arbeitende Volk in
allen Ländern stürzt sich mit vollem klaren Bewußtsein dessen, was
es tut, in den Strom dieser Revolution und bewirkt in jedem Lande
die Revolution mit seinen Mitteln, nach seinen Verhältnissen
und mit seinen augenblicklichen Zielen.
Wir haben das Recht und haben die Pflicht, an diesem Gedenk-
tag der russischen Revolution auch zu gedenken unserer eigenen
Sache; denn Parteigenossen, was wir für unsere kämpfenden
Brüder drüben tun können, das ist nur das eine: unsere eigene
Pflicht in unserem eigenen Lande, in unserer
eigenen Sache. Wir können den Genossen drüben nicht besser
helfen, als indem wir die Stützen der Reaktion in unserem eigenen
Lande erschüttern und indem wir in Österreich endlich nachholen,
was uns längst gebührt hätte, indem wir endlich unser Recht er-
kämpfen : das allgemeine, gleiche und direkte Wahl-
recht. (Beifall.) Wir haben die f e s t e Z u s a g e, daß unser Recht
erfüllt werden wird, und wir werden in wenigen Wochen erfahren,
in welchem Umfang man Wort halten will. Wir sind in den Kampf
gegangen in dem Bewußtsein, daß es ein Kampf auf Leben und Tod
sein kann; denn auch wir sind der Überzeugung, daß es sich nicht
lohnt, so weiterzuleben, und für uns ist unser Zustand dieselbe
.Schmach, wie er es für jene drüben ist.
Ein Zwischenfall.
Es scheint, daß es genügt hat, den ernsten Entschluß zu zeigen,
und die gewaltige proletarische Organisation, die in Jahrzehnten
erzogen und zusammengehämmert wurde... (Ein Zwischenruf:
Und nichts getan hat!)
Abgeordneter Dr. Adler (erwidernd): Wie Sie noch nicht auf
der Welt waren, hat das Proletariat schon Großes getan . . .
Der Versammlung hat sich inzwischen wegen des Zwischenrufes eine
große Erregung bemächtigt und von allen Seiten erschallt der Ruf:
Hinaus mit ihm! Genosse Dr. Adler muß kurze Zeit innehalten,
beruhigt aber die Versammlung bald, indem er fortfährt:
Überlassen Sie es mir, Genossen, mit dem Herrn fertig zu
werden. Ich habe den Zwischenruf aufgegriffen, weil ich weiß, daß
in manchen Köpfen der Gedanke spukt, daß, wenn nicht Blut ver-
gossen und nicht Barrikaden gebaut werden, nichts geschieht. Nun,
Genossen, wir bewundern den Kampf, der sich mit einer Todes-
verachtung sondergleichen da drüben abspielt und wir bewundern
und verehren all die Männer und Frauen, die in einem Heldenmut
sondergleichen ihr Leben opfern; aber wir werden darum nicht
geringschätzen die Art des Kampfes und die Art der organisatori-
schen Arbeit, die die Grundlage ist jedes politischen Fortschrittes.
Der Schacher um die Mandate. 2H(J
Nicht immer gibt es Schlachttage für das Proletariat; a I) e r
Arbeit gibt 68 immer, und wenn wir an diesen Alltagen
unsere Pflicht nicht tun, dann werden wir, wenn der Schlachttag
uns aufgezwungen werden sollte, unsere Pflicht nicht ver-
stehen; wenn wir aber unsere Pflicht tun, dann bringen wir es
vielleicht dahin, daß wir, wie am 28. November, nur den Erfolg
unserer Arbeit zu zeigen brauchen und der Anblick genügt, um uns
zu unserem Recht zu verhelfen. Wir wissen nicht, ob wir schon
am Ende unseres Kampfes sind. Wenn es notwendig werden sollte,
die Regierung und das Parlament in ihren guten Vorsätzen zu
stärken, so werden wir auch mit dem Massenstreik einsetzen
(brausender Beifallssturm), wie es unser Parteitag beschlossen und
die Genossen des ganzen Reiches besiegelt haben. Wir werden ver-
stehen, unsere Pflicht zu tun gegen uns und gegen die Märtyrer
der Revolution da drüben; denn auch ihnen, nicht nur uns sind wir
es schuldig, daß wir einen so ungeheuren Moment
nicht ungenützt und ohne Erfolg vorübergehen
lassen. (Stürmischer Beifall.) Aber, Parteigenossen, wie wir
schuldig sind zu kämpfen mit Blut und Leben, wo es notwendig ist,
so sind wir schuldig und sind es Ihre Vertrauensmänner den Massen
schuldig und jedem einzelnen von ihnen, daß wir kämpfen mit der
Vermeidung aller Opfer, die nicht notwendig sind. (Allgemeines
Bravo.)
Ich habe zuvor von der ungeheuren Bedeutung der russischen
Revolution gesprochen. Es ist ein neues Rußland, ist anders durch
sie. Wir wünschen und hoffen, ja wir hängen mit jeder Faser unseres
Herzens an dem Siege der russischen Kämpfer für die Freiheit; wir
hängen daran nicht nur für sie, sondern a u c h f ü r u n s. Es ist nicht
eine Redensart und nicht eine Phrase, wenn wir sagen: „Ihr
Krieg ist unser Krie g", sondern er ist es wirklich. So
wünschen wir den russischen Kämpfern Erfolg und hoffen, daß es
auch uns gelingen wird, unseren Teil der Pflicht zu er-
füllen. (Stürmischer Beifall.)
Der Schacher um die Mandate«
Sechsundzwanzig Versammlungen am 2 8. Jänner
1906*).
Wir sind heute so weit, daß man an dem Einbringen, ja ich
sage an dem Zustandekommen der Wahlreform nicht mehr zweifeln
*) Am 30. Jänner 1906 trat das Parlament nach den langen Weihnachts-
ferien wieder zusammen und die Sozialdemokraten hatten im ganzen Reiche
in den letzten Tagen Demonstrationsversammlungen abgehalten. In Nieder-
österreich allein tagten 30 massenhaft besuchte Versammlungen: in Wien 26,
und zwar 17 deutsche, 6 tschechische Volksversammlungen und 3 Branchen-
Versammlungen. Im Arbeiterheim in Favoriten sprach Adler.
Seitdem das Parlament am 20. Dezember in die Ferien gegangen war,
hatte sich ein förmlicher Markt im Ministerium gebildet, wo um Mandate
Adler, Briefe. X. Bd. 10
290 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
kann. Die bürgerlichen Parteien haben bis auf zwei Ausnahmen
nachgegeben. Die sich noch als Feinde bekennen, das sind selbst-
verständlich die polnischen Stanczyken*), die erst „Bedingungen'4
stellen werden, nämlich die, daß ihnen irgendwie ihre Mandate
garantiert werden. Sie sind sehr sentimental, die Herren. Da hat
der Gniewosz neulich auf einem Hofball — unsere Politik wird jetzt
häufig auf Hof ballen gemacht — dem Kaiser gesagt: „Morituri te
salutant**). Das ist der Lohn für unsere Leistung." Freilich, sie haben
zu allen Niederträchtigkeiten Ja und Amen gesagt dafür, daß man
ihnen das Volk völlig ausliefert. Wenn sie nun wirklich den Fuß-
tritt bekämen, hätten sie nur gebüßt was sie an den Völkern Öster-
reichs, nicht zuletzt aber an ihren Polen und Ruthenen, gesündigt
haben. So wie die Polen aber sind auch die Deutschnationalen
schärfster Observanz gegen das Wahlrecht. Auch diese Herren
fragen nicht: Was ist notwendig, was frommt dem deutschen Volke?
— vor dem deutschen Volke haben sie überhaupt eine heillose
Furcht — sondern sie fragen: Wo ist mein Mandat? (Heiterkeit.)
Was soll das für ein Wahlrecht sein, wo ich nicht gewählt werde?
fragt sich der Herr Schönerer und der Franko Stein. Es ist ja nun
möglich, daß diese Herren einige Komödien aufführen werden; das
ist, aber alles. Die anderen Parteien, sosehr sie sich innerlich auch
sträuben mögen, sind vernünftig genug, zu wissen, daß es keinen
Weg mehr gibt, der sie vor der Wahlreform rettet. Vielleicht muß
Herr v. Gautsch gehen, wenn sie es wollen; aber die Wahlreform
hängt nicht ab vom Ministerium Gautsch und muß sich erfüllen
auch ohne dieses. Sie hängt ab nicht nur vom Willen der Arbeiter-
schaft, sondern von eherner geschichtlicher Not-
wendigkeit. Wir sind nur die Vollstrecker des Zwanges, der
besteht; aber wir werden so unerschütterlich sein,
wie die N o t w e n d i g k e i t s e 1 b s t. Daß man mit dem heutigen
und Wahlkreise geschachert wurde. Die bürgerlichen Parteien hatten sich
mit dem allgemeinen Wählrecht bereits abgefunden und suchten nur noch
durch eine künstliche Zusammenstellung der Wahlkreise eine möglichst
große Zahl von Mandaten für sich herauszuschlagen. Dabei wurde nun
nicht nur um die an .sich begründete Aufteilung der. Mandate an die ein-
zelnen Nationen verhandelt — wofür Dr. Kramarsch den Deutschen schon
in der ersten Wahlrechtsdebatte ein offenes Kompromiß angeboten hatte — ,
sondern um die Sicherung von Mandaten für einzelne Parteien, ja für
einzelne Personen! Wobei namentlich für die Führer, so für Herrn Doktor
Pergelt in Warnsdorf, ein Mandat gesichert werden sollte. Von dieser Seite
drohte also kaum eine Gefahr — wohl aber von der christlichsozialen
Forderung nach einer zweijährigen Seßhaftigkeit im Wahlort.
Dadurch würde Zehntausenden von Arbeitern das Wahlrecht geraubt und
deshalb wurde diese Forderung von allen Wahlrechtsfeinden unterstützt.
Sie wäre allerdings für die Arbeiter ein Kriegsfall gewesen. (Darüber
Näheres in den Bemerkungen bei der folgenden Rede.)
*). Die Ultrakonservativen unter den Polen.
**) „Die dem Tod Geweihten grüßen dich!" Der Gruß, den die Gladia-
toren dem römischen Kaiser entboten. — Wladimir R. v. Gniewosz
war ein galiziseher Großgrundbesitzer.
Die Wahlreform vorgelegt. 2ft
Wahlrecht noch einmal wühlen geht, das wagt niemand mehr aus-
zusprechen. Was wir noch ZU fürchten haben, das sind die
falschen Freunde der Wahlreform. Die Christlichsozialen
sind für die Wahlreform, aber so wie sie für alles sind, schielend
und verlogen. Hier liegt einer der schwierigsten Punkte, denn es
ist Rar kein Zweifel, daß bei den bürgerlichen Parteien und bei der
Regierung die Neigung besteht, die Wünsche dieser Herren zu er-
füllen. Man will, daß diejenigen, die genötigt gewesen sind, ihren
Arbeitsort zu wechseln, gleichgestellt werden sollen den Ver-
brechern und Geisteskranken. (Stürmische Pfuirufe.) Was wollen
aber die Herrschaften mit ihrer Seßhaftigkeitsklausel. wem kann sie
nützen? Für den Wiener Magistrat, der beabsichtigt, daraus eine
besondere Quelle für den Wahlschwindel zu machen, ist sie freilich
gut; aber die anderen bürgerlichen Parteien gehen damit nur ihren
christlichsozialen Feinden auf den Leim. Sie werden wohl auch noch
einsehen lernen, daß sie keinen Grund haben, deswegen die
Arbeiterschaft in einen opfervollen Kampf zu treiben, der aber
auch opfervoll sein muß für das Bürgertum selbst.
(Stürmischer Beifall.)
Die Wahlreform vorgelegt*
Versammlung am 2 5. Februar 1906*).
Als wir hier in diesem Saale auf unserem Parteitag den Kampf
für das allgemeine, gleiche Wahlrecht beschlossen, da war es
keineswegs- sicher, daß der Tag, der uns unser Recht bringt/ so
nahe sei. Die Umstände, unter denen zur Wirklichkeit wird, was
der Inhalt unseres Kampfes durch so viel Jahre war, haben wir
nicht herbeigeführt; aber das Zeugnis müssen wir uns selbst aus-
stellen, daß die österreichische Arbeiterschaft, wie sie in den un-
günstigen Verhältnissen ihren Mann stellte, so auch die günstige
Lage, die ihr plötzlich beschieden war, gut zu nützen verstand. Wir
geben uns auch keiner Täuschung hin, daß, wenn die Regierungs-
vorlage auch da ist. uns noch ein schweres Stück Weges von dem
Augenblick trennt, wo die Vorlage zum Gesetz wird. Es ist ja nicht
gar so leicht, dem Parlament zuzumuten, es möge die Grundlage
*) Am 23. Februar 1906 legte Gautsch die Wahlreform vor. Das Abgeord-
netenhaus sollte 455 Mitglieder haben, von denen, wie in dem alten Haus,
das allerdings nur 425 Mitglieder hatte, 205 Deutsche sein würden. Gautsch
begrüßte die Vorlage mit einer Rede, in der er unter anderem sagte:
„Personen gehen, Ideen bleiben, mein Sturz wird nicht der Sturz der
Wahlreform sein." Die Alldeutschen krawallierten bei der Rede, ver-
mochten aber den tiefen Eindruck dieser Ausführungen nicht zu beein-
trächtigen. — Siehe auch die Fußnote auf Seite 295 mit den ausführlichen
Da riegungen über die Reform.
Bei der Berechnung der 205 deutschen Wahlkreise wollten sich die
Deutschbürgerlichen die Wahlkreise, die offenbar die Sozialdemokraten
ihnen abnehmen würden, nicht auf die 205 deutschen Wahlkreise auf-
rechnen lassen, während sie von den 205 Mandaten des alten Parlaments
«iueh die der deutschen Sozialdemokraten sich aufrechneten.
19*
292 Der Sie* des gleichen Wahlrechts.
seiner eigenen Existenz beseitigen, es möge das Recht anerkennen,
wo seine Grundlage bisher das Unrecht war, und wir wollen offen
zugeben, daß es auch für die Regierung nicht so leicht war, sich
endlich zum Rechte zu bekennen, da doch unsere Bürokraten wahr-
haftig nicht dazu erzogen sind, Volksrechte zu verteidigen. Es hat
der ganzen Wucht der weltgeschichtlichen Momente bedurft, die
sich in diesen ersten Jahren des neuen Jahrhunderts zusammen-
drängen, um eine österreichische Regierung dazu zu bringen, ihre
Existenz ehrlich und rückhaltlos mit dem Rechte des Volkes zu ver-
knüpfen.
Wähler soll nun jeder 24jährige Mann sein mit gleichem Recht
ohne Einschachtelung in Kurien. Aber freilich gleich hier begegnet
das Volk seinen Feinden. Sie wissen, welche Pläne unsere ge-
hässigsten Gegner gehabt haben, wie sie uns ein allgemeines Wahl-
recht verbunden mit fünfjähriger Seßhaftigkeit (Gelächter) geben
wollten: ihr Plan war, uns möglichst viel von unseren Rechten weg-
zustibitzen. Dieser Plan wurde ja nicht in seiner ganzen Ausdehnung
erfüllt, aber leider hat die Regierung geglaubt, Herrn Lueger da ent-
gegenkommen zu müssen, diesem Volksmann, dem man entgegen-
kommt, indem man den Arbeitern Rechte raubt. Es versteht sich
von selbst, daß die sozialdemokratischen Abgeordneten gegen diese
Einschränkung des allgemeinen Wahlrechtes einen scharfen
Kampf werden führen müssen. (Lebhafter Beifall.) Und wenn man
die Herren fragen wird, mit welchem Rechte sie so viele ehrlich
arbeitende Proletarier, bloß weil sie vor einigen Monaten an einem
anderen Orte arbeiteten, gleichstellen mit Irrsinnigen und Ver-
brechern, wird man uns von den italienischen und slowakischen
Arbeitern erzählen, die irgendwo eine Eisenbahn bauen oder einen
Fluß regulieren und die das Resultat der Wahl beeinträchtigen
können. (Heiterkeit.) Gegen dieses furchtbare Unglück muß man die
deutsche Nation schützen. Die Leute halten uns wirklich für so
töricht, daß wir ihnen glauben, sie wären solche Idioten, zu meinen,
man werde da plötzlich einen italienischen oder slowakischen Ab-
geordneten wählen, wo einige hundert Arbeiter bei einem Bahnbau
beschäftigt sind. Aber diese und ähnliche Argumente sind nicht ehr-
lich. Was man in Wahrheit will, das ist, in solchen Bezirken, wo
sich bürgerliche Parteien — ■ vor allem die Christlichsozialen — und
die Sozialdemokraten die Wagschale halten, das Schwergewicht
des Unrechtes der Seßhaftigkeit in die christlichsoziale Wagschale
werfen zu können und der Sozialdemokratie ein paar Mandate zu
stehlen.
Nun hat man ja ohnedies bei der Einteilung der Wahlkreise die
Wünsche der bürgerlichen Parteien sorgfältig berücksichtigt. Man
hat die große Gefahr der sozialdemokratischen Überschwem-
mung durch ein Mittel zu überwinden gesucht, das ja nicht schlecht
erfunden ist. Man hat meilenweit alle Orte, wo ein paar Arbeiter
sind, zusammengetan und die anderen Bezirke so von den Sozialisten
gereinigt. (Heiterkeit.) Man sucht so einen Kordon um uns zu
ziehen; und wenn wir, wie die bürgerlichen Parteien, diese Wahl-
Die Wahlreform vorgelefft. 303
reform nach der Zahl der Mandate beurteilen würden, die man uns da
gibt, hätten wir gewiß schwere Hinwendungen. Aber wir sind reiche
Herren, uns gehört nämlich die Zukunft: wir können ein paar
Mandate leichter verschmerzen als die anderen Parteien. Man mag
an den Ziffern herumrechnen wie man will, man mag die Arbeiter
hintun, WO man will, wirft man uns aus einem Wahlkreis hinaus, so
sind wir eben im Nachbarwahlkreis. (Heiterkeit und Beifall.) Aus
der Welt hinausrechnen kann man die industrielle Arbeiterschaft
in Österreich nicht. Es war schwerer, proletarische Politik in Öster-
reich zu machen, als wir kein Wahlrecht und keine politische Frei-
heit hatten, und wir haben sie nicht ohne Erfolg jahrzehntelang zu
machen verstanden. Auch die Zwirnsfäden, die man uns über den
Weg spannen will, werden uns wahrhaftig nicht behindern.
Man hat nun allerlei Rechnungen angestellt und sie als Argu-
mente gegen die Wahlreform benützt. Da wagt man es, die sozial-
demokratischen Abgeordneten von der Vertretung des deutschen
Volkes abzurechnen. Die das sagen, wissen, daß sie lügen. (Bei-
fall.) Die sozialdemokratischen Vertreter von Hunderttausenden
deutschen Arbeitern sind ebenso gute, ja weit bessere Deutsche als
die paar Großgrundbesitzer, diese Nutznießer dieses Privilegs, und
die tschechischen sozialdemokratischen Abgeordneten sind Ver-
treter ihres Volkes weit mehr, als es die Palffy*) und Sylva-Tarouca*)
sind. Im Parlament des gleichen Wahlrechtes werden diese natio-
nalen Lügen keinen Platz mehr haben, wird der Mißbrauch natio-
naler Interessen zu egoistischen Zwecken einzelner Klassen und
Personen ausgeschaltet sein. Aber in ernsten nationalen
Fragen werden die Vertreter der Arbeiter jeder zu seinem
Volke stehen, besser als die Herren Privilegierten. (Lebhafter
Beifall.)
Ich verstehe es sehr wohl, wenn die Grafen, die zu nobel oder
zu unfähig sind, in ehrlicher Wahl ein Mandat zu suchen, gegen die
Wahlreform intrigieren. Wenn auch die meisten von ihnen sich im
Parlament nicht allzusehr anstrengen, es ist ja doch ein ganz an-
genehmes Klublokal für sie (Heiterkeit), und diese Art geschäftigen
Müßigganges scheint ihnen sehr wohl zu behagen, ganzrabgesehen
von den Vorteilen, die sie und ihre Klasse sonst davon ziehen.
Aber ich muß gestehen, daß ich viele unserer bürgerlichen Abgeord-
neten doch höher eingeschätzt habe. Eine große Zahl von Abgeord-
neten, das muß zugestanden werden, hat sich mit der Wahlreform
rasch abgefunden; aber andere wehren sich noch immer mit Händen
und Füßen dagegen. Diese Leute scheinen es gar nicht zu begreifen,
daß ihnen allen die Wahlreform eine Rangserhöhung bringt.
1 )ie Wahlreform bedeutet für sie, daß sie aus erbärmlichen
Privilegienpfründnern zu Volksvertretern avan-
cier c n, daß sie nicht nur aus der unwürdigen Abhängigkeit vom
Großgrundbesitz befreit, sondern auch des peinlichen Gefühles ledig
werden, Nutznießer des Unrechts zu sein, das an Millionen begangen
*) Zwei feudale Großgrundbesitzer aus Böhmen.
294 Der Sieg des gleh&heti Wahlrechts.
wird. Sie müßten geradezu vernagelt sein, wenn sie nicht begreifen,
daß ihre Stellung eine andere sein wird, wenn sie nicht mehr ihre
Mandate aus dem Unrecht eines Privilegs, sondern von der Masse
des Volkes empfangen. Ich will diese Abgeordneten natürlich nicht
auf eine Linie mit den paar Leuten stellen, die sich während der
Rede des Ministerpräsidenten austobten — das war nur der
Schwachsinn, der einen Tobsuchtsanfall bekam.
Der Redner bespricht dann das Gesetz über die Freiheit der
Wahl und die geplante Abänderung der Geschäftsordnung — beides
Gesetze, deren Verbindung mit der Wahlreform bedenklich ist —
und fährt dann fort: In den nächsten Monaten wird sich im Wahl-
reformausschuß ein Markt für das Mandatsgeschäft etablieren, wo
das Makeln noch lange nicht das Schlimmste ist. Aber da werden
Leute lauern, um eine augenblickliche Schwierigkeit zu benützen,
um die ganze Reform zu vereiteln, und man wird sich da auf
schwere Kämpfe gefaßt machen müssen. Ich hoffe, daß die Regie-
rung — • und auf sie kommt es in diesem Augenblick hauptsächlich
an — einen kühlen Kopf und guten Mut behalten wird. Es ist für
uns Sozialdemokraten eine etwas ungewohnte Rolle, einer öster-
reichischen Regierung Mut zuzusprechen (Heiterkeit), aber wir
wären Toren und wir wären Verbrecher an der Arbeiterschaft,
wenn wir nicht eine Regierung, dje ihr Schicksal mit dem der W.ahl-
reform identifiziert, so lange stützen würden, als sie ihrer Aufgabe
treu bleibt (lebhafter Beifall), unbekümmert um alberne Vorwürfe,
die man deshalb gegen uns erhebt. Das ist der Unterschied zwischen
uns und den anderen, daß sie Regierungspartei sind, wenn die
Regierungen Verbrechen an den Völkern begehen, und daß wir
als Partei die Regierung stützen, wenn sie zum erstenmal dem Volke
sein Recht gibt. Wenn wir „Regierungspartei" sind (Heiterkeit),
kann man sich darauf verlassen, daß wir eine Regierung haben, die
— auch in Österreich kann einmal das Unmögliche möglich werden
— auf dem Wege des Rechtes und der Freiheit wandelt.
Die Einbringung der Wahlreform, der nichts anderes folgen kann
als ihre Durchsetzung, ist der Beginn einer neuen Ära für die
Völker Österreichs, ist der Beginn einer neuen Zeit für das
kämpfende Proletariat, das seine wichtigste Forderung, seine erste
Bedingung für jede politische, wirtschaftliche und kulturelle Arbeit
nun endlich verwirklicht sieht, das nun daran ist, die Frucht einer
jahrzehntelangen opfervollen Arbeit zu ernten und daß diese Frucht
uns nicht geraubt, nicht verdorben werde, dafür sind Sie, die
Arbeiter Österreichs, da. (Stürmischer Beifall.) Ich weiß, daß, so
ruhig und gefaßt wir alle heute den Ereignissen zusehen können,
die Arbeiter von ganz Österreich sich erheben würden mit einer
Leidenschaft, die vor nichts zurückschreckt, in dem Moment, wo
diese Vorlage ernstlich gefährdet wäre. Wir Abgeordneten werden
unsere Pflicht erfüllen, die Gesetzwerdung der Wahlreform zu
beschleunigen, wissend, daß, wrenn es notwendig werden sollte,
Sie mit Ihrer ganzen Kraft einsetzen werden, um eine Verschleppung
zu verhindern. (Stürmischer, andauernder Beifall.)
Die SchlckS^lsstunde Österreichs.
Die Schicksalsstunde Österreichs.
Erste L e s u a g d e r W a h 1 r e f o r in, l). März 19 0 o*).
Meine Herren! Ich will offen gestehen, daß ich nicht ohne eine
gewisse Ergriffenheit in diesem Moment das Wort im österreichi-
schen Parlament nehme, weil mir bewußt ist, datt das Parlament
in eine Schicksalsstunde für Österreich eingetreten ist und weil ich
das Bewußtsein habe, daß wir endlich vor uns die Regierungyörlage
*) Am 23. Februar hatte Baron Gautsch in einer eigens zu diesem Zwecke
einberufenen Sitzung des Abgeordnetenhauses seinen Wahlreformentwurf
vorgelegt, der den Völkern Österreichs dasall gemeine, gleiche und
direkte Wahlrecht bringen sollte und er erfüllte damit das Ver-
sprechen, das er am Tage der Parlamentseröffnung — am 28. November —
angesichts der Viertelmilliou demonstrierender Arbeiter gegeben hatte. Unter
dem Beifall der sozialdemokratischen Abgeordneten und der Galerie charak-
terisierte der Ministerpräsident seine Vorlage mit folgendem Satze: „Die
Vorlage beruhtaufdem Grundgedanken^ erBeseitigung
aller Wahlvorrechte und jedes Zensu s." Aus der einleitenden
Rede des Ministerpräsidenten — die im Hause großen Eindruck machte und
nur von ein paar alldeutschen Narren gestört wurde — sei folgende auf die
Sozialdemokratie bezügliche Stelle hervorgehoben. Nachdem Gautsch die
Wirkung der Obstruktion im österreichischen Parlament geschildert hat,
fährt er fort: „Die Wahlreform entsprang der Notwendigkeit, das Parlament
auf eine festere Grundlage zu stellen als bisher. Wenn aber stets von neuem
vorgebracht wird, den eigentlichen Vorteil werden doch die Sozialdemo-
kraten davontragen, so erwidere ich darauf folgendes: Will man die Sozial-
demokratie ernstlich mit Aussicht auf Erfolg bekämpfen, so muß man ihr
die wirksamste Waffe entwinden, und diese ist die Anklage gegen den Staat,
daß den minderbemittelten Klassen die Rechte verkürzt, daß andere Klassen
aber mit Vorrechten ausgestattet werden. Darin liegt eine nicht zu unter-
schätzende Kraft der sozialdemokratischen Propaganda. Hat sie diese Waffe
nicht mehr, dann kann der Kampf gegen sie, wenn die Pflicht ihn uns auf-
erlegen sollte, vom Boden des gleichen Rechtes aus viel erfolgreicher geführt
werden. Ich habe eine zu hohe Meinung vom Werte der staatserhaltenden
Kräfte, um anzunehmen, sie bedürften zu ihrer Behauptung des künstlichen
Schutzes durch besondere Vorrechte." Und seine Rede schloß der Minister
mit der Erklärung, daß die große Reform unabwendbar sei. Selbst wenn es
gelingen sollte, ihn zu stürzen, werde man die Wahlreform nicht zu Falle
bringen; „Personen gehen, aber Ideen bleiben. Mein Sturz
ist nicht der Sturz der Wahlrefor m."
Die Vorlagen der Regierung umfaßten folgende fünf Gesetz-
entwürfe: 1. Abänderung des Staatsgrundgesetzes über die Reichs-
vertretung. 2. Reichsratswahlordnung. 3. Änderung der Bestimmungen über
die Immunität der Abgeordneten. 4. Änderung der Geschäftsordnung des
Reichsrats. 5. Strafrechtliche Bestimmungen zum Schutze der Wahlfreiheit.
Das neue Grundgesetz über die Reichsvertretung enthielt
die wesentlichen Bestimmungen: die Beseitigung der Kurien und das all-
gemeine, gleiche und direkte Wahlrecht; es konnte als Verfassungsgesetz
nur mit Zweidrittel-Mchrheit in Anwesenheit von mindestens 213 Abgeord-
neten beschlossen werden. Das Wahlrecht sollte nun jeder österreichische
Staatsbürger haben, der das 24. Jahr vollstreckt hat und in der Gemeinde
seit mindestens einem Jahre seinen Wohnsitz hat. Außerdem bestimmte das
Grundgesetz die Zahl der Mandate, die auf die einzelnen Länder
296 Der Sie«: des gleichen Wahlrechts.
haben, die das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht bringt,
jenes Recht, für das die Völker Österreichs seit Jahrzehnten
kämpfen, für das die Arbeiterschaft schwere und blutige Kämpfe
geführt hat.
Ich weiß sehr gut, wir sind nicht am Ende des Kampfes; wir
sind aber, dem werden Sie sich alle nicht verschließen können, am
entfallen; insgesamt sind es 455. Das geltende Grundgesetz setzte die Zahl
der Abgeordneten mit 425 fest, von denen 85 vom Großgrundbesitz, 21 von
den Handelskammern, 117 von den Städten, 130 von den Landgemeinden
und 72 von der allgemeinen Kurie gewählt werden. In den Kurien der Städte
und Landgemeinden galt ein Zensus von 8 Kronen, in der allgemeinen Kurie
bestand das allgemeine Wahlrecht mit sechsmonatiger Seßhaftigkeit
(es wählten auch die Wähler der anderen Kurien mit).
Am schwierigsten war für die Regierung die Schaffung der Reichsrats-
wahlordnung und namentlich die Einteilung der Wahlkreise. Hier stießen
nämlich die Interessen der einzelnen Parteien und Nationen aneinander. Mit
dem Prinzip des allgemeinen Wahlrechtes hatten sich die Abgeordneten
allmählich abgefunden. Aber eine Aufteilung der Wahlkreise nach der Be-
völkerung hätte bedeutet, daß die Deutschen etwa 40 Mandate verloren
hätten, eine solche Wahlreform war nicht durchzubringen. So
einigte man sich auf das Kompromiß, daß auch die Steuerkraft der
Länder berücksichtigt werden solle, daß also die östlichen Länder zugunsten
der westlichen benachteiligt werden. So sollte ermöglicht werden, daß das
Verhältnis derNationenim Parlament nicht allzu stark verschoben
werden mußte. Nach der Vorlage der Regierung erhielten tfie Deutschen wie
bisher 205 Mandate, die Slawen (Tschechen, Polen, Ruthenen, Slowenen,
Serben und Kroaten) erhielten zwar nicht die ihnen nach der Bevölkerungs-
zahl gebührende Anzahl von Mandaten, aber immerhin eine Vermehrung
um 30 Mandate, außer den bisher dem konservativen Großgrundbesitz ge-
hörenden Mandaten. Aber dieses Verlangen nach „gerechter" nationaler
Verteilung der Mandate war ja nur der ideologische Aufputz für das Ver-
langen jeder Partei und jedes Abgeordneten nach Sicherung ihrer Mandate.
Da war nun von vornherein sicher, daß für die überwiegende Mehrzahl der
bisherigen Abgeordneten des Großgrundbesitzes unter dem allgemeinen
Wahlrecht keine Mandate zu haben sein würden. Sie fühlten sich auch nicht
stark genug, sich ihre Mandate, die sie bisher von ihren Standesgenossen
geschenkt bekamen, im Wahlkampf zu erstreiten, und sie suchten darum
die bürgerlichen Abgeordneten mit der nationalen Phrase zu ver-
hetzen. Namentlich die sogenannten „verfassungstreuen" Großgrundbesitzer
hatten plötzlich ihr Herz als deutsche Männer entdeckt und sie schreckten
die bürgerlichen Deutschen mit der Gefahr einer slawischen
Majorität. Willige Hörer fanden sie dabei unter den fortschrittlichen Abge-
ordneten aus Deutschböhmen, die im nordböhmischen Industriegebiet
nicht allzu viele Mandate vor den Sozialdemokraten retten zu können
hofften. Allerdings, die Masse der bürgerlichen Abgeordneten nicht nur unter
den Deutschen hatte Herr v. Gautsch für die Wahlreform dadurch gewonnen,
daß er jedem einzelnen seinen Wahlkreis zurechtschnitt.
Jeder Abgeordnete legte dem Minister sein Begehren vor und für jeden
tat der Minister, was er für ihn tun konnte. Natürlich hatten die meisten
Bürgerlichen die größte Angst vor den Sozialdemokraten und ihre Haupt-
frage war überall, die Arbeiter loszuwerden. In manchen Gegen-
den war es für die Bürgerlichen besser, wenn die Städte von den Land-
gemeinden getrennt wählten — dort nämlich, wo die Arbeiter in den Vor»-
Die Schicksalsstunde Österreichs. 297
Anfang vom linde, wir sind direkt vor der I rmlhmg des Rechtes.
Demi das, was Sie von den Gegnern der Regierungsvorlage, w;is
Sie an Angriffen verschiedenster Art. an philosophischen, histo-
rischen, an tiefen politischen Erörterungen hier gehört haben,
waren, darüber geben Sie sich doch keiner Täuschung hin, Rück-
zugsgefechte und vielfach nicht mit dem Bewußtsein, dal.» sie
orten wohnen — -, also wurde dieses „Prinzip" eingeführt. Zwei Stunden
entfernt war aber eine Stadt, wo die Vororte bereits eingemeindet wurden;
also wurden einige Bauerngemeinden dazugeschlagen. Meist aber suchte
man die bürgerlichen Wahlbezirke s o z i a 1 i s t e n r e i n zu er-
halten und die Arbeiter orte zusammen zu steck e n.
Geradezu klassisch wurde dies in Niederösterreich durchgeführt.
So wurden die 27 Mandate, die das flache Land (W i e n selbst hat 28 Man-
date) erhält, so aufgeteilt, daß jeder Ort, in dem auch nur eine größere
Fabrik ist, ausgeschieden und mit anderen „Industrialorten" zusammen zu
einem Wahlkreis vereinigt wurde; Städte, die ohne Industrie sind, wählten
dagegen mit kleinen Dörfern zusammen. So erzielte man sechs Industrie-
kreise, die die Christlichsozialen den Sozialdemokraten überlassen wollten,
während sie die anderen 21 Wahlkreise arbeiterrein gemacht hatten. So
wurden in ganz Österreich die Wahlkreise direkt gegen die Sozialdemo-
kraten gemacht; es wurde aber dadurch wieder erzielt, daß eine beträcht-
liche Zahl von sicheren sozialdemokratischen Wahlkreisen zustande kam.
Die Wahlkreise wurden meist national geteilt. Das war in Böhmen
nicht schwer, wo Deutsche und Tschechen in der Regel meist gesondert
wohnen. Aber in Mähren und Ostgalizien wohnen zwei Nationen —
dort Deutsche und Tschechen, hier Polen und Ruthenen durcheinander
gemischt. Dieser Schwierigkeit begegnete man in Mähren durch den
„nationalen Kataster" — ganz Mähren wurde in 21 tschechische und
dann nochmals in 17 deutsche Wahlkreise zerlegt, wobei jeder Wähler nur
in dem Wahlkreis wählte, zu dessen Nationalität er gehörte — in Galizien
dadurch, daß man je zwei ländliche Bezirke zusammenlegte und für gewählt
nicht nur den Majoritätskandidaten erklärte, sondern auch den Minori-
tätskandidaten, wenn er mindestens ein Drittel aller abgegebenen
Stimmen erhalten hat.
Das sind die Prinzipien des Wahlrechtes. Mit diesen Wahlgesetzen hatte
aber die Regierung noch drei andere Gesetze verbunden, die den Einfluß
der Regierung im neuen Parlament stärken sollten. Das Immunitäts-
gesetz setzte fest, daß die Verjährung der strafbaren Handlungen während
der Dauer der Tagung nicht mehr, wie vorher, weiter laufen, sondern in
dieser Zeit ruhen sollte. Dadurch sollte ermöglicht werden, daß die Abge-
ordneten für politische Delikte auch dann bestraft werden könnten, wenn
das Haus sie nicht auslieferte. Dann sollte die Geschäftsordnung des
Hauses dahin abgeändert werden, daß drei Tage in der Woche für Regie-
rungsvorlagen vorbehalten blieben und daß Abgeordnete für grobe
Ordnungswidrigkeiten bis zu acht Tagen ausgeschlossen werden könnten.
Das Gesetz zum Schutze der Wahlfreihcit bestrafte unter anderem
die Sprengung von Versammlungen während der Wahlbewegung; es war
ein Kautschukgesetz, das über Verlangen der Wiener Christlichsozialen ge-
schaffen wurde. (Das Immunitätsgesetz und die Geschäftsordnung mußte die
Regierung dann aber fallen lassen.)
Die Wahlreform des Herrn v. Gautsch war ein wirklicher Erfolg der
Arbeiterschaft, wenn dieser auch sehr schwere Opfer auferlegt wurden,
wozu in erster Linie das Erfordernis der e i n j ä h r i g e n S e ß h a f t i g k e i t
298 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
irgendwie aussichtsvoll sein können. Meine Herren! Wir begrüben
die Regierungsvorlage als eine Vorlage, die im großen die Er-
füllung des Rechtes des Volkes bringt, obwohl wir in der Wahl-
reform des Ministeriums durchaus nicht ein ideales, unserem Pro-
gramm entsprechendes Werk sehen. Die Forderungen des Volkes
werden damit lange nicht erfüllt und wir können durchaus nicht
und die vielfach ungünstige' Zusammensetzung der Wahl-
kreise gehörten. Ln einer Versammlung der sozialdemokratischen Ver-
trauensmänner, die . am Tage der Einbringung stattfand, wurde die
Vorlage akzeptiert, zugleich aber die Fraktion beauftragt, im Hause
und im Wahlreformausschuß für die Beseitigung der vielen arbeiterfeind-
lichen Bestimmungen mit aller Kraft zu arbeiten. Immerhin kostete es noch
manche Anstrengung, die Vorlage zwischen dem offenen Widerstand und
den Ränken der Wahlreformfeinde hindurch zu einem glücklichen Ende zu
führen. Daß auf Grund der alten Wahlordnung nicht mehr gewählt werden
würde, darüber bestand kein Zweifel mehr.
Am 7. März begann die erste Lesung. Als erster Redner sprach der
Minister des Innern Graf Bylandt-Rheidt, nach ihm Dr. Karl v. G r a b-
m a y r, ein Tiroler Advokat und Großgrundbesitzer. Er kam mit nationalen
Besorgnissen. Er verlangte „als Deutscher und als Freisinniger" ein ab-
gestuftes Wahlrecht, wobei er sich allerdings sorgfältig hütete, zu
sagen, wie er sich das vorstelle. Auf die Zwischenrufe der sozialdemo-
kratischen Abgeordneten erwiderte er, darüber solle sich die Regierung den
Kopf zerbrechen. Seine Verbeugung vor dem allgemeinen Wahlrecht machte
er, indem er erklärte, dieses werde nicht mehr von der Tagesordnung ver-
schwinden und mit dem Rufe schloß: „Die Gautsch'sche Wahlreform ist tot!
Es lebe die Wahlreform!" In der dritten Sitzung kam Adler zu Wort. Un-
mittelbar vor ihm hatte Graf Erich Sylva-Tarouca, ein feudaler Groß-
grundbesitzer aus Böhmen, gegen die Wahlreform gesprochen. Nach ihm
sprach Graf Adalbert Sternberg, der aus den Nachtlokalen bekannte
Graf, dessen Krawalle nicht ernst genommen wurden.
Zum näheren Verständnis namentlich der Bemerkungen Adlers über die
nationale Aufteilung der Mandate sei außer den allgemeinen bisherigen Be-
merkungen folgendes angeführt:
Seitdem am 20. Dezember die Pforten des Abgeordnetenhauses ge-
schlossen wurden, waren die Hallen des Ministeriums für die Herren Ab-
geordneten weit geöffnet. Es hatte sich dort ein förmlicher Markt ge-
bildet, wo um Mandate und Wahlkreise geschachert wurde. Die bürgerlichen
Parteien hatten sich mit der Tatsache, daß das allgemeine Wahlrecht
kommen müsse, bereits abgefunden und suchten nur noch durch eine künst-
liche Zusammenstellung der Wahlkreise eine möglichst große Zahl von Man-
daten für sich herauszuschlagen.
Dabei handelte es sich naturgemäß sehr oft um persönliche und
parteipolitische Interessen der bürgerlichen Abgeordneten — jeder
schaute, wie er für sich und für seine Partei „gute" Wahlkreise erzielte — ,
aber immerhin ließ sich bei den komplizierten nationalen Verhältnissen
Österreichs diesen Verhandlungen im Ministerium eine gewisse Berechtigung
nicht absprechen. Die Nationen wohnten nicht gesondert nebeneinander,
sondern vielfach durcheinander gemischt, so daß man nur schwer eine natio-
nale Majorisierung vermeiden konnte. Dann waren die Nationen in ihrer
sozialen Struktur und in ihrer kulturellen. Entwicklung so verschieden
— man vergleiche nur die Deutschen etwa mit den Ruthenen, die fast durch-
v/eg Kleinbauern waren, vielfach Analphabeten und damals noch nicht ein-
Die Schicksalsstunde Österreichs. 299
Sagen, hier ist voll gewährt, was das Recht des Volkes ist und das
Programm unserer Partei.
Wir Verlangen das gleiche Wahlrecht für jeden Staatsbürger
ohne Unterschied des Geschlechts vom zwanzigsten Lebensjahr an.
Sie werden mir einwenden, wir werden erst mit dem 24. Lebensjahr
mündig. Aber, meine Herren, die arbeitende Masse des Volkes, die
mal über eine Mittelschule verfügten — -, daß aueh da mit großer Vorsieht
vorgegangen werden mußte und schließlich, was das wichtigste war, waren
die Nationen nach der bisherigen Wahlordnung so ungleich bedacht, daß das
Ministerium, wenn es die parlamentarische Erledigimg der Wahlreform
nicht gefährden wollte, wesentliche Verschiebungen in der nationalen Struk-
tur des Parlaments unterlassen mußte. Folgende Tabelle, die das Verhältnis
der nationalen Gruppierung in der Bevölkerung zu der im Kurienparlament
aufzeigt, mag das illustrieren:
Bevölkerungszahl Zahl der Abgeordneten
absolut in Prozent absolut in Prozent
Deutsche ..... 9,170.939 3578 205 48*23
Tschechen .... 5,955.397 23'24 88 2070
Polen 4,259.152 16'62 73 1718
Ruthenen 3,375.576 1317 9 2*12
Slowenen 1,192.780 471 15 3'53
Italiener 727.102 2'84 18 4"23
Kroaten 711.380 273 12 2'83
Rumänen 230.903 0'88 5 1*18
Daraus ergibt sich, daß durch das bestehende Wahlrecht die Deutschen
wesentlich bevorzugt waren: sie bildeten in der Bevölkerung nur etwas
mehr als ein Drittel, im Parlament aber nahezu die Hälfte. Diese Bevor-
zugung der Deutschen wurde aber dadurch wettgemacht, daß bei den
Deutschen die soziale Differenzierung am weitesten vorgeschritten
war, was wieder eine starke Zersplitterung in Parteien zur Folge hatte. Es
gab im Parlament folgende deutsche Parteien: Deutsche Fortschrittspartei,
Deutsche Volkspartei, Alldeutsche, Deutsche Bauernpartei, Zentrumsklub
(Klerikale), Verfassungstreue Großgrundbesitzer, Christlichsoziale und
Sozialdemokraten, also acht Parteien von den insgesamt 19 Parteien des
Parlaments, wozu noch kommt, daß 25 Deutsche außerhalb jedes Parteien-
verbandes als sogenannte „Wilde" standen. Die anderen Nationen waren
meist ohne Unterschied in einem Klub vereinigt. So umfaßte der Polenklub
sämtliche polnische Abgeordnete mit Ausnahme zweier „Wilder" und eines
Sozialdemokraten. Das hatte die Bedeutung, daß bei den Deutschen nur dort,
wo es sich wirklich um große nationale Interessen handelte, die ganze Kraft
der parlamentarischen Vertretung in das Gewicht fiel, was bei den land-
läufigen nationalen Streitigkeiten, Errichtung von Schulen, Ernennung von
Beamten und dergleichen, nicht der Fall war.
Wäre nun das allgemeine, gleiche Wahlrecht so eingeführt worden, daß
Österreich in lauter gleiche Wahlkreise geteilt würde, so wären nicht nur
zahlreiche deutsche Minoritäten im tschechischen Sprachgebiet vollständig
nullifiziert worden, sondern es wäre auch im deutschen Gebiet das deutsche
Bürgertum um den größten Teil seiner parlamentarischen Vertretung ge-
bracht worden. Die Deutschen hätten nicht nur statt 205 Abgeordnete deren
bloß 153 erlangt, also 52 Mandate verloren, die nationalen Parteien unter
den Deutschen hätten auch viel mehr als die der anderen Nationen an die
Sozialdemokraten abgeben müssen. Wenn man noch berücksichtigt, daß
bloß bei den Deutschen die Klerikalen eine eigene Partei bildeten, bei allen
300 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
wird früher mündig und sie stirbt früher. (Zustimmung.) Für sie
drängt sich das Leben zusammen in eine ganz kurze Zeit, für sie
drängt sich Reife und Absterben in die Zeit zwischen dem Jünglings-
alter mit 17 und 18 Jahren und dem 35. Jahre; mit 35 Jahren sind
die Proletarier alte Menschen und mit 40 Jahren ist die Mehrzahl
von ihnen gestorben. (Zustimmung.) Mit 35 Jahren ist der Mann für
anderen Nationen ■ — zum größten Teil selbst bei den Tschechen — den
nationalen Verbänden angehörten, wären die nationalen Deutschen im
Parlament einfach zur Bedeutungslosigkeit verurteilt worden. Das bedeutete,
daß die deutschbürgerlichen Parteien der Wahlreform verzweifelten
Widerstand entgegenbringen und sie im Verein mit den anderen
Wahlrechtsfeinden unmöglich machen mußten.
Das haben nun auch die vernünftigeren Tschechen eingesehen, die es
mit einer Wahlreform ernst meinten und so hatte einer der Tschechenführer,
der Abgeordnete Dr. Kramarsch, auf Grund eines Vorschlages, den
A. Friedrich (Pseudonym für den Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung"
Friedrich A u s t e r 1 i t z, der die eigentliche taktische Kraft im Wahlrechts-
kampf war) in Pernerstorfers „Deutschen Worten" gemacht hatte, den
Deutschen gleich in der ersten Wahlrechtsdebatte im Parlament ein Kom-
promiß angeboten. Es sollte bei der Einteilung der Wahlkreise
nicht nur die Bevölkerungszahl, sondern auch die Steuerleistung berück-
sichtigt werden. Das hatte die Bedeutung, daß die Tschechen — nach den
Deutschen die steuerkräftigste Nation Österreichs — die volle Zahl ihrer
Mandate erhielten, daß aber die Mandatszahl der Deutschen auf Kosten der
anderen Nationen — oder richtiger gesagt, auf Kosten keiner einzigen
Nation — erhöht werden konnte. Denn verkürzt werden sollten dadurch
nur die den Osten Österreichs, Galizien, bewohnenden Nationen werden, die
unter dem Drucke der polnischen Schlachta (des Adels) seufzten. In diesem
unglücklichen Lande hatte der polnische Adel die Herrschaft an sich ge-
rissen, so daß nicht nur der überwiegende Teil der polnischen Mandate in
seinen Händen war, sondern auch der größte Teil der ruthenischen Mandate.
Obzwar die Ruthenen nahezu die Hälfte der galizischen Be-
völkerung bildeten, verfügten sie in diesem Lande nur über 6 von den
78 Mandaten (außerdem hatten sie in der Bukowina 3 Mandate), die übrigen
Mandate wurden ihnen jedesmal durch schamlose Wahlerpres-
sung geraubt. Das arme ruthenische Volk war, wie heute, wehrlos gegen
die polnische Schlachta. Auch bei gleichem Wahlrecht hätten die Ruthenen
nicht die ihnen gebührenden 55 Mandate erhalten, sondern es wäre ihnen
der größte Teil von der polnischen Schlachta gestohlen worden, wodurch
also die Polen mehr Mandate erhalten hätten, als ihrer Bevölkerungszahl
entsprach. So wurde das Angebot des Abgeordneten Kramarsch möglich
und von allen polnischen Volksparteien akzeptiert, trotz dem Widerstand
der Schlachta.
Nun wurde im Ministerium über die Zahl der Mandate jeder Nation ver-
handelt und über die damit in Zusammenhang stehende Einteilung der Wahl-
kreise. Um die Zahl der Deutschen nicht vermindern zu müssen, erhöhte
die Regierung die Zahl der Mandate von 425 zuerst auf etwa 455, um mit
diesen 30 neuen Mandaten die Tschechen und die Ruthenen zu befriedigen.
Natürlich ging das nicht so glatt, da die Deutschen wieder über eine Ge-
fährdung ihrer nationalen Interessen schrien. Aber wenn Herr v. Gautsch
noch irgendwelchem deutschen Führer durch eine kunstvolle Wahlgeometrie
sein Mandat sicherte, mußte auch dieser Widerstand allmählich nachlassen.
Die Schicksalsstünde Österreichs. -Ml
Sic zu alt, da wird er für Sic als Unternehmer unbrauchbar. Wenn
der Mann mit ,}5 Jahren anfängt, unbrauchbar ZU werden, und wenn
er politisch erst brauchbar wird mit 24 Jahren, obwohl er für die
Fabrik sowohl wie vor allem für das Militär schon früher brauchbar
geworden Ist, dann werden Sie zugeben, dali die Zeit sehr kurz ist
und daß wir es bezeichnen können als eine Verkürzung des Rechtes,
wenn man den vier Altersklassen des Proletariats — jede ungefähr
eine Viertelmillion Menschen betragend — die Mitbestimmung über
die Politik entzogen hat. Die Besitzenden befinden sich mit 20 Jahren
noch im Stadium der Studien, der Arbeiter aber ist mit 20 Jahren
reif, er kennt das Leben in seiner Tiefe so, wie die Mitglieder der
besitzenden Klassen es oft auch später nie kennenlernen. Trotzdem
— ich möchte es nur streifen —gibt es auch in diesem Hause Herren,
denen die 24 Jahre noch zu wenig sind, und ein Mitglied der christ-
lichsozialen Partei, die sich jetzt mit anerkennenswertem Eifer für
die Vorlage einsetzt, Herr Dr. P a 1 1 a i, hat vor ganz kurzer Zeit
in einer Versammlung in Wien erklärt, sein Ideal wäre der Beginn
des Wahlrechtes mit dem 30. Lebensjahr.
Ich will darüber kein Wort mehr verlieren und ich wende mich
einem zweiten Mangel zu. Wir beantragen hier nicht und wir
werden darauf verzichten, es zu beantragen, daß den Frauen
das Wahlrecht gegeben werde. Wir werden darauf ver-
zichten, weil wir wissen, daß es in diesem Parlament aussichtslos
ist; weil wir wissen, daß wir diesen Kampf um das Wahlrecht der
Männer nur erschweren würden, wenn wir heute diese Forderung
aufstellten. Aber Sie werden mir zugeben, meine Herren, daß, wenn
wir auch heute darüber hinweggehen müssen, das nicht ein Zeichen
der politischen Einsicht dieses Parlaments, sondern ein Zeichen der
Rückständigkeit dieses Landes ist. In anderen Ländern ist die Frage
des Frauenwahlrechtes längst spruchreif, in manchen ist sie gelöst
worden und in vielen Ländern wird sie demnächst gelöst werden.
Aber selbstverständlich ist für uns, daß das allgemeine Wahl-
recht so lange nicht erreicht ist, solange der Hälfte der Bürger
— und die Frauen sind Bürger, die ebenso Lasten tragen und
schwerere Lasten als die Männer — nicht ihr Recht gegeben ist.
Wenn ich aber bis jetzt nur Mängel besprochen habe, die
— ich möchte sagen — mit der zurückgebliebenen Kultur unseres
Landes zusammenhängen, so komme ich nun zu einem Mangel
Von dieser Seite drohte also der Wahlreform keine ernste Gefahr; wohl
aber von anderer Seite. Die tückischesten Arbeiterfeinde, die Christlich-
sozialen, verlangten nämlich, daß das Wahlrecht von einer zwei-
jährigen Seßhaftigkeit im Wahlort abhängig gemacht würde, das
heißt daß Zehntausende von Arbeitern, namentlich in Wien, das Wahlrecht
verloren hätten; und diese Forderung wurde von allen offenen und geheimen
Wahlreformfeinden unterstützt. Diese zweijährige Seßhaftigkeit wäre, das
hat Dr. Adler im Parlament offen ausgesprochen, für die Arbeiter-
schaft ein Kriegsfall gewesen, das heißt sie würde die sofortige
Proklamierung des Generalstreiks zur Folge grehabt haben. Das wußte auch
die lVegieruri£ und deshalb setzte sie die Seßhaftigkeit wenigstens auf ein
Jahr herab.
302 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
• * ■ — ■ -^
dieser Vorlage, der ein schwerer ist. weil er auch diesem Lande
nicht mehr angemessen ist.
Nach der Vorlage soll gleichgestellt werden den Frauen, gleich-
gestellt werden den Kranken, gleichgestellt werden den Verbrechern
jeder Mann, der nicht ein volles Jahr in der Gemeinde seines Wohn-
sitzes gewohnt hat. Die Seßhaftigkeit, die als Bedingung des Wahl-
rechtes fixiert wird, setzt tatsächlich diese Menschen, die durch
ihren Beruf, durch die ökonomischen Verhältnisse gezwungen sind,
ihren Wohnort zu verlassen, die durch die wirtschaftliche Maschine
gezwungen sind, außerhalb ihres Wohnortes Arbeit zu suchen, den
Verbrechern und den Wahnsinnigen gleich, die Arbeiter werden
politisch tot gemacht, es wird ihnen das Wahlrecht entzogen.
Und was hören wir als Vorwand dafür? „Nationale Interessen"
wird gesagt, und Herr Dr. Weiskirchner, der gestern hier
für das Wahlrecht überhaupt in einer einwandfreien Rede ein-
getreten ist, hat in diesem Punkte durchaus nichts von jener — ge-
statten Sie das Wort — beschränkten Engherzigkeit und Unauf-
richtigkeit nachgelassen, auf der seine Partei in diesem Punkte seit
jeher steht.
Wir haben heute die sechsmonatliche Seßhaftigkeit, aber
Deutschland und die meisten anderen Länder kennen diese Be-
dingung nicht. Die juristische Begründung, daß ein Mann, wenn er
in seinen Interessen mit der Gemeinde nicht verknüpft ist, sein
politisches Recht verlieren soll, paßt vielleicht auf das
Gemeindewahlrecht, aber für das politische Wahlrecht ist sie ein-
fach absurd. Es wird uns gesagt: Wir lassen ja mit uns reden, wir
lassen mit uns für die Heimatberechtigten reden. Gerade der Herr
Dr. Weiskirchner, der doch diese Dinge sehr genau kennt,
weiß sehr wohl, wie wenig damit gesagt ist. Das Ziffernverhältnis
stellt sich ungefähr folgendermaßen: Durch die einjährige Seßhaftig-
keit werden um ihr Wahlrecht im Durchschnitt in Österreich — und
der Wiener Durchschnitt weicht davon nur etwas, aber nicht allzu-
viel ab — zwischen 5 und 6 Prozent gebracht; sechs Personen von
hundert wird das Wahlrecht unter dem Vorwand genommen, daß
sie nicht ein Jahr am Orte gelebt haben. Diese 6 Prozent verteilen
sich aber ganz eigentümlich. Schlagen Sie die statistischen Tabellen
nach — ich werde Sie hier nicht mit Ziffern behelligen, aber Sie
können es mir glauben — , diese 6 Prozent erhöhen sich für die
Altersstufe von 24 bis 30 Jahren bis über 10 Prozent. Was bedeutet
das? Das bedeutet, daß die Seßhaftigkeit wieder auf der Arbeiter-
klasse, und zwar nicht nur aus Gründen ihrer ökonomischen Lage,
sondern auch aus dem Grunde der mit der ökonomischen Lage zu-
sammenhängenden Altersverteilung am meisten lastet. Und wenn
wir hören, daß die christlichsoziale Partei geneigt wäre, einerseits
Konzessionen zu machen, andererseits aber noch immer unzufrieden
ist; /wenn wir hören und wenn der Herr Dr. Weiskirchner sich
darauf berufen hat, daß die Versammlung im Rathause allerdings
eine fünfjährige Seßhaftigkeit, aber nur für diejenigen, die nicht in
ihrem Heimatsort wohnen, verlangt hat, so wissen die Herren ganz
genau, was das für Wien, was das für Niederösterreich bedeutet.
Die Schicks. iissiundc Österreichs; 803
Sic wissen ja, daß VOH den rund anderthalb Millionen .Inländern
diejenigen, die in Wien wohnen und in Wien ■heimatberechtigt sind,
durch die neuen Aufnahmen vielleicht annähernd 700.000 betrafen;
früher waren es 606.000. Wie wenige davotl aber Ausländer und
Premde sind, das geht daraus hervor, dal.» in Niederösterreich selbst
weitere 200.000 heimatberechtigt sind, die in Wien wohnen und
denen das Wahlrecht, wenn sie nicht gerade ein volles Jahr in
Wien waren, sondern dazwischen etwa in Mödling oder Liesing
gearbeitet haben, entzogen, wird unter dem Vorwand, daß sie mit
den Interessen des Landes zu wenig vertraut sind. Nein, meine
Herren, aus einer Verschärfung dieses Wahlrechtsraubes, wie die
„Arbeiter-Zeitung" sagt und wie Herr Dr. Weiskirchner so gütig
war, zu bemerken, und wie es die Wahrheit ist (Zustimmung),
aus einer Vermehrung dieses Wahlrechtsraubes wird nichts, und
wir werden ernst kämpfen, um den Räubern ein Stück ihres Raubes
wieder abnehmen zu können. (Lebhafter Beifall.) Hier haben wir
es doch wesentlich mit unseren feindlichen Nachbarn zu tun; keine
andere Partei klammert sich so an die Bedingung der Seßhaftigkeit,
und ich muß sagen, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, obwohl
ich nicht Ihre Politik zu machen habe und dessen froh bin (Heiter-
keit), es scheint mir doch in den Rahmen Ihrer in dieser Frage doch
vernünftigen Politik, für das Wahlrecht einzutreten, nicht ganz zu
passen, daß Sie gar so hungrig sind. Ich zweifle an Ihrer Aufrichtig-
keit in der Frage der Wahlreform nicht einen Moment. Allein Sie
profitieren bei dieser Wahlreform so viel, daß es Ihnen nicht darauf
ankommen soll, daß in einem oder dem anderen Bezirk, wo wirklich
das Resultat von ein paar Stimmen abhängen könnte, wirklich durch
eine so odiose, Sie selbst und Ihre Volkskreise auch treffende Maß-
regel — Sie werden das schon spüren — den guten Eindruck ver-
scherzen, den sonst Ihre allgemeine Haltung macht. Ich halte es
nicht für klug, von Recht will ich zu Ihnen in dieser Sache nicht
sprechen. Wir kommen darauf noch zurück, das ist das Philippi,
bei dem wir beide uns finden werden, denn das dürfen Sie sich nicht
einbilden, daß es sich bei der Arbeiterschaft in erster Linie um
Mandate handelt, das sehen Sie aus der ganzen Behandlung der
Frage; für uns handelt es sich um das Recht der Arbeiter, und einem
Bruchteil der Arbeiter unter ganz unwahren, selbst von Ihnen nicht
geglaubten Vorwänden dieses Recht nehmen zu lassen, dazu
werden wir uns nicht hergeben.
Die Vorlagen haben noch allerhand Mängel und der größte
Mangel in meinen Augen ist, daß die Wahlreform von einer Reihe
von. Gesetzentwürfen begleitet ist, die mit der Vorlage nicht zu-
sammenhängen, und darunter einige, die man in diesem Zusammen-
hang nicht hätte einbringen dürfen. Es wurde ein Gesetz zum
Schutze der Wahlfreiheit eingebracht. Niemand braucht
die Wahlfreiheit mehr als die Arbeiterschaft, niemand fürchtet mehr
ihre Verletzung und niemand wünscht mehr, daß sie gesichert sei.
Aber wenn man die Wahlfreiheit sichern will, dann muß man sie
nicht in einem eigenen Gesetz sichern, das ist nicht so wichtig,
sichern muß man sie beim Wahlverfahren. (Zustimmung.)
"■HW Der Sic« des gleichen Wahlrechts.
Und die Wahltechnik, welche die Vorlage der Regierung bringt,
hat eine Reihe von Mängeln, die ich jetzt in dieser Debatte nicht
aufzählen will, die aber sehr schwerer Natur sind. Sie schließt sich
an die alten Übelstände der Wahltechnik an und bringt einen neuen
Übelstand hinein, der tatsächlich die ganze Vorlage unannehmbar
machen würde, wenn er aufrecht bliebe, was ich allerdings für un-
möglich halte. Ich will nicht von Wählerlisten, von Reklamations-
frist, von Kommissionen und dergleichen sprechen; aber daß es ein
geheimes Skrutinium geben soll, daß nach der geschlossenen
Stimmenabgabe sich die Wahlkommission allein zusammensetzt, um
zu zählen, und die Wähler erst wieder hineinläßt, bis sie das Resul-
tat herausgerechnet hat, das kann es nicht geben. Ich gestehe offen,
•daß, so hoch ich den Einfluß der Christlichsozialen auf die Vorlage
einschätze, ich ihnen nicht zutraue, daß sie diesen Paragraphen
hineingefügt haben. Denn dazu sind sie doch zu erfahren, und
kennen uns zu gut, als daß sie nicht wüßten, daß eine solche Be-
stimmung von uns mit aller Kraft zurückgewiesen werden würde.
Hier glaube ich jene Hand zu sehen, deren Eingreifen der Minister-
präsident v. Gautsch lobend erwähnt hat, das ist die lange Hand
und die langen Finger des Statthalters von Galizien, der eine sehr
merkwürdige Sorte von Proportionalwahlsystem da hineingebracht
bat, und der, woran ich gar nicht zweifle, auch der Erfinder dieses
geheimen Skrutiniums ist, das so echt nach Galizien schmeckt wie
nur irgend etwas.
Sie haben auch eine Geschäftsordnung eingebracht, sie haben
ein eigenes Gesetz zur Einschränkung der Immunität eingebracht
und es gibt Herren und ganze Parteien in diesem Hause — ich
fürchte, auch die Regierung ist nicht frei von dieser Illusion — ,
die sich von diesen Dingen sehr viel versprechen. Sie überschätzen
das wirklich. Wir sind keine Freunde der Unordnung hier. Wir
Sozialdemokraten wünschen durchaus, daß ein Parlament, wenn
wir erst eines haben, selbstverständlich eine Geschäfts-
ordnung habe, die ihm die pünktliche, stramme, vernünftige und
expedite Erledigung der Geschäfte ermöglicht, und wo Sie solche
Änderungen vorschlagen werden — wir werden nicht die letzten
sein, die Vorschläge zu machen haben — , werden wir für solche
Vorschläge immer zu haben sein. Wir sind auch keine Freunde des
Spektakels hier. Aber die politische Leidenschaft ist es ja nicht, die
zu fürchten ist. Zu fürchten sind die Ausbrüche von Exzessen
-derFrivolität, zu fürchten noch mehr sind pathologische
Exzesse (Heiterkeit und Sehr gut!), die ja in anderen Gesell-
schaften, geschlossenen wie offenen, auch vorkommen. Aber aller-
dings so ohnmächtig ist gegen solche Exzesse keine Gesellschaft
wie dieses hohe Haus. Das hängt jedoch nicht zusammen mit der
schlechten Geschäftsordnung, sondern das ist ein Symptom des
allgemeinen Zustandes dieses Hauses, dieser Schwäche, dieser
elenden Schwäche, des Mangels an Selbstvertrauen in diesem
Hause, des labilen Gleichgewichtes dieses Hauses, das ein Wind-
stoß und wie erst ein lautes Wort oder eine Unart sofort stört.
Das Haus ist wehrlos, aber es wird nicht wehrhaft und es wird nicht
Die Schicksalsstunde Österreichs. 305
gesichert dadurch, daß Sic Paragraphen machen, sondern es wird
wehrhaft und seine Ordnung und die Möglichkeit, zu arbeiten, wird
gesichert dadurch, daß Sie aus dem Hause eine wirkliche Volks-
vertretung mit Selbstbewußtsein machen. (Beifall.) Die Obstruktion,
meine Herren, werden Sie durch keine Geschäftsordnung der Welt
umbringen. (Abgeordneter Malik: Sehr gut! Ausgezeichnet!
Heiterkeit.) Freuen Sie sich nicht zu sehr, Herr Malik! Ich meine,
daß Sie sich vielleicht zu früh freuen. Die Obstruktion unmöglich
machen wollen, ist eine reaktionäre Utopie, die Utopie von Leuten,
die in den Organismus des Hauses und in die Grundlagen des Be-
standes einer Volksvertretung nicht gehörig eingedrungen sind.
Aber die Überschätzung der Macht einer kleinen Zahl von Leuten,
jede beliebige Gesellschaft zu stören, das ist keine reaktionäre
Utopie, das ist vielmehr eine sehr jugendliche Utopie (Heiterkeit),
die Utopie von Leuten, die nur die Kraft der Lungen zu schätzen
wissen, die aber meinen, daß, weil sie hier in diesem Hause sich
aufspielen können, dies auch in einer Volksvertretung möglich sein
wird. Die Obstruktion als solche, wo sie notwendig ist, auszurotten,
ist überhaupt unmöglich. Wo die Obstruktion auftritt, ist sie das
Symptom einer schweren Krankheit, und das Symptom wegzu-
schaffen, ohne die Krankheit zu heilen, hat gar keinen Zweck. Wenn
Sie die Obstruktion mechanisch hindern wollen, so würden Sie
damit nur die Sprengung des Hauses bewirkt haben. Die
Lähmung des Hauses aber ist das kleinere Übel, weil sie vorbei-
geht; sie mit mechanischen Mitteln hindern zu wollen, ist aus-
geschlossen. Über alle diese Dinge wird zu reden sein, ebenso wie
über den Gesetzentwurf über die Wahlfreiheit und über die Immu-
nität. Das Immunitätsgesetz macht auf mich ein wenig den Ein-
druck einer — wie soll ich sagen — , einer impressionistischen Legis-
lation, einer so von Momenteindrücken abhängigen, die, weil sie
gerade unangenehm berührt ist. durch auch mir nicht sympathische,
und keinem Menschen, der Geschmack hat, angenehme Dinge,
glaubt, sofort mit einem Gesetz dreinschlagen zu sollen. Soweit die
Immunitätsbestimmungen geändert werden sollen, um gegenüber
der Immunität der Abgeordneten, die festzuhalten ist, die Vogel-
freiheit der privaten Ehre von Leuten außerhalb des Hauses zu
beseitigen, werden Sie uns an Ihrer Seite haben. Es haben unsere
Vertreter mehrfach diese Begrenzung der Immunität hier urgiert.
Wir sind nicht dafür, daß durch Vertagungen und Verschleppungen
der Mann, der hier beleidigt wurde, ohne jede Möglichkeit bleibt,
.seine Ehre zu schützen. Aber alles das überlassen Sie ruhig dem
Verfassungsausschuß. Denn darauf möchte ich in formeller Be-
ziehung allerdings aufmerksam machen: Wenn die Regierung diese
Vorlagen gemeinsam eingebracht hat, so soll das hoffentlich nicht
bedeuten, daß sie sämtlich dem Wahlreformausschuß, der zu wählen
sein wird, zugewiesen werden sollen. (Abgeordneter Schuhmeier:
Es ist auch nirgends gesagt!) Ja, es ist nirgends gesagt, aber es
scheint eine weit verbreitete, vielleicht nicht wohlüberlegte Absicht
zu sein. Wenn Sie die Wahlreform und unsere Diskussionen liier schon
damit erschweren, so wäre es ein schweres, vielleicht ein verhäng-
Adlcr, Briefe. X. Bd. 20
306 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
nisvolles Übel, wenn Sie auch noch den Wahlreformausschuß, der,
das wissen Sie alle, schwere Arbeit zu tun haben wird, damit be-
lasten wollten. Wir meinen, es wird darüber noch zu reden sein,
daß die Vorlage über die Immunität dem Verfassungsausschuß zu-
gewiesen werden soll, daß der Geschäftsordnungsausschuß in sein
Recht treten soll bei der betreffenden Vorlage und daß die Vorlage
über die Wahlfreiheit, wenn die Wahlreform in ihren technischen
Bestimmungen feststeht, in den Justizausschuß gehört.
Aber, meine Herren, trotz aller dieser Mängel — und ihre
Liste ist ja lange nicht erschöpft — erkläre ich Ihnen: Ja, die Sozial-
demokraten begrüßen diese Wahlreformvorlage so wie sie ist. Wir
unterscheiden uns da sehr von anderen Parteien, die auch über
Mängel klagen. Was die wahren Freunde und die weniger wahr-
haften Freunde der Wahlreform voneinander scheidet, ist etwa der
Gebrauch des kleinen Wortes „a b e r". Wir sagen: Die Wahlreform
erfüllt nicht alle unsere Wünsche, sie erfüllt lange nicht alles, was
man braucht, aber wir müssen sie haben und sie muß angenommen
werden. Jene Herren aber sagen: Wir wollen das allgemeine, gleiche
und direkte Wahlrecht, wir waren bekanntlich immer dafür — es
gibt keine Partei in diesem Hause, die nicht in irgend einem Moment
ein Mitglied gehabt hätte, das für das allgemeine, gleiche, direkte
und geheime Wahlrecht aufgetreten ist und seit einiger Zeit ist
es geradezu Mode geworden, sich für dieses „Prinzip" auszu-
sprechen — wir sind für das Prinzip, aber — für diese Wahl-
reform des Baron Gautsch können wir uns nicht erklären. Wir
wenden auch das „aber" an, aber wir stimmen zu mit dem vollen
Bewußtsein, daß wir die Notwendigkeiten nicht nur der Völker,
daß wir die Notwendigkeiten auch des Staates erfüllen.
Freilich, die Argumente, die da vorgebracht werden, sind sehr
mannigfaltig und nicht immer ganz miteinander übereinstimmend.
Auf der einen Seite haben Sie vorgestern den Herrn Dr. v. G r a b-
mayr gehört, der uns in einer sehr feinziselierten Rede aus-
einandergesetzt hat, er sei ein Mann der Freiheit, aber er sei kein
Mann der Demokratie. Er ist sehr entrüstet über jeden, der ihn des-
halb, weil er nicht für das gleiche Wahlrecht ist, etwa beschuldigen
würde, er sei kein Freisinniger, aber er bestreitet, daß die Freiheit
mit der Demokratie irgend etwas zu tun hat. Das ist — Herr
v. Grabmayr möge mir das entschuldigen — ein Rückfall recht
schlimmer Art; sagen wir es höflich: Herr v. Grabmayr, das ist
eine neue elegante Ausgabe eines alten politischen Gebildes, des
alten Liberalismus, für den die Freiheit allerdings nur ein Negativum
war. Nach der alten Schule — im Mill, Laboulaye und zahllosen
deutschen Büchern können Sie darüber lesen — ist die Freiheit
nichts Positives, sie ist nur ein Negatives, sie soll nur schützen,
sie heißt nur: Frei von Zwang, das ist jene Freiheit, die der öster-
reichische doktrinäre Liberalismus in unseren Staatsgrundgesetzen
verewigt hat, in jenen Staatsgrundgesetzen, wo die Freiheit als eine
Abstraktion niedergelegt ist, die absolut keine bildende, keine
schaffende, keine schützende Gewalt an sich hat. Frei sein hat
Die Schicksalsstunde österrei« hs.
nach alter liberaler Theorie keine andere Bedeutung als in sozialer
Beziehung die Freiheit, zu verhungern, in politischer Beziehung die
Gewährung von so viel Ree''t, als ich Recht bezahlen kann. Zu
welchen politischen Gestaltungen das führt, daß scheu Sie gerade
In Österreich sehr wohl. Die Liberalen sind in dieser Beziehung
Zwitter, zusammengesetzt ans zwei Tendenzen: einerseits aus der
rein doktrinären liberalen Idee, andererseits aus dein Herrschafts-
bedürfnis des Adels aller Nationen und des deutschen Bürgertums,
und das Ergebnis dieser beiden Strömungen ist die österreichische
Bürokratie, welche auf Grund der Staatsgrundgesetze, die die
schönsten Prinzipien enthalten, die ganze Bevölkerung geschurigelt
hat, solange sie es sich hat gefallen lassen. Jene Freiheit, die Herr
v. Grabmayr meint, hat für das Volk keinen Wert, die ist allerdings
bloß Luft, eine leere Abstraktion, die Freiheit aber, die die Völker
meinen, ist eine erfüllte, eine wirkende Freiheit, eine Freiheit, die
Leben in sich hat, nämlich das Selbstbestimmungsrecht des Volkes,
die Demokratie.
Sie werden Herrn v. Grabmayr natürlich in die Höhe seiner Er-
örterungen schwer folgen können; Sie werden schwer einem Radi-
kalismus in Worten folgen können, der „Freiheit" sagt und der
zugleich die Gleichheit des Rechtes damit in Widerspruch stellt;
wenn er aber Gleichheit will, dann eine Gleichheit bis — ich will
nicht sagen — zum Absurden, aber mindestens bis zum völlig Un-
möglichen. So radikal hat in diesem Hause und außerhalb desselben
niemand die Gleichheit des Wahlrechtes verlangt wie Herr v. Grab-
mayr und Herr Graf Dzieduszycki. Für die Herren Großgrund-
besitzer hat eine Gleichheit des Rechtes, die sich erfüllen läßt, über-
haupt keinen Wert (Heiterkeit und Beifall), während für uns die
Gleichheit des Rechtes und jede W^ahlreform vor allem eine Be-
dingung mit sich führen muß: sie muß verwirklicht werden können.
(Zustimmung. — Abgeordneter Dr. Binder*): Sie sind für die Un-
gleichheit!) Ja, ja, wir sind für die Ungleichheit! Und wenn Sie,
verehrtes Mitglied des Polenklubs, zusammen mit mir vor das Volk
hintreten und Sie werden für die Gleichheit sein, Sie und Herr
Graf Dzieduszycki und Herr v. Grabmayr sie wollen, und ich
werde für die Ungleichheit eintreten, wie wir Sozialdemokraten sie
wollen — mir ist nicht bange darum, daß das Volk uns aus-
einanderkennen wird. (Sehr gut!) Fürchten Sie nichts! Das Volk
besteht nicht aus dieser dummen Masse, wie Sie alle glauben.
Hat doch einer von Ihnen, Herr Graf Dzieduszycki, in einer
bewunderungswürdigen Rede gestern unter anderem auch aus-
einandergesetzt, daß ja das polnische und das ruthenische Volk,
vor allem der Bauer, gar kein gleiches Wahlrecht will. (Heiterkeit.)
Das hat er uns erzählt am Tage nach jener denkwürdigen Sitzung
in diesem Hause, in der ein Mitglied des Polenklubs, Herr v. Abra-
h a mowiez, gejammert hat: Line Katastrophe ist hereingebrochen
über Galizien! 800 Versammlungen hat man angemeldet, Bauern-
*) Fan polnischer Abgeordneter, der allerdings In das neue Parlament
nicht mehr gewählt wurde.
20*
308 Her Sieg des gleichen Wahlrechts.
Versammlungen, von denen er mit blutendem Herzen 300 verbieten
mußte, weil er keine Beamten gehabt hat, um seiner Idee vom
Versammlungsgesetz zu genügen. Kr hat keine bessere Idee davon.
Diese Leute, die da zu Tausenden zusammengekommen sind, die
man auseinandergejagt hat, die man auseinandergeknüppelt hat und
zuletzt auch mit Flintenschüssen behandelt hat*), die wehren sich
natürlich alle gegen diese Wahlreformvorlage, vor der sie Graf
Dzieduszycki schützen will, nicht wahr? Meine Herren! Sie kennen
das Volk nicht und das Volk kennt Sie nicht. Wenn Sie das Volk
kennen würden, dann würde es Ihnen nicht einfallen, solche Tor-
heiten über das Volk zu reden, wie Sie sie hier vorbringen. Und
wenn das Volk Sie kennen würde, dann würden Sie trotz aller Ihrer
Privilegien schon längst nicht mehr hier sitzen. Der Herr Graf
Dzieduszycki hat über die Regierungsvorlage eine ganze Reihe
von Beschwerden vorgebracht, die, glaube ich, so ziemlich ein voll-
ständiger Katalog von allen Beschwerden und allen Anklagen sind,
die man überhaupt gegen eine politische Maßregel vorbringen kann.
Er hat einen großen Eifer darauf verwendet, um ^u beweisen, daß
die Regierungsvorlage eine Demütigung für das polnische und das
ruthenische Volk ist. Und ich muß schon sagen, ich habe seine
Selbstlosigkeit um so mehr bewundert, weil doch jeder weiß, daß
die bei der Verteilung der Mandate nach der Regierungsvorlage
tatsächlich Geschädigten nicht die nächsten Freunde des Herrn
Grafen Dzieduszycki, sondern die ruthenischen Bauern sind. Graf
Dzieduszycki ist zum erstenmal, so viel ich weiß, in dieser wahr-
haft aufopfernden Weise für die ruthenische Bauernschaft und ihre
politischen Rechte eingetreten. (Heiterkeit.) Es zerreißt ihm, dem
Grafen Dzieduszycki, geradezu das Herz, zu sehen, daß sie nach-
stehen müssen den deutschen Bürgern, den deutschen Arbeitern
in der Intensität des Wahlrechtes. Ja, gewiß ist der Prozentsatz an
Mandaten für Galizien ein schlechterer, als der für andere Kron-
länder, gewiß, und ich werde ja darauf noch zurückkommen müssen;
aber für den heutigen Zustand im Vergleich mit dem bestehenden
Gesetz ist diese Vorlage für Galizien ein kolossaler Fortschritt.
(Sehr richtig!) Das weiß das polnische Volk, das weiß das ruthe-
nische Volk, und diese Erkenntnis der beiden Völker ist es, die den
Herrn Grafen Dzieduszycki und seine ganze Gesellschaft zittern
und beben macht vor dieser Wahlreform (Zustimmung), und des-
halb muß er sie zernichten.
Und was hat er uns da vorgebracht? Tragediante — comediante!
Was hat er uns hier erzählt? Alle Puppen hat er tanzen lassen; hilf,
was helfen kann. Vom nächsten Parlament hat er erzählt, das
Parlament wird ohnmächtig sein! Es ist der teuflische Gedanke des
Baron Gautsch, das Parlament für immerwährende Zeiten ohn-
mächtig zu machen, indem er es durch das gleiche Wahlrecht in
eine Lage bringt, daß es sich nicht mehr gegen die Regierung wird
*) Zwischen der Erklärung des Ministerpräsidenten am 23. Februar und
dem Beginn der ersten Lesung der Wahlreform mußte das Abgeordneten-
haus das Blutbad besprechen, das die polnische Schlachta unter den ruthe-
nischen Bauern in dem galizischen Dorfe Ladzkie angerichtet hatte.
! 'Ie Schicksalsstunde Österreichs.
rühren können! Der Absolutismus der österreichischen zentra-
[istischen Bürokratie soll aufgerichtet werden! Das erzählt der
Schlachzize den Tschechen. Auf der anderen Seite li;il er den
Deutschen gesagt, und es war mir, Ich muß es gestehen, ein rühren-
der Eindruck, als ich sah, wie der Qrai Stürgkh so beifällig traurig
dazu genickt hat, als der Schlachzize erzählte, daß der alte öster-
reichische Zentralismus, das alte Österreich zu (irabe getragen
werde! — und der Leidtragende war der naive Graf Stürgkh.
(Heiterkeit.) Meine Herren, Sie sprechen von politischer Reife. Ge-
statten Sie — icli spreche nicht persönlich, ich spreche nur poli-
tisch, aber dessen dürfen Sie sicher sein: Wenn Graf I )zieduszycki
nicht etwa zu diszipliniert erzogenen, politisch reifen Arbeitern.
Sozialdemokraten, nicht zu Bürgern, sondern zu den polnischen oder
ruthenischen Bauern gekommen wäre und hätte ihnen einreden
wollen, daß das ein Schaden für sie ist, so hätte man ihn aus-
gelacht: die sind politisch reif; Herr Graf Stürgkh läßt sich solche
Dinge vom Grafen Dzieduszycki noch einreden. Unreif ist er nicht:
ich fürchte, ich fürchte, der lange Genuß des Privilegs hat ihn zu
einer gewissen Überreife gebracht (lebhafte Heiterkeit), zu einer
Überreife, die vielleicht ebenso unfähig und noch unfähiger macht,
politische Dinge zu sehen und zu erkennen, als jene angebliche
Unreife, wo man noch etwas lernen kann.
Es scheint aber, hier gibt es ganze Klassen, ganze Schichten
der Abgeordneten, die leider nichts mehr lernen können. Allmächtig
und ohnmächtig ist das Haus, zum Absolutismus wird das gleiche
Stimmrecht führen, zum Absolutismus, zum Cäsarismus, aber zu-
gleich zur Anarchie! (Heiterkeit.) Er war nicht sehr höflich mit den
zukünftigen Abgeordneten dieses Hauses, er hat sie, die Erwählten
des allgemeinen Stimmrechtes, mit einem „Kasten von hungrigen
Ratten" verglichen! (Lebhafte Heiterkeit.) Wenn wir unsere Ver-
gleiche den erbgesessenen, angesehenen Vertretern politischer Bil-
dung entlehnen sollen, wenn wir uns auf jenes Gebiet ihrer An-
schauung begeben sollen, das uns damit vorgezeichnet ist, so
müssen wir ja wahrscheinlich in die Zoologie hinübergreifen (Heiter-
keit), und dann frage ich Sie, meine Herren: Wenn im zukünftigen
Hause Ratten sein werden, welche Sorte von Bestien vereinigt dann
dieses Haus? (Lebhafte Heiterkeit, Beifall und Händeklatschen.)
Welche Sorte von Bestien, frage ich, die übereinander
herfallen, um sich zu zerreißen, die unfähig sind, sich
auch nur den Zwang aufzuerlegen, den die vernünftige Diskussion
und vernünftige Menschen notwendig machen? Welche Sorten von
Bestien, frage ich, sind es, die hier in diesem Hause geherrscht
haben und bis heute herrschen? Von Bestien, die in ihrer Sattheit
und ihrer Übersättigung noch immer so gefräßig sind, daß sie die
Pforten dieses Hauses verteidigen mit Lügen, mit Verleumdungen,
mit Fabulieren, mit Gespensterseilerei, und wenn sie könnten, mit
Blut und Gewalt — in Galizien — , welche Sorte von Bestien ist
es. frage ich. die gewünscht hat, man hätte die Arbeiterschaft über-
fallen, man hätte gegen die Arbeiterschaft, als sie ihr Recht ver-
langt hat, überall Kanonen ausrücken lassen sollen; welche Sorte
310 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
von blutgierigen Bestien ist es — ich wiederhole das — , die
wünscht, daß man die Bewegung für das Wahlrecht lieber im Blut
ersticken soll, als daß man den Privilegien — ich füge hinzu — den
bestialischen Privilegien irgend einen Abbruch tun lasse?
Ich bin kein Mann der starken Worte . . . (Große Heiterkeit.)
Meine Herren! Ich vergönne Ihnen herzlich die kleine Erfrischung
durch den Ausbruch Ihrer Heiterkeit. Aber ich möchte denn doch
sagen: Ein Haus, das sich von hungrigen Ratten erzählen läßt, ohne
einen Widerspruch zu erheben, darf sich nicht wundern, wenn
darauf die gebührende Antwort folgt. Ich wiederhole, ich bin kein
Freund von starken Worten. Aber dem Grafen Dzieduszycki und
den Leuten seinesgleichen muß geantwortet werden und sie müssen
behandelt werden, wie sie es verdienen. (Beifall.) Und hiemit über-
lasse ich den Grafen Dzieduszycki weiterhin der autonomen natio-
nalen Gerichtsbarkeit meines Parteigenossen Üaszynski. (Leb-
hafte Heiterkeit.)
Die große Frage in der Wahlreform und die große Frage, die
natürlich alle Gegner der Wahlreform in erster Linie berührt hat,
ist die Frage des Verhältnisses zum Staate, die Frage des Verhält-
nisses zur Nation. Wir Sozialdemokraten stehen als Partei im
Mittelpunkt dieser Diskussion, ob wir wollen oder nicht. Ich ver-
mute, daß die Behauptungen, die wir von allen Seiten hier gehört
haben, stark übertrieben sind; daß die Behauptung stark
übertrieben ist, daß die Regierung ausschließlich der Wucht
der Volksbewegung für das gleiche Wahlrecht nachgegeben
habe, indem sie so vernünftig war, die Wahlvorlage einzu-
bringen. Ich leugne gar nicht, daß auch unsere Erfahrungen
mit den Ihren darin übereinstimmen, daß österreichische Regie-
rungen im allgemeinen nicht leicht etwas aus eigener Er-
kenntnis tun, sondern daß sie die vernünftigen Dinge nur machen,
wenn sie absolut dazu gezwungen werden — das gebe ich Ihnen
ohne weiteres zu. Es scheint, daß das so sehr die Meinung der
Gegner der Wahlreform ist, daß sie es einem österreichischen
Staatsmann überhaupt nicht zutrauen, daß er eine vernünftige Maß-
regel anders als aus Initiative der Sozialdemokraten machen könnte.
(Sehr gut!) Ich halte aber doch dafür, daß das allgemeine, gleiche
und direkte Wahlrecht auf der Tagesordnung steht, nicht allein,
weil die Regierung der Wucht der Volksbewegung wich und ihr
folgte, deren Träger zu sein die sozialdemokratische Arbeiterschaft
die Ehre und die Pflicht hatte; daß es nicht einzig die Furcht vor
den Massen ist, sondern daß die Verzweiflung an der heutigen Ein-
richtung Österreichs entscheidend war. Alle, wie Sie da sind, meine
Herren, alle die Gegner der Wahlreform bis zum Exzeß, werden
Sie Minister und versuchen Sie, Österreich weiter zu regieren!
Denken Sie sich einen Moment lang für die Geschicke Österreichs
verantwortlich! Wenn man von Ihnen erfahren will, was denn die
Regierung, wenn sie nicht den Sozialdemokraten „so furchtsam
nachgegeben" hätte, hätte tun sollen, was für eine Antwort wissen
Sie zu geben? Herr v. Grabmayr sagte, er wisse es genau, aber
er sagt es um keinen Preis. (Heiterkeit.) Er weiß es genau: ein
Die Schicksalsstunde Österreich 311
abgestuftes Wahlrecht. Wie abgestuft, das weiß er nicht. Oder hat
er vielleicht für die Deutschen jenes gleiche Wahlrecht im
Sacke mit den genau nach der Kopfzahl abgegrenzten Wahlkreisen,
dessen Schönheiten er uns in der Theorie so gepriesen hat? Glaubt
er, daß das leichter durchzusetzen sei? Oder glaubt Herr v. Grab-
mayr, daß überhaupt etwas durchzusetzen ist, nicht nur hier im
Hause, sondern überhaupt in Österreich, was die Rechte des Volkes
nicht erfüllt?
Herr v. ürabmayr meinte: O, die Sozialdemokraten sind, kluge
Leute — er hat uns das Kompliment gemacht — , sie sind sich ihrer
Verantwortung bewußt und würden nicht zum Äußersten gegriffen
haben; sie würden lieber weniger genommen haben als gar nichts.
Er hat wie der richtige — na, wie soll ich sagen? — Geschäftsmann
gemeint, der Baron Gautsch hätte nicht so viel bieten müssen
— wir finden, es ist wenig genug — , er hätte es billiger machen
können. Nobel ist das nicht gedacht und politisch ist es der reine
Widersinn, der auf der völligen Unkenntnis der Verhältnisse beruht.
Diese Wahlreform enthält das Minimum von dem, was möglich
ist, und nicht das Maximum. Die Konzessionen, die hier der natio-
nalen Ungleichheit gemacht werden wegen der Verschiedenheit der
nationalen Machtverhältnisse — und Sie, meine Herren Deutschen,
sollten das aus Ihrer eigenen Geschichte wissen — diese Kon-
zessionen sind das Maximum von dem, was heute noch zu machen
ist. Die Geschichte von dem gleichen Rechte in Österreich, meine
Herren, erinnert an die alte, alte Geschichte von den sibyllinischen
Büchern. Sie erinnern sich daran, wie die alte Sibylle mit den
Büchern zu dem König Numa Pompilius kommt und ihm diese
Bücher, in denen die Geschichte Roms festgelegt ist, zu einem be-
stimmten Preis anbietet. Sie sind ihm zu teuer, er schickt sie fort,
sie vernichtet die Hälfte, sie bringt ihm weniger und verlangt den
doppelten Preis; er schickt sie abermals fort und sie bringt ihm
nur mehr ein Viertel und der Preis hat sich vervierfacht. Würde
die Klugheit, würde die Einsicht, würde die Liebe zum Volke — und
nicht zuletzt zum deutschen Volke — , die diese Vorlage voraus-
setzt und zur Grundlage macht, würde die staatsmännische Weis-
heit, die das allgemeine Wahlrecht heute zur Notwendigkeit macht,
früher in Österreich maßgebend gewesen sein, vielleicht wären die
Deutschen billiger davongekommen. Auf jeden Fall hätten sie einen
ungeheuren Vorteil gehabt, auf jeden Fall hätte sich mit der Auf-
rechterhaltung der Privilegien nicht der Gedanke verknüpft, daß
es ein deutsches Privileg ist und hätte sich nicht mit dem Unrecht,
das da ist, die Bitterkeit gegen das deutsche Volk verknüpft.
Ich habe vor einigen Wochen hier an dieser Stelle — und man
hat mir das im deutschen Lager übelgenommen — davon ge-
sprochen, daß es ein Unrecht ist, daß man das deutsche Volk mit
dem Vorwurf belastet hat, der Bedrücker anderer Völker zu sein;
nicht im Interesse des deutschen Volkes, sondern im Interesse der
Dynastie. Man hat mir gesagt, ich sei ein schlechter Deutscher.
Meine Herren! Wir Sozialdemokraten aller Zungen hier, wir
nehmen für uns in Anspruch, so gut zu unserem Volke zu gehören
312 Der Siekr des gleichen Wahlrechts.
wie jeder von Ihnen. (Beifall.) Wie hier Daszynski zu Ihrem
Erstaunen erklärt hat: „Ich bin ein Pole" — das war uns nie
neu — , so erklären wir hier, wir sind Deutsche — und ich be-
haupte — bessere Deutsche als Sie. (Gelächter bei den Schöne-
rianern.) Lachen Sie nur, ich werde Ihnen das beweisen, was ich
sage. (Zwischenrufe und Gegenrufe.) Regen Sie sich doch über
Zwischenrufe nicht auf; den Herren machen sie Spaß und mich
genieren sie gar nicht. (Heiterkeit.)
Es wird so viel von der Sozialdemokratie in den letzten Tagen
hier gesprochen, daß es vielleicht nicht ganz tiberflüssig ist, wenn
Sie irgend etwas, wenn auch etwas recht Abruptes über die Partei
hören, über die Sie so viel sprechen und die Sie so wenig kennen.
Die Sozialdemokratie ist die Vertreterin des Klasseninteresses des
Proletariats. Dieses Klasseninteresse des Proletariats, meine
Herren, ist selbstverständlich nicht das einzige Interesse des Prole-
tariats. Das Proletariat hat neben seinem Klasseninteresse auch
andere Interessen. Jedes Proletariat gehört auch zu seinem Volke.
Das Klasseninteresse der Proletarier aller Nationen ist ein identi-
sches, so wie das Klasseninteresse der Reichen, der Kapitalisten
aller Nationen den Arbeitern gegenüber ein völlig identisches ist.
Wenn wir rufen: „Arbeiter aller Völker, vereinigt euch!" — den
Herren Kapitalisten braucht man es nicht zuzurufen; sie sind längst
vereinigt, wo es gilt, ihre Klasseninteressen zu wahren, wo es gilt,
ihre wirtschaftlichen Interessen, die Grundlage ihrer Herrschaft
gegenüber der Arbeiterklasse zu sichern.
Aber als Arbeiterklasse haben wir es zunächst mit dem Staate
zu tun. Es war mir recht interessant, als Graf Sylva-Tarouca
irgend einen Sozialdemokraten zitiert hat, der ihm gesagt hat, die
Sozialdemokraten hätten auch ein Interesse am Staate, worüber
er außerordentlich verwundert war. (Heiterkeit.) Ich will das auf-
greifen und will ihm sagen: Gewiß, wir haben ein Interesse am
Staate, ein sehr großes Interesse, denn der Staat spielt eine
doppelte Rolle. Der Staat, der Klassenstaat der heutigen kapi-
talistischen Gesellschaft, ist erstens eine Herrschaftsmaschine für
Sie, meine Herren, er ist die Maschine, durch die Sie die Aus-
beutung regeln, das Bestehen der Machtverhältnisse sichern, die
Ungestörtheit sichern, mit der Sie Ihr Ausbeutungsgeschäft als
Klasse besorgen. Aber, meine Herren, der Staat ist auch noch
etwas anderes, der Staat ist eine Entwicklungsbedingung für den
Kapitalismus überhaupt, der Staat ist unentbehrlich für die heutige
Entwicklung der modernen Gesellschaft und an der Entwick-
lung dieser modernen Gesellschaft, an der Entwicklung des
Kapitalismus, an der vollen Entfaltung der wirtschaftlichen und
politischen Kräfte, die heute in der Bevölkerung stecken, daran hat
die Arbeiterklasse ein allererstes Interesse. Wir können vom
Klassenstaat zum Volksstaat nicht kommen, wenn sich der Klassen-
staat nicht auslebt, nicht entfaltet, wenn diese großartige wirtschaft-
liche Entwicklung des Kapitalismus, wenn diese Weltwirtschaft,
dieser Welthandel, aller dieser Reichtum sich nicht fortgesetzt
hemmungslos entfalten kann. Der Kapitaiismus züchtet die Mil-
Die- Schicksalsstunde Österreichs.
Uonäre, der Kapitalismus züchtet die Herrschaft dieser Magnaten;
aber der Kapitalismus kann sich nicht entfallen — ich will das
klassische Wort auch hier zitieren , ohne daß er zugleich die
Proletarier züchtet, seine Totengräber. Wir haben alles Interesse
an seiner Entwicklung, somit am Staate.
Und wenn das Proletariat seine Zukunft einst in die Hand
nehmen soll, so braucht es da/u die Fähigkeit, die physische,
geistige und kulturelle Fälligkeit, und diese physische, geistige und
kulturelle Entwicklung ist verknüpft mit der Erhöhung der Lebens-
haltung des Proletariats. Die kann dem Kapitalismus, dem Klassen-
staat nur abgerungen werden in einer Zeit der wirtschaftlichen
Entwicklung, und darum wünschen wir diese wirtschaftliche Ent-
wicklung, auch darum brauchen wir den Staat. Darum sind wir so
unglücklich in diesem Österreich, weil wir in diesem österreichi-
schen Staate zwar alle Laster, zwar alle Lasten des Staates auf
uns haben, alles vom Staate haben, was uns bedrückt, was uns
beengt, hemmt, erstickt und unsere Entwicklung behindert, alle
Schäden und Nachteile des Staates, aber nicht einen einzigen seiner
Vorteile. Das ist der Unterschied zwischen diesem Staate und einem
wirklich modernen Staate. Das ist der Unterschied zwischen dem
Polizeistaat Österreich und dem Deutschland, dessen politische
Verhältnisse für uns wahrhaftig kein Gegenstand des Neides sind,
soweit die Arbeiter in Betracht kommen, der aber doch wenigstens
der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung ein notwendiges,
ein wirksames Instrument darbietet. Wir können, meine Herren,
es nicht aushalten ohne den Staat, ohne diese Entwicklung, wir
sind gehemmt und wir tragen es schwerer als Sie. Ja, meine Herren,
jeder, der aufsteht, jammert; mag der Qewerbsmann aufstehen,
mag der Bauer aufstehen, so jammert er. Und wenn die großen
Kapitäne der Industrie, die nicht selbst hieher kommen, sondern
uns allerdings sehr geschätzte Herren hieher schicken, welche ihre
Interessen hier vertreten, wohl nicht so laut, als es vielleicht
wünschenswert wäre, den Mund aufmachen, so jammern sie — nicht
wahr? — darüber, daß ihnen der Staat gar nichts bietet. Wir
schließen uns dem Jammer völlig an, wir halten es weniger aus
als Sie. Sie, die Besitzenden, können noch als Marodeure etwas
profitieren, und wenn auch die Profite gering sind, zu leben geben
sie Ihnen immer; für Sie ist das keine Frage auf Leben und Tod,
aber für die Arbeiter ist es eine Frage auf Leben und Tod, und
darum brauchen wir den Staat, denselben Staat, den wir ent-
wickeln, den wir zum Volksstaat umwandeln wollen, oder, wie Sie
sich gewöhnlich hier in der Polizeisprache ausdrücken, den wir
„untergraben" wollen.
Dem Staate geht es uns gegenüber ja ähnlich, und da kommt es
dazu, daß wir Sozialdemokraten eine „Regierungspartei" genannt
werden. Der Vorwurf wird uns von den Herren Großgrundbesitzern
gemacht. Ich weiß nicht, ist das etwa Neid (Heiterkeit) oder wollen
sie es uns verübeln wegen der Gewerbestörung. (Erneute Heiter-
keit.) Meine Herren! Sie können ganz unbesorgt sein, wir stützen
diese Regierung nur, so lange sie etwas Vernünftiges und Not-
314 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
wendiges tut, und das wird leider gar nicht lange dauern. (Lebhafte
Heiterkeit.) So lange die Regierung für das Recht der Massen ein-
zutreten, wahrscheinlich sehr wider ihren Willen, verurteilt ist, so
lauge haben w i r zu funktionieren. Wenn sie wieder darangeht,
der Masse Lasten aufzuerlegen: indirekte Steuern, Militärlasten,
Profite, kleine Trinkgelder für die einzelnen Schichten, die hier
vertreten sind, dann, meine Herren, treten Sie Ihr Amt als Regie-
rungspartei gewiß wieder an. (Lebhafte Heiterkeit.) Lassen Sie uns
also diese kurze Frist und nehmen Sie es der Regierung nicht übel,
daß sie sich unterdessen mit uns behilft. Wären Sie so gescheit,
eine vernünftige österreichische Politik zu machen, ich bin über-
zeugt, der Herr Baron Gautsch würde Herrn v. Grabmayr uns allen
beträchtlich vorziehen. (Heiterkeit.) Aber es ist nicht Zufall, daß dies
so ist. Die Regierung, auch eine österreichische Regierung, wenn
sie die Proletarier noch so fürchtet, wenn sie die Sozialdemokraten
noch so haßt, muß ihnen in manchen Momenten recht geben und
Rechnung tragen, weil die Sozialdemokratie, die proletarische
Partei, die Vernunft dieses Gemeinwesens repräsentiert. (Abge-
ordneter Graf Mensdorff lacht.) Gewiß, meine Herren, wir ver-
treten die Vernunft und Sie vertreten die hartnäckige, verstockte
Unvernunft. Durch Sie, meine Herren, durch Ihre Hartnäckigkeit
ist es gekommen, daß das, was wir heute zu lösen haben, erst jetzt
an uns herantritt, nachdem das Fehlen des gleichen Rechtes Öster-
reich an den Abgrund gebracht und alle Völker ruiniert hat (Zu-
stimmung); durch Sie, durch Ihren Eigensinn, durch Ihre Verstockt-
heit ist es gekommen, daß wir es nicht schon lange haben. (Leb-
hafte Zwischenrufe.)
Abgeordneter Graf Mensdorff*): Sie sind allein gescheit!
Abgeordneter Rieger: Er hat endlich die Sprache gefunden!
Abgeordneter Schuhmeier: Bis jetzt hat kein Mensch gewußt,
daß der auch reden kann.
Abgeordneter Resel: Ein Großgrundbesitzer als Zwischenrufer!
Abgeordneter Glöckner: Wir haben geglaubt, daß er gar nicht
reden kann!
Abgeordneter Rieger: Er ist jetzt von der Mundsperre geheilt.
Abgeordneter Eldersch: Gehen Sie zur Mama!
Abgeordneter Dr. Adler: Aber lassen Sie den Herrn Grafen
Mensdorff, er hat plötzlich eine politische Meinung, es ist ja über-
raschend, daß er sie hat; aber freuen wir uns, daß er sie endlich
entdeckt hat. (Heiterkeit.) Ich möchte wirklich im Namen sämtlicher
Herren Grafen, die hier sind, die Freunde der Wahlreform bitten
— wir haben so selten Gelegenheit, ihren Gefühlsäußerungen un-
mittelbar anzuwohnen — , daß sie ihnen keinen Zwang auferlegen
und sie ruhig Zwischenrufe machen lassen!
Abgeordneter Graf Sternberg: Sehr dankbar!
Abgeordneter Dr. Adler: Ich bitte, es ist gern geschehen!
Abgeordneter Resel: Das war ja der Sternberg! (Heiterkeit.)
*) Ein feudaler Großgrundbesitzer.
Die Schicksalsstunde Österreichs, 31 >
Abgeordneter Dr, Adler: Das habe ich dicht gewußt! Meine
Herren! Wenn das, was ieli bis jetzt über das Verhältnis zwischen
Sozialdemokratie und Staat gesagt habe, im großen und ganzen
die Stellung ist, die das Proletariat überall, in allen Ländern ein-
nimmt, so hat hier in Österreich die Sozialdemokratie ein «an/
besonderes Problem vor sich, ganz besondere Bedingungen, unter
denen sie ihr Werk vollenden muß. Und wenn es anderswo genügt,
das Ziel des V o 1 k s s t a a t e s aufzustellen, weil ein Staat und ein
Volk da ist, so haben wir in Österreich das Problem zu lösen und
ist uns das Ziel gestellt, nicht dem Volksstaat allein, sondern dem
Völkerstaat zum Durchbruch zu verhelfen. Wir sind uns
dieser Aufgabe bewußt, wie der Aufgabe, jedem einzelnen Volke
die nationale, kulturelle, ihm eigentümliche Entwicklung zu sichern,
dieser einzigen nationalen Aufgabe widmet sich die Sozialdemo-
kratie vollständig, die erkennt sie vollständig an. Wir können das
auch tun. Denn wenn ich früher gesagt habe, neben den gemein-
samen proletarischen Interessen steht das nationale Interesse des
Proletariats, wie auch für die anderen Klassen das Klasseninteresse
und daneben ihr nationales Interesse steht, so ist doch in dem
Wesen dieser Dinge zwischen der Arbeiterschaft und dem Bürger-
tum ein sehr großer Unterschied. Das Proletariat, das seinem
Klasseninteresse folgt, kann überall zugleich das nationale Interesse
wahren und voll wahren, weil nirgends das Klasseninteresse mit
dem nationalen Interesse des Proletariats in Widerspruch steht.
(Zustimmung.) Das Proletariat anerkennt das nationale Interesse,
aber es anerkennt kein nationales Herrschaftsinteresse*).
Die bürgerlichen Parteien sind nicht in dieser angenehmen Lage.
Für die bürgerlichen Parteien steht ihr nationales Interesse im
Widerspruch zu ihrem Klasseninteresse. Sie wissen das sehr gut,
und ich brauchte Sie nur daran zu erinnern, daß die Einwanderung
der Slawen in deutsche Gebiete überall ein wesentlich ökonomischer
Prozeß ist, ein Prozeß, der sich entwickelt zusammen mit dem
Kapitalismus, im Interesse der deutschen Kapitalisten. Die deutschen
Kapitalisten sind gewiß Deutsche; sie haben ein nationales Inter-
esse, aber sie können diese Einwanderung der Nationsfremden
nicht hindern. Sie müssen sie im Gegenteil fördern; sie haben den
Profit davon, sie werden reich davon, und ihr Interesse als Unter-
nehmerklasse widerspricht aufs äußerste ihrem Interesse als Nation
(Bravo!), und wo nationales Interesse und Klasseninteresse der
deutschen Unternehmer in Konflikt kommen, dort siegt immer das
Profitinteresse der Unternehmerschaft.
Ein solcher Konflikt besteht für uns nicht. Gewiß, auch wir sind
nicht frei von den Schwierigkeiten, die das Zusammenleben ver-
schiedener Nationen nebeneinander eben mit sich bringt: Ich bin
weit davon entfernt, Ihnen hier irgendein Gemälde vorzumalen,
das Sie mir ja nicht glauben werden. Nein, wir haben auch natio-
nale Schwierigkeiten. Der Unterschied zwischen uns und Ihnen
*) Siehe aueh Bd. VIII, Seite 137 (Adlers Artikel über die Nationali-
tätenfrage und den Brünner Parteita« vom 19. September 1S99).
316 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
aber ist der, daß das Proletariat und die Sozialdemokratie diese
Schwierigkeiten überwinden, während Sie als Klasse daran zu-
grunde sehen, während Sie hier unfähig geworden sind und hier in
diesem Hause Ihre Unfähigkeit gezeigt haben, den Staat noch zu
lenken, eben weil Sie diesen nationalen Schwierigkeiten nicht ge-
wachsen sind. Unser nationales Interesse und unser Klasseninter-
esse sind identisch; und ein Klasseninteresse ist es, daß die Lebens-
haltung der Arbeiter steigt, und ein nationales Interesse ist es,
daß das Volk physisch, geistig und kulturell sich entwickelt. Jedes
Arbeiterschutzgesetz ist ein nationales Gesetz, ist wichtiger als alle
die verschiedenen Schilderstreitigkeiten*) und Kleinlichkeiten, mit
denen Sie hier einander behelligen. Lesen Sie das fürwahr außer-
ordentlich instruktive Werk von Rauchberg über den nationalen
Besitzstand in Böhmen, dieses umfangreiche, mit der ganzen Ruhe
des Forschers vorgetragene Werk, das nicht tendenziös und, wenn
eine Tendenz obwaltet, gewiß nicht sozialistisch ist. Wie ein roter
Faden geht durch dieses Buch der Gedanke: Die Nationalpolitik
muß vor allem Sozialpolitik sein. (Sehr richtig!) Das Interesse der
Deutschen in Böhmen hängt viel mehr als mit irgendeiner „natio-
nalen" Maßregel damit zusammen, die Kindersterblichkeit der
Deutschen zu verringern, die weit größer ist als die Kindersterb-
lichkeit der Tschechen. Das nationale Interesse der Deutschen, des
deutschen Volkes — nicht der paar Unternehmer und der Kurien-
gesellschaften, sondern des deutschen Volkes — hängt viel mehr
zusammen mit einer tüchtigen, einschneidenden Gesetzgebung über
die Heimarbeit als mit irgendwelchen Abgrenzungen**), die den
Streit hier bilden.
Und so sehen Sie ja hier bei dieser Wahlreform wieder, wie
— und ich muß gestehen, von allen Seiten, nicht nur von den
Deutschen allein — die grob-mechanische, zahlenmäßige Auffassung
überwiegt über die sachlich eindringende Erkenntnis sozialer Dinge.
Gewiß, diese nationalen Verhältnisse führen zu Machtverhältnissen
und sicher ist, daß diese Wahlreform, sollte sie überhaupt gemacht
werden, nur gemacht werden konnte, wenn man auf das gegebene
Machtverhältnis zwischen Deutschen und anderen Völkern Rück-
sicht nahm. Ob Sie das wünschen, ob wir das wünschen oder nicht,
ist vollständig gleichgültig und Sie wissen ganz gut, wenn man den
Weg gesucht hätte, den einige von Ihnen als besonders günstig
halten, den ich zwar nicht fürchte, aber nicht für wünschenswert
halte, wenn irgendeine Regierung eine Wahlreform oktroyiert
hätte, selbst wenn ein fanatischer Slawe sie oktroyiert hätte, so
hätte es unmöglich eine Wahlreform sein können, die mathematisch
gleiche Wahlkreise nach der Kopfzahl macht. Denn wenn die Wahl-
reform so oktroyiert worden wäre, wräre sie nicht lebensfähig ge-
wesen, weil ein Haus, dessen Vertretung mit den bestehenden
*) Die Streitigkeiten um die Sprache der Aufschriften an Straßentafeln
und Bahnhöfen.
**) Abgrenzung von Wahlkreisen in der Wahlordnung als nationaler
Besitzstand.
Die Schicksalsstunde Österreichs. -*17
Machtverhältnissen der Völker in einem solchen Widerspruch steht,
wie er dann hervorgetreten wäre, ebenso funktionsunfähig hätte
sein müssen, wie dieses Haus wesentlich darum funktionsunfähig
ist, weil es den bestehenden Kräfteverhältnissen der Völker und
Klassen längst nicht mehr entspricht. (Zustimmung.) Wir sind
prinzipielle Politiker, aber wir sind vor allein auch Politiker, die
die Tatsachen begreifen, und die sich nicht die Tatsachen durch
Phrasen verhüllen lassen.
Ms ist doch ganz merkwürdig, für die mathematische Gleichheit
der Wahlkreise, die theoretisch möglich, aber praktisch, wie die
Dinge stehen, eine Unmöglichkeit ist, haben sich nur drei Stimmen
gemeldet. Als der Minister des Innern vorgestern sprach, war Herr
F r e s 1*) der erste, der sie verlangte, ihm hat sich angeschlossen
Herr v. Grabmayr und der dritte war Graf Dzieduszycki.
Das sind die Schwärmer für die mathematische Gleichheit. Ich habe
keinen Grund, Herrn Fresl sehr zu lieben (Heiterkeit), aber ich
nehme an, Herr Fresl meint es ernst. Herr v. Grabmayr und Herr
Graf Dzieduszycki wollen das gleiche Wahlrecht nur, weil sie
überhaupt keines wollen. Sie stellen an das Wahlrecht solche An-
forderungen, die es unmöglich machen, ein Wahlrecht zu konstru-
ieren. Und es berührt doch sehr merkwürdig, wenn man selbst von
echten Freunden der Wahlreform einzelne Stimmen hört, die
zeigen, daß sie diesen größten Feinden der Wahlreform auf den
Leim gehen. Ich hoffe, meine Herren, daß die Ruthenen, daß die
Tschechen, daß die Slovenen und daß die Polen sich durch die
Sirenenrufe dieser überschlauen Politiker, die die Wahlreform ad
absurdum führen wollen, nicht werden täuschen und sich nicht
werden verlocken lassen. Allerdings, eines müssen wir sagen: Es
ist schwer, die Machtverhältnisse in Ziffern umzusetzen. Das ist
eine große Schwierigkeit und es ist zweifelhaft, ob die Regierung
da überall das Richtige getroffen hat. Aber ebenso töricht, wie sich
an diese Ziffern zu klammern, ist es, das Kind mit dem Bad auszu-
schütten. Es hat sich ja hier ein Markt etabliert. Die Wahlreform
ist gesichert. Ich bin ein Optimist; das gehört vielleicht zu meinem
Beruf. (Heiterkeit.) Ich glaube, daß das Notwendige und Vernünf-
tige sich verwirklichen wird. Aber, meine Herren, jeder sucht nalt
noch herauszuschlagen, was er kann. Wenn der Wahlreform wirk-
lich nichts fehlte als die Differenz an Mandaten, die — nehmen wir
das Mittelmaß der Wünsche — von beiden Seiten gefordert und
angeboten werden, so wäre die Wahlreform wirklich ein ganz gutes
Werk. Ich habe meinerseits mehr gegen sie einzuwenden.
Ich habe es nicht notwendig, zu den Slawen zu sprechen, das
werden meine slawischen Genossen besorgen; ich spreche zu den
Deutschen und ich sage: Meine Herren, überspannen Sie Ihre
Wünsche nicht, im eigensten nationalen Interesse! Daß Sie das
volle, ich möchte sagen, das spezifische Gewicht der deutschen
*) Wenzel Fresl, der tschechische Nationalsozialist, der Abgeordnete
der fünften Kurie von Pilsen, ein ehemaliger Gasarbeiter. Er ist im Kriege
gestorben.
318 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Bevölkerung, der heutigen Macht, die Sie haben, für sich in An-
spruch nehmen, wollen wir nicht hindern. Aber überspannen Sie
es nicht, es ist gefährlich; es ist gefährlich für Sie gerade vom
nationalen Standpunkt. Vergessen Sie nicht, an dieser Wahlreform
hängt heute mehr nationale Hoffnung, als durch welchen
Besitzstand an Mandaten immer ausgedrückt wird. Ich will zu
Ihnen nicht sprechen als zu Leuten, von denen jeder sein Mandat
aus dieser Wahlordnung herausfischen will. Ich will diesen Stand-
punkt, der gewiß nicht der erhabenste ist, der vielleicht hier vor-
kommt, nicht generalisieren. Aber ich glaube, Sie befinden sich in
einer merkwürdigen Überschätzung dessen, was der ziffermäßige
Ausdruck nationalen Einflusses überhaupt bedeutet, nicht nur Sie
Deutsche, sondern auch Sie Slawen! Auf 2, 3, auf 5, 6 Mandate
wollen Sie herausrechnen, wieviel einer Nation gebührt. Bei diesen
Berechnungen spielen nun wir Sozialdemokraten eine merkwürdige
Rolle, wir deutschen Sozialdemokraten besonders! Wenn man den
Bleistift in der Hand hat, um den jetzigen deutschen Besitzstand
herauszurechnen, da sind wir deutschen Sozialdemokraten gute
Deutsche, da figurieren wir unter den 205 Mandaten des deutschen
Besitzstandes. Nicht wahr? Da gehören wir dazu. Wenn Sie aber
herausrechnen, was Sie später haben werden, und Sie drücken die
ein bißchen übertriebene, phantastisch überspannte, aber immerhin
wahrscheinliche Möglichkeit aus, daß von uns ein paar mehr herein-
kommen werden — dann rechnen Sie die deutschen Sozialdemo-
kraten vom deutschen Besitzstand ab. Das geht nicht. Entweder
wir gehören zum deutschen Besitzstand oder nicht. (Zwischenrufe.)
So dürfen Sie nicht rechnen. Diese grob mechanische Auffassung,
meine Herren, hüben und drüben, ist eine falsche, und sie erinnert
mich an das üoethesche Wort:
„Daran erkenn' ich die gelehrten Herren!
Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern.
Was ihr nicht faßt, das fehlt euch ganz und gar,
Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr!"
Glauben Sie denn wirklich, das deutsche Volk hat keinen
anderen politischen Besitz in diesem Lande, als den, der sich aus-
drückt durch die Zahl seiner Vertreter hier? Sie glauben wirklich,
daß die Mandatsziffern hier über die Geschicke des deutschen
Volkes entscheiden, während wir Ihnen sagen, für die Geschicke
des deutschen Volkes entscheidet vor allem die materielle und
kulturelle Entwicklung der breiten Massen des deutschen Volkes,
und für diese in erster Linie einzutreten, diese zu sichern, sind wir
deutsche Sozialdemokraten hier, und wir werden sie schützen gegen
jeden, der sie antastet! (Rufe: Das glauben wir!) Ja, wir sagen noch
mehr! Wir sagen, daß es die eigentliche nationale Aufgabe und das
Wesen der nationalen Pflichterfüllung für jedes Volk hier ist, daß
es seine nationale Pflicht erfüllt, nicht durch die Herrschaftsgier,
durch die Eroberung und die Sucht zur Bedrückung, sondern daß
es erfüllt ist von dem Gedanken, daß im letzten Grunde alle Kultur-
interessen aller Völker hier solidarisch sind. (Bravo! Bravo!) Nicht
Die Schicksals9tunde Österreichs. ;|,)
gegeneinander, wie die wilden Ratten des Oralen Dzieduszycki,
können wir unser Volk erheben! Im brüderlichen Hunde mltelnanderf
im Hunde selbständiger Völker soll das neue Österreich erstehen!
(Lebhafter Beifall und Händeklatschen.) Österreich war lange genug
der Zwingvogt der Völker! Österreich war lange genug nichts
anderes als die Erbländer einer Dynastie! Meine Herren! Wir
haben es satt, die Erblander irgendeiner Dynastie zu spielen. Die
Völker wollen ihr eigenes Erbe antreten! Und das können sie nur,
wenn sie sich miteinander verbinden, das können sie nur, wenn
sie ihr Recht in Anspruch nehmen. Und ihr Recht werden
sie nur erlangen, wenn sie auf das Unrecht verzichten. Auf natio-
nales Unrecht können sie nationales Recht nicht gründen! Aber
daß hier dieses eine grundlegende Unrecht des Staates zu Grabe
getragen wird, das ist der erste Anfang, das ist die Vorbedingung
dessen, was Sie hier alle erflehen und wünschen, die Vorbedingung
jenes nationalen Friedens, nach dem Sie sich die Hälse wund
schreien, nach dem Sie sich die Finger krumm schreiben und den
Sie niemals anders erreichen werden, als indem Sie zur Grundlage,
zum Pfeiler des Staates machen nicht die alten Mumien von der
Großgrundbesitzerkurie und was der alte Trödel ist, nicht die alten
Phantome vom Staatsrecht*) und dem alten Österreich, was eines
so vergangen und so tot ist wie das andere, sondern indem Sie die
lebendige Kraft der Völker zur Grundlage des Staates machen.
Dann werden Sie die Nationen zum Frieden führen, wenn Sie den
Nationen den Mund öffnen zum Sprechen, wenn Sie die Arme frei-
machen zur gemeinsamen Arbeit, wenn Sie sie entlasten von dem
Joche, das auf uns liegt und das uns erdrückt und erdrosselt. (Lebhafter
Beifall und Händeklatschen.) Und ich zweifle nicht daran, meine
Herren, daß es geschehen wird. Diese Wahlreform ist ja kein Ideal,
aber sie ist das, was heute möglich ist mit den paar durch den Handel
zu erreichenden Änderungen, die ich ruhig Ihnen überlassen kann.
Wir beteiligen uns an dem Handel nicht, obwohl wir sehr schlecht
dabei gefahren sind. Haben Sie schon eine Rede über das Wahl-
recht hier gehört, wo von der Wahlkreiseinteilung nicht die Rede
war? Die sozialdemokratische Rede ist die erste. Damit Sie aber
doch nicht meinen, daß wir nicht empfinden, was geschehen ist.
so will ich sagen, daß wir sehr genau wissen, daß Sie alle, Deutsche
und Tschechen, Polen und Ruthenen, Bürgerliche, Liberale, Natio-
nale, Christlichsoziale, insbesondere Christlichsoziale, alle Ihre
Wahlkreiseinteilungen gemacht haben gegen das Proletariat, auf
unserem Rücken; aus unserem Leibe herausgeschnitten haben Sie
Ihre gesicherten Mandate. Meine Herren, Sie haben sich dabei
nicht immer sehr nobel benommen, Sie haben sich mitunter recht
unbescheiden benommen. Und was meine Nachbarn**) hier anlangt,
so muß ich schon sagen, was sie geleistet haben mit der Einteilung
*) Das böhmische Staatsrecht, das die Tschechen verlangten, im Gegen-
satz zu dem zentralistischen Österreich der Deutschen.
'*) So erhielt der erste Wiener Bezirk, die Innere Stadt, obwohl er nur
50.000 Hinwolmer hatte, vier Mandate. - Die Nachbarn sind die Christlich-
sozial eri.
320 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
von Wien, das ist ein Meisterstück, nicht an politischer Klugheit,
sondern ein Meisterstück, meine Herren, an Unbescheidenheit, die
sich stark weiß für den Moment, aber kein Meisterstück für den
Verlauf in der Zukunft. Meine Herren, wenn Sie auf den Dingen
beharren, die Sie heute machen, so werden Sie das bitter büßen. Sie
müßten ja nicht so kurzsichtige Politiker sein. Glauben Sie wirklich,
Sie leben nur von heute auf morgen, daß Sie zusammenraffen
müssen, so schnell, so lange es Tag ist? Wir denken nicht so, wir
lassen Sie raffen; wir widersetzen uns, wenn wir können, aber wir
machen das Schicksal der Vorlage nicht davon abhängig; denn wir
wissen, mag Ihnen der Moment gehören, die Zukunft gehört uns.
Sie können mit Ihrer Wahlgeometrie die Arbeiter aus einem Wahl-
bezirk hinausschieben und das eine Ihrer Mandate ist glücklich von
ihnen befreit; aber der Nachbar hat sie dann unfehlbar. (Heiterkeit.)
Sie können die Arbeiter aus der Welt nicht hinausdividieren.
Und wenn Sie nach niederösterreichischem und auch nach nord-
böhmischem Muster um die proletarischen Bezirke eine Art Pest-
kordon gezogen haben, einen Pestkordon, der hindern soll, daß wir
in Bezirke eingreifen, die zu Ihrem Klassenbesitzstand, zu Ihrem
Parteienbesitzstand gehören — ■ um den besteht ja auch ein Streit,
nicht wahr? — und zwar ein Streit, der heute schon stärker ist,
als der um den nationalen Besitzstand — wenn Sie einen solchen
Kordon gezogen haben, so halten wir es aus. Denn der Kordon wird
durchbrochen werden, nicht vielleicht durch den Wahlreformaus-
schuß — da sind wir zu schwach*) — , aber er wird durchbrochen
werden durch die wirtschaftliche Entwicklung, die die Zukunft
Österreichs, jeden Fortschritt der Kultur an die Vermehrung des
Proletariats knüpft, an die Vermehrung seines politischen Ein-
flusses. Und wenn die Gegenwart uns nicht günstig ist, um die
Zukunft ist uns nicht bange.
Wir können aber, meine Herren, keinen Tag länger
warten, wir können keine Stunde länger warten, sage ich Ihnen,
daß das Wahlrecht ein gleiches werde. Schlagen Sie sich den Ge-
danken, wenn er noch in einem vernagelten Hirn hier stecken sollte,
schlagen Sie sich den Gedanken aus dem Kopfe, daß es möglich
wäre, Wahlen zu machen mit dieser Wahlordnung, die jetzt besteht.
Von diesem Hause können Sie Abschied nehmen.
Das sagen wir Ihnen nicht, wie der Herr v. Grabmayr gemeint
hat, als eine Drohung. Es fällt mir nicht ein, zu drohen, es wäre
auch lächerlich. Sie wissen, daß, so sehr wir „Regierungspartei"
sind, der Herr v. Gautsch mir wahrscheinlich nicht seine Kanonen
zur Verfügung stellen wird. (Heiterkeit.) So weit sind wir noch
nicht — leider! (Neuerliche Heiterkeit.) Also ich habe hier gar
nichts zu drohen. Meine Herren! Sie sind nicht bedroht von den
Sozialdemokraten und die roten Fahnen, die Sie da am Ring ge-
sehen haben, waren ein imponierender Anblick, der Ihnen vielleicht
*) Unter den 49 Mitgliedern des Wahlreformausschusses war Adler der
einzige Sozialdemokrat, der in den 63 Sitzungen des Ausschusses den
Kampf allein zu führen hatte.
Die Schicksalsstunde Österreichs. 321
zu denken geben sollte, aber er hat keinen von Ihnen ein-
geschüchtert - Sie glauben das nicht, Sie sagen es ja nur! Nein:
Sic sind bedroht von der Unmöglichkeit für Österreich, mit diesem
Hause weiter zu bestellen!
Wir stehen mitten in einer Krise, in einer Krise, von der man
in diesem Hause nicht spricht, in einer Krise, wo es sich um den
Staat handelt. Nicht um irgendeinen Übergang, sondern um die
Begründung eines Staates handelt es sich, und wir müssen endlich
darangehen, wenn wir nicht ersticken wollen in dem Sumpfe, uns
einen Staat zu schaffen. Das kann dieses Haus nicht. Mögen Sie
aber diese schmachvolle Geduld vielleicht haben; mögen Sie
vielleicht es noch länger in diesem unerträglichen Zustand aus-
halten; das Proletariat hat keine Lust, es auszuhalten, und das
kann ich Ihnen ohne alle Drohung sagen : Ohne den härtesten
Kampf, der bis ans Leben geht, werden Sie dieses Haus in dieser
Gestalt nicht mehr beisammensehen! Das ist keine Drohung an
Leib und Leben für Sie, meine Herren, es passiert Ihnen gar nichts
persönlich! Sie werden nicht mit Blut bedeckt, aber mit Schande
und mit Schmach bedeckt aus diesem Kamp! gehen, wenn es dazu
kommen sollte!
Aber ich bin überzeugt, es wird nicht mehr dazu kommen, ich
bin überzeugt, daß der Gedanke der Wahlreform gesiegt hat, weil
er unüberwindlich ist, und daß die Herren, die hier dagegen
sprechen, und die, welche gewissenlos hinter den Türen und in den
Couloirs intrigieren, um ihren Lohn kommen werden. Mögen sie
machen, was sie wollen! Mögen sie durch die kleinlichsten und
schmutzigsten Mittel der großen Sache des Volkes Prügel in den
Weg legen wollen — die Sache ist gerettet und hat gesiegt, sage
ich, weil ich nicht daran glauben kann, daß die Masse dieses Hauses
von der Einsicht so verlassen ist, so bar ist jedes Gewissens, um
noch einmal mit diesem unfähigen Parlament einen Versuch zu
machen.
Herr v. Grabmayr hat seine Rede mit einem tönenden Aufruf
geschlossen — ich richte auch einen Appell an Sie. Er hat Sie auf-
gefordert, nachzudenken, und hat an Ihre staatsmännischen Instinkte
appelliert. Ich fordere Sie ohne Unterschied der Parteien, ohne
Unterschied der Nation auf, in Ihr Gewissen zu gehen; ich fordere
Sie auf, mit sich selbst einig zu werden und sich zu fragen, ob
Sie es verantworten können vor dem Volke, das Sie vielleicht in
Worten geringschätzen mögen, dessen steigende Macht, dessen
Würde aber Ihnen schließlich imponieren muß und vor dem Sie
verantwortlich sein werden, ob Sie es verantworten können vor
dem Staate, dessen Unfähigkeit zu existieren Ihnen allen klar ist,
ob Sie es verantworten können vor Ihren Klasseninteressen, diesen
Zustand des Parlaments, diesen Zustand des Staates weiter bestehen
zu lassen. Die Einsicht haben viele von Ihnen. Wir Sozialdemo-
kraten, die Arbeiterschaft hat nur eines vor Ihnen voraus — nicht
die Einsicht, die Sie teilen — , sondern den Mut und die Ent-
schlossenheit, um des politischen Lebens, um der politischen
Adler, Briefe. X. Bd. 21
322 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Lebensmöglichkeit willen alles an die Sache des Volkes zu setzen.
(Beifall.)
Nehmen Sie das so, wie es ist — nicht als ein Rühmen, sondern
als eine Prophezeiung. Und wenn der verehrte Herr aus Tirol ge-
schlossen hat mit den Worten: „Tot ist die Vorlage Gautsch'", so
sage ich Ihnen: Jene, die man zu früh totsagt, leben oft am
längsten. (Heiterkeit.) Ich sehe hier nur einen Toten — der ist aber
mausetot: Tot ist das Privilegienparlament (Beifall), tot sind die
Kurien, tot sind alle die Lügen und Flausen, die sich hinter diesen
Dingen verstecken, tot ist das Unrecht, das die Völker geknebelt
hat — und es fängt an zu leben das heilige Recht der Völker. (Leb-
hafter Beifall und Händeklatschen.)
Die Wahlreformfeinde und die Arbeiter-
schaft.
Versammlung am 2. April 190 6*).
Sie alle haben so viel politische Einsicht und kennen unser
Österreich so gut, daß sich wohl keiner von Ihnen eingebildet haben
wird, man könne die Wahlreform so leicht bei uns durchbringen.
*) Am 27. März wurde die Wahl des 49gliedrigen Wahlreform-
ausschusses vorgenommen, dem die Vorlage zugewiesen wurde. Aber
damit war die Vorlage noch lange nicht gesichert.
Die Gegner der Wahlreform hatten es aufgegeben, ihr in offener Feld-
schlacht entgegenzutreten. Sie wußten, daß hinter der Vorlage der Re-
gierung das Volk stehe, und sie wagten es nicht, beide, Regierung und
Volk, durch offenen Widerstand zu reizen. Nur aus dem Hinterhalt noch
suchten sie jetzt die Wahlreform zu meucheln, mit Winkelzügen und
Intrigen sie umzubringen. Es war interessant, wie sie sich in der ersten
Lesung der Vorlage, die nun doch nahezu drei Wochen gedauert hatte,
abmühten, ihre Liebe zum Volk — denn das Volk liebten sie ja alle —
mit ihrer Feindschaft gegen die Gautsch'sche Vorlage in Einklang zu
bringen; wie sie Argumente suchten, um bei aller Anerkennung des
Prinzips des allgemeinen, gleichen Wahlrechtes die Unannehmbarkeit
gerade der vorliegenden Reform oder zumindest die Verwerflichkeit
dieser Regierung nachzuweisen. Von der Sozialdemokratie wurde da nicht
viel Böses gesprochen. Die verstocktesten Reaktionäre überboten einander
geradezu in Komplimenten für die Arbeiterschaft, die gewiß das Wahlrecht
verdiene, und für die Sozialdemokraten, die so vernünftige, ernste, ge-
bildete, tüchtige Männer seien. Höchstens, daß einer oder der andere
Redner den Sozialdemokraten vorwarf, sie seien jetzt „Regierungspartei",
„k. k." (kaiserlich-königlich) geworden, weil sie die Regierung unter-
stützen, was sich doch eigentlich für eine revolutionäre Partei nicht
schicke. Dieselben Redner warfen natürlich auch wieder der Regierung
vor, daß sie „dem Diktat der Straße" nachgebe und sich mit einer
revolutionären Partei verbünde. Im übrigen begnügten sich die Redner,
ihre Freundschaft für die Wahlreform zu beteuern, während sie dabei
ihre Minen gegen sie explodieren ließen.
Das beliebteste Argument gegen die Gautsch'sche Reform waren nach
wie vor die nationalen Interessen der Deutschen. Wenn jemand, der die:
Die Wahlreformfeinde und die Arbeiterschaft.
Es rrrußte jedem klar sein, daß auch nach dein 28. November und
auch nach dem 23. Februar, auch wenn das gesamte Volk in einer
mächtigen Erhebung für die Wahlreform eingetreten ist, auch wenn
Verhältnisse nicht kannte, die Debatte verfolgte, so mußte er nicht nur
glauben, daß die Existenz der nenn Millionen Deutschen in Österreich ge-
fährdet sei, sondern er mußte auch erstaunt sein, wie energische Ver-
treter das deutsche Volk gerade in den privilegierten Ständen der Groß-
grundbesitzer adeliger und bürgerlicher Herkunft hatte. Diese Leute, die
das deutsche Volk in Österreich, so oft es auch von feindlichen Rcgieriin-
gen unterdrückt war, immer für Sektionschefsstellen und Ministerporte-
fcnilles verkauft und verraten hatten, die an der Obstruktion gegen die
Badenischen Sprachenverordnungen sich höchstens durch lendenlahme
Erklärungen beteiligten, sie waren jetzt auf einmal die wütendsten
Deutschnationalen, und sie stellten sich, als ob sie bei der Wahlreform der
Regierung Gautsch nur eine Sorge hätten: das deutsche Volk vor der
slawischen Majorität zu schützen. Die Sache war nämlich so, daß auch
jetzt die Deutschen 205 von 425 Mandaten hatten, von denen aber
mindestens zehn national gefährdet waren und in kurzer Zeit sicher ver-
loren gehen mußten. Durch die Wahlrechtsvorlage wurden aber — von
455 Wahlkreisen — 205 rein deutsche geschaffen, die nie verloren gehen
konnten. Zu bedenken war dabei, daß die Deutschen nicht viel mehr als
ein Drittel der österreichischen Bevölkerung bildeten, daß also die Deut-
schen durch die Wahlordnung auch in Zukunft begünstigt werden sollten,
aber das genügte den Herren, die jetzt urplötzlich ihre nationale Gesinnung
entdeckt hatten, nicht und sie verlangten, daß das Verhältnis der deutschen
Mandate zu den anderen gleichbleibe, daß Deutsche, Italiener und Rumänen
zusammen mehr Mandate erhalten als die Slawen. Das ganze deutsche
Bürgertum sollte mit dem Gespenst der slawischen Majorität geschreckt
werden. Um die ganze Komik, zugleich aber auch die ganze Perfidie dieses
Argumentes zu begreifen, muß man nicht nur wissen, daß die „deutsch-
romanische" Majorität jetzt im ganzen 29 Stimmen zählte und die
„slawische Majorität" nach der Vorlage fünf Stimmen zählen sollte, sondern
auch, daß, seitdem das Parlament bestand, die deutsch-romanische
Majorität n i e zusammen stimmte, ja daß sogar seit nahezu zehn Jahren
bittere Feindschaft zwischen Italienern und Deutschen bestand, und daß
gerade durch die Wahlreform, die etwa 30 polenfeindliche Ruthenen
ins Haus bringen mußte, jeder Versuch einer slawischen Majorität
geradezu von vornherein vereitelt war.
Das hinderte aber nicht, daß dieses Argument bei denen, die die Wahl-
reform nicht wollten, noch immer zog. Gleich der erste Redner, Dr. G r a b-
m a y r, kam mit diesem Argument. Noch plumper war die Intrige des
nächsten Großgründlers Dr. Baernreither, des Handelsministers im
deutschfeindlichen Ministerium Thun. Auch er beschäftigte sich vornehmlich
mit der nationalen Gefahr und warnte davor, daß man dieses Parlament,
das schon in seinen letzten Zuckungen liege, über die Wahlreform ent-
scheiden lasse. Man solle eine Konstituante einberufen, die die Wahlreform
machen solle. Auf die Frage, auf Grund welchen Wahlrechtes diese Konsti-
tuante gewählt werden solle, blieb er die Antwort schuldig. So kam dann
der dritte deutsche Großgrundbesitzer, Graf S t ü r g k h, mit gröberem Ge-
schütz. Fr prophezeite, daß die künftige slawische Majorität eine Gefahr
für das Bündnis mit Deutschland sei und er appellierte an den Minister des
Auswärtigen, Grafen Goluchowski, zu erklären, ob er den Kaiser auf
diese Gefahr aufmerksam gemacht habe. Nun war der Minister des Aus-
wärtigen ein beiden Staaten, Österreich und Ungarn, gemeinsamer Minister,
21*
324 Der Sieg des gleiches Wahlrechts.
die Regierung sich selbst zur Wahlreform bekannt hat, noch immer
gewaltige Widerstände zu überwinden sein werden. Der wäre ein
Phantast, der sich einbilden würde, daß sich die Nutznießer dieses
Unrechts, die Schmarotzer des Unrechts so einfach zurückziehen
würden. Wer sich auf die Einsicht der Privilegierten, auf die Vater-
landsliebe derer, die den Patriotismus gepachtet haben, verlassen
hätte, der würde seine Rechnung falsch gestellt haben. Wir haben
nun eine lange Debatte im Abgeordnetenhaus erlebt, auf die sich
unsere Politiker sehr viel eingebildet haben. Man hat da sehr
gründlich die Frage erörtert, ob die Massen des Volkes geeignet
seien, Abgeordnete aus eigenem zu wählen. Man hat sich den Kopf
zerbrochen, ob ein wirkliches Volkshaus gut, ob es zweckmäßig
und nützlich sei. Ich würde wünschen, daß die Massen des Volkes
einmal selbst diese Debatte angehört hätten, damit sie selbst das
der dem österreichischen Parlament nicht verantwortlich war und in die
österreichischen Angelegenheiten auch nichts dreinzureden hatte. Graf
Stürgkh erntete also mit seinem Appell nicht nur die Entrüstung der ganzen
Öffentlichkeit, die darin eine Aufforderung zu gemeinen Intrigen sah, sondern
auch eine Erklärung im offiziösen „Fremdenblatt", daß alle Gerüchte, als
ob Graf Goluchowski gegen die Wahlreform intrigiere, falsch seien.
So ließ jeder seine Minen springen. Die Wahlreformfreunde waren aller-
dings auch nicht müde, und durch einige große Reden — genannt seien vor
allem die der Sozialdemokraten Adler und Daszynski, des Deutsch-
fortschrittlichen Dr. L e c h e r, des Deutschvölkischen Dr. B e u e r 1 e, des
Christlichsozialen Dr. Weiskirchner, des Klerikalen Dr. Ebenhoch
und der Jungtschechen Dr. Kramarsch und Dr. Stransky — wurde
das Intrigennetz der koalierten Wahlrechtsfeinde zerrissen. Der Minister-
präsident Baron G a u t s c h hielt eine tapfere Rede, in der er mit den
Gegnern seiner Reform abrechnete. (Die Rede Adlers folgt später.)
Aber diese hatten ihre Versuche noch lange nicht aufgegeben und am
29. März war die erste Mine geplatzt. Der Kampf richtete sich vornehmlich
gegen den Ministerpräsidenten, durch dessen Sturz man die Wahlreform
umbringen wollte. Diesmal schickte man die Alldeutschen voraus, die eine alte
Forderung aller deutschnationalen Parteien plötzlich auf die Tagesordnung
brachten: die Sonderstellung Galiziens. Damit hatte es folgende
Bewandtnis: Ehemals verlangte der polnische Adel, die Schlachta, daß
Galizien eine besondere Stellung innerhalb des Staates erhalte, entweder
dieselbe wie Ungarn, also völlige staatsrechtliche Selbständigkeit (mit Aus-
nahme der militärischen und der auswärtigen Fragen) oder doch die
Stellung, die Kroatien in Ungarn hatte: Selbständigkeit in seinen eigenen
Landesangelegenheiten und Beschickung des Reichsrates durch galizische
Delegierte, die bloß in den das ganze Staatsgebiet betreffenden Angelegen-
heiten mitstimmen sollten. Auch die deutschen nationalen Parteien hatten
diese Forderung in ihren Programmen, da sie durch Ausscheidung der sechs
Millionen Polen und Ruthenen die Vorherrschaft der Deutschen im übrigen
Österreich zu sichern hofften. Durch nahezu 30 Jahre hatten aber sowohl
Deutsche als Polen diese staatsrechtliche Spielerei — denn es war nicht
mehr — ruhen lassen. Erst jetzt holte man das Spielzeug wieder hervor,
um es der Wahlreform als Prügel vor die Beine zu werfen. Die Alldeutschen
brachten einen Dringlichkeitsantrag ein, durch den die Regierung auf-
gefordert wurde, einen Gesetzentwurf über die Sonderstellung Galiziens
vorzulegen. Alle Gegner der Wahlreform — Alldeutsche, Polenklub, Groß-
grundbesitzer — stimmten dafür, leider konnte sich auch die Deutsche
Die Wahlreformfelnde und die Arbeiterschaft. 325
Won ergriffen und eleu Herren Ins Gesicht gerufen hatten: „Was
bilden Sie sieh denn eigentlich ein? Wer sind Sie denn, daß Sie
darüber beraten dürfen, ob man das Volk aus Ihrer verdammten
Vormundschaft entlassen darf? Daß Sie sich anstellen, als wären
Sie die bestellten Kuratoren des Volkes, das nicht die Fähigkeit hat,
seine Angelegenheiten selbst zu regieren?" Nun steht die Präge
wirklich schon lange nicht so, ob das Volk fähig ist, ein Volks-
parlament zu schaffen, und ob dieses Volksparlament fällig sein
wird, Österreich in Ordnung zu bringen. Diese Frage kann nur
stellen, wer ein Knriengehirn hat, ein Gehirn, in dem eine gesunde
Anschauung vom Rechte des Volkes überhaupt nicht mehr Platz
hat. Diese Frage steht gerade umgekehrt: Ist
dieses Parlament fähig, auch nur einen Tag
länger die Geschicke Österreichs in der Hand zu
Volkspartei, die sich im übrigen unter der Führung des Abgeordneten
Dr. C h i a r i zur Wahlreform bekehrt hatte, von dern nationalen Schlagwort
nicht losmachen und der größte Teil der Partei stimmte dafür. So fand die
Dringlichkeit eine Majorität von 6 Stimmen (153 gegen 147); da aber, um
einen Antrag im dringlichen Wege auf die Tagesordnung zu bringen, eine
Zweidrittelmehrheit erforderlich war, war der Antrag, der der Regierung
bald gefährlich geworden wäre, wenn nicht die demokratischen Elemente
des Polenklubs sich der Abstimmung enthalten hätten, beiseite geschoben.
In zahlreichen Massenversammlungen nahm die Arbeiterschaft zu diesen
Intrigen der Wahlreformfeinde Stellung. Am 2. April sprach Dr. Adler in
einer Massenversammlung beim Stalehner in Hernals.
Vielleicht ist hier auch der Ort, eine Art Bilanz der Wahlrechts-
bewegung anzufügen. Die Maifestschrift der tschechischen Sozialdemo-
kratie, die am 1. April 1906 herauskam, brachte folgende vorläufige Bilanz
der Persekutionen in Böhmen und Mähren:
3 Personen wurden erschossen, und zwar 1 in Prag, 2 in Austerlitz.
Die Zahl der Verwundeten ist nicht bekannt, es sind mehrere Hundert.
An 600 Personen wurden verhaftet und kürzere oder längere Zeit in den
Polizeiarresten und Gerichtszellen herumgeschleppt.
Die Verhafteten und Angeklagten saßen annähernd 20 Jahre in Unter-
suchungshaft.
Mehr als hundert Personen wurden polizeilich abgestraft.
Vier Schwurgerichtsprozesse wegen Hochverrats und Aufwiege-
lung wurden bereits durchgeführt, und zwar zwei in Prag, einer in Jung-
bunzlau und einer in Königgrätz.
Mehr als zweihundert Personen wurden von den Gerichten in erster
Instanz zu 51 Jahren Kerker oder Gefängnis verurteilt, und die Strafe wurde
durch die zweiten Instanzen noch um 7 Jahre erhöht, so daß insgesamt
58 Jahre Kerker oder Gefängnis verhängt wurden. In Prag wurden 60 Per-
sonen zu 12 Jahren, in Brüx 45 zu 20 Jahren, in Brunn und Ohnütz 110 Per-
sonen zu 26 Jahren verurteilt. Dabei waren aber die von den ländlichen
Bezirksgerichten verhängten Strafen sowie die Prozesse nach dem 15. März
nieht berücksichtigt.
Arn 21. April wurden noch vom Landesgericht in Brunn 21 Arbeiter aus
Switawka abgeurteilt, die am 27. und 28. November in der Tuchfabrik Löw-
Beer in Switawka die Einstellung der Arbeit zur Wahlrechtsdemonstration
gefordert hatten. Sie waren wegen boshafter Sachbeschädigung (Fenster-
einwerfen), Erpressung und Auflauf angeklagt; zehn wurden freigesprochen.,
elf zu einem bis vier Monaten Kerker verurteilt.
326 Der Sie« des gleichen Wahlrechts.
behalten? Und wenn es eines Beweises bedurft hätte, daß
dieses Parlament dazu längst unfähig geworden ist, so hat ihn
gerade diese Debatte glänzend erbracht. (Lebhafter Beifall.)
Wenn es eine prinzipielle Abstimmung gegeben hätte, ob das
allgemeine Wahlrecht eingeführt werden sollte, so hätten wir wohl
eine riesige Majorität dafür erhalten. Denn „im Prinzip", solange
es nichts kostet, sind sie alle dafür. Jeder beginnt seine Rede mit
einer Verbeugung vor dem Prinzip. Wenn aber das erledigt ist,
dann kommen die Einwände, die Bedenken, die Gescheitheiten. Sie
haben keine Ahnung, wie gescheit diese Menschen sind. (Heiter-
keit.) So gescheit, daß der verbohrteste Blödsinn die reine Ver-
nunft dagegen ist. (Heiterkeit und Beifall.) Es handelt sich jetzt
gar nicht um das Prinzip. Wer politisch denkt und wer ehrlich ist,
für den handelt es sich um diese Wahlreform, die jetzt vorliegt.
Der etwas anderes sagt, der ist ein Schwindler. Wir wissen, unter
welchen Schmerzen diese Wahlreform geboren wurde, und wer
jetzt von einer anderen Wahlreform oder von Prinzipien spricht,
ist ein politischer Narr oder ein Verräter an der Wahlreform. (Leb-
hafter Beifall.) An der Spitze aller Einwände stehen die nationalen
Bedenken. Es wäre uns ja auch lieber, wenn es in Österreich nur
eine Nation gäbe. Aber das ist eben nicht der Fall. Es wäre viel-
leicht schöner, wenn die Polen, Tschechen, Slovenen Deutsche
wären. Aber sie sind es nicht. Der Anfang aller Logik ist, daß man
die Tatsachen nimmt, wie sie sind. Ich habe in meiner ersten Rede
im Parlament gesagt, daß wir Sozialdemokraten auf dem grund-
sätzlichen Standpunkt stehen, daß das Recht überall, im Osten wie
im Westen, gleich verteilt sein soll. Aber wir geben zu, daß die
Machtverhältnisse zwischen den Nationen heute so sind, daß diese
absolute Gleichheit einfach nicht durchzusetzen ist. Diese Ungleich-
heit in der Abgrenzung der Wahlbezirke darf und kann aber wieder
nicht so weit gehen, daß sich die slawischen Nationen das nicht
mehr gefallen lassen könnten. Das ist eben die politische Kunst,
das, was man vom Politiker verlangt, daß er das Maß des Mög-
lichen und Erreichbaren erkenne: daß er wisse, was heute den
Machtverhältnissen zwischen den Nationen entspricht. Man erzählt
uns von einem „deutschen Block" und einem „slawischen Block".
Aber da braucht man nur eine Frage zu stellen: Gibt es einen Fall,
wo die Masse der deutschen Abgeordneten gegen die Masse der
slawischen Abgeordneten geschlossen gestimmt hat? Wen will man
denn foppen? Wir wissen alle, daß die Deutschen in Parteien ge-
spalten sind, die einander auf das feindlichste gegenüberstehen, oft
in unversöhnlichem Hasse einander bekämpfen. Das ist eine jener
Lügen, mit denen in Österreich Politik gemacht wird. Es gibt
keinen einzigen Fall, wo slawischer Block und
deutscher Block einander gegenüberstanden. Der
Gedanke von der slawischen Majorität war einfach erfunden und
ist nun zum Fetisch geworden, an den zu glauben sie vorgeben.
Es ist merkwürdig: Die Wahlreform wird heute von einer Koalition
solcher bekämpft, die sagen: „Es sind zu wenig Mandate da für
die Deutschen und zu viel für die Slawen!" und von . solchen, die
Die Wahlreformfeinde und die Arbeiterschaft. 327
sagen: „Es sind zu wenig Mandate da für die sin wen und zu viel
für die Deutschen!" So töricht sind doch wohl die Volker nicht,
das deutsche ebensowenig wie die slawischen, daß man ihnen ein-
reden könnte, dieselbe Wahlreform bringe politisch die Deutschen
um und die Slawen. (Heiterkeit und Rufe: Das sind Gaukler!)
Entweder eines oder das andere, beides ist nicht möglich. In Wirk-
lichkeit aber wird kein Volk gefährdet, sondern jedem Volke durch
die Wahlreform zu seinem Rechte verhüllen«
Noch ein Argument spielt eine große Rolle: „Die ganze Ver-
fassung muß geändert werden/' Da sagen die Polen: Die Autonomie
Galiziens muß herbeigeführt werden. Und die Feudalen sagen: Es
muß überhaupt mit dem alten Zentralismus aufgeräumt werden und
ihr altes Ideal muß nun kommen, nachdem Königreiche und Länder
alles sind und in jedem dieser Königreiche und Länder der Feudal-
adel alles ist. Mit ihnen im Bunde ist der Verfassungstreueste der
Verfassungtreuen, Graf S t ü r g k h. Fragen Sie ihn, ob er für die
Lostrennung Galiziens ist. Nein, er hält das für das Unglück Öster-
reichs. Aber er stimmt dafür, um der Wahlreform ein Grab zu
graben. Und Arm in Arm mit diesen Leuten, mit dem Dzieduszycki
und Stürgkh, sehen Sie jetzt die Alldeutschen, nicht figürlich ge-
sprochen! Wenn Sie in das Parlament kommen, dann können Sie
sie wirklich sehen, wie sie Arm in Arm gehen, wie sie miteinander
beraten, wie man die Wahlreform meucheln könnte. Darum handelt
es sich ihnen allen, nicht um die Änderung der Verfassung, die ja
jeder von ihnen, wenn überhaupt, so anders will als der andere.
Wer verlangt, daß zugleich mit der Wahlreform eine Verfassungs-
änderung durchgeführt werde, der verrät bewußt die Wahlreform;
und bei dem nützt alle politische Auseinandersetzung gar nichts.
Dessen Widerstand kann nicht durch Argumente widerlegt, er kann
nur durch die Kraft des Volkes überwunden werden
(stürmischer Beifall) und dadurch, daß die Regierung
kräftig bleibt.
Allerdings, unsere Erfahrungen lehren uns, daß die Regierungen
in Österreich immer nur Kraft und Energie und Konsequenz zeigten,
wenn es galt, dem Volke zu schaden. Würde es sich nicht darum
handeln, dem Volke das Recht zu geben, etwa darum, einen Aus-
nahmezustand oder ein anderes schweres Unrecht am Volke zu
verteidigen, dann würde die Regierung sicher nicht so vorsichtig,
unsicher tastend vorgehen. Man wiret nun sehen, wie die Regie-
rung sich verhält, das erstemal, wo sie dem Volke ein Recht gibt.
Freilich, das Volk hat bis jetzt ruhig zugesehen, wie drinnen im
Parlament frei und ungehindert alle Feinde der Wahlreform auf-
marschieren konnten. Die Arbeiterschaft hat ihre Selbst-
beherrschung bewiesen, indem sie nach dem 28. November ruhig
und geduldig abwartete, was die Herren dort zu machen belieben.
Wir haben gezeigt, daß die Massen klug genug, besonnen genug
sind, um ihnen die Zeit zu lassen, die sie verlangt haben. Kein
Windhauch hat sich gerührt, während die Herren über die Wahl-
reform debattierten. Niemand hat sie beeinflußt, niemand hat sie
„terrorisiert"! Auch wir im Parlament haben uns bezähmt und
328 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
haben ruhig zugehört, so sehr uns auch das Blut kochte. Vielleicht
ist das einem oder dem anderen von Ihnen unangenehm aufgefallen.
Wir haben Bezirke, wo man die Abgeordneten lieber wild sieht als
diplomatisch und staatsmännisch. Aber wir haben geglaubt, die
Selbstbeherrschung, die wir den Massen auferlegen, auch selbst
üben zu müssen. Aber wenn die Herren glauben, daß das Volk,
wenn es lauscht, schläft; wenn sie glauben, daß die Massen, die
warten, teilnahmslos geworden sind; wenn sie glauben, daß das
Volk, weil man seit einigen Monaten auf der Ringstraße nicht mehr
den Ruf: „Heraus mit dem Wahlrecht!" gehört hat, an das Wahl-
recht nicht mehr denkt, so täuschen sie sich ganz gehörig. Und wir
werden ihnen sagen müssen: „Jetzt habt ihr das Wort
gehabt. Nun wollen wir wieder einmal ein wenig
rede n." (Stürmischer Beifall.) Wenn in eure Kurienschädel die
Vernunft so schwer hineingeht, werden wir eben ein wenig nach-
helfen müssen! (Neuerlicher Beifall.) Wir haben einen Tag, an dem
das österreichische Proletariat gewohnt ist, deutlich zu reden, an
dem es sein Recht vor aller Augen verlangt. Am 1. Mai, wo die
Wahlreformdebatte wieder im Gange sein wird,
werden die Massen wieder in die Diskussion ein-
greifen. Wie wir sprechen werden, wird davon abhängen, an
welchen Punkt der Diskussion wir bis zum 1. Mai gelangt sein
werden. (Stürmischer, andauernder Beifall.)
Die Wahlreform ist in guter Hut, möge die Koalition ihrer Feinde
noch so wettern . . . Können Sie sich übrigens vorstellen, daß in
Ungarn, wo sich doch auch die Grafen gegen das allgemeine Wahl-
recht koaliert haben, so ein Stürgkh es hätte wagen können, an
Goluchowski zu appellieren, daß er in diese innere Verfassungsfrage
eingreife, ohne angespuckt zu werden? Mögen sich die Stein und
Stürgkh und Dzieduszycki koalieren, um ihre Mandate zu retten:
die Wahlreform wird dadurch nicht aufgehalten werden; sie werden
sich nur gegenseitig beschmutzt, gegenseitig kompromittiert haben
durch diese Koalition.
Der Regierung hat es gefallen, aus irgendwelchen unerforsch-
lichen Gründen den Reichsrat nach Hause zu schicken, um den
krainischen Landtag tagen zu lassen. Nun, ein Unglück ist es nicht,
denn vor Ostern wäre die Generaldebatte im Ausschuß nicht be-
endet worden, und ob einige Reden — immer dieselben Reden —
mehr oder weniger gehalten, werden, darauf kommt nicht viel an.
Entscheidend wird die Lage erst am 24. April werden, wenn das
Abgeordnetenhaus wieder zusammentritt. Dann wird man erst er-
kennen, wie es mit der Entschlossenheit der Regierung bestellt ist.
Wir werden auch genau zusehen müssen, welcher Wandel sich in
den Parteien vollzogen hat und ob die Regierung die Festigkeit
und das Geschick hat, das durchzuführen, was sie als notwendig
erkannt hat. Am 2 4. April werden wir sehen, wie die
Sache steht, und am 1. Mai werden wir spreche n*).
(Stürmischer Beifall.)
*) Gautsch hat diese Intrigen nicht zu besiegen vermocht und ist Ende
April zurückgetreten. Am 1. Mai wurde den Arbeitern, die auf das äußerste
Antwort an Grabmas r.
Antwort an Grabmayr.
W a li I r c f o r m a U S S C h u ß, i o. April 1 9 0 6*).
Der Ausschuß wird Dr. \. Grabmayr nur sehr dankbar dafür
sein können, daß er das etwas abgeflachte Interesse an dieser
Generaldebatte wieder auf eine gewisse Höhe gebracht hat. Er hat
allerdings gemeint, er spreche als ein „harmloser" Großgrund-
besitzer, und alles mögliche war die Rede, aber harmlos war sie
nicht. Er meinte, es wäre gerade in seiner Situation nicht taktvoll
empört waren, die Mitteilung zuteil, daß an seiner Stelle ein aus-
gesprochener Wahlreformfreund, der Statthalter von Triest, Prinz Konrad
Hohenlohe, der schon als Bezirkshauptmann in Teplitz den Heinamen
des „roten Prinzen" gehabt hatte, die Regierung übernehme. (Siehe
Seite 334 f.)
*) Die Generaldebatte über die Wahlreform zog sich im Ausschuß recht
langsam hin. Die Intrigen der Feinde wurden hinter den Kulissen ge-
sponnen. Am 26. April kam endlich Dr. v. Grabmayr mit einem neuen Vor-
schlag. Er hatte als erster Redner in der ersten Lesung im Parlament eine
heftige Rede gegen die Vorlage der Regierung Gautsch gehalten, die in die
Worte mündete: „Die Gautsch'sche Wahlreform ist tot, es lebe die Wahl-
reform!" Nun war man neugierig, wie er sich diese neue Wahlreform vor-
stelle. Und da machte er folgenden Vorschlag: Die Kurien sollten auf-
gehoben, aber „die Wähler in Gruppen geteilt und je nach ihrer Bedeutung
für den Staat mit einer entsprechenden Quantität von politischen Rechten,
die sich in der Zahl der ihnen zugewiesenen Mandate ausdrücke, aus-
gestattet werden". — Man könnte drei Gruppen schaffen und der ersten
Gruppe alle jene zuweisen, die einen gewissen hohen Steuerzensus haben,
der diese Personen in die Klasse der Wohlbemittelten einreiht,
ferner alle Personen mit höherer Intelligenz. Dieser Gruppe wäre
eine gewisse Quote aller Mandate zuzuweisen, zum Beispiel ein Viertel.
Die zweite Wahlgruppe hätte aus den städtischen und ländlichen Wählern,
wie sie heute sind, zu bestehen: in die dritte Gruppe endlich kämen alle
jene, die in den beiden ersten Gruppen kein Wahlrecht
haben. Der zweiten Gruppe könnte man die Hälfte, der dritten ein Viertel
aller Mandate überweisen. Mit einem solchen System als Grundlage der
Reform wäre das Hauptziel eines gerechten Wahlrechtes erreicht.
Vor allem wäre den breiten Massen eine wirksame Vertretung gesichert
und die Sozialdemokraten würden gewiß nicht viel schlechter abschneiden
als durch das allgemeine, gleiche Wahlrecht. Wenn der Ministerpräsident
eine solche Wahlreform gebracht hätte, die ja die Kurien des Großgrund-
besitzes und der Handelskammern abschafft und den breiten Massen eine
solche Verstärkung ihres politischen Einflusses zuweist, dann wären gewiß
die Sozialdemokraten im Himmel gewesen (Dr. Adler: Ausgelacht hätte
man ihn!) und auch die Privilegierten hätten sich damit abgefunden. Denn
dann wäre es auch jenen Kreisen noch möglich gewesen, in die Reichsver-
tretung einzutreten, denen es widerstrebt, zu jenen Mitteln zu greifen, ohne
deren Anwendung es unter der Herrschaft des gleichen Stimmrechtes nicht
leicht möglich wird, ein Mandat zu erhalten.
Daran knüpfte er noch Bemerkungen, daß die Abgeordneten immer
daran denken, Minister zu werden, daß die Großgrundbesitzer boykottiert
werden, ja, daß die Minister sie meiden, gerade zur Not noch, daß sie den
Gruß bekommen.
Ihm antwortete sofort Adler.
330 Der Sic« des gleichen Wahlrechts.
und nicht angemessen, in die verschiedenen Suppen zu spucken;
aber er hat nicht eine dieser Suppen ausgelassen, sondern in sämt-
liche sehr kräftig hineinzuspucken versucht. Ob er dabei reüssiert,
ist zu bezweifeln. Neue Argumente konnte er ja nicht vorbringen,
aber daß man in diesem vorgeschrittenen Stadium mit all den alten
Argumenten noch einmal kommt, ist ein Zeugnis für die Zähigkeit
gewisser Ideen, die in diesen Kreisen nicht auszurotten sind.
Dr. v. Grabmayr hat, wie es einem Führer des Großgrund-
besitzes und einem Advokaten des Junkertums angemessen ist, den
Kampf für die Privilegien mit einer ausführlichen Polemik gegen
die Idee der Gerechtigkeit geführt! Es ist ein gemeinsamer Zug aller
Großgrundbesitzer, von den Massen des Volkes im Tone der
Überhebung zu sprechen. Sie überlegen sich tiefsinnig, ob der
Großgrundbesitz es verantworten kann, die Massen weiterhin ohne
seine Fürsorge leben zu lassen, ob man es ohne die tiefere Weisheit
des Großgrundbesitzes in Österreich wird aushalten können. Es
stimmt ganz gut in diesen Gedankengang, daß Dr. v. Grabmayr
heute wieder von den Kurranden gesprochen hat; denn er meint
allerdings, daß das ganze Volk so behandelt werden soll wie die
Kurranden.
Aber über die Zeit solcher Erörterungen sind wir hinaus. Das
sind Stimmen, die von der ganzen Bevölkerung, nicht nur von den
breiten besitzlosen Massen, sondern bis in das Bürgertum einfach
nicht mehr verstanden werden. Dr. v. Grabmayr sagte, man werde
ihn als einen bornierten Mann, als einen Reaktionär erklären.
Persönlich mag er durchaus nicht borniert sein. Aber was er ver-
tritt, ist in der Tat die bornierteste, die reaktionärste
und, was das Schlimmste für die Herren ist, eine absolut un-
mögliche Politik. Wenn man sich mit seinen Ausführungen be-
schäftigt, ist es eine Höflichkeit für seine Person, ein Kompliment
für ihn, aber seine Sache ist gerichtet. Glaubt er, daß die
Massen in Österreich das, was er da vorlegt, anders als mit Hohn
aufnehmen würden? Wenn Baron Gautsch mit einem solchen Pro-
jekt gekommen wäre, so hätten die Großgrundbesitzer vielleicht
danach gegriffen. Aber die Zeiten sind vorbei, wo eine Maßregel,
die das ganze Volk betrifft, bloß den Beifall von ein paar Privi-
legierten braucht. Die gesamte Öffentlichkeit aber wäre über einen
solchen Vorschlag als absurd hinweggegangen.
Herr v. Grabmayr wirft der Sozialdemokratie vor, sie kämpfe
auch nicht für Gerechtigkeit, sondern für ein Klasseninteresse.
Gewiß soll nicht geleugnet werden, daß die Sozialdemokratie den
Klassenkampf des Proletariats führt und daß das Wahlrecht ein
Mittel des Klassenkampfes ist. Aber ihr Klasseninteresse ist eben
mit der Gerechtigkeit identisch, während das Klasseninteresse der
Privilegierten mit der Gerechtigkeit im Widerspruch steht. Wo
immer die Arbeiterschaft ein Klasseninteresse verficht, auf dem
Gebiet der politischen Freiheit, der Sozialreform, vertritt sie zu-
gleich das Interesse des gesamten Volkes.
Die Herren Großgrundbesitzer diskutieren die politische Reife
Antwort an ( ii ,il)in;i yr. 331
der Massen. Aber die Massen haben den Befähigungsnachweis für
das politische Recht gerade dadurch erbracht, daß sie die Privi-
legien nicht mehr dulden, daß sie nicht mehr gewillt sind,
sich in diesem Staate nullifizieren zu lassen. Und wo manche
Schichten noch nicht so weit sind, ist das nur das schlechteste
Zeugnis für das System der Bevormundung und diejenigen, die sie
mit Hilfe der Privilegien lange genug erzogen haben. Das beste
Erziehungsmittel des Volkes ist das allgemeine und gleiche Wahl-
recht, darüber auch nur ein Wort zu verlieren, ist überflüssig.
Demagogische Entstellung.
Aber Herr v. Grabmayr sucht den Ausschuß damit zu schrecket],
daß unter dem gleichen Wahlrecht die Sozialdemokraten der aus-
schlaggebende Faktor in dem neuen Hause sein werden. So sehr
ich das wünschen würde, wissen doch alle sehr gut, daß wir davon
noch sehr weit entfernt sind. Die Darstellung von dem deutschen
und dem slawischen Block, zwischen denen die Sozialdemokraten
dirimieren würden, ist eine demagogische Entstellung
der wahren Verhältnisse. Dr. v. Grabmayr weiß, daß weder der
deutsche noch der slawische Block existiert. Mit der weitest-
gehenden politischen Phantasie kann man unmöglich die öster-
reichische Politik in Situationen auflösen, wo ein slawischer und
ein deutscher Block einander gegenüberstehen. Was in der ganzen
Diskussion von bürgerlicher wie von feudaler Seite immer wieder
frappiert, ist die kolossale Überschätzung des rein mechanischen
Zahlenmomentes. Erschöpft sich denn der Einfluß einer politischen
Partei in der Ziffer ihrer Vertreter? Man hat jetzt eigene Aus-
drücke dafür: fünf ist die Spannung, drei ist die Spannung, null
soll sie sein! Ist denn das ernst? Glaubt man denn, daß die Mandate
Macht geben, weiß man nicht vielmehr, daß die politische Macht
es ist, welche schließlich auch die Mandate gibt, daß jede Partei,
jede Schicht, ja jeder einzelne Staatsbürger eine politische Macht
ausübt, die sich nicht allein ausdrückt im Verhältnis der Stimme,
die er abgibt? Das sind Torheiten, und damit ist auch jeder Ver-
such des Pluralsystems gerichtet. Von konservativer, besonders
von klerikaler Seite hört man: Es sei doch Unrecht, daß der besitz-
lose Arbeiter, der angeblich so viel weniger Interesse an dem
Staate hat als der Bauer oder gar der Großgrundbesitzer oder der
Bankier, dasselbe Maß von politischem Einfluß haben soll. Er hat
es aber gar nicht. Jeder Angehörige der besitzenden Klassen und
der Intelligenz, mag er Doktor, Ingenieur oder Pfarrer sein, übt
durch seine wirtschaftliche und soziale Stellung allein schon ein
Maß von politischem Einfluß aus, das sich durch sein Stimmrecht
nicht abgrenzen läßt, er hat schon an sich ein Plus an politischem
Recht.
Das Pluralwahlrecht.
In Belgien hat man vor zehn Jahren das Pluralwahlrecht ge-
macht, und es wird jetzt zu Grabe getragen. Über ein Jahr wird
man es kaum mehr sehen. Und wie soll es in Österreich aussehen?
Es wurde von acht Kronen direkter Steuer gesprochen. Was be-
332 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
deuten die acht Kronen in Oberösterreich, in Böhmen, in Nieder-
österreich und was bedeuten sie in Oalizien! In üalizien würden
verdammt wenig von diesen acht Kronen erfaßt werden und der
Abgeordnete Pastor wäre mit seiner Pluralität sehr wenig zu-
frieden. Bei uns aber würden die Massen sich dieses Pluralwahl-
recht ganz einfach nicht gefallen lassen. Es ist auch darum un-
möglich, weil es einer richtigen Aufstellung der Wählerlisten die
größten Schwierigkeiten entgegensetzt und zu jedem Unterschleif
und Schwindel vermehrte Gelegenheit bietet, an dem wir, und
nicht nur hier in Wien, schon heute genugsam leiden.
Dr. v. Qrabmayr hat sich selbst geschlagen, indem er meinte,
man dürfe das allgemeine Wahlrecht für den Reichsrat nicht ein-
führen, weil es auf das Land und die Gemeinden übergreifen würde,
andererseits aber auf die Landtage im Deutschen Reiche hinweist,
die sich trotz des Reichstagswahlrechtes dem allgemeinen Wahl-
recht bisher mit Erfolg widersetzen.
Die Intrigen des Großgrundbesitzes.
In Preußen und Sachsen wird das ungleiche Wahlrecht für den
Landtag in der Tat nur darum noch ertragen, weil das gleiche
Wahlrecht für den Reichstag eine gewisse Kompensation bildet.
Charakteristisch ist aber, daß ein Liberaler das Beispiel der
preußischen Junker als Muster für die österreichische
Volksvertretung hinstellt. Die Rede Dr. v. Grabmayrs ist nur als
ein Rückzugsgefecht anzusehen, als der Versuch, gerade
das zu tun, was man zu tun leugnet, nämlich die Verhand-
lungen außerhalb dieses Saales zu stören, nahe-
stehende Volksgenossen und Politiker in bösen
Geruch zu bringen, das Werk des Friedens, das sich vor-
bereitet, möglichst zu behindern. Diese Rede ist die Intrige
des Großgrundbesitzes, auf einen kurzen rheto-
rischen Ausdruck gebracht. Und dieser Versuch wird
unternommen mit den kleinlichsten und verwerflichsten Mitteln,
mit der nationalen Demagogie, die den Herren sehr
schlecht ansteht, mit dem Verdächtigen von Leuten, die „nach
politischer Macht und Ministerposten streben". Es war interessant,
das gerade aus dem Munde eines Redners der Großgrundbesitzer
zu hören, bei denen man eine professionelle Abneigung gegen das
Ministerwerden bisher noch nicht gesehen hat. Dr. v. Grabmayr
hat sich so sehr gegen den Verdacht verwahrt, der Fuchs mit den
sauren Trauben zu sein, daß man an das qui s'excuse, s'aecuse*) allzu
deutlich erinnert wird.
Das trifft ihn vielleicht nicht persönlich. Dr. v. Grabmayr hat
eine freie Stellung, die er gewiß mit der Last eines Ministerporte-
feuilles nicht gern vertauschen würde. Aber er spricht doch für
seine Gruppe. Die melancholischen Auseinandersetzungen darüber,
daß ihn die Minister „schneiden", von dem Salon der Zurücks
gewiesenen, die Klagen, daß man kaum gegrüßt werde, wecken
*) Wer sich entschuldigt, klagt sich an.
Antwort an Qrabmayr.
doch den Verdacht, daß die Herren eine Wahlrcfonii möchten, bei
der gerade diese persönlichen Verhältnisse sich anders gestalten
würden, bei der sie mit der ganzen Mache, ja sogar mit den Porte-
feuilles etwas näher zu tun hätten. Aber das ist schließlich ihre
eigene Schuld. Ms war ja nicht notwendig, gerade das zu ihrem
Programm zu machen, was einfach u n m ö glich geworden ist.
Wer mit der Bevölkerung weit über die Arbeiterklasse hinaus
irgendeine Fühlung hat, weiß, daß kein Mensch von diesem Hause
etwas anderes erwartet, als daß das allgemeine, gleiche Wahlrecht
so einfach und so schnell als möglich gemacht wird.
Die Bevölkerung, Ihre eigenen Wähler, meine Herren, würden es
nicht verstehen, daß man wegen zweier Mandate auf oder ab
dieses grundlegende Werk Schiffbruch leiden ließe.
Vergeudung der politischen Kraft.
Die Bevölkerung ist dieses Spieles müde und
weiß, daß das, was hier noch geschieht, wenn das Haus noch weiter
mit der Perfektionierung der Wahlreform zögert, einfach eine Ver-
geudung von politischer Kraft ist. Man möge den
öffentlichen Frieden und die ruhige Entwicklung nicht gefährden,
indem man überflüssig zögert. Die Arbeiterschaft, die hierin aber
nur die Führung der breiten Massen aller Schichten des Volkes hat,
fängt an, ungeduldig und mißtrauisch zu werden. Es
wäre eine Frivolität und ein politisches Verbrechen,
wenn man den Massen ganz überflüssigerweise noch einmal einen
Kampf auferlegen würde. Denn dieser Kampf würde in einer
ganz anderen Stimmung vor sich gehen. Es ist nicht wahr, wenn
gesagt wird, die Sache sei so plötzlich gekommen. Der 28. No-
vember nur hat die Summe einer politischen Entwicklung von
vielen Jahrzehnten gezogen. Einmal muß ja das Maß voll sein. Und
es ist längst voll. Man soll weiter gehen in der politischen Einsicht
als die Krone, als eine Beamtenregierung, wie die des Baron
Gautsch. Aber ein österreichischer Volksvertreter hat doch nicht
das Recht, hinter der Krone und hinter einem Beamtenministerium
an politischer Einsicht und an Respekt vor dem Rechte des Volkes
zurückzustehen. Es ist höchste Zeit, das Werk zu beenden. Nicht
eine Woche, nicht ein Tag, nicht eine Stunde ist
zu verlieren. Wenn sich der Bevölkerung die Überzeugung
bemächtigen würde, daß der Wille der Krone nicht aus-
reicht, daß der gute Wille der Regierung nicht aus-
reicht, daß die eigene Einsicht der Herren nicht ausreicht, dann
würden wir vor einem Kampfe stehen, dessen Konsequen-
zen man sich bewußt sein möge. Sie können heute
noch das gleiche Wahlrecht bringen als einen Erfolg, den die
Einsicht der Krone, die freiwillige Ergebung des Hauses in ein Un-
vermeidliches, sagen wir, die Einsicht des Parlaments erreicht hat.
Wenn Sie diesen Zeitpunkt versäumen, wird die Wahlreform
ein Schritt sein, der dem Parlament wider seinen Willen
wirklich durch die Gewalt der Tatsachen abgezwungen wird. Wir
wünschen das nicht, wir wünschen nicht, daß das Volk schwere
334 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Opfer zu bringen hat für Dinge, die wir ohne Opfer haben können
und die uns ohne Opfer gebühren. Nicht wir sind diejenigen, welche
revolutionäre Ereignisse entfesseln wollen; diese entfesseln nur
immer diejenigen, die einsichtslos, eigensüchtig sind und überdies
kurzsichtig genug, das Interesse des Moments höher zu stellen als
das Gebot der politischen Notwendigkeit. Jede Stunde, die die
privilegierten Herren gewinnen, die auf dem Standpunkt stehen,
Zeit gewonnen — alles gewonnen; jede Stunde, die dieser Cliquen-
egoismus gewinnt, ist ein unersetzlicher Verlust für das Volk und
für den Staat. In wenigen Tagen wird die Maifeier statt-
finden, die diesmal naturgemäß unter dem Zeichen der Wahl-
reform stehen wird. Es ist zu wünschen, daß sich die Maifeier auch
unter dem Eindruck vollziehe, daß prinzipiell die Schlacht für das
gute Recht bereits gewonnen sei, daß man in diesem Ausschuß
jenes Minimum von Einsicht und von Ökonomie in bezug auf die
Anwendung von politischer Kraft habe, das notwendig ist, um hier
einfach ja zu sagen.
Keine Verzögerung!
Zum Schluß ersuche ich die Herren, jede unnütze Verzögerung
der Verhandlung hintanzuhalten*). Gewiß ist die Generaldebatte
überflüssig und der Schwerpunkt liegt in den Verhandlungen außer-
halb des Ausschusses, aber sie muß endlich auch formell zum Ab-
schluß gebracht werden; das ist man der Bevölkerung schuldig,
die mit größter Spannung den lebenswichtigen Verlauf der Aktion
verfolge. Eine Verzögerung oder Verschleppung
wird niemand verantworten können**).
*) Dieser Appell bezog sich darauf, daß Geßmann zu Beginn der Sitzung die
Unterbrechung der Ausschußverhandlungen angeregt hatte, da der Aus-
schuß durch die gegenwärtige Art der Verhandlungen in Mißkredit kommen
müsse.
**) Die Wahlreform war wirklich in einer schweren Krise. Gautsch
schlug zunächst die Schaffung von 24 neuen Mandaten vor, von denen die
Deutschen zwölf, die Polen zehn und die Tschechen und Italiener je eines
erhalten sollten. Dadurch würde die slawische Mehrheit erhalten, aber von
fünf auf drei Mandate sinken. Zugleich suchte er, um die Krise zu bannen
und eine Verständigung zu erleichtern, eine Parlamentarisierung
der Regierung in die Wege zu leiten. Statt der Beamten sollten Parla-
mentarier aus den drei großen nationalen Gruppen in die Regierung ein-
treten, und zwar vier Deutsche, zwei Tschechen und zwei Polen. Man
nannte auch schon von den Deutschen: Dr. Derschatta (Deutsche
Volkspartei) als Eisenbahnminister, Dr. Groß (Fortschrittspartei) oder
Prade (Deutsche Volkspartei) als Landsmannminister, und Dr. Eben-
hoch (Klerikales Zentrum) als Ackerbauminister; von den Tschechen:
Dr. P a c a k als Landsmannminister und Dr. 2 a c e k (der zweite Vize-
präsident des Abgeordnetenhauses) als Handelsminister, und von den Polen
Graf Dzieduszycki als Landsmannminister und Dr. Madeyski als
Unterrichts- oder Justizminister. Da aber, namentlich infolge des Wider-
standes der Polen, eine Einigung nicht zustande kam, mußte Gautsch
zurücktreten.
Kein Subkomitee.
Kein Subkomitee!
Wahl refor maus schuft 2 5. Mai [906*).
Dr. Adler warnt vor der Einsetzung von Subkomitees. Es ist
absolut nicht notwendig, daß ein Subkomitee über Dinge berate, die
in der Presse wie in allen Klubs bereits genügend erörtert sind und
über die sich jeder schon eine Meinung gebildet hat. Kr warne aber
auch davor, jetzt einfach die Sitzung zu schließen und nichts weiter
zu machen. Die formale Schwierigkeit, die dadurch entstanden sei,
daß der Ministerpräsident nur eine „Anregung" gegeben habe, lasse
sich leicht beseitigen, indem entweder der Ministerpräsident selbst
oder irgendein Mitglied des Ausschusses diese Anregung in einen
Antrag umwandle. Zu dem Schluß der heutigen Sitzung könnte
man sich nur unter der Bedingung verstehen, daß bis morgen früh
die Vorschläge des Ministerpräsidenten gedruckt und an die Aus-
schußmitglieder verteilt würden. Die Frage, ob man den $6**) allein
oder im Zusammenhang mit der Wahlkreiseinteilung verhandeln
*) Am 3. Mai 1906 hatte die „Wiener Zeitung" die Demission des
Ministerpräsidenten G a u t s c h und die Ernennung des neuen Minister-
präsidenten Prinzen Konrad Hohenlohe kundgemacht und damit der
Krise ein Ende gemacht, die die Wahlreform in den letzten Tagen durch-
gemacht hatte und die um ein Haar die Arbeiterschaft zum Massenstreik
gezwungen hätte. Über Hohenlohe und seinen Sturz siehe Näheres in den
Fußnoten zur folgenden Rede vom 30. Mai über die ungarische
Intrige.
Aber Hohenlohe vermochte die Wahlreform nicht vorwärts zu bringen.
Im Abgeordnetenhaus zog sich die Debatte über die Erklärung, die er am
15. Mai abgegeben hatte — er sagte, die Wahlreform werde nicht mehr
von der Tagesordnung verschwinden — bis zum 25. Mai hin. An diesem
Tage machte Hohenlohe im Wahlreformausschuß einen neuen Kompromiß-
vorschlag, wonach die Zahl der Mandate um vierzig vermehrt werden sollte,
wovon auf die Deutschen 18, auf die Polen 14, die Tschechen 4, die Ita-
liener 2 und auf die Ruthenen und Rumänen je eines entfallen würden.
Außerdem sollte die Wahlkreiseinteilung durch das Erfordernis der Zwei-
drittelmehrheit geschützt werden. Formell waren die neuen Mandate nicht
den Nationen, sondern den Ländern zugewiesen, aber nach der Wahlkreis-
einteilung war zu berechnen, wie sie sich auf die Nationen verteilen
würden. Über die „S p a n n u n g" zwischen dem „deutsch-romani-
schen" und dem „slawischen Block" siehe die Fußnote bei Adlers
Rede über die neue Regierung Beck am 6. Juni 1906.
Allerdings brachte Hohenlohe diese Vorschläge nicht als Regierungsent-
wurf ein, sondern bezeichnete sie als „Anregungen", von denen er die Hoff-
nung aussprach, daß sie für eine Einigung ein „Substrat" bilden würden.
Im Ausschuß entspann sich darauf eine Debatte, wie man nun vorgehen
solle. 0 e ß m a n n meinte, man solle ein Subkomitee einsetzen, zog aber
den Antrag später wieder zurück.
Schließlich wurde beschlossen, die nächste Sitzung am 29. Mai abzu-
halten. Aber an diesem Tage war Hohenlohe schon gefallen.
**) Der § 6 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung bestimmte die
Zahl der Mandate der einzelnen Länder. Die Wahlkreiseinteilung war
in der Wahlordnung festgelegt.
33(3 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
soll, ist sehr einfach zu lösen. Jeder m ann ist überzeugt,
daß die Abstimmung über die Anzahl der Man-
date in jedem Kronland mit der Art der Aufteilung
der Mandate innerhalb dieses Kronlandes zu-
sammenhänge, und es ist kein Zweifel, daß, wenn man zum
Beispiel mit der Beratung der Bestimmung beginnt: „Auf das Kron-
land Böhmen entfallen soundso viel Mandate", in der Diskussion
auch über die Wahlkreiseinteilung beziehungsweise über den natio-
nalen Schlüssel wird gesprochen werden müssen. Es sei also auch
hier nicht notwendig, Subkomitees einzusetzen, sondern es werde
genügen, wenn die Mitglieder eines Kronlandes in dem Augenblick,
wo ihr Land an die Reihe kommt, einfach zu einer Besprechung
zusammentreten. Man könnte auch heute ohne wei-
teres in die Diskussion eingehen, bevor die Aus-
führungen des Ministerpräsidenten gedruckt vorliegen. Man möge
doch nicht voreinander Verstecken spielen; überrascht war man
von dem Gehörten nicht, man hat das in den verschiedenen
Zeitungen in der letzten Zeit schon gelesen. Wenn gesagt wird, daß
man in den Klubs erst darüber reden müsse, sowärediesnur
eine Anregung zur Verschleppung, gegen die man
sich auf das entschiedenste verwahren müßte. Er
beantragt also, die Diskussion ohne weiteres fortzusetzen und über
§ 6 zu sprechen. Bis zur Abstimmung über § 6 werden auch
die Vorschläge des Ministerpräsidenten im Druck vorliegen. Für den
Fall der Ablehnung dieses Antrages beantragt er, die nächste
Sitzung für morgen, 10 Uhr vormittags, anzu-
setzen, bis zu welchem Zeitpunkt die Drucklegung zu erfolgen
hätte.
Die ungarische Intrige.
Parlament, 3 0. Mai 190 6.
Der sozialdemokratische Verband hat sich dem Dringlichkeits-
antrag*) angeschlossen, weil auch er es für wünschenswert hält,
daß das Parlament eine möglichst einmütige Erklärung abgebe über
die Anschauung, die es von den letzten Vorgängen hat; es liegt
*) Am 3. Mai 1906 war Prinz Konrad von Hohenlohe, der als
Statthalter von Triest und schon früher als Bezirkshauptmann von
Teplitz sich den Beinamen des „roten Prinzen" erworben hatte — weil
er der Arbeiterbewegung mit Verständnis entgegentrat — , zum Minister-
präsidenten ernannt worden, um die Schwierigkeiten, die sich der Wahl-
reform entgegenstellten, zu besiegen. Aber schon am 28. Mai fiel er einer
ungarischen Intrige zum Opfer. Im April war nämlich in Ungarn die
Koalitionsregierung W e k e r 1 e gebildet worden, der Franz K o s s u t h,
des Rebellen Kossuth Lajos (Ludwig) unwürdiger Sohn, und Graf A p-
ponyi angehörten, deren Hauptsorge es war, die Wahlreform in Ungarn
zu verhindern und die deshalb auch der österreichischen Wahlreform ein
Bein stellen wollte. Sie beschloß, den beiden Staaten gemeinsamen Zoll-
tarif dem ungarischen Reichstag als selbständigen ungarischen Zolltarif
vorzulegen. Im Kronrat, dem gemeinsamen Ministerrat unter dem Vorsitz
Die ungarische Intrige. 337
in der Natur der Sache, daß man, wenn man eine einmütige Kund-
gebung will, alles zurückstellen und aus dem Antra« ausscheiden
mußte, was das eigentliche Wesen, was das Charakteristische der
Auffassung jeder einzelnen Partei ist, und so sind wir dahin gelangt,
einen Dringlichkeitsantrag vorzulegen, der rein negativ ist und
der auch in der Negative, das heißt in der A h I e ii n u n g dessen,
was geschehen ist,
ein bloßes Minimum
darstellt, ein Minimum dem Inhalt nach und ein Minimum dem
Grade nach. So leidenschaftslos, wie dieser Antrag lautet, ist die
leidenschaftsloseste Partei in diesem Hause — man braucht sie
nicht näher zu bezeichnen — ; unter dieses Niveau geht niemand.
Wir Sozialdemokraten betrachten die Dinge, die geschehen sind,
nicht ganz so ruhig, wie sie in diesem Antrag dargestellt werden.
Wir sind uns vollkommen bewußt und die Arbeiterschaft empfindet
es schwer, daß in wirtschaftlichen Fragen allerersten Ranges, daß
in Verhältnissen, die die ganze wirtschaftliche Entwicklung dieses
Staates berühren — ich sage „dieses Staates" und nicht „des Dies-
seits" (Heiterkeit) und auch nicht „dieser Reichshälfte" oder „der
im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder"*) (neuerliche
Heiterkeit), sondern dieses Staates Österreich, für den wir ein
des Kaisers, wurde das Vorgehen Ungarns trotz dem energischen Protest
Hohenlohes gebilligt. Darauf trat Hohenlohe zurück. An seine Stelle wurde
nun im Juni der Sektionschef im Ackerbauministerium, Freiherr Wladimir
v. Beck, an die Spitze der Regierung gestellt — der ehemals ein Ver-
trauensmann des Thronfolgers Franz Ferdinand gewesen war, aber nun
bei diesem in Ungnade fiel. Es gelang ihm, die bürgerlichen Parteien für
sein Ministerium und damit für die Wahlreform zu gewinnen. Von der
Deutschen Volkspartei wurde Dr. v. Derschatta Eisenbahnminister,
Prade deutscher Landsmannminister, der Liberale Professor Marchet
Unterrichtsminister; von den Tschechen wurde Dr. Forscht Handels-
minister, Dr. P a c a k tschechischer Landsmannminister, von den Polen,
die bisher besonders feindlich gewesen waren, Graf Dzieduszycki
polnischer Landsmannminister, Dr. R. v. K o r y t o w s k i Finanzminister.
Außerdem gehörten der Regierung an: Dr. v. Bienerth als Minister des
Innern, Dr. Franz Klein als Justizminister, Feldzeugmeister Schönaich
als Landesverteidigungsminister, Graf Leopold Auersperg als Acker-
bauminister.
Am 30. Mai wurde nun im Abgeordnetenhaus ein in der Obmänner-
konferenz von allen Parteien vereinbarter Dringlichkeitsantrag verhandelt,
der einen Protest gegen den ungarischen Übergriff enthielt. Für die
Sozialdemokraten sprach Dr. Adler. Der Dringlichkeitsantrag wurde dann
mit 240 gegen 8 Stimmen (der Tschechischradikalen) angenommen.
*) Von den beiden Hälften der Monarchie hatte nur Ungarn einen
Namen, der andere Teil hieß offiziell „die im Reichsrat vertretenen
Königreiche und Länder" und wurde oft im politischen Sprachgebrauch
„die diesseitige Reichshälfte" genannt. Der Name „Österreich" war ver-
pönt, da er nach der Auffassung der Patrioten auch Ungarn umfaßte, was
von den Ungarn aber mit Entrüstung abgelehnt wurde. Oft sagte man
auch nach dem Grenzfluß „Zisleithanien", für Ungarn dann „Trans-
leithanien".
Adler, Briefe. X. Bd. 22
338 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Gesamtgefühl, eine Empfindung der Gesamtinteressen Österreichs
haben — , die Arbeiterschaft empfindet es schwer, daß die wich-
tigsten wirtschaftlichen Fragen, und nicht erst seit vorgestern, ent-
schieden werden, ohne daß eine Vertretung des Volkes diese wirt-
schaftlichen Interessen wahrt; wahrt gegen Ungarn und gegen die
Krone. Was geschehen ist und worüber in diesem Hause eine solche
Entrüstung herrscht, der wir uns bis zu einem gewissen Grade an-
schließen, das ist in der Tat eine Beleidigung vor allem der Selb-
ständigkeit, der Ehre dieses Staates — wenn ein Staat und eine
Ehre vorhanden ist. Mit vollem Bewußtsein hat man sich ent-
schlossen, ein vom Hause beschlossenes, vom Kaiser sanktioniertes
und nach allen Regeln kundgemachtes Gesetz einfach zu zer-
reißen, und man bildet sich ein, daß es seine Verbindlichkeit
trotzdem behält, weil man weiß, daß an den tatsächlichen Verhält-
nissen dadurch nichts geändert wird, und weil man hofft, und nach
allem, was man von Österreich und seinem Parlament kennt, darf
man es hoffen und erwarten, daß die Konsequenzen daraus von
diesem Hause und von Österreich nicht gezogen werden. Mit vollem
Bewußtsein hat man das getan und hat das Parlament nicht gefragt.
Ja man hat das getan, trotz des Einspruchs der zur Wahrung der
österreichischen Interessen berufenen Regierung, der ersten Regie-
rung, die mit der Ehre Österreichs, mit der Wahrung der Interessen
Österreichs gegenüber Ungarn ihre Existenz verknüpft hat, die den
Mut gehabt hat, so wie sie das Lebensinteresse Österreichs nach
innen in der Wahlreform vertreten hat, auch das Interesse und die
Ehre Österreichs nach außen zu vertreten, gegenüber Ungarn und
gegenüber der Krone. (Beifall.)
Es wird ja vielfach davon gesprochen, als wäre dieser Ziegel-
stein, der uns da auf den Kopf gefallen ist, ein Manöver, das gegen
die Wahlreform erfunden wurde; ja man geht so weit, zu behaupten,
daß der Ministerpräsident Hohenlohe diese Gelegenheit benützt
hätte, um sich aus der „Affäre zu ziehen", weil er verzweifelt
habe, die Wahlreform durchzusetzen. Ich zweifle gar nicht, daß,
wenn ein solches Manöver möglich gewesen wäre, es gemacht
worden wäre, wie jedes Manöver gegen die Wahlreform. Aber daß
die Regierung daran teilgenommen hätte, ist gewiß falsch. Prinz
Hohenlohe hat, als er das erstemal hier in das Haus kam, erklärt,
daß er aus dem Kontext der ungarischen Fragen nichts herausreißen
lasse, und er ist als ein redlicher Mann — gewiß eine bei einem öster-
reichischen Minister vollkommen unerhörte Erscheinung — bei
seinem Worte geblieben. Weil aber diese Erscheinung so selten ist,
sucht man sich sie zu erklären: dahinter müsse etwas stecken, wenn
jemand ein anständiger Mensch ist. (Heiterkeit.) Wohl aber — das
will ich gar nicht leugnen — gibt es Parteien, Cliquen hier und
jenseits der Leitha, denen dieser Konflikt, der uns hier dazwischen
kommt, und der eine Entwicklung, die das Parlament gesund
machen und die uns ein Parlament geben soll, stört, gelegen kommt.
Schon in den ersten Stadien der Wahlreform wurde in tiefsinnigen
Auseinandersetzungen immer auf die ungarischen Dinge hin-
gewiesen. Ich glaube gern, daß es den Herren sehr gelegen kommt,
Die ungarische Intrige. 339
dilti jetzt einen Moment lang nicht von der Wahlreform, sondern
von Ungarn gesprochen wird. Aber die Herren täuschen sich; vor
allein ist das, was sie tun, ein ungarisches Interesse, oder vielmehr,
man darf Ungarn nicht mit seiner Regierung identifizieren, man darf
das Volk Ungarns, möge es magyarisch, slovakisch, rumänisch
heißen, nicht mit der Junkerclique identifizieren, die dort am Ruder
ist. (Beifall.)
Abgeordneter Pernerstorf er: Betyarenclique*), nicht Junker!
Abgeordneter Dr. Adler: tis ist selbstverständlich, daß die unga-
rische Regierung die Wahlreform hier zu stören wünscht, so gut
sie kann. Denn es ist ein wesentlich ungarisches Interesse, ein Inter-
esse gegen Österreich, es ist das Verderben Österreichs, wenn es
nicht dazu kommt, diesem Ungarn ein Parlament entgegensetzen
zu können. (Beifall.) Wir haben heute das Haus gesehen, wie es
einen Anlauf nimmt, um stark zu erscheinen. Aber, täuschen wir
uns nicht, das. was wir vor uns gesehen haben, ist ein Versuch
zur Stärke, aber ein Ergebnis der Schwäche des Parlaments. Je
lebhafter und aufgeregter Sie darüber reden, um so weniger werden
Sie die Bevölkerung darüber täuschen können, daß die Schuld
daran, daß das geschehen konnte,
nicht ausschließlich bei der Krone liegt,
sondern daß die Schuld daran liegt, daß Österreich keine Volks-
vertretung hat, die man respektieren muß. (Beifall.)
Was wird Ihnen hier vorgeschlagen? Es wird uns gesagt: Es
darf niemand Minister werden! Wir werden ja sehen! (Heiterkeit.)
Dann wird uns gesagt: Weg mit dem § 14! Das soll unsere Maß-
regel sein. Aber, meine Herren, beschließen Sie sie doch! Sie sind
ja hier im Hause! Beseitigen Sie den § 14! Sie werden uns an Ihrer
Seite haben. Zur Beseitigung des § 14 gehören allerdings auch
andere Faktoren als dieses Haus. Aber sie hätten es ja sehr bequem.
Sie brauchen den § 14 nicht zu beseitigen und könnten sich doch
helfen.**) Schicken Sie doch einen Diener in das Archiv und lassen
*) Ein in Ungarn übliches Schimpfwort für Landstreicher und Wege-
lagerer, meist auf den Adel gebraucht und daher auch in Österreich für die
ungarischen adeligen Politiker üblich.
**) Der § 14, der den Regierungen der Vorwand war, das Parlament
beiseitezuschieben (seinen Wortlaut siehe Bd. VIII, Seite 151, Note),
bestimmte wohl, daß, wenn sich die dringende Notwendigkeit einer gesetz-
lichen Anordnung herausstellt, wenn der Reichsrat nicht versammelt ist,
das durch kaiserliche Verordnung geschehen könne. Aber er bestimmte
auch, daß die Regierung eine solche Verordnung dem Parlament sofort
nach seinem Zusammentritt vorleben müsse und daß die Verordnung
außer Kraft trete, wenn auch nur eines von beiden Häusern sie nicht
genehmige. Dadurch hätte es das Abgeordnetenhaus jederzeit in der Hand
gehabt, den versteckten Absolutismus der §-14-Wirtschait zu beseitigen,
wenn es auch nur ein einzikresmal einer §-14- Verordnung die Genehmi-
gung versagt hätte, weil das dann jeder Regierung den Mut benommen
hätte, mit dem § 14 zu regieren. Aber gerade das wollten die bürger-
lichen Parteien nicht, weil jede hoffte, seihst einmal mit ('ein § 14 zu
regieren.
22*
340 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Sie sich den Stoß S-14-Verordnungen geben, denen das Haus seine
Zustimmung noch nicht gegeben hat. Ms ist eine beträchtliche
Anzahl.
Abgeordneter Dr. v. Grabmayr*): Lesen Sie meinen Bericht!
Abgeordneter Dr- Adler: Und wenn Sie sie durch einen Fach-
mann durchsehen lassen, so werden Sie auf die eine oder andere
kommen, durch deren Ablehnung Sie die ganze §-14-Wirtschaft und
was drum und dran hängt abtun würden. Das können Sie sehr gut
machen ohne Aufwand von großen Gebärden, ohne an Beschlüsse
des Herrenhauses und an die Zustimmung der Krone gebunden zu
sein. Warum machen Sie es denn nicht?
Abgeordneter Seitz: Warum haben Sie es so viele Jahre lang
nicht gemacht?
Abgeordneter Dr. Adler: Nein, aus diesem Hause wird nichts!
Und die Bevölkerung wird sich durch noch so lebhafte Gebärden
von Ihnen nicht täuschen lassen. (Lebhafter Beifall.) Wir sollen kein
Geld für Soldaten hergeben, wurde uns von dieser Seite gesagt.
Wir hoffen, die Herren bleiben dabei.
Abgeordneter Wohlmeyer: O gewiß!
Abgeordneter Dr. Adler: Ja, mir ist das Pfand nicht ausreichend!
(Heiterkeit.) Wir werden ja sehen!
Dr. v. Derschatta hat eine sehr sachliche, schlüssige, in den
Hauptdingen durchaus zutreffende Rede gehalten. Er hat darauf
verwiesen — und eine Reihe anderer Herren hat sich ihm an-
geschlossen — wie schrecklich es ist, daß man in diesem kritischen
Augenblick das Haus sogar vertagen will, daß man
das Haus nicht früher gefragt
hat. Aberfragt man Sie denn heute? Der Kaiser läßt sich
den Statthalter von Böhmen kommen, den Statthalter von Steier-
mark, den Statthalter von Niederösterreich, auch einige Leute, die
früher Statthalter waren oder es demnächst werden sollen, Büro-
kraten aller Rangsklassen, soweit sie ministrabel sind. Es sind
Herren darunter, die sich gar nicht in die Sonne getrauen dürfen,
geschweige in dieses Haus, Herr v. Wittek**) zum Beispiel. Aber
*) Dr. v. Grabmayr war Abgeordneter des Tiroler Großgrund-
besitzes, ein sehr kenntnisreicher Jurist, aber ein fanatischer Feind der
Wahlreform. (Siehe übrigens Adlers Antwort an Grabmayr in der Aus-
schußsitzung vom 26. April.)
Er hat im Jahre 1906 im Namen des Verfassungsausschusses einen
Bericht über den § 14 erstattet, aus dem sich ergibt, daß von 1897 bis
1904 nicht weniger als 76 Notverordnungen auf Grund des § 14 erlassen
wurden. (Siehe Richard C harmatz: „Österreichs innere Geschichte
von 1848 bis 1907", Bd. II, Seite 175).
Wohlmeyer war ein Christlichsozialer. Vertreter des Land-
gemeindenbezirkes von St. Polten (Niederösterreich), von Beruf Bau-
meister.
**) Heinrich v. W i 1 1 e k war von 1897 bis 1905 Eisenbahnminister. Vom
21. Dezember 1899 bis 18. Jänner 1900 (wo Körber die Regierung antrat)
war er auch Leiter eines provisorischen Beamtenministeriums und hat, im
Gegensatz zu dem ebenfalls provisorischen Geschäftsministerium des Grafen
Die ungarische Intrige. 'Mi
d u ß in a 11 e t w a d a s A l> g e <> r d n e t e n haus f r a g t, <J a ß
m an die A h g e o r d n e t e n i r a g e n w ü r d e, d a s ist der
Krön e g a r nicht ei n gefall e n! Jetzt wundern sie sich aber
nicht, wenn ich als Verteidiger der Krone und als Mir Ankläger auf-
trete. Die Krone hat in diesem Punkte zunächst recht, wenn sie
meint, daß Sie nicht gescheiter geworden sind. Ist denn der
kritische Moment, in dem Sie die Mithilfe und Verantwortlichkeit
des Parlaments so schwer vermissen, alle zusammen, sogar die-
jenigen, die am maßvollsten sind, erst heute eingetreten, nachdem
die Kuh aus dem Stalle ist? Wußten Sie nicht schon längst, daß
es einen kritischen Moment gibt, und waren Sie nicht tatsächlich
gerade in den letzten zwei Monaten in der Lage, die Verantwortung
auf sich zu nehmen, die Führung der Angelegenheiten des Staates
und Österreichs zu übernehmen, wenn Sie die Courage gehabt
hätten und nicht der kläglichsten Demagogie unter Ihnen selbst
unterliegen würden, dem kläglichsten Neid, der kläglichsten Eifer-
sucht, die alles ertötet? (Beifall.) Ich kann das hier ruhig sagen,
mich wird niemand im Verdacht haben, daß unsere Partei etwa
glaubt, daß wir, wenn die Herren Minister werden, sehr viel davon
hätten. Im Gegenteil, wir wissen sehr gut, daß, wenn ein solches
Ministerium aus den Bürgern, wie sie halt jetzt ausschauen, ge-
bildet würde, eine verdammt schwere Erziehungsarbeit von uns
geleistet werden müßte, bis sie halbwegs so hergerichtet sind, um
mit der österreichischen Arbeiterschaft umgehen zu können. (Bei-
fall und Heiterkeit.) Aber Sie haben nicht das Recht, die Schuld
auf die Krone allein zu wälzen. Sie sagen heute, wir haben
ein schwaches Parlament.
Warum machen Sie sich kein starkes? Vielleicht ist es erlaubt,
ich glaube sogar, es ist höchst notwendig, daß man weitsichtiger
ist als die Krone, aber kurzsichtiger, politisch einsichtsloser
zu sein als die Krone, ist Ihnen nicht erlaubt, und gerade das sind
Clary, der die Anwendung des § 14 verweigerte, sich nicht gescheut, sich
zum §-14-Regieren mißbrauchen zu lassen. Unter ihm wurde durch einen
kühnen Vorstoß der Sozialdemokraten der Zeitungsstempel aufgehoben.
In Wirklichkeit wurde die Aufhebung des Zeitungsstempels nur unter
ihm sanktioniert, aber vor seinem Regierungsantritt beschlossen. Am
17. November 1899 hatte das Abgeordnetenhaus unter dem Druck der
Arbeiterschaft die Aufhebung des Zeitungsstempels beschlossen, aber das
Herrenhaus war damit nicht einverstanden und wollte in der Sitzung vom
19. Dezember die Vorlage durch Zuweisung an die Budgetkommission
verschleppen. Da griff die sozialdemokratische Partei ein und namentlich
die „Arbeiter-Zeitung" erzwang durch eine Reihe schneidiger Artikel (die
von Friedrich Austerlitz geschrieben waren) eine öffentliche Stim-
mung, daß das Herrenhaus nicht mehr den Mut zu weiterer Sabotage
aufbrachte. Am 21. Dezember nahm das Herrenhaus die Vorlage an, an
demselben Tag, an dem das Ministerium Clary zurücktrat und dem volks-
feindlichen Wittek Platz machte. Wittek mußte sein Amt als Eisenbahn-
minister verlassen, als seine Mißwirtschaft bei den Alpenbahnen aufkam.
Et wurde übrigens im Jahre 1907 von den Christlichsozialcn in der Inneren
Stadt In Wien in das Parlament gewählt, ist aber 1911 durchgefallen.
342 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Sic gewesen. (Beifall.) Nicht seit ein paar Monaten, seit langem
könnten Sie ein Parlament haben, vor dem man Respekt hat. und
eine Regierung, die Sie selbst respektieren müßten, weil es Ihre
Regierung wäre, eine bürgerliche Regierung mit allen Lastern und
Härten einer solchen, aber ein Gebilde, das Ihnen verantwortlich
ist. Sie könnten es haben, wenn Sie entschlossen wären, Männer
zu sein, Verantwortungen zu übernehmen, statt daß Sie bei Ihrem
wichtigsten Werke, das die Regeneration, die Neubegründung dieses
Staates bedeutet, in kläglichster, verächtlicher Weise um zwei
Mandate hinauf oder hinunter geschachert haben. (Lebhafter Bei-
fall.) Da nehme ich niemand aus, am wenigsten diejenigen, die sich
nicht an dem Schacher beteiligt, sondern sich nur die Hände ge-
rieben haben, die, selbst ohne nationales, geschweige chauvinisti-
sches Bewußtsein, jeden Chauvinismus geschürt haben, jede natio-
nale und chauvinistische Demagogie aufgepeischt haben, um nur
den rechtlosen Massen des eigenen Volkes ihr Recht zu nehmen.
(Beifall.)
So einfach können wir diese Gelegenheit nicht vorübergehen
lassen. Wir sind mit dem Inhalt dieser Resolution vollständig ein-
verstanden, wir sind einverstanden, daß dagegen protestiert wird,
daß ohne das Parlament, ohne das Volk über das Volk und gegen
das Volk entschieden wurde. Und es wird so lange gegen uns ent-
schieden werden, als wir die Schwächeren sind, da nützen alle Ihre
Deklamationen nichts. Wenn der Kaiser die Wahl hat
zwischen einer starken ungarischen Regierung
und einer ohnmächtigen österreichischen Volks-
vertretung, so wird er eben dem stärkeren Drucke
weiche n. Wir alle sind hier Österreicher oder, sagen wir, Bürger
der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder oder min-
destens die Bewohner des Diesseits. (Heiterkeit.) Und wenn Sie.
die das sind, Ihre Pflicht gegen diesen Staat so wenig erfüllen,
wenn Sie nicht seit heute, sondern seit Jahrzehnten die wirtschaft-
lichen und politischen Rechte dieses Staates preisgegeben haben,
der noch nicht ist, sondern erst werden soll: wie können Sie
von dem einzigen Menschen auf der ganzen WTelt,
der zugleich ein Österreicher und ein Ungar is t*).
verlangen, daß er einseitig für Sie entscheide?
(Zustimmung und Beifall.) Es ist nicht gut. daß wir uns
selbst in den eigenen Sack lügen,
es ist nicht gut. daß wir uns an Phrasen berauschen, und ins-
besondere, daß wir an gewissen, sehr bequemen, insbesondere für
*) Der Kaiser! — Es hat übrigens nach dem komplizierten öster-
reichisch-ungarischen Recht auch eine Reihe von adeligen Familien ge-
geben, die zugleich Österreicher und Ungarn waren. Sie besaßen in Öster-
reich die Staatsbürgerschaft und in Ungarn das „Indigenat" als Fidei-
kommißbesitzer. Meist diente das zu irgendwelchen außerrechtlichen
Bevorzugungen. So hat der christlichsoziale Führer Prinz Alois Liech-
tenstein eine geschiedene Katholikin heiraten können, was nach öster-
I )k- ungarische Intrigq. - 1
iiimiiinc Herren sehr bequemen Invektiven und Redensarten es uns
genug sein lassen. Viel Wichtiger als das vorzuschreiben, was
andere tun sollen, ist es, zu sagen» was wir zu tun haben. Wenn
die Ohrfeige, die diese Reichshälfte bekommen hat, der Beginn eines
gemeinschaftlichen Staatsbewußtseins Österreichs wäre und wenn
dieses erwachende Bewußtsein auch zum Pflichtbewußtsein führen
würde, zur Abstreifung der Gesinnungslosigkeit und des Cliquen-
egoismus, der chauvinistischen, selbstmörderischen Demagogie, vor
deren Früchten Ihnen allen bange ist! Sie alle erleben es, daß das,
was Sie zu einer Zeit, wo es Ihnen gefällt, hinausrufen, Ihnen zu
sehr ungelegener Zeit im tausendfachen Echo zurückkommt, wo Sie
dann Opfer Ihrer eigenen Schlagworte sind; wenn wir uns dann
endlich erinnern, daß, wenn wir die Interessen Österreichs sichern
wollen, wir dazu einen Staat, eine Volksvertretung brauchen; wenn
es Ihnen zum Bewußtsein kommt, daß dieses Ereignis nicht die
Wahlreform verdrängen darf, sondern der wichtigste
Hebel sein muß, eine Gewissensmahnung für das
ganze Parlament, daß es endlich sich ermanne und
nicht, um ein paar Mandate zu retten, die heilig-
sten Interessen des Volkes preisgeben solle; wenn
das damit nur annähernd bewirkt wird, so will ich diese Ohrfeige
dankbar tragen. Aber ich halte Sie alle — ich spreche zu niemand
persönlich, aber zum österreichischen Parlament in seiner Gesamt-
heit — für zu hartgesottene Sünder!
Ich fürchte, daß auch diese Mahnung an Ihnen verlorengehen
wird, daß nicht die Erkenntnis, das Pflichtgefühl, sondern daß die
eherne Notwendigkeit, das Verständnis, welches die iVlassen Ihnen
einpauken werden, es sein werden, die Sie vorwärtstreiben. Sie
kommen nicht mehr darum herum: Österreich will eine Volks-
vertretung, und glauben Sie nicht, daß Sie sich durch künstliche
Mittel, und mögen sie mit §-14-Verordnungen oder mit Vertagungen
irgendwelcher Art wattiert sein, darüber hinweghelfen werden.
Nach meiner Ansicht sollte in der Resolution auch gesagt werden,
daß wir die Vertagung nicht nur darum nicht wollen, weil wir gegen
neue Überrumpelung von seiten Ungarns gesichert sein wollen
— vorläufig haben wir genug daran, die alte zu verdauen, es droht
noch nichts Neues — ; viel wichtiger ist, daß die Ver-
tagung darum nicht erfolgen darf, weil das Werk
der W a h 1 r e f o r m, s o 1 1 Österreich nicht nur regene-
riert, soll es nicht in ein großes, unübersehbares
Unglück gestoßen werden, gerettet werden muß.
(Lebhafter Beifall und Händeklatschen.)
reichischem Gesetz (§ 111 des bürgerlichen Gesetzbuches) verboten war,
weil er das ungarische Indigenat hatte, also einfach nach ungarischem Ge-
setz heiratete. Zugleich war er aber österreichischer Abgeordneter! Seine
religiösen Bedenken hatte ihm wieder die päpstliche Kurie weg-
genommen, indem sie die erste Ehe der Frau wegen angeblichen Nicht-
vollzugs als ungültig erklärte. So konnte der fanatische Klerikale eine
geschiedene Trau heiraten, obwohl ihre erste lihe nach österreichischem
Gesetz aufrecht war!
344 Per Steg des gleichen Wahlrechts.
Die neue Regierung Beck.
Zwanzig Versammlungen am 6. Juni 190 6*).
Sie gedenken noch jenes großen Tages, des 28. November, des
großen Ehrentages der österreichischen Arbeiterschaft. An diesem
Tage hat auch die Regierung in Übereinstimmung mit dem Willen
des Kaisers die Einbringung der Vorlage angekündigt. Sie werden
sich dieser Stunden erinnern und wenn Sie hundert Jahre alt wer-
den. Es ist ein halbes Jahr seitdem verflossen und wo stehen wir
nun: vor der Spezialdebatte im Ausschuß. Ein halbes Jahr und noch
ist kein einziger Paragraph angenommen, keine Abstimmung er-
folgt. Allerdings hat sich viel geändert in dieser Zeit. Vor allem ist
in der öffentlichen Meinung, nicht nur der Arbeiterschaft, sondern
auch der besitzenden Klassen die Stimmung gegen die Wahlreform
vollständig verschwunden. Die Idee ihrer Notwendigkeit und Un-
vermeidlichkeit hat heute auch die besitzenden Klassen so ergriffen,
daß selbst wir nicht so überrascht wären, wenn eine Wahlreform
nicht zustande käme, wie sie. Sie halten es einfach selbst nicht mehr
aus bei ihren Privilegien. Was hat sich aber trotzdem während der
sechs Monate ereignet? Vor allem hat die Sache ihren regelrechten
Lauf nehmen müssen. Lange Generaldebatten mit alten Gemein-
plätzen ausstaffiert und Klagen über das Unglück, das es für die
deutsche Nation wäre, wenn sie nicht mehr durch die Herren Stürgkh
und Pergelt vertreten wäre. Dann kam der Handel um die Mandats-
verteilung, die Ränke der Leute, die es nicht wagen, offen gegen
die Wahlreform zu sein und ihre Märchen vom deutschen und
slawischen Block und von der nationalen „Spannung"**) erfanden.
Diese Lügen sind geschmiedet worden, um der Wahlreform zu
schaden, und in den Wiener Blättern, zumal in der „Neuen Freien
Presse", diesem giftigen Feinde der Wahlreform, werden sie aufs
eifrigste kolportiert. Allmählich ist es aber dazu gekommen, daß
*) Am 7. Juni stellte sich das neue Ministerium Beck, dessen Zu-
sammensetzung oben angegeben ist, dem Parlament vor. Am Abend vorher
veranstalteten die Wiener Sozialdemokraten zwanzig Versamm-
lungen, die alle, trotz des schlechten Wetters, überfüllt waren. Wieder
ertönte überall der Ruf nach dem Massenstreik. Im Arbeiterheim Favoriten
sprach Adler.
**) Die deutschbürgerlichen Parteien hatten gegen die Wahlreform das
Argument vorgebracht, daß die Deutschen von den Slawen dann majorisiert
werden könnten und es tauchte dann das Schlagwort von den beiden
Blocks auf. dem „deutsch-romanischen" und dem „slawischen Block" . . .
Hohenlohe hatte am 25. Mai dem Wahlreformausschuß seinen neuen Kom-
promißvorschlag gemacht, wonach die Zahl der Mandate auf 495 erhöht
werden sollte, davon die Deutschen 223, die Italiener 18, die Rumänen 5,
also der „deutsch-romanische Block" 246; die Tschechen 103, die Polen 77,
die Ruthenen 35 und die Südslawen 36, der „slawische Block" also 251!
Die Größe dieser „Spannung" zwischen beiden „Blocks" war der
Gegenstand des Kampfes. Und um solche Schlagworte ging damals der
Kampf. (Siehe auch die Fußnote bei Adlers Rede im Ausschuß am 25. Mai
gegen ein Suhkomitee.)
Die neue Regierung Beck'.
die prinzipielle Grundlage der Wahlreform gar nicht mehr in Präge
steht, und wenn heute einer noch für die Erhaltung der Kurien
einträte, würde man ihn für einen Tollhäusler halten. Worüber allein
diskutiert wird, ist die Abwägung der Machtverhältnisse zwischen
den einzelnen Völkern, und hinter diese Frage verstecken sich alle
Wahlrechtsfeinde. Nun hat man auch die furchtbarsten Feinde, die
Polen, befriedigt, und nachdem man ihnen Gautseh hatte zum Opfer
bringen müssen, schien es, als ob Hoherilohe der Mann sein werde,
der die Sache ins Geleise bringt. Keinem schien der Erfolg so ver-
bürgt zu sein wie ihm. Ein Mann, der es so ernst gemeint hat mit
der Wahlreform wie mit seinem eigenen Leben; ein Mann, der nicht
nur Begeisterung, sondern auch energisches Wollen an die Idee zu
setzen vermochte, dem es schon gelungen war, die Polen zu be-
friedigen und die Deutschen zu beschwichtigen; da fiel ihm ein
Ziegelstein auf den Kopf, die ungarische Affäre. Unsere bürgerlichen
Parteien sind im Verhältnis zu Ungarn entweder größenwahnsinnig
und möchten die Ungarn auf dem Kraut fressen, Ungarn erobern,
oder sie wollen ganz „los von Ungarn". Oft wollen sie beides zu-
gleich und beides ist töricht. Das Vernünftige, was wir wollen, ist,
daß die Völker Österreichs einen unabhängigen Staat bilden, unab-
hängig von der Fiktion des „Gesamtstaates", von der kostspieligen
Komödie des Großstaates, aber zugleich, daß die wirtschaftlichen
Interessen der beiden aufeinander angewiesenen Länder gemeinsam
seien. Wir wollen die Ungarn nicht unterdrücken, wir w-ollen aber
auch nicht von ihnen unterdrückt werden. Wir wollen einen freien
wirtschaftlichen Bund zweier freier, voneinander unabhängiger
Staaten. Ein Schrei der Entrüstung ging durch die bürgerlichen
Parteien, als die ungarische Schmach besiegelt war. Aber die Leute,
die heute am meisten schreien im Parlament, sind dieselben Leute,
die in den Delegationen immer den Rücken gebeugt haben, wenn
das dynastische Interesse für den Gesamtstaat Opfer heischte, und
alle geforderten Millionen bewilligten. Diese Leute übrigens, diese
giftigsten Feinde der Wahlreform, die gewohnt sind, mit „patrioti-
schem Opfermut" Summen zu bewilligen, die das Volk bezahlen
muß, verweigern dem Kaiser den Gehorsam in einem Augenblick,
wo er von ihnen selbst zum ersten- und einzigenmal ein persön-
liches patriotisches Opfer fordert, das Opfer ihrer schändlichen,
den Staat ruinierenden Privilegien.
Nun stehen wir vor einer neuen Regierung, deren Haupt uns
geschildert wird als besonders kluger, erfahrener und energischer
Mann. Wir wissen nicht, ob sein Ruf der Wahrheit entspricht, aber
wir werden es in längstens vierzehn Tagen genau
wissen. Die entscheidende Probe wird er bei der Wahlreform
zu bestehen haben. Nicht ungeschickt war ja die Art, wie er die
deutschen und tschechischen Abgeordneten in sein Ministerium
bekam. Das war ja nicht leicht. Ob aber die parlamentarischen
Minister ihre Parteien hinter sich haben werden. Mann für Mann,
das ist noch die Frage . . . Wenn Sie sich die bürgerlichen Parteien
SO vorstellen wie uns. als eine organisierte Armee mit einheitlichem
346 Der Sic« des gleichen Wahlrechts.
Willen und gleichem Ziel, so sind Sie im Irrtum. Wenn in einer
solchen Partei 25 Leute sitzen, so haben sie M) Meinungen. (Heiter-
keit.) Sie versammeln sich nur unter den allgemeinsten Schlag-
worten, denn es kann in diesem Parlament ja gar kein ernstes poli-
tisches Streben ausreifen, kein ernster Wille zum Ausdruck kommen.
Aber das muß man nun doch ernstlich verlangen, daß die Minister
für ihre Parteien verantwortlich sind und diese auch die Verant-
wortung für sie nicht ablehnen werden, denn dem Spiele mit dem
ewigen Abwälzen der Verantwortung von der Regierung auf die
Parteien und umgekehrt haben wir lange genug ruhig zugesehen.
Wo die Regierung zunächst und sofort ihren einheitlichen Willen
und ihre Fähigkeit zu regieren bekunden wird müssen, der Prüf-
stein für ihre Lebensfähigkeit ist die Wahlreform. Und ihre Tage
sind schon gezählt, wenn sie sich unfähig erweisen sollte, dieses
Werk rasch und prompt zu verrichten. Es kann nicht schwer sein,
denn wenn sie mit dem faulen Schwindel, daß die Ehre und die
Machtstellung der deutschen und tschechischen Nation von zwei
Mandaten auf oder ab abhängt, nicht fertig werden, und wenn sie
mit der Pflanzpolitik der Festlegung der Wahlordnung durch
Zweidrittelmajorität, die den Deutschen nichts nützen und den
Tschechen nichts schaden kann, nicht aufzuräumen vermöchte, dann
wäre sie von vornherein fertig. Heute brauchen wir nicht mehr zu
warten, bis sich die Regierung mit den Parteien einigt. Regierung
und Parteien sind heute eines und uns solidarisch verantwortlich
dafür, daß nunmehr die Wahlreform vorwärts geht. Es wird noch
immer schwer werden, selbst beim besten Willen. Die Zeit drängt
bereits, und so groß ist die Begeisterung der Privilegierten, die den
Wahlreformbeschluß doch als eine Art Harakiri betrachten, denn
doch nicht, daß sie sich gar sehr zu beeilen wünschten. Aber ein
bißchen Einsicht muß den Herren sagen, daß jede Verzöge-
rung ein gefährliches Spiel ist.
Ich zweifle nicht, daß die morgige Regierungserklärung ein Be-
kenntnis zur Wahlreform enthalten wird, nicht so begeistert viel-
leicht wie das des Prinzen Hohenlohe, aber darum herumkommen
kann heute keine Regierung. Was aber notwendig ist, ist der Ent-
schluß, rasch zu handeln, denn jedes Zögern bringt Gefahr, d i e
Gefahr, da ßdasProletaria teseinfachnichtlängeraus-
h ä 1 1. Begeisterung können wir ja von einem Grafen Dzieduszycki
nicht verlangen, aber ein rascher Entschluß tut auch den Polen
not und sie wissen, daß Sie wissen, daß auch ihnen das Feuer auf den
Nägeln brennt und daß Galizien eine böse Erntezeit beschieden sein
könnte, wenn die Wahlreform bis dahin nicht fertig ist. Wie sich
die Herren innerlich und prinzipiell zur Wahlreform stellen, ist uns
sehr gleichgültig, stimmen sollen die Herren! (Sehr richtig!)
Ich nehme an, daß die Herren klug genug sind, zu begreifen; daß
es sich für sie dabei um Leben und Sterben handelt, denn
darüber können sie wohl nicht im Zweifel sein, daß sie weggefegt
würden von einem gewaltigen Sturm, wenn sie nur einen Augen-
blick den Versuch der Täuschung machen würden. Hoffen wir, daß
Bienerths und Becks Erklärungen.
die Wahlreform nicht noch ein drittes Ministerium verschlingt daß
diese Regierung vernünftig genug sein wird, sich und uns d i
Äußerste zu ersparen. Für uns aber lieil.it es nun die Augen offen
halten, Gewehr bei Fuß stehen und bereit sein zur letzten und
größten Kraftanstrengung*). (Stürmischer, anhaltender Beifall.)
Ich weiß, Genossen, daß es sehr schwer ist, eure auf harte Probe
gestellte Geduld noch länger zu zügeln. Sollte der schicksalsschwere
Fall eintreten, daß sie die Wahlreform noch bis zum Herbst ver-
schleppen wollen, so wäre das der Kriegsfall und dann allerdings
müßte ohne Hedenken zum Äußersten geschritten werden. (Stürmi-
sche Zustimmung.) Wenn die Gegner nur ein einzigesmal einen
Blick tun könnten in das Innere der Arbeitermassen, wenn sie das
Volk sehen könnten, von dem sie immer reden, dann würden sie
schaudernd zurückbeben davor, diese Verantwortung zu über-
nehmen und das noch hinausschieben zu wollen, was sich nicht mehr
verhindern läßt. Freilich, der Staat hat Kanonen und die S t ü r g k h
und P e r g e 1 1 wissen, daß sie nicht für ihr armseliges Leben zu
zittern brauchen. (Rufe: Wer weiß!) Aber es stehen heiligere und
größere Güter auf dem Spiele als das nichtige Leben dieser Herren.
(Stürmischer Beifall.) Jetzt aber, Genossen, müssen Sie warten,
müssen Geduld haben, die Entscheidung ist nahe! Halten Sie sich
bereit! (Rufe: Wir sind bereit!)
Bienerths und Becks Erklärungen.
Wahlreformausschuß, 7. und 8. Juni 190 6**).
Dr. Adler erklärte, er müsse sich, so sehr er der Ansicht sei,
daß der Ausschuß nicht mehr Zeit verlieren soll, der Situation
fügen, und stimme dem Vorsitzenden darin zu, daß man die Er-
klärungen des Ministerpräsidenten abwarten soll. Er richtet aber
*) Man kann schon aus dieser Rede erkennen, wie lächerlich die Be-
hauptung ist, die unter anderem von Josef Redlich in seinem Buch über den
Kaiser Franz Josef aufgestellt wurde, daß Kaiser Franz Josef „in der Tat
der wahre Schöpfer des allgemeinen Wahlrechtes" sei. Hier und ebenso in
den späteren Reden kann man sehen, mit welchem Druck die Arbeiter diese
Wahlreform erzwingen mußten. Jeder wußte, daß man in den Beratungen
der Partei schon den Massenstreik erwog, der wenige Tage später schon
ganz offiziell angedroht wurde. (Siehe die Bemerkungen bei der Rede vom
11. Juni.)
**) Am 7. Juni stellte sich dem Abgeordnetenhaus die neue Regierung
13 e c k mit einer ausführlichen Programmrede des neuen Ministerpräsidenten
vor. Beck begann mit der Erklärung, mit Rücksicht auf die Teilnahme von
Mitgliedern und Vertrauensmännern großer Parteien des Hauses glaube die
Regierung das ehrende Beiwort einer parlamentarischen
Regierung in Anspruch nehmen zu dürfen. Die Mitwirkung dieser Ver-
trauensmänner biete dem Parlament die Bürgschaft dafür, daß es mit Be-
ruhigung der Führung der Regier u n g folgen könne. Dann sprach er
ausführlich von dem Verhältnis zu Ungarn — die Angelegenheit, über die
sein Vorgänger Hohenlohc gestürzt war. Als sein Programm erklärte er
hier: wenn sie möglich ist, eine Vereinbarung mit Ungarn, wenn sie un-
möglich ist, Selbständigkeit für Österreich...
348 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
an den M i n i s t e r d e s Innern die A n f r a g e, ob das von dem
früheren Ministerpräsidenten Prinzen Hohenlohe für die nächste
Ausschußsitzung in Aussicht gestellte Material bezüglich der
Mandats- und der Wahlkreiseinteilung für die einzelnen Kron-
länder fertig sei und ob die Regierung geneigt sei, dieses Material
Zur Wahlreform, die er als eine Quelle der Verjüngung und Stärke
des parlamentarischen Lebens bezeichnete, sagte er:
Die Regierung befindet sich der Wahlreformvorlage gegenüber in der
Lage eines Universalerben. Ohne, über den Stand des Nachlasses
zweier Vorgänger im Amte im einzelnen mich aussprechen
zu wollen, gebe ich doch die Erklärung ab, daß die Regierung die
Erbschaft ohne Vorbehalt antritt.
Die Regierung übernimmt die Vorlage und will sie ent-
schlossen dem Ziele zutragen. Ihr Leitwort ist: Die Verständi-
gung in der Wahlreform m u ß g e f u n d e n werden. Sie weiß,
in welchem Maße diese Frage das gesamte politische Leben beherrscht
und wie unerläßlich eine baldige gedeihliche Lösung
i s t, um die Tätigkeit des Parlaments für das Problem des Verhältnisses
zu Ungarn, für die in so vielen Beziehungen dringende Modernisierung
unserer staatlichen Einrichtungen, für die Fragen der inneren Verwaltung
und Wirtschaftspolitik und ähnliche Probleme freizumachen, für diese
großen Aufgaben ein gekräftigtes, volkstümliches, in den Ideen der Be-
völkerung fest wurzelndes Abgeordnetenhaus zu besitzen.
Die Regierung wird daher alles daranwenden, um die Hindernisse,
die sich dem Fortschreiten der parlamentarischen Verhandlungen über
diese Vorlage bisher entgegenstellen, zu bewältigen, und wird
es als ihren ersten Erfolg betrachte n, wenn es gelingt,
durch eine Verständigung über die noch strittigen Punkte der Wahl-
reform die Beschlußfassung über diese Vorlage im Hause herbeizuführen
und zu beschleunigen. Und dies wird auch gelingen, wenn wir die Ver-
ständigung im Geiste der Einmütigkeit, der Gerechtigkeit,
der Billigkeit und mit starkem Wollen suchen, wenn wir bereit
sind, mit kleinen Opfern eine so große Errungenschaft
zu erkaufen. Dann wird aber auch die Wahlreform als die Ema-
nation des großen Gesamtempfindens aller Völker
Österreichs erscheinen und das Werk des natio-
nalen Friedens fördern. (Gelächter bei den Alldeutschen.)
Die „Arbeiter-Zeitung" nannte es eine „klug verfaßte und geschickt auf-
gebaute Rede, die auf die Stimmungen des hysterischen Parlaments so
gänzlich eingehe, daß vieles darin mehr taktische Erwägung als prinzipielle
Programmpolitik" sei.
An die Rede schloß sich keine Erklärungsdebatte. Die Wahlreformgegner
hatten es beantragt, das Haus lehnte es ab.
An demselben Tage hielt der Ausschuß nur eine kurze Sitzung ab. Beck
hätte ursprünglich hier erscheinen und eine Erklärung zu den meritorischen
Fragen der Reform geben sollen. Er war aber am Erscheinen verhindert,
da er an dem Hofdiner zu Ehren des beim Kaiser Franz Josef zu Besuch
weilenden Kaisers Wilhelm teilnehmen mußte. Die Ausschußsitzung dauerte
auch deshalb nur kurz, weil die Ausschußmandate von vier Mitgliedern
(Derschatta, Prade, Marchet, Dzieduszycki), da sie Minister geworden
waren, erloschen waren und Neuwahlen vorgenommen werden mußten,
was erst am nächsten Tag geschah. Der bisherige Obmann Dr. Marchet
wurde durch den bisherigen Vizeobmann, den Slowenen Dr. P 1 o j, ersetzt.
Die letzte Warnung. 349
bis morgen zur Verfügung zu stellen. Wie immer sich die Regie-
rung zu den Anregungen des Prinzen Mohcnlohe stellen werde,
jedenfalls werde es wünschenswert sein, die konkreten Einzelheiten
darüber zu wissen.
Dr. Adler*) bemerkt, es sei außerordentlich bedauerlich, daß
gerade Böhmen und Mähren eine Lücke in den Ausarbeitungen des
Ministeriums bilden; aber es werde schon von großem Vorteil
sein, wenn der Obmannstellvertreter sich mit dem Büro des
Hauses in Verbindung setze und dafür sorge, daß das bereits über-
sendete Material dem Ausschuß morgen zur Verfügung gestellt
werde. Die Regierung aber möge sich bemühen, den noch feh-
lenden Teil des Materials bis zur morgigen Ausschußsitzung bei-
zustellen. Für jeden Fall halte ich es für völlig ausgeschlossen, daß
die morgige Sitzung aus irgendeinem Grunde ausfalle. Die für
morgen zu erwartenden Erklärungen des Ministerpräsidenten
müssen gehört werden, und wir werden sofort zur Fortführung der
Diskussion und zur Beschlußfassung in der Lage sein. Er beantrage
deshalb, die nächste Sitzung morgen um 5 Uhr nachmittags ab-
zuhalten und auf die Tagesordnung die Fortsetzung der Verhand-
lung und eventuell auch die Wahl eines Obmannes zu stellen**).
Die letzte Warnung.
Zehn Versammlungen am 11. Juni 1906***).
Es ist eine sehr ernste Stunde, in der wir Sie zusammengerufen
haben. Seit dem 28. November, wo angesichts des Volkes Baron
*) Auf die Anfrage Adlers antwortete der Minister des Innern Doktor
v. B i e n e r t h, infolge des Regierungswechsels habe das Büro des Hauses
das ihm übermittelte Material noch nicht drucken lassen, es werde aber
schon vor der nächsten Sitzung erfolgen. Das Material sei allerdings nicht
ganz vollständig, da die Zusammenstellungen für zwei Kroniänder noch nicht
erfolgen konnten.
**) Am nächsten Tage wurden dem Ausschuß tatsächlich die Vorschläge
Hohenlohes über die Wahlkreiseinteilung vorgelegt.
In dieser Sitzung sprach auch Beck, der sich aber im wesentlichen auf
seine Erklärungen im Hause berief. Dann sagte er, der Wahlrechtskampf
müsse bald abgeschlossen werden, wenn unser öffentliches Leben völlig
gesunden solle. Darum bittet er dringend: Gehen Sie mit uns ohne Zögern
an diese verantwortungsvolle Aufgabe, von deren Lösung wir im Wege
einer Konzentration der Volkskräfte ein verjüngtes Parlament, ein ver-
jüngtes Österreich erwarten... Was den formalen Vorgang betrifft, glaubt
die Regierung, daß sofort in die vom Ausschuß bereits beschlossene Spezial-
debatte eingegangen werden soll . . .
Da der Alldeutsche Stein zu der Erklärung lange sprach, protestierte
Adler dagegen, daß man an Stelle der Spezialdebatte eine Erklärungs-
debatte zulasse. Es sei keine Zeit mehr zu verlieren. Die Nerven der Be-
völkerung hätten auch nur ein gewisses Maß von Elastizität, das n i c h t
überspannt werden dürfe ... Stein verwahrt sich dann gegen diese
Drohungen.
'*) Die großen nationalen Parteien des Bürgertums hatten sich durch
den Eintritt in die Regierung Beck für die Wahlreform ausgesprochen. Beck
350 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Gautsch im Namen und im Auftrag des Kaisers das allgemeine
gleiche Wahlrecht versprochen hat, haben die Arbeiter Österreichs
gewartet, ruhig, mit angehaltenem Atem, ohne sich zu rühren, weil
sie wußten, daß das, was die Wahlreform unüberwindlich macht,
nicht nur der Wille des Volkes, sondern auch das Lebensinteresse
des Staates ist. Krone und Volk sind einig, was steht also noch im
Wege? (Rufe: Die Lumpen im Parlament!) Ja, wenn diese Leute
nur Lumpen wären, wenn sie nicht auch die Macht, nicht außer
Niederträchtigkeit auch die Schlauheit und Kaltblütigkeit hätten,
der Wahlreform immer Prügel vor die Füße zu werfen. Zwei Mini-
sterien haben sie schon verzehrt. Baron Gautsch ist gefallen, weil
die Schlachta seinen Kopf verlangt hat, und Prinz Hohenlohe ist
gestürzt, weil er das Recht Österreichs ehrlich vertreten hat und
sich nicht vor Ungarn beugen wollte. Und nun sucht man, die
einen bewußt, die anderen unbewußt, den Streit mit Ungarn an
die erste Stelle zu rücken, damit die Wahlreform zurücktrete. Wir
haben niemals einen Zweifel übriggelassen, daß wir das Verhältnis
zu Ungarn gründlich lösen wollen, daß wir dieses Österreich zu
einem freien, selbständigen Staat machen wollen. Aber die Ver-
handlungen, die da notwendig sind, werden sich monatelang hin-
ziehen müssen, und die erste Bedingung, daß sie überhaupt zum
Vorteil Österreichs ausschlagen, ist, daß Österreich eine wirkliche
Volksvertretung erhalte. (Lebhafter Beifall.) Darum, wenn wir uns
auch im Parlament der Abwehr der ungarischen Übergriffe ange-
hatte als sein Leitwort erklärt, die Verständigung über die Wahlreform
müsse gefunden werden. Aber die Gefahr lag darin, daß die Arbeiten des
Wahlreformausschusses durch die Wahlreforrnfeinde behindert wurden.
Diese Feinde waren vor allem die Großgrundbesitzer, unter denen besonders
die Grabmayr und S t ü r g k h einen gehässigen Kampf einleiteten, dann
die Schreier und Krawallmacher des Parlaments, der Alldeutsche Franko
Stein und der Graf Adalbert Stern berg. Als dann die Sitzungen des
Wahlreformausschusses die versteckte Obstruktion offenbar machten, wurde
am 10. Juni ein Aufruf der Partei, der Fraktion und der Gewerkschafts-
kommission veröffentlicht, der ankündigte, daß, „falls die Dinge weitergehen
wie bisher", in den allernächsten Wochen eine dreitägige Arbeits-
ruhe eintreten werde, der im äußersten Notfall der allgemeine Massen-
streik folgen solle. Dann hieß es:
Die Arbeiter Österreichs werden sich durch schmutzige Intrigen nicht
um ihr Recht betrügen lassen. Mag die Krone es dulden, daß eine
kleine Bande von Junkern, Advokaten und Lumpen-
Proletariern ihren Willen, der diesmal mit dem Willen und dem
Rechte des Volkes eins ist, mißachtet ... die Arbeiter werden sich
dem Privilegiengesindel nicht beugen und werden für
das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht kämpfen mit allen Mitteln
und bis zum äußersten!
Am 11. Juni fanden dann sieben Massenversammlungen statt, die so
stark besucht waren, daß zehn Versammlungen daraus wurden. Beim Wim-
berger in Fünfhaus sprach Adler. (Siehe übrigens zu diesen Versamm-
lungen und zu den weiter unten angeführten Äußerungen des Kaisers auch
die Rede im Wahlreformausschuß am 19. Juni über sozialdemo-
kratischen Terrorismus.)
Die letzte Warnuti 351
schlössen haben, so sind wir doch nicht gewillt, geschehen zu
lassen, daß die Wahlreform dadurch in Vergessenheit gerate.
Nebenbei: Herr Dr. Lueger hat uns immer gehöhnt, daß wir die
Demonstrationen machen, die wir mit der Polizei ausgehandelt
haben. (Gelächter.) Was hat Dr. Lueger gestern anderes gemacht*)?
Es ist nämlich ganz selbstverständlich, daß, wenn eine Demon-
stration angekündigt wird, das Polizeipräsidium pflichtgemäß die
Veranstalter ruft und sie fragt, was denn geschehen soll? Wir sind
gewöhnlich in der Lage, den Herren zu sagen: Was wir machen
wollen, ist vorgestern in der „Arbeiter-Zeitung11 gestanden, und
das werden wir machen! Wir haben auch noch immer Wort ge-
halten. Auch Dr. Lueger hat mit der Polizei ver-
handelt, er hat dem Polizeipräsidenten gesagt: Sie können
ruhig schlafen, es wird nichts passieren! Der Polizeipräsident hat
dem Dr. Lueger geglaubt, wie er uns glaubt. Nur ist der Unter-
schied der, daß wir den Willen und die Macht und unsere Genossen
die Disziplin haben, daß wir auch Wort halten. Wenn wir erklären:
„So wird es gemacht !", so wird das strikt eingehalten.
Dafür sind wir ja Männer! Dr. Lueger scheint seine Partei, wenn
man das so nennen will, nicht so in der Hand zu haben. Denn
obwohl er dem Polizeipräsidenten den Rat gegeben hat, zu
schlafen — der Minister des Innern hat den Rat auch gar in
Hietzing besorgt — , ist trotzdem etwas geschehen, was Dr. Lueger
selbst sehr unangenehm ist. Ich bin nicht gerade ängstlich und
meine, daß es in ernsten Zeiten auf ein paar Fensterscheiben nicht
ankommen soll, wenn ich auch der Ansicht bin, daß man nicht
unbedingt Fensterscheiben einwerfen muß. Wir waren unzählige-
mal vor dem Parlament, aber noch nie ist dort auch nur eine
Fensterscheibe eingeschlagen worden. Ein einziges Mal wurden
aber vor vierzehn Tagen dort Scheiben eingeschlagen, und da
waren es nicht wir, sondern die Leute des Dr. Lueger**). Ich halte
das für kein Unglück. Der Staat hat Geld genug in seinem Säckel,
um die paar Scheiben leicht verschmerzen zu können. Aber ich
will damit nur sagen, daß wir darauf halten — und das ist die
Grundlage unserer ganzen Organisation und unserer Kampf-
fähigkeit — , daß sich jeder, der unsere Demonstrationen mitmacht,
wie der Soldat in der Uniform fühlt, mit dem vollen Pflichtgefühl
und dem vollen Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit. Diese
Sicherheit der Disziplin fehlt der christlichsozialen Partei und den
Schichten, aus denen sie sich zusammensetzt, und darum sind
gestern Dinge geschehen, die Dr. Lueger heute so sehr tadelt.
*) Am Sonntag den 10. Juni hatten die Christlichsozialen vor dem Rat-
haus eine Versammlung Ke^en Ungarn und zogen dann durch die Bankgasse,
um dort vor der ungarischen Delegation, die dort ihre Sitzung hielt, zu
krawallieren.
) Am 25. Mai hatten die christlichsozialen Kaufleute eine Kundgebung
^e^reu die Konsumvereine vor dem Rathaus. Dann zo.cren sie lärmend zum
Parlament, wo sie die h'ensterseheibeu des großen Tores zerschlugen. Dabei
keim es mit der Polizei zu Zusammenstößen.
352 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Der Kampf gegen Ungarn ist sehr wichtig, aber dieser Kampf
wird binnen wenigen Monaten nicht entschieden werden. Davon
wird das Schicksal der Regierung nicht abhängen. Aber abhängen
wird ihr Schicksal von der Wahlreform, denn die ist das einzige,
was in den nächsten Wochen gemacht werden kann und gemacht
werden muß. Hier ist der Punkt, wo die Regierung zeigen muß, ob
sie der Situation gewachsen ist, und wo insbesondere die parla-
mentarischen Minister zeigen müssen, ob sie wirklich die Wort-
führer und die Führer des Parlaments sein können. Denn ein par-
lamentarisches Ministerium muß vor allem das Parlament in poli-
tischen Lebensfragen hinter sich zu bringen wissen.
Diesen Freitag ist es zum erstenmal offenbar geworden, daß
die Koalition der Wahlrechtsfeinde die Wahlreform obstruiert und
daß die Majorität des Wahlreformausschusses sich von dieser
Koalition terrorisieren läßt. (Pfuirufe.) Dieses Spiel kann
nicht länger fortgehen! (Stürmische Bravorufe.) Die
Arbeiterschaft und weit über die Arbeiterschaft hinaus die Völker
Österreichs sind nicht geneigt, sich von diesen Herren um die
Wahlreform prellen zu lassen. Wir haben nicht mehr viel Zeit vor
uns. Aber ich sage den Herren voraus, wenn sie jetzt nicht
arbeiten, werden sie in der heißen Zeit schwer an die Ostsee oder
nach Ischl kommen. (Beifall und Heiterkeit.) Die Einsicht, daß es
Neuwahlen unter dem alten Wahlgesetz nicht mehr geben kann,
hat sich nun allmählich über alle politisch denkenden Leute ver-
breitet. Gestern hat der Kaiser selbst, der sich in Einzelheiten der
Politik selten einmischt, dasselbe erklärt*). (Stürmischer Beifall.)
Wenn das der Kaiser sagt, hat keiner gerade von
diesen Herren mehr das Recht, dagegen zu
sprechen. Sie geben sich doch immer als die ersten
Stützen des Thrones aus. In den Delegationen wenigstens
treten dieselben Herren immer als die treuesten Diener des Kaisers,
als die opferwilligen Stützen der Dynastie auf, und die Hunderte
von Millionen, die da verlangt werden, werden sie gehorsam dem
Willen des Kaisers auf dem Altar des Vaterlandes niederlegen —
aus den Taschen des Volkes! Gehorsam dem Kaiser, wo sie aus
den Taschen des Volkes zahlen können. Aus den Delegationen
gehen sie direkt in den Wahlreformausschuß. Auch da
ist ein Wille des Kaisers. Aber da geht der Wille
des Kaisers nicht auf Opfer des Volkes, sondern
auf Rechte des Volkes. Und da werden die patriotischen
Herren, die sich in den Delegationen vor dem Willen des Kaisers
beugen, die dort mit dem Nabel die Erde berühren vor Ehrfurcht,
*) Am 10. Juni fand der feierliche Empfang der Delegation statt und da
sagte der Kaiser zum jungtschechischen Abgeordneten Dr. Kramarsch;
wie berichtet wurde, „mit ungewöhnlichem Nachdruck": „Die Wahl-
reform muß gemacht werden. Auf Grund der alten
Wahlordnung kann nicht mehr gewählt werde n." Kra-
marsch, so hieß es in dem Bericht der Zeitungen weiter, dankte dem
Kaiser für eine so entschiedene Willenskundgebung und schilderte die
Gefahren, die eine Verschleppung der Wahlreform heraufbeschwören würde.
Die letzte Warnun
nun sagen: Nein! Wenn das Volk will und der Kaiser will, wir
wollen nicht! Denn hier gilt es nicht ein Opfer aus den Taschen
des Volkes! Hier tfilt es das Recht des Volkes! Hier gilt es, daß
sie selbst ein Opfer bringen, wenn man es ein Opfer nennen kann,
zu verzichten auf den Raub, auf das Unrecht, auf das jahrzehnte-
lang verübte Verbrechen an allen Völkern Österreichs! (Stür-
mische Rufe der Entrüstung und tosender Beifall.)
Wie kann nun der Widerstand der (iegner überwunden
werden? Das kann nur geschehen, wenn die Regierung das
eiserne Muß einsieht und eine eiserne Energie entfaltet, und wenn
die Parteien, die für die Wahlreform sind, die widerspenstigen
Feinde zwingen. Daß aber dieses Muß ein eisernes ist,
daß es kein Entrinnen gibt und daß nur unter den
größten Gefahren für den Frieden des Staates
und für die Ruhe in diesem Staate der Versuch
gemacht werden kann, die Wahlreform zu ver-
eiteln, das muß diesen Leuten bewiesen werden.
Und darum haben wir beschlossen, einen Schritt weiter zu gehen
als bisher. (Stürmischer Beifall.) Alle bisherigen Mittel haben ver-
sagt. Es gibt Abgeordnete, die sagen: Mag die Welt zugrunde
gehen, wenn Dr. P e r g e 1 1 oder ein anderer Stürgkh*) kein Mandat
bekommt, kann das Volk sein Recht nicht bekommen! (Stürmische
Pfuirufe.) Da gelten nun alle Argumente nichts! Wir müssen nun
weiter gehen. Wir haben schon auf unserem Parteitag das Mittel
in Aussicht genommen, das in vielen politischen Kämpfen und
zuletzt in Rußland solchen Erfolg erzielt hat. Wir haben dieses
Mittel damals als äußerstes Mittel in Aussicht genommen, und wir
Sozialdemokraten machen keine Phrasen, wenn wir in ver-
antwortungsvoller Stunde und an verantwortungsvollem Ort als
Vertrauensmänner der Partei sprechen. Aber wir haben uns lange
überlegt, ob wir dieses Mittel schon anwenden sollen, und obwohl
wir aus allen Provinzen und tagtäglich Kundgebungen unserer
Genossen erhielten, doch endlich den Massenstreik zu pro-
klamieren, obwohl zum Beispiel die Metallarbeiter und die
Eisenbahner überall Beschlüsse fassen und uns zurufen: „Nun
endlich los!" (Stürmischer Beifall), hat die Parteivertretung den-
noch beschlossen, noch einmal eine Warnung zu geben, ehe sie
dem Unheil seinen Lauf läßt. Wenn die tückische Bosheit im Wahl-
reformausschuß auch diese Woche frei schalten darf, dann wird
die Arbeiterschaft von Wien eine Demonstration veranstalten, wie
' ) Per g e I t war der liberale Abgeordnete von Rumburg, ein Feind der
Wahlreform, der seine Feindschaft mit nationalen Motiven bemäntelte. In
Wirklichkeit handelte es sich ihm darum, einen Wahlkreis in Warnsdorf so
zuzuschneiden, daß er dort gewählt werden könne. Das gelang ihm wirklich,
so daß er tatsächlich 1907 in der Stichwahl gegen Pernerstorfer gewählt
wurde. (Pernerstorfer hatte ein Mandat in Wiener-Neustadt.)
Graf Stürgkh, der vom Großgrundbesitz gewählt wrar, konnte auf diese
Weise nicht zufriedengestellt werden. — Stürgkh ist der nachmalige
Ministerpräsident während des Krieges, der die Einberufung des Parlaments
verhinderte und dann von Friedrich Adler erschossen wurde.
Adler, Briefe. X. Ud. 23
354 Der Sic^ des gleichen Wahlrechts.
sie noch nicht da war in Österreich. (Stürmischer Beifall.) Die
Arbeiter von Wien werden ein Opfer bringen; aber dieses Opfer
soll ein empfindlicher Schlag gegen diese Gesellschaft sein, die
ihren Willen dem Willen und dem Rechte des Volkes entgegen-
zusetzen wagt. Wir wollen, wenn es nötig ist, über
Wien einen dreitägigen Massenstreik ver-
hängen. (Stürmischer, andauernder Beifall.) Wir wissen genau,
daß das ein großes Opfer für Sie ist, aber wir wissen, daß Sie
dieses Opfer mit Begeisterung bringen werden. Wir hoffen, daß
diese Warnung genügt, sollte sie aber nicht genügen, dann folgt der
Massenstreik in ganz Österreich. (Neuerlicher jubelnder Beifall.)
Aber wir fordern Sie nicht nur auf, sich auf einen dreitägigen
Kampf gefaßt zu machen. Wir fordern Sie nicht nur auf, sich auf
noch größere Opfer vorzubereiten, selbst wenn der Kampf mehr
als drei Tage dauern sollte. (Beifall.) Wenn wir vom Massenstreik
sprechen, so sagen wir damit noch lange nicht, daß wir auf die
anderen Mittel unseres Kampfes verzichten; vor allem nicht darauf
verzichten, auch auf die Straße zu gehen und uns zu zeigen.
(Neuerlicher Beifall.) Aber eine Straßendemonstration, die viel-
leicht von 10 Uhr bis 1 Uhr dauert, kann es nicht richten. Wir sind
entschlossen, jetzt tiefer in das Fleisch zu schneiden. (Erneuter
stürmischer Beifall, der so lange andauert, daß der Redner
minutenlang nicht weitersprechen kann.) Ich bin kein ungestümer
Dränger und Stürmer, man wirft mir bisweilen das Gegenteil vor
(Heiterkeit), und ich weiß, welche Verantwortung wir alle tragen:
Aber wir haben Sie zurückgehalten, solange es nur möglich war,
nun ist die Stunde gekommen, wo wir Sie nicht mehr zurückhalten
dürfen. (Stürmische, leidenschaftliche Rufe: Nieder mit den Wahl-
rechtsfeinden!) Es hängt vom Wahlreformausschuß, es hängt von
der Regierung, die viel mehr Wirkung auf den Ausschuß üben
kann, als sie bisher getan hat, ab, ob wir weitergehen werden.
Die Arbeiter sind immer bereit zum Frieden, sie
drängen sich nicht zu dem Opfer, das sie bringen
müssen, aber betrügen lassen sie sich nicht von
einer Bande von Gauklern. (Riesiger Beifall.) Wir werden
nicht dulden, daß das Resultat dieser geschichtlichen Zeit, die für
Österreich wirklich die Quelle der Verjüngung sein kann, die ein-
zige Möglichkeit, aus diesem Sumpfe herauszukommen, in dem wir
sonst verrecken, uns vorenthalten werde, weil ein paar gewissen-
lose Streber, weil ein paar bezahlte Kerle es wollen! (Stürmischer
Jubel.) Warten Sie ruhig ab, was die nächsten Tage bringen
werden, aber warten Sie nicht müßig! Tragen Sie den Gedanken
des Massenstreiks weiter, treffen Sie alle Vorbereitungen, daß der
Massenstreik die ganze Arbeiterschaft erfasse.
Mögen die Herren nicht glauben, daß sie es aushalten, wrenn in
den Fabriken nicht gearbeitet wird, wenn keine Zeitungen er-
scheinen und kein Brot gebacken wird! Es gibt noch Mittel, diesen
Herren klarzumachen, daß man nicht über ein ganzes Volk eine
Katastrophe verhängen darf als einzelner Verbrecher am Rechte
Wahlkreiseinteilung in Wien.
des Volkes! Es gibt Verbrechen, die viel geringer sind. Der Mensch,
der ein Menschenleben am Gewissen hat, ist ein Mörder und wird
schwer bestraft. Wenn aber Leute da sind, die gewissenlos, ohne
Bedenken, aus Egoismus, aus brutalem Zynismus Ereignisse herauf-
beschwören, an denen mehr hängt als e i n Menschenleben, mehr
als Menschenleben überhaupt: sollen diese Leute frei ausgehen
dürfen, sie, die ärgere Verbrecher sind? (Stürmische Rufe: Nein!
Nein!) Alles hat ein Ende, auch unsere Geduld! Was aber kein
Ende haben darf, das ist unser Pflichtgefühl, unsere Besonnenheit,
unsere Festigkeit und unsere Solidarität! Wir werden, wenn es
notwendig wird, in den Kampf gehen, und wir werden ihn führen:
überlegt, ruhig, diszipliniert, als einige, feste, geschulte Armee. So
werden wir ihn führen, so werden wir siegen, so werden wir das
allgemeine gleiche Wahlrecht erobern, für uns und für den Staat.
(Stürmischer, andauernder Beifall.)
Wahlkreiseinteilung in Wien.
W a h 1 r e f o r m a u s s c h u ß, 13. Juni 190 6*).
Dr. Adler betont, daß die Sozialdemokratie an der Wahlkreis-
einteilung in Niederösterreich mitinteressiert sei. Bei den Verhand-
lungen, die darüber stattgefunden haben, haben die Vertreter dieser
in Niederösterreich nicht unbeträchtlichen Partei nicht mit-
gewirkt, da sie zur Konferenz nicht zugezogen wurden. Die
Sozialdemokraten wären also an die getroffenen Abmachungen auch
nicht gebunden. Er stelle auch fest, daß in allen Kronländern und
insbesondere in Niederösterreich die Abgrenzung der Wahlbezirke
in sehr hohem ürade zuungunsten des Proletariats ge-
macht wurde unter dem Vorwand, daß man nicht die Bevölkerungs-
zahl allein oder vorwiegend, sondern die angebliche Steuerleistung
zur Grundlage genommen habe, denn die Steuerleistung, die von der
Innern Stadt Wien getragen wird, welcher Bezirk nicht weniger
als vier Mandate erhält, ist tatsächlich eine Leistung ganz anderer
Leute als jener, die in der Innern Stadt wohnen. In der Innern Stadt
kommt auf ungefähr 12.000 bis 13.000 Einwohner ein Mandat,
während in Ottakring erst auf 70.000 Einwohner ein Mandat ent-
fällt. Trotzdem werde er selbst keine Abänderung s-
*) In der Sitzung des Wahlreformausschusses vom 13. Juni wurde die
Wahlkreiseinteilung von drei Kronländern erledigt. Gegen diese Einteilung
wurden wesentliche Einwürfe nicht erhoben. Bei den Wiener Wahlkreisen
beantragte Dr. Lech er im Namen der Wiener Freisinnigen, statt dem
kleinen Mariahilf dein größeren Margareten zwei Mandate zu geben. Ob-
wohl die Einteilung, wie sie die Regierungsvorlage vorschlug, auf einem
von Hohenlohe vermittelten Kompromiß der bürgerlichen Parteien beruhte
und die Arbeiter wesentlich benachteiligte, erklärte Dr. Adler, er werde,
um ein gutes Beispiel zu geben, für die Vorschläge des Referenten — der
der Abgeordnete der Stadt Linz, Dr. Locker von der deutschen Volks-
partei, war stimmen. Alle Abänderungsvorschläge wurden übrigens ab-
gelehnt.
23*
356 her Sieg des gleichen Wahlrechts.
anfrage stellen, er werde sogar gegen den Antrag Lecher
stimmen, obwohl darin für Margareten ein zweites Mandat verlangt
werde, in welchem Bezirk die Arbeiterschaft wesentlich stärker
vertreten sei als in Mariahilf. Er werde für die vom Abgeordneten
Dr. Locker aufgenommenen Regierungsvorschläge stimmen, um
ein gutes Beispiel zu geben und den Weg zu
zeigen, auf dem allein die Wahlreform Gesetz
werden kann, nämlich durch Unterordnung der
Interessen von Gruppen unter die große Sache,
die der Ausschuß zu fördern hat. Er empfehle, direkt
gegen das Interesse, das er hier auch im einzelnen vertreten müßte,
auch den Antrag Lecher zu opfern.
Die Angriffe des Dr. Demel*).
Dr. Adler ergreift das Wort zu einer persönlichen Bemerkung:
Ich muß meine Verwunderung darüber aussprechen, daß der Ob-
mann es dem Abgeordneten Demel ermöglicht hat, Dinge hier
hereinzuziehen, die nicht hieher gehören. Wohin würde man
kommen, wenn man die Parteipresse hier einer Zensur unterziehen
würde? Wenn die „Arbeiter-Zeitung" eine falsche Angabe gemacht
hat, so steht es dem Abgeordneten Demel frei, dies festzustellen
oder zu berichtigen. (Zwischenrufe des Abgeordneten Demel: Das
habe ich getan!) Die Presse untersteht in Österreich noch immer
der Zensur des Staatsanwalts, aber sie untersteht nicht der Zensur
des Parlaments oder dieses Ausschusses. Ich lege Verwahrung da-
gegen ein, daß hier Zeitungsartikel zum Gegenstand der Erörte-
rungen gemacht werden. Was nun die „Arbeiter-Zeitung", der an-
zugehören ich die Ehre habe, anlangt, so hat sie mit den hier
zitierten Ausführungen wahrscheinlich nicht die Absicht gehabt, dem
Abgeordneten Demel angenehm zu sein, und diesen Zweck hat sie,
wie ich mit Befriedigung feststelle, vollständig erreicht. Gegen die
zum Teil in sehr verletzenden Ausdrücken hier vorgebrachten
Klagen über angeblichen Terrorismus der „Arbeiter-Zeitung" und
gegen die Bemerkungen in Privatgesprächen, die ich gemacht haben
soll oder wirklich gemacht habe, erkläre ich, daß ich hier als Ab-
geordneter und Mitglied des Ausschusses sitze und nicht als Heraus-
geber der „Arbeiter-Zeitung". Als Mitglied des Ausschusses, als das
*) Zu Beginn der Sitzung beklagte sich der liberale Abgeordnete von
Teschen, Dr. Demel, einer der fanatischesten Wahlreformfeinde —
vertrat er doch eine dünne Schicht des deutschen Bürgertums in der vor-
nehmlich slawischen Stadt — darüber, daß die „Arbeiter-Zeitung" in ihren
Berichten über die Beratungen des Ausschusses einen unerhörten
Terrorismus an diesen Mitgliedern des Ausschusses übe. Demel hatte
übrigens auch der „Arbeiter-Zeitung" eine Berichtigung geschickt, die aber
einer Berichtigung des Abgeordneten Kaiser widersprach. Die „Arbeiter-
Zeitung" stellte demgegenüber fest, daß Demel und Kaiser jeder für etwas
gestimmt haben wolle, wofür der andere nicht gestimmt haben will . . . Die
Beschwerden über den „Terrorismus" richteten sich übrigens mehr gegen
die Androhung des Massenstreiks, was man sich aber nicht recht zu sagen
traute. (Siehe die Bemerkungen zur folgenden Rede vom 17. Juni.)
I >.is Signal zum Kampf. 357
allein Ich der Zensur des Obmannes unterstehe, habe ieh, da:
müssen mir alle Anwesenden bezeugen, niemals jemand auch nur
mit einem Worte verletzt. (Unterbrechungen bei den Alldeutschen:
Sie drohen hei jeder Gelegenheit! Frechheit!) Sie werden mich nicht
aus meiner Ruhe bringen. Die verletzenden Worte, die Sie hier
gegen mich richten, stehen unter dem Niveau m einer B e-
a c h t u n g. (Rufe bei 6c\\ Alldeutschen: Frechheit!) Ich wiederhole
mit Nachdruck: unter dem Niveau meiner Beachtung. Ich kon-
statiere nochmals, daß ich eine Kritik an meiner Tätigkeit außer-
halb dieses Saales und außerhalb meines Mandats als Abgeordneter
und Ausschußmitglied mir hier nicht gefallen lasse.
Das Signal zum Kampf.
V e r s a m m 1 u n g i m Rathaus, 17. Juni 190 6*).
Wenn Sie hinaussehen aus diesem Saale, sehen Sie eine un-
geheure Menschenmenge, die den ganzen Platz ausfüllt vom Rat-
haus bis zum Ring, und als Sie hiehergingen, sahen Sie in allen
Straßen Ströme von Menschen, die alle hieherzogen. Aber wenn
Sie heute in ganz Österreich in jedem Orte eine Versammlung ein-
berufen würden, würden überall in den Hauptstädten "wie in den
kleinsten Dörfern sich die arbeitenden Menschen drängen, um zu
bekunden, daß sie ihr Recht wollen. (Beifall.) Wir brauchen keine
Volksabstimmung mehr, das Volk hat seine Stimme deutlich erhoben
und hat sich gezählt. Und wer wagt es, sich diesem Strome der
Gedanken, diesem Strome des Wollens in den Weg zu stellen! Die
heute im Wahlreformausschuß gegen das gleiche Recht ankämpfen,
das sind die Wortführer und Bevollmächtigten, sind die Werkzeuge
jener kleinen Klassen, die heute wie Blutegel am Körper des Volkes
schmarotzen (lebhafter Beifall); diejenigen, die das Recht, Gesetze
zu geben und zu verwalten, als ein Familienprivileg ansehen. Es
ist nicht allein Torheit, nicht allein Gewissenlosigkeit, was die
Herrschaften bewegt. Ihr Größenwahn ist ebenso groß wie ihre
Torheit, ebenso groß wie ihre Gewissenlosigkeit: Herr Stürgkh
meint wirklich, Österreich müsse kaput gehen, wenn seine hohe
Weisheit ihm nicht mehr zur Verfügung steht. (Heiterkeit.) Herr
Baernreither**) meint wirklich, Österreich könne nicht leben,
*) Arn 14. Juni war eine von der Gesamtvertretung einberufene Konfe-
renz zusammengetreten, die über alle Einzelheiten des Massenstreiks die
notwendigen Beschlüsse faßte, und um diesen Beschlüssen den erforderlichen
Nachdruck zu verschaffen, wurde am Sonntag den 17. Juni in die Volkshalle
des Rathauses eine Versammlung einberufen, zu der die Massen in un-
geheuren Zügen mit roten Fahnen heranzogen. Während in der Volkshalle
S e h u h m e i e r , S e i t z, Daszynski, Ellenbogen, Krona-
wetter und Adler sprachen, drängten sich die Massen auch vor dem
Rathaus.
) Dr. Josef Maria v. B a e r n r e i t li e r war gleich Stürgkh Abgeordneter
des Großgrundbesitzes und, wenn auch nicht gar so gehässig wie dieser,
Bekämpfer der Wahlrcform. Er hat, wie bereits in der Wahlrechtsbroschüre
358 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
wenn nicht die Großgrundbesitzer in anererbter, durch Jahrhunderte
herangezogener Weisheit (lebhafte Heiterkeit) ihm ihre Ratschläge
geben, jene Ratschläge, die Österreichs Völker so weit gebracht
haben, wie sie heute sind, daß sie heute gezwungen sind, einen
Verzweiflungskampf um ihr Recht zu führen; daß sie heute erst
anfangen müssen, sich einen Staat zu geben, den sie bis heute nicht
haben. (Lebhafter Beifall.) Torheit, Gewissenlosigkeit, Größenwahn
sind es, die sich dem Recht entgegenstellen, und zum Teil, das
wollen wir gar nicht verkennen, rein persönlicher, lumpiger Egois-
mus schlechtester, niedrigster Art. Aber seien wir gerecht, es sind
nicht alle dort so; wir haben es nicht notwendig, die Wahrheit zu
verschleiern, wir sind groß genug und unsere Sache ist groß genug.
daß wir anerkennen können, daß es dort eine Anzahl ehrlicher, auf-
richtiger Wahlreformfreunde gibt. (Bravo!) Wobei ich gleich wieder
die Einschränkung mache, daß gar viele sich als Freunde der Wahl-
reform aufspielen, die diese, die vorliegende Wahlreform, am
liebsten erwürgen möchten, die „prinzipiell" für das allgemeine
Wahlrecht sind, aber nur ja nicht für das Gesetz, das das all-
gemeine Wahlrecht erst zum Recht macht. In -Wahrheit handelt es
sich heute um ganze sechs bis acht Mandate, eine Bagatelle, wenn
man überlegt, daß wir bereits bei 495 Mandaten stehen. (Zwischen-
rufe.) Es ist gewiß nicht gut, wenn das Parlament allzu groß ist.
Aber man muß zugeben, daß in Österreich ein größeres Haus not-
wendig ist als anderswo. Denn -während es in anderen Ländern nur
notwendig ist, daß die einzelnen Klassen der Bevölkerung aus-
reichend vertreten seien, müssen in Österreich nicht nur die
Klassen, sondern die Klassen in jeder Nation eine ausreichende Ver-
tretung haben. Darüber also, wenn es auch für das nächste Haus
eine Unbequemlichkeit sein wird, sich zu grämen oder zu raunzen,
wie es die Großgrundbesitzer tun, ist gar kein Anlaß. So gescheit
wie das heutige Parlament mit seiner Großgrundbesitzerkurie wird
das Volkshaus auch sein, selbst wenn es hundert Abgeordnete mehr
hat. (Heiterkeit und Beifall.)
Schuhmeier und andere haben davon gesprochen, daß ich, weil
ich im Wahlreformausschuß sitze, das Zeichen geben soll, wann der
Massenstreik losbrechen soll. Der Posten, auf dem ich im Wahl-
reformausschuß stehe, ist — wenn auch kein angenehmer, doch ein
ehrenvoller und ich werde selbstverständlich meine Kraft zu-
sammennehmen und werde die Augen offen haben. Aber die
Arbeiter haben es nicht notwendig, sich auf die Augen eines armen
einzelnen zu verlassen. Das Spiel, das dort gespielt wird, wird
vor der ganzen Öffentlichkeit und vor Ihren eigenen Augen
von Adler mitgeteilt ist, schon im Jahre 1893 einen Antrag auf Schaffung
einer eigenen Kurie für die krankenversicherungspflichtigen Arbeiter ein-
gebracht. Sonst war er sozialpolitisch gebildet, hat für die südslawische
Frage ein verständnisvolles Interesse gezeigt, wie auch seine von Josef
Redlich herausgegebenen Tagebücher beweisen. Im Ministerium Thun
war er Handelsminister gewesen. Im Jahre 1917 war er Minister für soziale
Fürsorge im Ministerium C 1 a m - M a r t i n i c. Er ist im Jahre 1925 ge-
storben. (Siehe die Bemerkungen bei der Versammlung vom 2. April 1906.)
l);is Signal zum Kampf.
gespielt. So ist es nicht, daß das ein Geheimnis w;irc und daß nur
ich dieses Geheimnis durchdränge und ich Urnen eine Losung geben
müßte. Wenn der Ausschuß weiter verzettelt, wenn er die (iefalir
heraufbeschwört, daß wir das Gesetz nicht fertig machen können,
dann wird es keines Zeichens von innen heraus bedürfen, sondern
dann werden Sie alle es sehen: Jetzt ist es Zeit! Und es wird
wirklich nur des Signals bedürfen, das Ihnen die Parteileitung geben
wird, des Trompetenstoßes, den jeder Soldat abwartet, obwohl er
weiß, daß er hart vor der Schlacht steht.
Nicht leichtsinnig ziehen wir in den Kampf, nicht leichten Herzens
haben wir, Ihre Vertrauensmänner, an Sie, die Arbeiter Wiens, die
Aufforderung gerichtet, sich schußbereit zu halten für den letzten
Kampf. Wir fühlen die Verantwortung für die Opfer, die Sie werden
tragen müssen, aber wir fühlen auch die Verantwortung dafür, daß
wir Sie nicht den geschichtlichen Moment ver-
säumen lassen dürfen (stürmischer Beifall), um gar keinen
Preis! Darum nehmen wir in dem Bewußtsein, daß die Arbeiter-
schaft diese Opfer bringen will und daß die Arbeiterschaft in ganz
Österreich mit Sehnsucht wartet, wann auch sie in den Kampf ge-
rufen wird, die Verantwortung auf uns, daß. wenn eine wirkliche
Gefahr eintritt, wir das Signal zum Kampfe geben, bevor noch die
Sache verloren ist. Wenn die Herrschaften glauben — und viele
glauben es — , daß sie uns schön langsam über den Sommer hinweg-
schwindeln werden, daß man vielleicht die Wahlreform bis auf
den Herbst verschieben wird, so sagen wir ihnen, daß es das
nicht gibt. (Stürmischer Beifall.) Man wird uns sagen: Jetzt habt
ihr schon dreißig Jahre gewartet, so wartet noch diese drei Monate.
Aber der Zustand der Völker Österreichs in diesen dreißig Jahren
und der seit dem Oktober des vorigen Jahres ist ein völlig anderer.
Was vor zwanzig Jahren noch möglich war, ist heute zur Un-
möglichkeit geworden. Heute ist es unmöglich, länger zu warten,
weil es jeder einzelne Bürger als eine Schmach empfinden würde,
als einen Schlag ins Gesicht, daß wir nach einem Wahlrecht wählen
sollen, das von niemand respektiert wird, das von jedem als ein
Unrecht empfunden wird, das vom Kaiser bis zum letzten Prole-
tarier und vom letzten Proletarier bis zum Kaiser einmütig als ein
Verbrechen am Staate und am Volke angesehen wird. (Stürmische
Zustimmung.) Warum sollte man sich der Gefahr aussetzen, daß
in diesen drei Monaten, wo allerhand passieren kann, den Herren
Zeit gegeben werde, wieder die Wahlreform zu verschleppen und
zu verhindern. Die Herren mögen an der Ostsee, in Ischl und Karls-
bad ihre kranken Leiber pflegen, wir gönnen es ihnen; aber erst
mögen sie die Arbeit tun, zu der sie verpflichtet sind, die sie nicht
unterlassen können, ohne ein Verbrechen zu begehen. (Neuerlicher
stürmischer Beifall.)
Der Ministerpräsident hat, als er im Ausschuß sprach, ein wenig
beachtetes Wort gesagt, das aber mir persönlich aus dem Herzen
gesprochen war : Der Wahlrechts kämpf, sagte er, muß
einmal ein Ende ncli rn e n. Ja, er muß ein Ende nehmen. Und
da er kein Ende nehmen kann mit der Vereitelung der Wahlreform.
360 Der Sickr des gleichen Wahlrechts.
so darf und kann er nur ein Ende nehmen mit der Eroberung der
Wahlreform. Denn der Staat hält ihn nicht mehr aus, denn er wird
sich von Woche zu Woche, von Monat zu Monat noch weiter
steigern. Meint man denn, man werde in üalizien während der
Ernte Ruhe haben, wenn der ruthenische Bauer nicht weiß, daß
sein Wahlrecht gesichert ist? Meint man, man werde in den
nächsten Monaten die gute Konjunktur in den Fabriken ausnützen
können, wenn die Arbeiter in Sorgen an ihr Wahlrecht denken
werden? Meint man, die Arbeiter werden ihnen eine schöne, ruhige
Saison gestatten und ihnen die Säcke füllen, zum Lohn, daß sie
die Wahlreform wieder verschoben haben? (Stürmische Rufe: Nein!
Nein!) Wir halten den Wahlrechtskampf nicht mehr aus! Wir haben
andere, wichtige Dinge auch noch zu tun, wichtige Dinge für das
Volk und für den Staat. Und wir wollen endlich dieses eine Kapitel
beendet haben. Und da sage ich: Lieber ein Ende mit
Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende! (Riesiger,
andauernder Beifall.)
Als wir auf dem letzten Parteitag von dem Siege der russischen
Revolution hörten, da sagten wir alle: Es gibt Fälle, wo das eigene
Leben an Wert verloren hat; wenn wir nicht leben können als
Menschen, mit vollem Recht in einem freien Staate, dann werfen
wir das Leben freudig in die Schanzen! (Brausender Beifall.) Man
könnte ja von Rußland viel lernen. Man könnte lernen, wie es geht,
wenn man das Volk mit einem gefälschten Wahlrecht betrogen hat,
und es wäre noch zu untersuchen, ob unser Wahlrecht viel besser
ist als das für die Duma. Das Volk läßt sich nicht betrügen und es
zeigt sich nicht nur, daß das gefälschte Recht auch zu einem
falschen Frieden führt, sondern auch, daß auf die Niederschlagung
und den Betrug an der Revolution auch dort die echte Revolution
wieder vor den Türen steht. (Stürmische Hochrufe auf die russische
Revolution.) Mögen sich die Herren die Lehren der Geschichte, die
sich nun so ganz in ihrer Nähe vollzieht, merken. (Begeisterter
Beifall.)
Aber die Herren verlassen sich darauf, daß sie warm sitzen
werden in ihren Villegiaturen, wenn der Kampf losgeht, und daß
die Kanonen und Gewehre, wenn es notwendig wird, ihre teuren
Leiber schützen werden. Und sie hoffen, daß der Staat zum Danke
dafür, daß sie ein selbstsüchtiges Attentat, ein himmelschreiendes
Verbrechen am Staate begehen, sie mit seinen Gewehren schützen
wird. (Große Bewegung und Pfuirufe.) Mit den Gewehren, die aus
den Taschen des Volkes bezahlt sind, und daß sie geschützt werden
durch dieselben Proletarier, denen sie selbst das gleiche Wahlrecht
verweigern. So stellen sie es sich vor. Gestützt auf das unter-
drückte, rechtlose Proletariat hoffen sie, dieses Proletariat rechtlos,
und unterdrückt erhalten zu können. Aber die Sache hat ein Loch
und es ist nicht immer so, daß am sichersten ist, der hinter dem
Ofen sitzt, und daß verliert, der am meisten Opfer bringt.
Wir aber schließen : Nieder mit den Wahlrechts-
feinden! Hoch das allgemeine und gleiche Wahl-
recht! (Brausender, minutenlang andauernder Beifall.)
Sozialdemokratischer Terrorismus. 36!
Der Redner beantragt hleraui folgende
Resolution.
Die heutige, von vielen Zehntausenden Wiener Arbeitern besuchte
Massenversammlung erklärt •
Das arbeitende Volk aller Zungen, Millionen von Staatsbürgern er-
warten mit steigender Ungeduld, daß endlich das allgemeine
gleiche und direkte Wahlrecht zum (iesetz werde.
Das arbeitende Volk sieht mit wachsender Erbitterung, daß das
Parlament und sein Wahlreformausschuß von einer kleinen, aber
gewissenlosen Clique von Privilegierten gehindert werden, dem Volke
sein Recht zu geben und die Wahlreform zu vollenden.
Das arbeitende Volk Wiens erklärt, daß es die Verschleppung der
Wahlreform nicht ruhig mitansehen wird, sondern diesem Ver-
brechen gegen Volk und Staat mit allen Mitteln und unter
allen Opfern einen Kampf entgegensetzen wird, dessen erster Schritt
der dreitägige Massenstreik in Wien sein wird*).
Sozialdemokratischer „Terrorismus".
Wahlreformausschuß, 19. Juni 1906**).
Abgeordneter Dr. Adler verweist darauf, daß er schon in der
letzten Sitzung gegen ähnliche vorgebrachte Proteste Verwahrung
eingelegt habe, weil er der Ansicht sei, daß es nicht angehe,
*) Erst nach dieser Versammlung kam die Arbeit im Wahlreformausschuß
in Gang.
**) Der größte Teil der Sitzung des Ausschusses war am 19. Juni mit
einer Debatte über „sozialdemokratischen Terrorismus"
ausgefüllt. Die Riesendemonstration vom Sonntag, über die ja
an anderer Stelle berichtet wird, und die Ankündigung des Massenstreiks,
waren Anlaß dazu. Vor Eingehen in die Tagesordnung meldete sich der
Alldeutsche M a 1 i k, da „der unerhörte Terrorismus der Sozialdemo-
kratie, die immer ungeschminkter hervortretenden Drohungen, die
gegen den Ausschuß und dessen Mitglieder ausgestoßen werden, vom
Ausschuß die gebührende mannhafte Antwort erheischen. Man be-
gnüge sich nicht mehr mit allgemeinen Drohungen. Auch in Brück an der
Mur ist in einer Versammlung von einem Parteigenossen der Sozialdemo-
kratie die Revolution ausgerufen worden. Unter Berufung auf die Worte,,
die der Kaiser an Dr. Kramarsch richtete (Beim Delegationsdiner hatte
der Kaiser zum Abgeordneten Kramarsch gesagt: Die Wahlreform
muß gemacht werden. Auf Grund der alten Wahlordnung kann nicht
mehr gewählt werden siehe dazu Adlers Rede am 11. Juni 1906,
wo er über diese Bemerkungen des Kaisers sprach, und die Fußnote
dazu) werde von Dr. Adler propagiert, daß jetzt Mord, Totschlag
und die unerhörtesten Beschimpfungen Platz zu greifen haben. Er
selbst sei der letzte, der sich fürchte. Aber diesem verbrecheri-
schen Treiben müsse durch eine mannhafte Tat des Ausschusses ein
Ende bereitet werden. Er stellt den Antrag, mit dem Tage des Be-
ginnes des von den Führern der sozialdemokratischen Partei ange-
kündigten dreitägigen Massenstreiks für Wien die Sitzungen des Wahl-
relormausschusses für vierzehn Tage zu unterbrechen. Das solle die Ant-
wort des Ausschusses auf die Drohungen sein, welche die Sozialisten,,
362 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Diskussionen in Volksversammlungen und in der Presse zum
Gegenstand von Erörterungen in diesem Ausschuß zu machen. Es
wäre Sache des Obmannes gewesen, diese Erörterung nicht zuzu-
lassen. Was das Urteil des Abgeordneten Malik über die 40.000 bis
50.000 Menschen, die am Sonntag ihren Wunsch zum Ausdruck
brachten, daß die Wahlreform gemacht werde, und die Bezeich-
nung anlangt, die der Abgeordnete Malik gegenüber diesen Ar-
beitern gebrauchte (Abgeordneter Malik: Die sich so etwas er-
laubt haben, sind Pöbel!), so würde Redner nur wünschen, daß die
Ausschußmitglieder so viel kaltes Blut bewahren wie die Arbeiter
selbst, die an diesen Beschimpfungen, die ihnen hier zuteil werden,
gewiß mit der größten Ruhe und Kaltblütigkeit und mit der
den Herren, die hier schimpfen, gebührenden
Schätzung vorübergehen. (Abgeordneter Malik: Die Photo-
graphien der Mitglieder des Ausschusses werden gesammelt, damit
man jedes einzelne Ausschußmitglied durchprügeln kann!) Was den
Antrag selbst anlangt, so meint der Redner, daß er des Ernstes
völlig entbehre und nicht Gegenstand der Verhandlungen
des Ausschusses sein könne. Der Redner wolle die Verhandlungen
des Ausschusses nicht verzögern, deshalb vermeide er es, auf die
provozierenden Reden des Abgeordneten Malik hier einzugehen.
Er hoffe jedoch, daß es diesem Abgeordneten nicht gelingen werde,
die Arbeiten des Ausschusses noch länger aufzuhalten*).
welche sich der Pöbel auszusprechen erfrecht hat. (Abgeordneter Doktor
Adler: Nehmen Sie sich in acht, Sie sprechen von Tausenden von
Arbeitern!) Wer Drohungen ausstößt, ist bei mir ein Pöbel und verdient
nicht den Namen einer ernst zu nehmenden Partei.
Auch der tschechische Agrarier Zazvorka regt sich über die Drohun-
gen auf und erklärt, daß er den angekündigten Streik nur als eine Vogel-
scheuche betrachte, auf die kein Wert zu legen sei. Ihm erwidert sofort
Adler. Daß es sich übrigens Malik nur um einen Obstruktionsantrag
handelte, geht daraus hervor, daß er, nachdem man fünfviertel Stunden
lang über die Sozialdemokraten geschimpft hatten, höhnisch sagte, „e r
habe seinen Zweck erreich t".
*) Dann protestierte der Pole Abrahamowicz; der Alldeutsche Stein
fragte, wie es die Regierung dulden konnte, daß eine solche Versammlung
unter freiem Himmel abgehalten werde und meinte, mit dem Wort „Pöbel"
seien die Führer gemeint. Der Volksparteiler Dr. C h i a r i (ein reicher
Fabrikant, der die Stadt Sternberg in Mähren vertrat), meinte, daß jede
Beeinflussung des Ausschusses energisch zurückgewiesen werden müsse.
Darauf erklärte Beck, daß die Äußerungen bei den Versammlungen gerade-
zu einen drohenden Charakter angenommen hätten und gab die bündigste
Versicherung, daß auch die größten Demonstrationen, seien sie selbst mit
Gewalttätigkeiten verbunden, für die Regierung nicht die Bedeutung auch
nur des geringsten Arguments haben und daß die Regierung allen Aus-
schreitungen, die mit dem Gesetz in Widerspruch stehen, mit allem Nach-
druck entgegentreten und es verstehen werde, mit den ihr zu Gebote
stehenden Mitteln dem Gesetz auf allen Gebieten Achtung zu ver-
schaffen . . . Nachdem noch einige Redner gesprochen hatten, erwiderte
wieder Dr. Adler.
Sozialdemokratischer „l errorismus".
Abgeordneter Dr. Adler: Von den 49 Mitgliedern dieses Aus-
schusses bin icli das einzige, das die Ehre hat, die sozialdemo-
kratische Partei liier zu vertreten. Das Kräfteverhältnis in der
Bevölkerung ist allerdings ein wesentlich anderes, und es sind große
Massen, die das Zustandekommen der Wahlreform als ihr Lebens-
interesse ansehen. Es ist Ihnen, meine Herren, nicht übelzunehmen,
da Ihnen jede Fühlung mit den Massen abgeht, daß
Sie nicht begreifen, daß die Stimmung, die unleugbar herrschende
Erregung, von den sozialdemokratischen Vertretern im Parlament,
die Sie zum Gegenstand Ihrer Angriffe machen, nicht provoziert
und nicht hervorgerufen, vielmehr nach Kräften eingedämmt wird.
Die Erregung der Massen und die auf Sie unangenehm wirkenden
Demonstrationen sind erklärlich, wenn man bedenkt, mit welchen
Verzögerungen die Wahlreform im Abgeordnetenhaus und ins-
besondere in diesem Ausschuß verhandelt oder vielmehr nicht ver-
handelt wurde. Es ist mir durchaus nicht erstaunlich, daß die letzte
Demonstration in Wien und die Demonstrationen auch außerhalb
Wiens einen tiefen Eindruck auf die Mitglieder des Aus-
schusses gemacht haben. Dieser Eindruck äußert sich hier, und ich
nehme es mit der größten Befriedigung und aufrichtiger Freude zur
Kenntnis, daß sich heute viele Herren hier und insbesondere auch
der Vertreter Schlesiens mit wahrer Wärme zum allgemeinen
gleichen Wahlrecht bekannt haben. Es wäre freilich sehr nützlich,
wenn dieser Eifer sich dahin bewähren würde, daß längere und
häufigere Sitzungen des Ausschusses abgehalten
würden. Sie beklagen sich über die Erregung in den Massen, aber
wir sozialdemokratischen Abgeordneten, die nur ein schwacher Ex-
ponent der Stimmung der Massen sind und die alle Mühe anwenden,
um die Erregung einzudämmen . . . (Lebhafte Zwischenrufe.) Gewiß,
so ist es! Wir haben die Möglichkeit nicht, diese Erregung ver-
schwinden zu machen. Das kann allein dieser hohe Ausschuß. S i e
haben ein ausgezeichnetes Mittel, um die Er-
regung der Massen sofort verschwinden zu
machen, und Sie könnten das, wenn Sie die Güte
hätten, anstatt dieser Debatte, die so lang ge-
worden ist und die unsere Aufgabe nicht fördert,
sich der Arbeit widmen würden, die dem Aus-
schuß zugewiesen ist.
Ich will auf die Dinge, die hier ganz gegen die Geschäfts-
ordnung zur Sprache gebracht wurden, auf den Charakter und
das Wesen der sozialdemokratischen Partei, auf die Vorgänge des
Jahres 1897, auf das Versammlungsrecht und seine eventuelle Ab-
änderung hier im Wahlreformausschuß nicht eingehen. Wenn die
Herren finden, daß die Polizei zu wenig scharf gegen die Arbeiter
einschreitet, so stehen ihnen andere Wege zur Verfügung, um die
Polizei zu einem schärferen Vorgehen gegen die Wiener Arbeiter
zu veranlassen. Ich bemerke eines noch: Ich habe meine Partei-
genossen draußen an diesem Orte nicht zu verteidigen. Sie bedürfen
meiner Verteidigung wahrhaftig nicht. Aber darum darf ich Sie,
364 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
meine Herren, bitten, daß die Art, wie die Arbeiter die Wahlreform
am besten fördern können, der Arbeiterschaft überlassen werde.
und ich meine, daß es hier im Ausschuß am Platze wäre, zu erörtern,
wie dieser Ausschuß die Wahlreform fördert*).
Deutschböhmische Ränke.
Versammlung in Reichenberg, 1. Juli 190 6**).
Wir versammeln uns in ernster Zeit, wenn auch die Reichen-
berger gerade jetzt die WTelt von der rosigen Seite zu sehen ge-
wohnt sind. Das macht ihre wunderbare Ausstellung da draußen,
die wirklich ein Ruhmesblatt in der Geschichte dieses Landes ist.
Wenn wir die äußerst lehrreiche Ausstellung überblicken, sehen
wir nicht das Werk von heute und gestern, wir haben die reife
Frucht der Arbeit von Generationen vor uns, und nicht allein von
Generationen der Unternehmer und der Firmen, die alle diese
schönen Sachen mit ihren Namen markieren, der beste Schweiß und
das Blut der nordböhmischen Arbeiterschaft verkörpern sich in der
Ausstellung. Hunderttausende der Ungenannten mußten in Kummer
und Not dahingehen, bis die deutschböhmische Industrie ihre heutige
Reife erreichte. So erfreulich und so erhebend auch das Bild der
Ausstellung ist, eines fehlt — es ist nicht zum Ausdruck gebracht,
wer die Träger dieser Produktion sind — , auf der Aus-
stellung der deutschböhmischen Arbeit fehlen
die deutschböhmischen Arbeiter. Auch den Mehrwert
an Ruhm und Anerkennung heimst der Unternehmer für sich ein.
Das soll uns aber nicht hindern, auf das Kulturresultat, das sich in
solchen Bildern zeigt, stolz zu sein. Wir haben mehr Recht darauf
wie so viele, die den Ruhm davontragen werden. Wir wissen es,
daß die Ausstellung gerade der Arbeiterschaft ein
*) Nach Adler kamen noch einige Proteste gegen den Terror, worauf der
Antrag M a 1 i k mit allen gegen die zwei alldeutschen Stimmen a b-
gelehnt wurde.
Nachdem noch über die Mandatsverteilung in der Steiermark
einige Redner gesprochen hatten, wurde die Verhandlung wieder vorzeitig
abgebrochen.
Dabei erinnerte Dr. Adler daran, daß die letzte Sitzung frühzeitig
abgebrochen worden sei, und zwar wie sich später unwidersprochen
herausgestellt habe, um für ein Souper im Sacher-Garten Platz
zu gewinnen. Es stelle sich nunmehr heraus, daß die heutige Sitzung
früher geschlossen werden soll, weil ein anderes Diner in Aus-
sicht stehe. Sein Antrag, die Sitzung fortzusetzen, wurde aber ab-
gelehnt.
**) Eine Pause in den Beratungen des Wahlreformausschusses benutzte
Adler, um in mehreren Versammlungen in seinem Wahlkreis — in
Grottau, Warnsdorf und Reichenberg — über die Ver-
schleppung der WTahlreform durch die Ränke der deutschböhmischen
bürgerlichen Abgeordneten zu berichten.
(Siehe darüber die Bemerkungen bei der Rede Adlers im Ausschuß vom;
19. Juli über die Mandate von Böhmen, Seite 374.)
Deutschböhmische Ränke.
Reifezeugnis ausstellt, wie es deutlicher nicht sein kann. Der
politische Zustand, in dem sich die Arbeiterschaft befindet, ent-
spricht diesem Zeugnis allerdings noch immer nicht. Noch immer
wird uns der heftigste und schwerste Kampf aufgezwungen um
unser erstes, primitivstes Recht: u in d a s politische W u h I-
r e c li t.
Abgeordneter Adler schilderte nun die Phasen des Wahlrechts-
kampfes von Oktober bis heute, von den Tagen, da neben günstiger
politischer Konstellation der Wille der Arbeiterklasse die Ent-
scheidung fällte, von dem 28. November 1905, der für die Geschichte
Österreichs eine ähnliche Bedeutung hat wie der 13. März 1848, der
ja auch das alte Österreich von einem neuen Österreich schied,
von diesem Tage bis zum heutigen, wo wir unsere Feinde noch
immer daran sehen, das Werk, das gemacht werden muß,
wenigstens zu verschleppen, seine Vollendung hinauszuschieben.
Der Ministerpräsident Beck meinte, es solle recht ruhig und
rasch gehen. Der Meinung sind wir auch. Aber die Patrioten wollen
nicht. Es gibt kein Land, wo der Träger der Krone einen so unge-
heuren Einfluß hat wie in unserem. Für den Adel und das Groß-
bürgertum heißt in Österreich Patriot sein: Tun, was der Kaiser
will. Will der Kaiser Kanonen, Gewehre, Soldaten, alles bekommt
er, wenn es auch das Volk nicht will. Nun will einmal der Kaiser
etwas, das auch das Volk will. Immer hat man uns gesagt, wir sind
schlechte Patrioten, weil wir das nicht wollen, was der Kaiser will.
Jetzt wollen wir, was der Kaiser will — oder, wenn Sie es so auf-
fassen wollen: der Kaiser will, was wir wollen — , jetzt sind wir
mit dem Kaiser einig, daß das bisherige Parlament für den Teufel
zu schlecht ist; aber im selben Moment versagen die Patrioten, die
immer gegeben haben, was das Volk nicht wollte, was es bedrückte,
und die nun, da dem Volk ein Raub zurückgegeben werden soll,
allen ihren Patriotismus, ihre Loyalität, dynastische Treue und ehr-
furchtsvollste Ergebenheit über Bord werfen. Plötzlich haben wir
es mit Leuten zu tun, die Mannesstolz vor Königsthronen mimen.
Graf S t ü r g k h (Pfuirufe) beugt sich nicht, ist plötzlich ein auf-
rechter Mann, weil der Kaiser ein Recht des Volkes will. Und mit
ihm einige deutschböhmische Abgeordnete (erneute Pfuirufe) —
wenn Sie schon jetzt anfangen, Pfui zu rufen, was werden Sie denn
dann tun? (Heiterkeit) — , einige Abgeordnete der Sudetenländer
überhaupt, die P e r g e 1 t*), D e m e 1 und Kaiser, die alle Tage
sagen, im Prinzip sind wir für das Wahlrecht, und daneben jeden
Verschleppungsantrag fördern und unterstützen. Da müssen wir
schon sagen, wir pfeifen auf euer Prinzip, nicht um das Prinzip
dreht es sich, sondern um die Wahlreform, die jetzt vorliegt, um
dieses bestimmte Gesetz mit allen seinen Vorzügen und Mängeln.
i Dr. Pergelt, Abgeordneter der Städtekurie in Rumburg, liberal
(fortschrittlich). Dr. v. Demel, Abgeordneter der Stadt Teschen in
Schlesien, ebenfalls den tsebfor Lschrittlich. Professor Kaiser, Abgeord-
neter der Landgemeinden von Freudcnthal in Schlesien, Deutsche Volks-*
Partei, Vizepräsident des Abgeordnetenhauses.
366 Der Sic^r des gleichen Wahlrechts.
Darin ieigt sich die arge Heuchelei — und das muß hier in N o r d-
1) () h m e n gesagt werden — , die arge Heuchelei gerade auch
einiger deutscher Abgeordneten Nordböhmens,
die sich zur Wahlreform schlechter und volksfeindlicher verhalten
als die deutschbürgerlichen Abgeordneten der Alpenländer, die in
ihrer großen Mehrzahl ehrlich zur Wahlreform stehen.
Die Opposition im Wahlreformausschuß hat eine merkwürdige
Gesellschaft vereinigt. Dr. Pergelt, Herold aus Saaz, Baernreither
und schließlich auch der Franko Stein (Ein Ruf: Dieses Subjekt
ist zu niedrig!), der, angeblich von sogenannten „deutschvölkischen
Arbeitern" gewählt, nun im Parlament in feindseligster Art mit
allen Waffen gegen die Sache der Arbeiterschaft losgeht. (Zahl-
reiche Entrüstungsrufe. Ein Ruf: Solche Menschen sind
Lumpen!) Regen Sie sich nicht auf. Es ist mir vollständig gleich-
gültig, was dieser Mensch sagt. Vom Ochsen kann man nur Rind-
fleisch haben. (Heiterkeit.) Lassen Sie sich durch diese persön-
lichen Dinge gar nicht irritieren. Wichtiger aber ist, daß diese
Lumpereien von Leuten mitgemacht werden, die
vorgeben, daß sie ernste Politiker sind, die vorgeben,
Freunde der Wahlreform zu sein.
Herr Herold entdeckt plötzlich die Herzogtümer Auschwitz und
Zator*) — wie kommt Herr Pergelt dazu, diesem Kinderstreich zuzu-
stimmen. (Ein Ruf: Haderlumpen!)... Haderlumpen, das ist denn
doch schwer zu sagen. Man weiß oft nicht, wo so ein deutscher
Politiker aufhört und der Haderlump anfängt. Ich glaube vielmehr,
es ist den Leuten ernst damit. Sie reden sich so hinein. Wenn ich
nicht mehr gewählt werde, sagt sich jeder dieser Herren, so ist das
persönlich unangenehm, für Österreich ist es aber eine Katastrophe.
(Heiterkeit.) Die Stürgkh und Pergelt haben bisher zwar nichts
getan als mitgeholfen, den Karren in den Dreck zu bringen; aber
sie meinen doch, es geht nicht, wenn sie nicht dabei sind. Der
Karren liegt im Dreck, aber sie haben ihn doch hineingefahren.
(Große Heiterkeit.) Es ist also nicht alles Schlechtigkeit und böse
Absicht.
Der Minister Beck hat gesagt: Der Wahlrechtskampf muß ein-
mal ein Ende nehmen. (Ein Ruf: Höchste Zeit!) Er hat gemeint, daß
wir aufhören sollten; aber heute, wo er schon ein paar Wochen
im Amte, also ein alter Minister ist (Heiterkeit), muß er schon
wissen, daßderWahlrechtskampfkeinEndenehmen
wird, ehe nicht die Wahlreform gesichert ist. Die
Arbeiterschaft hat seit dem 28. November geduldig gewartet. Als
aber vor etwa vierzehn Tagen im Ausschuß wieder einmal alles
*) Die Deutschnationalen entdeckten plötzlich, daß OswiQcim in Galizien
auf deutsch Auschwitz heiße und eigentlich nicht zu Galizien gehöre.
Auschwitz war nämlich einmal die Hauptstadt der westgalizischen Herzog-
tümer Auschwitz und Zator, die im 15. Jahrhundert einzeln an Polen ver-
kauft, aber im 17. Jahrhundert wieder vereinigt wurden. 1773 fielen sie an
Österreich. — Dr. Josef Herold war der deutschradikale Abgeordnete
von Brüx.
I teutschböhmische Ränk( Al>7
versandet war, da merkten wir, daß es den Herren darum ZU tun
ist, den heißen Sommer über Ferien zu halten, um dann Im Herbst
in den zwei kurzen Monaten bis Mitte Dezember die Wahlreform
verzetteln zu können da machten wir ihnen so weit
unsere Kraft reicht einen dicken Strich durch die Rechnung.
(Großer Beifall. Kufe: Hoch der Massenstreik!)
Genossen! Sie kennen mich seit zwanzig Jahren. Sie wissen, ich
bin kein Springinsfeld. Aber ich sage Ihnen, wenn es notwendig ist,
müssen wir selbst den Massenstreik wagen; wir müssen ihn
wagen, trotzdem wir wissen, welches harte Opfer wir den
Arbeitern auferlegen, welche schwere Störung die
Industrie erfahren wird, welche Gefahren für die Orga-
nisation uns — für einige Zeit wenigstens - drohen. Wir wollen
nicht gewissenlos und leichtfertig sein. Aber wir wären ge-
wissenlos und feig zugleich, wenn wir Sie nicht
rufen würden, sobald der Kampf notwendig wird.
(Großer, langwährender Beifall.)
Die Regierung sucht das alte Rezept hervor. Sie beruft Soldaten.
Aber es kann doch niemand den Bäcker niederschießen, wenn er
nicht die frischen Semmeln für den Frühstückstisch schaffen will.
Das wird schwer gehen. Wenn es nötig werden sollte, über Wien
mit dem Streik hinauszugehen, in welche Lage kommen dann die
parlamentarischen Minister? Seiner Exzellenz Prade*) wird es
doch recht unangenehm sein, gegen seine Reichenberger Mitbürger
Soldaten zu schicken; will er seine Reichenberger niederschießen
lassen? Und auch der Exzellenz P a c a k wird es unangenehm sein,
gegen seine tschechischen Landsleute in Prag mit Kanonen loszu-
gehen. Das verträgt ein parlamentarisches Mini-
sterium nicht und ich sage, daß die Tage dieser Regierung
gezählt sind, wenn wir durch die Haltung des Wahlreformaus-
schusses und durch die Schwäche der Regierung gezwungen
werden würden, in den Kampf einzutreten. Auf die Einsicht und
Kraft der Regierung allein können wir uns leider nicht verlassen,
sondern wir werden, so weit wir vermögen, durch unsere
Kraft schützen, was wir durch unsere Einsicht als
notwendig erkannt haben. (Großer Beifall.) Wir lassen uns nicht
einschüchtern — auch nicht durch Kanonen. (Erneuerter, großer
Beifall.)
Die Unternehmer jammern, daß auf dem Rücken der Unter-
nehmer, der Unschuldigen, die ohnehin fürs Wahlrecht sind, der
Kampf ausgefochten werden soll. Sagen Sie ihnen erstens: das ist
' ) Prade, Abgeordneter der Stadt Reichenberg, deutscher Landsmann-
minister im Kabinett Beck. Pacak, Abgeordneter der Landgemeinden
von Czaslau, tschechischer Landsmannminister.
Die Regierung hatte, als die sozialdemokratische Konferenz am H.Juni
den Generalstreik androhte, militärische Vorbereitungen getroffen, um bei
Ausbruch des Streiks Bahnhöfe, öffentliche Gebäude, Fabriken militärisch
besetzen zu lassen, und in den niederösterreichischen Landstädten waren
die Truppen bereit, jeden Augenblick nach Wien abzumarschieren.
'368 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
einmal der Krieg, der erschossene Soldat hat auch den Krieg nicht
angezettelt; dann aber sagen Sie ihnen, daß sie die Prügel reichlich
verdient haben. Dr. P e r g e 1 1 ist doch i h r Abgeordneter, der
Abgeordnete der Unternehmer; warum nehmen sie ihn nicht beim
Kopfe und warum ziehen sie ihn nicht zur Verantwortung dafür, daß
ihm sein persönliches Interesse oder doch seine persönliche Ver-
bohrtheit mehr gilt als das Interesse der Industrie, die er zu ver-
treten hat? Wenn die Unternehmer für das Wahlrecht demon-
strieren würden, könnten wir es uns ersparen.
Nicht wir werden das Signal zum Kampfe geben; das Signal
kommt von den anderen, wenn sie nichts arbeiten, es kommt von
der Regierung, wenn sie nicht die Kraft hat, sie zur Arbeit zu
zwingen; nicht wir, sondern die Schwäche der Regierung und die
Halsstarrigkeit der Gegner würden das Signal zum Kampfe geben.
Kommt aber das Signal, dann werden sich auch die nordböhmischen
Proletarier sagen: „Jetzt geht es in die Schlacht", und sie werden
die Arbeit niederlegen. (Demonstrativer Beifall, der sich immer
wieder erneuert.) Ich schließe mit dem alten Rufe: Hoch das
allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht!
„Sozialistische Durchseuchung/4
Wahlreformausschuß, 4. Juli 190 6*).
Abgeordneter Dr. Adler: Ich würde zu diesem Gegenstand nicht
das Wort genommen haben, wenn nicht in der Rede der Abgeord-
neten Lemisch und Ploj die „sozialistische Durchseuchung" eine
*) Bei der Wahlkreiseinteilung von Kärnten beantragte der slowenische
Klerikale Dr. Ploj — übrigens im Einvernehmen mit den deutschen
Christlichsozialen in Kärnten — , aus dem dritten Kärntner Wahlbezirk
Ferlach drei „sozialdemokratisch verseuchte" Gemeinden auszuscheiden
und dem Bezirk Klagenfurt zuzuweisen. Damit sollte der Bezirk für die
slowenischen Klerikalen vermehrte Sicherheit erhalten. Dagegen wehrten
sich wieder die Deutschbürgerlichen, deren Redner Dr. Lemisch aus-
rechnete, daß die Deutsche Volkspartei ohnedies ein Mandat an die Sozial-
demokraten werde abgeben müssen. Da übrigens die Orte, um die es sich
handelte, von Klagenfurt und voneinander weit entfernt liegen, wurde der
Antrag abgelehnt.
Als Dr. Adler zu sprechen begann, lärmten die alldeutschen Abge-
ordneten Malik und Stein und Malik erklärte, er werde Adler nicht
reden lassen, da man ihn in Brunn auch nicht habe reden lassen.
Malik hatte nämlich in Brunn eine Versammlung abhalten wollen, verlor
aber den Mut hinzufahren, als er hörte, daß die Sozialdemokraten in der
Nähe seines Lokals eine Versammlung abhalten wollen, obwohl ihm aus-
drücklich versichert wurde, die Arbeiter selbst würden für seine Sicher-
heit bürgen. Deshalb schrie er jetzt ununterbrochen: „Rache für
Brunn!"
Diese Szene schildert der Sitzungsbericht folgendermaßen: Der Vor-
sitzende Baron Malfatti erteilt dem Abgeordneten Dr. Adler das
Wort. Nun springt der Malik auf und schreit: Dr. Adler wird nicht
sprechen. Ich habe gesagt, daß ich ihn nicht sprechen lasse und werde
.Sozialistische Durchseuchung," ;''''
Rolle gespielt hätte. Der Alltrag des Herrn Dr. Ploj wünscht, eine
Anzahl (iemeinden mit sozialdemokratischen Arbeitern ans dem
Bezirk 3 auszuscheiden (andauernde lärmende Zwischenrufe der
Abgeordneten Stein und Malik) und sie in den Wahlbezirk Klagen-
furt zu versetzen. Ich begreife vollkommen, daß es beiden Herren
unangenehm ist, Arbeiter in ihrem Wahlbezirk zu haben. Ich werde
gegen diesen Antrag stimmen. Was die Sozialdemokraten in
Klagenfurt angeht, so werden sie die rote Durchseuchung schon
selbst und allein besorgen. (Fortdauernder Lärm.) Ich kann aber
unmöglich dafür sein, daß Orte, die sehr weit voneinander entfernt
sind, in einen Bezirk zusammengezogen werden. (Fortdauernder
Lärm.) Ich kann absolut nicht zugeben, daß diese Arbeiterorte von
ihrer Umgebung abgeschnitten und einem entfernten Bezirk zuge-
schlagen werden. (Unausgesetzte lärmende Zwischenrufe.) Das ist
es halten! Baron Malfatti ersucht um Ruhe. Adler beginnt zu
sprechen. Malik zieht nun eine Nummer der „Arbeiter-Zeitung" heraus
und erklärt, er werde die Rede Adlers in der Volkshalle verlesen. Adler
erwidert ruhig: Das mag ja sehr interessant sein, aber ich will jetzt eine
neue Rede halten. Malik schreit und lärmt ununterbrochen, worauf
Adler sich an den Vorsitzenden wendet: Selbstverständlich ist es nicht
meine Aufgabe, hier die Ordnung zu wahren; das ist Pflicht des Obmannes
und Sache des Ausschusses selbst. Malik fährt fort zu schreien und
wiederholt eintönig: Ich lasse ihn nicht sprechen! Ich lasse ihn nicht
sprechen! Der Vorsitzende gibt das Glockenzeichen und macht
schüchterne Versuche, Herrn Malik zu hindern, weiter zu spektakulieren.
Der aber schreit ununterbrochen: Wenn er mich draußen nicht reden läßt,
lasse ich ihn hier nicht reden. Das ist meine Rache für Brunn!
Worauf ihm Adler antwortet: Für Brunn haben Sie nicht an mir Rache
zu nehmen. Sie hätten dort reden können, so viel Sie wollten, wenn Sie
den Mut gehabt hätten, nach Brunn zu fahren. Dr. Adler beginnt
nochmals zu sprechen, wird aber nun wieder von dem Geschrei unter-
brochen, bei dem nun dem Malik auch der Stein zu Hilfe kommt, der
unausgesetzt brüllt: Terrorismus gegen Terrorismus! Einzelne
Abgeordnete, insbesondere Kramarsch und der Ruthene W a s s i 1 k o,
rufen: Das geht doch nicht! Das ist unmöglich!, während die
anderen mit ruhiger Objektivität der Szene zuschauen. Der Vor-
sitzende schlägt dann Dr. Adler vor, auf das Wort zu verzichten, was
Adler ganz energisch ablehnt, indem er erklärt: Ich ersuche den Obmann,
mir mein Recht zu wahren: ich verzichte absolut nicht. Ich
weiß, Herr Obmann, daß Sie sehr wenig Macht haben, aber ich werde
mich unter keiner Bedingung fügen! Malik: Sie dürfen unter
keiner Bedingung sprechen. Abgeordneter Ploj gibt dem Vorsitzenden
den Rat, die Sitzung zu schließen. Adler erklärt: Ich protestiere auf
das entschiedenste dagegen. Ich bin in meinem Recht und werde mich
unter keiner Bedingung diesem Terrorismus fügen. Stein: Sie werden
sich fügen und der ganze Ausschuß wird sich fügen müssen! Die beiden
schreien dann weiter. Als Adler wieder zu sprechen anfängt, schreit
Malik: So stark wie Sie kann ich auch schreien! Adler: Ich kann
überhaupt nicht schreien: ich bin kein Schreier. Während nun Malik
und Stein mit Aufgebot ihrer ganzen Lungenkraft brüllen und, als ihnen
die Stimme ausgeht, mit Linealen auf den Tisch schlagen,
führt Adler seine Rede zu Fndc.
Adler, Briefe. X. Bd. 24
370 Der Sic« des gleichen Wahlrecht.
der (irund, warum ich gegen den Antrag des Abgeordneten Dr. Ploj
stimmen werde. (Fortdauernde lärmende Zwischenrufe.) So, ich bin
fertig. Stimme haben Sie ja mehr als ich. Ihr Kehlkopf ist stärker!
(Andauernder Lärm.)
Das Mandat von Gottschee.
Ausschuß, 6. Juli 190 6*).
Abgeordneter Dr. Adler erinnert daran, daß er bei mehreren
Gelegenheiten bereits, wo es sich um die Vermehrung von Mandats-
zahlen gehandelt habe, und zwar wo es sich um ein italienisches,
um ein slowenisches und um das armenopolnische Mandat**) in der
Bukowina handelte, erklärt habe, daß die Sozialdemokraten von
ihrem Standpunkt eine Vermehrung der Mandate nicht zugeben
können, wenn dies nicht auf dem Wege des Kompromisses geschieht.
Das Festhalten an der Vorlage ist im Interesse des Zustande-
kommens der Wahlreform die einzig vernünftige und zum Ziele
führende Haltung. Er bedauere sehr, den Standpunkt auch hier gegen-
über dem Gottscheer Mandat einnehmen zu müssen, obwohl er
wisse, daß, wenn auch der Forderung nach diesem Mandat die sach-
liche Begründung fehle, damit einem Herzenswunsch der deutschen
Abgeordneten entsprochen werden würde. Die Sozialdemokraten
könnten nur unter der Bedingung für ein Gottscheer Mandat
stimmen, daß das von der Regierung vorgeschlagene Kompromiß
wirklich zustande kommt. Wenn das nicht geschieht, sei er selbst-
verständlich genötigt, auch gegen das Gottscheer Mandat zu
stimmen.
Noch einmal Gottschee.
Ausschuß, 12. Juli 19 06***).
Abgeordneter Dr. Adler bemerkt, er hätte es vorgezogen, wenn
eine Vermehrung der Mandate überhaupt nicht vorgenommen und
*) Das Mandat der deutschen Sprachinsel Gottschee in dem sonst
slowenischen Krain war ein großer Streitgegenstand, der die Wahlreform
bedrohte. Der slowenischklerikale Führer Schusterschitz bot den
Deutschen schließlich das Kompromiß an, gegen ein slowenisches Mandat
in Steiermark ihnen das Mandat zu bewilligen. Auf dieser Grundlage ist
dann das Gottscheer Mandat geschaffen worden. Es wurde im neuen
Parlament vom Fürsten Karl Auersperg, der dort begütert war und dessen
Familie überdies den Titel „Herzog von Gottschee" führte, im zweiten
Parlament von einem Grafen Barbo besetzt. (Siehe übrigens Adlers
zweite Rede über diese Frage in der Ausschußsitzung vom 12. Juli.)
**) Auch das war eine Frage, nämlich ob die „Armenopolen", das ist die
polonisierten Nachkömmlinge der Armenier in der Bukowina, ein Mandat
erhalten sollten!
***) In einer sehr bewegten, den ganzen Tag dauernden Sitzung des Aus-
schusses wurde am 12. Juli endlich das deutsche Mandat in Gottschee
Das Mandat von Qottschee. Noch einmal GottSChee. Ml
auch das Gottscheer Mandat abgelehnt worden wäre; da das aber
nun einmal geschehen, müsse man aus der neuen Situation die Kon-
sequenzen ziehen. Der Abgeordnete stein habe heute /um erstenmal
anerkannt, dal.» die Sozialdemokraten die nationale Frage in ihrer
vollen Bedeutung erkennen. Die Sozialdemokraten erkennen nicht
nur die nationale Frage au, sie Rehen viel weiter, sie suchen sie für
das Parlament zu 1 ö s e n, und es gelingt ihnen, trotz den nationalen
Verschiedenheiten und Reibungen, die ja unvermeidlich sind, ein
gemeinsames Programm, eine gemeinsame Organisation und poli-
tische Tätigkeit im Interesse des Proletariats herbeizuführen. Trotz
den Schwierigkeiten, die sich ebenso wie dem Bürgertum auch der
Sozialdemokratie hier entgegenstellen, ist ihr bisher dieser Versuch
vollkommen gelungen. Die Sozialdemokraten erkennen eben die
gemeinsamen Interessen und die Notwendigkeit des
gemeinsamen Kampfes und sie richten sich danach ein. Aus der
Erkenntnis, daß in Österreich nun einmal Slawen, Deutsche und
Italiener zusammenleben müssen, muß man ehrlich und mit
aller Entschiedenheit die Konsequenzen ziehen,
und die Sozialdemokratie hat sie auch tatsächlich gezogen. Ich sage
das darum, weil wir hier bei der Arbeit für die Wahlreform in einer
ganz ähnlichen Lage uns befinden wie das Proletariat in Österreich.
Daß die Wahlreform gemacht werden muß und wird, darüber sind
selbst deren heftigste Gegner, die mit aller Gewalt und mit allen,
mitunter nicht ganz zulässigen Mitteln ihr Zustandekommen ver-
hindern wollen, im letzten Winkel ihres Gehirns nicht im Zweifel.
Jeder weiß, daß Neuwahlen nach der gegenwärtigen Wahlordnung
nicht mehr möglich sind. Wenn aber das jeder weiß, so bleibt
wirklich nichts anderes übrig, als an der Erfüllung dieser
gemeinsamen Notwendigkeit gemeinsam mit-
zuarbeiten und sich gegenseitig Konzessionen
zu machen. Wenn Sie die Wahlreform wollen, dann müssen
Sie auch die Mittel wollen, mit deren Hilfe sie zu
verwirklichen ist, und wer erklärt, daß er prinzipiell für die
Wahlreform ist, aber die Mittel, um sie zu verwirklichen, zu ver-
eiteln trachtet, ist entweder ein unklarer Kopf oder er
heuchelt. Durch die Annahme des Gottscheer Mandats ist ein
Herzenswunsch der Deutschen erfüllt worden, und deswegen
müssen auch die Deutschen ein Opfer dafür zu bringen wissen. Es
ist vom Abgeordneten Stein ausdrücklich festgestellt worden, daß
Abgeordneter Dr. Pommer zuerst auf den in seinem Sinne unglück-
bcschlosscn, nachdem die Deutschbürgerlichen zugestimmt hatten, daß die
Slowenen dafür als Kompensation wieder ein Mandat mehr in Steiermark
erhalten. Aber obwohl es sich da um ein Kompromiß handelte, jammerten
die Deutschnationalen, unter ihnen am giftigsten der Graf S t ü r g k h, der
ja ein steirischer Großgrundbesitzer war, über Vergewaltigung und Unrecht.
Mit welcher verlogenen Demagogie dabei vorgegangen wurde, zeigt die
Tatsache, daß der Redner der Deutschen Volkspartei, der Abgeordnete
Kaiser, den Minister P r a d e, einen Fraktionsgenossen, als einen
Agenten der Slawen hinstellte. In der Debatte nahm auch Adler das Wort.
24*
372 Der Sic« des gleiche*! Wahlrechts.
liehen Gedanken eines Kompensatiönsmandats in Steiermark ge-
kommen ist. Dr. Pommer*) hätte sich eben für das Gottscheer Mandat
in Stücke reißen lassen. Es, war eine fixe Idee von ihm, und da ist
es begreiflich, daß er eingesehen hat, man müsse für dieses Mandat
den Slowenen ein anderes Mandat konzedieren. Im politischen
Leben ist eben umsonst nur der Tod, und den Tod der Wahlreform
werden Sie wegen eines slowenischen Mandats nicht herbeiführen
wollen und nicht erreichen können. Sie geben sich auch darüber
einer Täuschung hin, wenn Sie glauben, daß die Aufregung in den
Massen über ein slowenisches, deutsches oder italienisches Mandat
eine so große ist. Diese' Feinheiten, die sich hier oft in Grobheiten
ausdrücken, diese Details interessieren die Massen mit gutem
Rechte nicht. Die Massen, und zwar nicht nur die Massen des Pro-
letariats, sondern ebenso auch des Bürgertums, haben den ver-
nünftigen Instinkt und sagen sich : Wenn eine so große
Sache gemacht werden soll, dann geht es eben
ohne Späne n ich t. Allen kann man nicht recht tun. Es ist die
alte Wahlordnung auch nicht über jeden Zweifel erhaben. Die
Massen wissen ganz genau, daß es sich in dieser Sache um ganz
andere Dinge handelt und daß die politische Macht und der poli-
tische Einfluß weder der Slawen noch der Deutschen an einem ein-
zelnen Mandat hängen. Auchdie Deutschen wissen ganz
gut, daßihreStellungin Österreich nicht davon
abhängt, ob sie oder die Slawen ein Mandat mehr
bekommen oder nicht. Nehmen Sie sich — ich will nicht
unbescheiden sein ^- an den Sozialdemokraten ein Beispiel. Wir
sind bei der Mandatsverteilung — vielleicht mit der einzigen. Aus-
nahme von Krain -^- i rT allen Kronländern auf das
ärgste übervorteilt worden, und es ist möglich, daß man
bei den noch nicht verhandelten Kronländern weiter versuchen
wird, gewisse Bezirke proletarierrein zu machen. Allein wir gehen
darüber lächelnd hinweg, wir wissen, daß die Macht und der wach-
sende politische Einfluß des Proletariats. nicht von einem oder selbst
einem halben Dutzend Mandate abhängen, daß nicht die Mandate
die Macht geben, soridern'daß die Macht schließlich
auch die M an d a tebr i ngt. Sie sollten es sich überlegen und
bedenken, daß es der Würde und der Macht des deutschen Volkes
in Österreich nicht ganz entspricht, wenn Sie fortwährend, an eine
Unbeträchtlichkeit anknüpfend, die ganze Ehre und den ganzen
Einfluß des deutschen Volkes in Österreich in Frage stellen. Ihre
Wähler werden die Sache wohl begreifen und mit der Kompensation
sich abzufinden wissenf Ich glaube, Sie können, so wie ich, mit
gutem Gewissen für den Antrag stimmen.
*) Ein deutschnationaler ^Abgeordneter von Cilli in Untersteiermark, an-
sonsten Gymnasialprofessor, > in Wien, ein verdienstvoller Sammler von
Volksliedern — -in der 'Politik' aber ein fanatischer Nationalist, ein Feind der
Wahlreform, da er ja in der größtenteils slowenischen Stadt nur eine kleine
Schicht deutscher BürxeElietwr : vertrat. "
Tncvt. 973
Triest.
' ;
Aussch u ß, I 3» Juli 1 906?).
Abgeordneter I)r. Adler bemerkt, daß man, für Triest dureh das
abgeschlossene Kompromiß anstatt der sechs Mandate, welehe die
Vorlage Hohenlohe vorsehe, die fünf Mandate der Gautschischen
Vorlage in Vorschlag bringe. Dagegen sei nichts einzuwenden, ob-
wohl die Interessen der Arbeiterschaft dabei nicht gut wegkommen,
da die Arbeiterschaft bei sechs Mandaten jedenfalls mehr Chancen
gehabt hätte. Das Naturgemäße wäre jedoch gewesen, daß man,
wenn man bei der Mandatszahl auf die ursprüngliche Regierungs-
vorlage zurückgreift, auch die in dieser Regierungs-
vorlage vorgeschlagene Wahlkreiseinteilung
angenommen hätte, außer es wäre eine Bedingung des natio-
nalen Kompromisses gewesen, die Wahlkreiseinteilung abzuändern,
damit das slowenische Mandat in Triest größere Sicherung erfahre.
Das sei aber nicht geschehen, denn das fünfte Mandat in Triest, das
den Slowenen zukomme, bleibe unverändert, wie es die Regierungs-
vorlage Qautsch vorschlug. Wohl aber, habe man eine. andere Ein-
teilung der vier ersten Bezirke Triests beliebt, die mit dem
nationalen Kompromiß nichts zu tun habe, sondern
durch welche bloß eine andere Gruppierung der italienischen Stadt-
teile und insbesondere jenes Bezirkes stattfindender nach der Regie-
rungsvorlage eine große Majorität y on Arbeitern ent-
hielt. Der Bezirk, in dem San Giacomo und San Vito in der Regie-
rungsvorlage vereinigt waren, soll nun auseinandergerissen
und San Giacomo in den ersten und San Vito in den vierten Wahl-
bezirk eingeteilt werden. Dadurch würde es den Arbeitern er-
schwert, in Triest ein Mandat zu erhalten. Das habe mit den bis-
herigen Kompromißverhandlungen absolut nichts zu tun,
*) Auch die italienischen Mandate waren lange ein Streitgegenstand und
die Italiener haben wiederholt im Ausschuß krawallierL Hohenlohe hatte
den Italienern zwei neue Mandate versprochen, von denen je eines in Süd-
tirol und in Triest sein sollte. Das gab Schwierigkeiten und es kam nur
ein Kompromiß über die Wahlkreiseinteilung im Küstenland (Istrien, üörz
und Gradiska, Triest) zustande, wonach die beiden italienischen Mandate
in Istrien und Görz sein sollten^ so daß also in beiden Ländern Italiener
und Slowenen je drei Mandate haben sollten, Triest aber nur fünf (statt der
von Hohenlohe versprochenen sechs, wie in der Gautsch'schen Vorlage
fünf) Mandate. Die italienischen Abgeordneten benützten das Kompromiß,
um in Triest die italienischen Arbeiter um ein Mandat zu betrügen, indem
sie eine neue Einteilung durchsetzten, deren einziger Zweck eben war,
einen ausgesprochenen Arbeiterbezirk zu zerreißen.
Siehe übrigens die Bemerkungen über dals Triester Mandat in dem
Rückblick auf die letzten Phasen bei der Rede Adlers vom 20. Juli „Das
neueste Attentat auf die. Wahlrefoi'm", wo ausführlich dar-
gelegt ist, wie auch in Triest die italienischen Wählreformfeinde von den
Arbeitern durch die schärfsten Mittel — Straßenkämpfe mit der
Polizei, Generalstreikbeschluß — zur Einstellung ihres
Kampfes gezwungen werden mußten.
374 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
das sei nur ein Zugeständnis, das den Italienern nicht als nationaler,
sondern als bürgerlicher Partei zuungunsten der Arbeiter-
schaft gemacht wurde. Aus diesem Grunde und weil er selbst immer
für die Vorschläge der Regierungsvorlage einzutreten erklärt habe,
beantrage er, daß die ursprüngliche Wahlkreis-
einteilung der Regierungsvorlage Qautsch der
Abstimmung zugrunde gelegt werde. Es sei dadurch
nur ein Arbeiterinteresse berührt, aber durchaus nicht ein nationales
Interesse, da es bloß im Interesse der herrschenden Parteien liege,
die Wahlkreiseinteilung in dieser Weise abzuändern. Den italie-
nischen Mitgliedern des Ausschusses seien durch das Kompromiß in
nationaler Hinsicht ganz erhebliche Zugeständnisse gemacht worden,
und man sollte erwarten, daß sie auf diesem Gebiet keine wei-
teren Forderungen stellen werden.
Die Mandate von Böhmen.
Ausschuß, 19. Juli 1906*).
Abgeordneter Dr. Adler fühlt sich verpflichtet, in die Diskussion
mit einigen Bemerkungen einzugreifen, denn er sei ein deutsch-
böhmischer Abgeordneter, er vertrete hier die Interessen der
Arbeiter in dem industriellsten Teile Böhmens, er vertrete hier eine
große Anzahl von Arbeitern, und zwar, wie er mit allem Nachdruck
betone, von deutschen Arbeitern. Diese Deutschen in
Böhmen wollen auch gehört werden und haben ein Recht, zu sagen,
wie sie sich zu den Fragen stellen, die hier erörtert werden. I n
voller Übereinstimmung mit der gesamten
deutschen Arbeiterschaft Böhmens, mehr noch,
in Übereinstimmung mit einem großen Teil des
Bürgertums Böhmens, das es mit der politischen
*) Die Sitzung des Wahlreformausschusses vom 19. Juli war wie die
vorige mit der Beratung des Antrages P e r g e 1 1 ausgefüllt, der einen
neuen Anschlag gegen die Wahlreform darstellte. Pergelt hatte beantragt,
daß die Zahl der deutschen Mandate in Böhmen um acht vermehrt werden
sollte, ohne den Tschechen auch nur eines mehr zu bewilligen. Die übrigen
deutschbürgerlichen Abgeordneten wagten es nicht recht dagegen zu sein,
und der Abgeordnete der Deutschen Volkspartei Professor Kaiser hielt
sogar eine giftige Rede gegen diejenigen, die diesen Antrag ablehnen
sollten, und selbst Geßmann erklärte, die Christlichsozialen würden dem
Antragsteller die Verantwortung überlassen und für den Antrag Pergelt
stimmen, um zu beweisen, daß sie neben ihrer aufrichtigen Freundschaft
für die Wahlreform auch „den Interessen der Deutschen, seien sie nun
wahre oder bloß angebliche", ihre volle Würdigung zuteil werden lassen.
Das gehörte mit zu den Schwierigkeiten der Wahlreform, daß die bürger-
lichen Parteien es nicht wagten, gegen einen mit nationalistischen Argu-
menten motivierten Vorstoß der Wahlreformfeinde aufzutreten, aus Furcht,
dann als Nationsfeinde hingestellt zu werden, und es den Sozialdemokraten
überließen, den Anschlag allein abzuwehren.
Wieder war also eine Krise. (Siehe übrigens Adlers Rede in
Reichenberg am 1. Juli über „deutschböhmische Ränke*'.)
Die Mandate von Böhmen. 375
Verantwortlichkeit ernst nimmt, und im Na m e n
derselben könne er erklären, daß die Anträge des
Abgeordneten Dr. P er ff e 1 1 nicht im Interesse der
deutschen Bevölkerung Böhmens, daß sie nicht
im Interesse des deutschen Volkes in Österreich
überhaupt liegen.
Dr. Geßmann habe gesagt, er vertraue sich der Führung der
Herren aus Deutschböhmen noch einmal, und zwar zum letztenmal,
an. Man braucht diese letzte Probe auf das Exempel nicht mehr
abzuwarten. Es ist klar, daß der vorliegende Antrag weder im
Interesse der Wahlreform noch in dem der politischen Macht-
stellung und politischen Entwicklung des deutschen Volkes liegt.
Er begreife ja, daß man Anträge gegen Anträge stellt. Wenn Abge-
ordneter Choc den Antrag auf Vermehrung der tschechischen Man-
date auch um acht gestellt hat — es scheint das die mystische Zahl
zu sein, um die sich ohne sichtbares Motiv die extremen Parteien
bewegen — , wenn er selbst etwa eine gerechte Einteilung der
Mandate in Böhmen nach der Bevölkerungszahl verlangen würde,
eine direkte Einteilung der Bezirke, die dahin führen müßte, daß die
heute von der Regierung dem Bürgertum zugebilligte Einteilung
gänzlich umgeworfen und viel mehr sozialdemokratische Mandate
in Aussicht stehen würden, so könnte der Abgeordnete Choc oder
er noch immer für sich in Anspruch nehmen, daß sie hier
allein sind, daß jeder von ihnen der einzige Vertreter in der
Partei hier ist, daß also daraus keine Gefahr entsteht;
diese Anträge würden nicht angenommen werden und sie so ihren
prinzipiellen Standpunkt wahren können, ohne die Wahlreform in
Gefahr zu bringen. Der Abgeordnete Choc v/erde aber ent-
schuldigen, wenn er sage: Was uns zukommt, kommt anderen nicht
zu. Quod licet bovi, non licet Jovi!*) (Heiterkeit.) Er nehme diese
Worte auf sich. Die Anträge werden aber von sehr mäch-
tigen Herren gestellt, die imstande sind, eine solche Forde-
rung, von der sie wissen, daß sie sich weder wirklich begründen
läßt, noch Aussicht hat, im Rahmen der Wahlreform angenommen
zu werden, zu einem Gebot für die ganze Linke im Ausschuß, für
jeden deutschen Abgeordneten zu machen. Er wolle das Gewissen
der Herren nicht erforschen, aber er sei fest überzeugt, es sei keiner
in diesem Saale, der nicht mit ihm überzeugt sei, daß die deutschen
Abgeordneten mit Widerstreben für diesen Antrag stimmen, einfach,
weil sie sich dem Machtgebot der Herren aus Deutschböhmen
beugen.
Man möge auch ihm einmal gestatten, das fortwährend ge-
brauchte Wort Terrorismus anzuwenden und zu sagen, die
Herren beugen sich dem Terrorismus der nationalen Phrase.
Zwischen nationaler Phrase und nationalem Interesse ist ein
großer Unterschied. Wer ein nationales Interesse vertritt, muß
*) Der alte lateinische Spruch „Quod licet Jovi, non licet bovi" (Was
fuplter erlaubt ist, ist nicht dem Vieh erlaubt) wird hier umgedreht«
376 Der Sic« des gleichen Wahlrechts.
seinen deutschen Genossen auch sagen können: So kommen wir
nicht weiter, mit einer leeren Forderung gefährden wir das Interesse
des deutschen Volkes; wenn wir diese Wahlreform vereiteln, ge-
fährden wir das deutsche Interesse. Denn darüber sind Sie in Ihrem
Innersten alle nicht im Zweifel: Wenn Sie die Wahlreform um-
bringen könnten — was Sie freilich zu vollbringen nicht imstande
sind — , so müßte jede spätere Wahlreform nicht zum Vorteil der
anderen, aber zum größeren Nachteil der Deutschen
ausschlagen. Heute sind gewisse Machtverhältnisse der sla-
wischen Völker noch verhüllt, sie kommen nicht voll zum
Ausdruck. Die Deutschen haben heute noch eine Macht, die sie
diesem Gesetzwerk aufprägen können; eine Macht, der nicht mehr
ganz entspricht und in kurzer Zeit nicht mehr entsprechen wird die
Machtverschiebung, die mit Notwendigkeit eintritt. Er wisse, daß
die Herren ihn nicht zu den tschechischen, nicht zu den deutschen
Abgeordneten rechnen; daß sie ihn nicht als Deutschen betrachten,
das lasse ihn ganz kalt, und doch sei er überzeugt, daß er
in diesem Moment das wahre Interesse des deutschen Volkes ver-
trete.
Die deutschen Arbeiter, die darauf drängen, daß die Wahlreform
in diesem Moment gemacht und vollendet werde, vertreten
weit mehr das Interesse des deutschen Volkes
als die Herren mit ihren Forderungen, die sie in
gewissenhafter Weise nicht erheben könnten,
wenn sie nicht annehmen würden, daß andere so
gescheit sein werden, sie abzulehnen. Er werde des-
halb dem Beispiel Dr. Geßmanns und dessen Partei n i c h t f o 1 g e n.
Ihm stehe der Weg nicht zu, eine falsche politische Taktik der
Deutschen ad absurdum zu führen; er glaube, sie sei absurd
genug. Ich bescheide mich damit, sagte der Redner, das wirkliche
Interesse der Deutschen zu vertreten, und bitte Sie — nicht um
diese Regierung zu schützen, die selbstverständlich durch Ihren
Antrag gesprengt werden muß — ich habe kein Interesse an dieser
oder einer anderen Regierung, mir ist jede Regierung lieb, die die
Wahlreform macht, und ich werde gegen jede eintreten, die sich
nicht gewillt oder nicht kräftig genug erweist, die Wahlreform zu
machen; das ist heute das Lebensinteresse des Volkes, und diesem
Lebensinteresse muß alles untergeordnet werden. Nicht also, weil
Sie diese Regierung gefährden (vielleicht haben Sie Ihre Gründe
dazu, sie zu sprengen, Gründe, die Sie zwar geheimhalten, die aber
wichtig sein mögen) — aber in Ihrem eigenen Interesse, im Interesse
der Wahrheit, die Sie Ihrem Volke schulden, im Interesse der Ver-
antwortung, die Sie zu tragen haben — denn hinterher werden Sie
nicht sagen können, daß die Gründe Dr. Pergelts so bestechender
Natur waren, daß Sie sich ihnen nicht entziehen konnten — , im
Interesse der schweren und großen Pflichten, die Ihnen obliegen,
bitte ich Sie, lehnen Sie diesen Antrag ab, suchen Sie das Kom-
promiß, wo es möglich ist, suchen Sie mit Ihren tschechischen
Landesgenossen einen Ausgleich zu treffen.
Die Mandate von Böhmen. 377
Sic sehen ja, wie eine Unvorsichtigkeit von dieser Seite selbst-
verständlich sofort eine Unvorsichtigkeit auf der anderen Seite
hervorruft. Die Tschechen müssen sicli heute gefallen lassen, daß
die Zahl der Mandate nicht nach der Kopfzahl verteilt, sondern daß
den Deutschen ein ganz beträchtliches Präzipuum zugewiesen wird.
Sie müssen es sich gefallen lassen, nicht weil sie sich damit als
minderwertig erklären. Niemand nimmt das Wort des Dr. Kramarsch,
daß ihnen damit das Brandmal der Minderwertigkeit auf die Stirn
gedrückt werden würde, ernst, niemand erklärt sie für minder-
wertig; aber man beurteile einfach: wie groß ist heute ihre poli-
tische Macht? Sie ist größer, als sie vor zehn Jahren war; sie wird
vielleicht einmal größer sein als heute; aber daß sie heute mehr für
sich in Anspruch nehmen können, als sie die Kraft haben, durch-
zusetzen, ist unvernünftig. Es ist aber durchaus keine Beleidigung,
wenn man ihnen genau das zumißt, was ihnen nach ihrer Kraft
zukommt. Sowie aber die deutschen Abgeordneten darüber hinaus-
gehen, erwachen auf der anderen Seite, auf verhältnismäßig ge-
mäßigter Seite, auch Begehren, für sich in Anspruch zu nehmen,
was man sonst nicht in Anspruch nehmen könnte. Der Antrag
Baernreither ist in der Tat eine Gefahr, und wenn er ein tsche-
chischer Abgeordneter wäre und so für tschechische Wahlbezirke
in Niederösterreich schwärmen würde, wie die Tschechen es tun,
so würde ich dem Abgeordneten Dr. Baernreither
eine Dankadresse votieren.
Es liege aber nicht im Interesse des nationalen Friedens, nicht
im Interesse insbesondere der Wahlreform, diese Frage hier auf-
zurollen. Dr. Baernreither hat mit einem Aufwand von ungeheurer
Gelehrsamkeit diese Dinge begründet; er hat sich vielleicht von
gelehrten, aber durchaus nicht von politischen Erwägungen leiten
lassen. Die Historie und die historische Betrachtung hat sich nicht
mit dem Gewesenen zu beschäftigen — das ist Sache der anti-
quarischen Betrachtung — , sondern mit dem Gewordenen, und das
ist das Lebendige; und wenn man zehnmal erzählt, daß in irgend-
einem Orte zuerst die Deutschen gewesen sind, so handelt es sich
hier nicht darum, wer im 15. Jahrhundert an einem Orte saß,
sondern wer heute dort sitzt. Wir haben hier nicht das
Tote, sondern das Lebendige zu wahren. Wir haben eine
Wahlreform zu machen nicht für die Vergangenheit, sondern
für die Gegenwart und die Zukunft, und deshalb muß
diese Art der historischen Betrachtung zurückgewiesen werden.
Ich warne Sie davor, den Weg, den Dr. Baernreither da gezeigt hat,
zu betreten, im eigenen Interesse der Deutschen!
Ich sehe kaum einen Ausweg. Ein Kompromiß lehnen Sie ab, und
Ihre eigenen Anträge, deren Annahme niemand mehr fürchtet als
Sie selbst, wollen Sie vorläufig nicht zurückziehen. Im Gegenteil,
gerade Sie errichten das kaudinische Joch, von dem Sie gestern
gesprochen haben, nicht aber für andere Nationen, sondern für Ihr
eigenes Volk, ein kaudinisches Joch, unter dem Ihre eigenen Volks-
genossen gegen ihre politische Überzeugung und gegen ihr Ge-
378 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
wissen durchkriechen müssen, wenn Sie nicht früher zu Verstand
kommen. Ich weiß, das ist ein unhöfliches Wort, aber nicht un-
höflich ist, was ich damit meine. Sie stehen unter einer Sug-
gestion, von der Sie sich befreien müssen, wenn Sie Ihre Pflicht
als Vertreter des deutschen Volkes tun wollen. Ich würde das
Interesse der deutschen Arbeiter verraten, wenn ich hier nicht
erklären würde, daß ich ebenso wie gegen die einseitigen Anträge
der Tschechen, die keine Aussicht haben, durchgesetzt zu werden,
und die ich für ebenso töricht halte, auch mit dem Bewußtsein,
meine volle Pflicht als Deutscher, als Sozialdemokrat und als
Österreicher zu tun, gegen die Anträge des Abgeordneten
Dr. Pergelt stimmen werde.
Das neueste Attentat auf die Wahlreform.
Versammlung in Favoriten, 2 0. Juli 190 6*).
Parteigenossen! Ich will Sie nicht lange auf die Folter spannen,
sondern Ihnen gleich sagen, wie die Sache steht.
Ein definitives Resultat bin ich leider nicht in der Lage, Ihnen
zu melden, wohl aber kann ich Ihnen sagen, daß einige Aussicht
vorhanden ist, daß die letzten Schwierigkeiten, die durch den Vor-
*) Als am 19. Juli infolge der neuesten Intrige der Wahlreformfeinde
die Arbeiten des Wahlreformausschusses wieder stockten, wurden für den
nächsten Tag zwei Versammlungen mit der Tagesordnung „D a s n e u e s t e
Attentat auf die Wahlrefor m" einberufen. Innerhalb weniger
Stunden wurde die Agitation vorgenommen und trotz des schlechten
Wetters waren die Versammlungen massenhaft besucht. In der Ver-
sammlung im Favoritner Arbeiterheim sprach Adler, beim Stalehner
in Hernais Schuhmeier.
Der Wahlreformausschuß hatte am 20. Juli keine Sitzung. Dagegen
fanden den ganzen Tag Besprechungen statt, um die Krise zu überwinden.
Es gelang dabei so wreit zu kommen, daß es widerspruchslos hingenommen
wurde, daß die Tschechen in Böhmen drei, die Deutschen vier oder fünf
neue Mandate erhalten sollten. Diese gegenseitigen Konzessionen sollten
nach dem Vorschlag der Regierung mit einer Vermehrung der Mandate
auch der arideren Länder verknüpft werden. Es sollte durch ein „G e n e-
r a 1 k o m p r o m i ß" die Zahl der Mandate um 19, also auf 516, vermehrt
werden. Das ist schließlich auch das Endergebnis gewesen. Die Versöhn-
lichkeit der Deutschbürgerlichen wurde allerdings wesentlich durch die
Nachrichten aus Böhmen herbeigeführt. In Reichenberg und in Warnsdorf.
aber auch in Prag und Brunn beschlossen Vertrauensmännerversammlungen
neue Aktionen vorzubereiten, wenn die Wahlreform in Gefahr komme.
Mittags hatte im Parlament eine Konferenz der Klubobmänner statt-
gefunden, in der über die weiteren Arbeiten vor den Ferien beraten wurde.
Dabei führte Adler unter anderem aus:
Ich begreife ja, daß die Herren alle nach Hause wollen und be-
sonders diejenigen, die Landwirte sind. Aber andere Parlamente, wo es
auch Landwirte gibt, wie das ungarische und italienische, tagen ruhig
weiter; aber von dieser Analogie abgesehen, ist dieses Haus in einer
Situation, die ohne alle Analogie ist. Wir können absolut nicht aus-
|).is neueste Attentat aui die Wahlrctoiin. 379
stoß der Wahlrechtsfeinde aus Deutschböhmen gemacht wurden,
morgen früh überwunden sein werden. (Bravol) Der Wahlrelorni-
atisschuß hat in den letzten Wochen mit großen Schwierigkeiten,
aber immerhin gearbeitet. Es ist nicht zu leugnen, daß eine eigent-
liche Verschleppung in den letzten Wochen, und zwar seit der Zeit,
einandergehen, bevor der Walilreformuusscluiß zu einem Abschluß ge-
kommen ist, der die Wahlreform sichert. Unter diesen Umständen wird
es sich empfehlen, heute und morgen Ausschußsitzungen zu halten und
das Haus noch Dienstag tagen zu lassen, statt es in unwürdiger Eile
einen ganzen Haufen von Vorlagen erledigen zu lassen. Ms ist wieder
die Idee aufgetaucht, den Ausschuß tagen zu lassen und das Haus auf
Ferien zu schicken, eine Idee, die in der letzten Konferenz sehr viel
Widerspruch fand. Wenn ja, dann ist es aber jetzt unmöglich, den Aus-
schuß ohne das Haus tagen zu lassen. Es handelt sich übrigens bloß
um wenige Tage, und es wäre eine sehr schlechte Ökonomie, jetzt mit
der Arbeit zu sparen, da das uns alle sehr viel mehr Zeit, sehr viel
mehr Opfer und Schwierigkeiten kosten könnte als heute erfordert wird.
Das wurde auch schließlich zugestanden. Am 21. Juli kam dann tat-
sächlich die Einigung. Mit 28 gegen 19 Stimmen wurde die Zahl der Man-
date in Böhmen mit 130 festgestellt, wovon die Deutschen 75, die
Tschechen 55 erhalten sollten. Dieses Ergebnis war gegen die Stimmen
der Deutschbürgerlichen wie der Tschechischbürgerlichen aus Böhmen
zustande gekommen.
Das Abgeordnetenhaus sollte nun 516 Mandate haben, davon
233 deutsch, 108 tschechisch. 8U polnisch, 34 erhielten die Ruthenen, 37 die
Südslawen, 19 die Italiener, 5 die Rumänen. Der sagenhafte deutsch-
romanische Block sollte 257, der slawische 259 haben, die Spannung sollte
also zwei Mandate betragen. Unter Gautsch hatte sie 5 (225 : 230), unter
Hohenlohe 3 (246 : 249) betragen.
Aber halten wir nun, da das Haus auf Sommerferien geht, einmal Rück-
schau auf die Arbeiten des Wahlreformausschusses, wobei wir auch eine
Anzahl Details, die sich früher in den Rahmen der Erzählung nicht ein-
fügen ließen, nachtragen wollen.
Langsam, sehr langsam arbeitete der Wahlreformausschuß. Arn
27. März wurde er gewählt und zweieinhalb Monate dauerte es, bis er
endlich die Wahlreformvorlage zu beraten begann. Diese erste Ver-
zögerung mochte man noch immerhin begreifen. Der Widerstand der
Wahlreformfeinde hatte zwei Ministerien auf die Strecke gebracht, aber
die Wahlreform war aus diesen Kämpfen siegreich hervorgegangen. Seit-
her war aber wieder ein Monat verstrichen und noch immer war nicht
abzusehen, wann der Ausschuß mit seinen Arbeiten fertig werden sollte.
Am 13. Juni hatte die Spez ialb e r a tu ng im Ausschuß begonnen und
es war ein Beweis, wie wenig selbst die wütendsten Feinde des all-
gemeinen Wahlrechtes an eine Vereitlung der großen Reform denken
konnten, daß man damals sofort an die Beratung der Wahlkreiseinteilung
ging. Und nun beriet man schon einen vollen Monat darüber und wurde
nicht fertig damit. Es ist ja richtig, daß dieses Stück Arbeit, das jetzt ge-
leistet wurde, der schwierigste Teil der Arbeit war. Hier handelte es sich
um die Verteilung der Macht nicht nur unter den einzelnen
N a t i o n e n, sondern auch unter den einzelnen Schichten und Klassen,
ja unter den Parteien innerhalb der Nationen.
Hier mußten Kompromisse geschlossen werden, und hier mußten die
nationaleil Abgeordneten nationale Konzessionen machen. Hier also konnten
380 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
wo wir hier in Wien und im ganzen Reiche genötigt waren, zu
erklären, daß eine Verschleppung der Wahlreform für uns den
Kriegsfall bedeutete (So ist es! Generalstreik!), nicht vor-
gekommen ist; wohl aber müssen wir feststellen, daß der Ausschuß
nur mit der größten Mühe und unter den größten Schwierigkeiten
einerseits die ultraradikalen Nationalisten und die Wahlrcformfeinde die-
jenigen Abgeordneten, die um der Wahlreform willen zu Kompromissen
geneigt waren, des nationalen Verrates beschuldigen. Die Wahl-
reformvorlage selbst war ja das Produkt eines nationalen Kom-
promisses. Die Deutschen, die mit den Italienern und Rumänen zu-
sammen die Majorität im Parlament besaßen, sollten diese Majorität auf-
geben, andererseits sollten aber die Slawen wieder weniger Mandate
erhalten, als ihnen nach ihrer Zahl gebühren würde. War schon die Ver-
teilung der Mandate unter den einzelnen Nationen sehr schwer, so wurde
diese Schwierigkeit bei der Verteilung innerhalb der einzelnen Länder
noch schwieriger. Und wiederholt schien es, als ob die Wahlreform
scheitern würde, weil diese Schwierigkeiten unüberbrückbar schienen.
Gleich im Anfang kam es denn auch zu einer Stockung der Arbeiten, da
man sich nicht einigen konnte, mit welchem Kronland man anfangen solle
und die Gegner diese Schwierigkeit noch durch allerlei Geschäftsordnungs-
bedenken komplizierten. Damals griff die Arbeiterschaft ein, indem sie den
Massenstreik in Wien ankündigte, falls die Stockung andauern
sollte. Die Abgeordneten schrien über Terrorismus und drohten den
Massenstreik mit der Einstellung der Arbeiten des Ausschusses zu beant-
worten. Die Arbeiter gaben auf diese Drohung wieder die Antwort, nicht
nur in einer riesigen Demonstration in Wien, sondern auch in der osten-
tativen Vorbereitung des Massenstreiks in Wien, wie im ganzen Reiche.
In allen Industrieorten wurden Streikkommissionen gewählt, die mit der
Leitung der ganzen Aktion betraut wurden; außerdem wurden überall auch
Ersatzmitglieder gewählt, deren Namen geheim gehalten wurden und die
ihr Amt antreten sollten, wenn die Hauptkommission verhaftet werden sollte.
Die Kommissionen wurden in Permanenz erklärt und warteten auf das
Signal, das ihnen von Wien aus gegeben werden sollte. Die Abgeordneten
zeterten noch weiter über Terrorismus, aber da sie sahen, daß die Arbeiter-
schaft Ernst zu machen gewillt war, machten sie gute Miene zum bösen
Spiel und begannen zu arbeiten. Aber die sachliche Arbeit brachte bald
sachliche Schwierigkeiten. In den rein deutschen Ländern gelang es rasch,
Kompromisse zu erzielen. In den gemischtsprachigen Ländern ging es
schwerer, als man gedacht hatte. So in G a 1 i z i e n. Immerhin kam man
da nach langen Verhandlungen zu einem Kompromiß, das zwar den Ru-
thenen nicht ihr volles Recht gewährte, aber doch die Sicherheit gab,
daß sie in den ihnen zugestandenen Wahlkreisen von der Schlachta nicht
mehr durch die bekannten galizischen Wahlpraktiken betrogen werden
könnten. Aber der Ausschuß geriet bald wieder in ein allzu langsames
Tempo. Da griff der Ministerpräsident Freiherr von Beck ein und er-
klärte sehr entschieden, der Ausschuß müsse die Wahlreform rasch
machen und er werde nicht früher auf Sommerferien geschickt werden,
als bis er die Reform zu Ende beraten habe. Überhaupt sei gar kein
Grund vorhanden, warum man nicht die Reform vor den Ferien auch
noch in das Haus bringen sollte. Nun ging es wieder einige Zeit. (Für
diejenigen, die es nicht wissen, sei hier eingeschaltet, daß die R u t h e-
n e n, von denen in den galizischen Fragen immer die Rede ist, jetzt
gewöhnlich als Ukrainer bezeichnet werden. Ehemals nannte man sie
Das neueste Attentat auf die Walilreforni. 381
Stück für Stück hat vorwärtskommen können. Sic können sich
denken, wie ein solcher Ausschuß, wo so viele offene und noch
mehr versteckte Wahlrechtsfeinde sitzen (Pfui Pergelt!), arbeitet,
wo es sich um ein wirklich schwieriges Werk handelt. Wenn man
bei uns Sozialdemokraten in einem Saale solche Reden hielte, wie
wohl auch Kleinrussen, wie ja die russischen Nationalisten immer be-
haupten, daß die Ukrainer eigentlich nur einen russischen Dialekt
sprechen — eine Behauptung, die durch die Tatsache einer bedeutenden
eigenen ukrainischen Literatur so namentlich durch die Poesie eines
S c h e w t s c h e n k o — ausreichend widerlegt wird.)
Aber plötzlich kam wieder eine Störung, und zwar diesmal von einer
Seite, von der man sie nicht erwartet hatte, von den Italienern. Diesen
hatte Prinz Hohenlohe in seiner Abänderung der Qautsch'schen Vorlage
zwei Mandate mehr gegeben, aber nicht, wie sie es verlangt hatten, in
Istrien und Görz, sondern in Tirol und Triest. Eine an sich recht unbeträcht-
liche Differenz und die Italiener hätten im Ausschuß ganz leicht die Er-
füllung ihrer Wünsche durchgesetzt. Aber die beiden italienischen Aus-
schußmitglieder wurden plötzlich nervös und ohne abzuwarten, bis ihre
Sache an die Reihe komme, verlangten sie schon bei der Beratung von
Krain, daß man ihnen für die Gewährung ihrer Wünsche in Istrien und
Görz Garantien gebe. Und als man dieses Begehren nicht erfüllte, begannen
sie den Ausschuß zu obstruieren. Sie hielten stundenlange ita-
lienische Reden im Ausschuß, warfen Geschäftsordnungsfragen auf,
wie eben im österreichischen Parlament Obstruktion gemacht wurde. Nun
griffen die italienischen Arbeiter ein. An demselben Tage, da die Nachricht
von der Obstruktion italienischer Abgeordneter in T r i e s t anlangte, wurde
dort eine große Demonstrationsversammlung gegen die Obstruktion ab-
gehalten und als das nichts wirkte, die italienischen Abgeordneten vielmehr
im Parlament die Demonstration zu verkleinern versuchten und behaup-
teten, die italienischen Arbeiter stünden auf ihrer Seite, wurden die Demon-
strationen in verschärfter Tonart wiederholt. Den nationalistischen ita-
lienischen Zeitungen wurden die Fenster eingeschlagen, die Wagen
der Triester Straßenbahn umgestürzt, Straßenkämpfe mit der
Polizei geführt — es gab auf beiden Seiten eine größere Zahl Ver-
wundeter — und gleichzeitig wurde für den nächsten Tag der
Generalstreik in Triest und die vollständige Lahmlegung des
Verkehrs in diesem wichtigsten österreichischen Hafen angekündigt. Das
wirkte. Abends konnten die Demonstrationen eingestellt werden. Die ita-
lienischen Abgeordneten hatten die Obstruktion aufgegeben gegen das
bloße Zugeständnis, daß man mit ihnen noch verhandeln werde. (Siehe die
Bemerkungen bei der Rede Adlers vom 13. Juli über Triest, wie überhaupt
die Bemerkungen über Gottschee, Böhmen usw. bei den bezüglichen Reden.)
Diese Gefahr war beseitigt, aber eine andere Gefahr tauchte auf. Die
Deutschen hatten seit jeher für die kleine Sprachinsel Gottschee in
Krain ein deutsches Mandat verlangt. Vergebens hatte man sie davon ab-
zubringen versucht und ihnen nachgewiesen, daß das Mandat in spätestens
zwei Sessionen den Slowenen zufallen müsse, da die deutsche Bevölkerung
immer mehr von Gottschee auswandert. Das Mandat in Gottschee war eine
nationale Ehrensache geworden. Immerhin wußten die Deutsch-
nationalen, daß sie, wenn das Mandat bewilligt werden sollte, als Kompen-
sation ein neues slowenisches Mandat bewilligen mußten. Als aber Gott-
schee und auch das slowenische Mandat bewilligt war, kam der Katzen-
jammer. Die Deutschen fürchteten, daß sie das (jottscheer Mandat zu
382 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
sie in diesem Ausschuß gehalten werden, würden die Leute einfach
hinausgeworfen; denn niemand würde es sich gefallen lassen, daß
man bei der Wahlkreiseinteilung für Steiermark bei Adam und Ev.a
anlangt und bei der Wahlkreiseinteilung für Böhmen vom Mittel-
alter erzählt, was die Przemysliden geleistet haben. (Heiterkeit.)
Wenn man von dem einfachen Prinzip, für 50.000 oder 60.000 Men-
schen einen Wahlkreis zu bilden, abgeht, dann ist es ja ungeheuer
schwer, abzumessen, um wieviel mehr man dem einen und um wie-
viel weniger man dem anderen geben soll. Es würde auch bei uns
nicht ohne Schwierigkeiten gehen, wenn wir Sozialdemokraten die
Sache zu machen hätten. Jetzt stellen Sie sich aber vor, daß nun eine
Anzahl Leute da ist, die fortwährend hineinspucken, die bei jeder
Gelegenheit den Streit vom Zaune brechen und die Leidenschaften
teuer bezahlt hatten, weil in Qottschee nicht ein nationaler Deutscher,
sondern ein Klerikaler oder ein Großgründler gewählt werden dürfte, viel-
leicht gar der dortige Pfarrer, der überdies slowenischer Abstammung war.
Um die Aufregung der Deutschen wieder zu besänftigen, erwog man, ob
man nicht wieder ihnen Kompensationen bieten solle oder ob man nicht
die Abstimmung wieder annullieren und Gottschee mitsamt der Kompen-
sation ablehnen solle.
Das waren aber nicht die einzigen Schwierigkeiten. Es waren zwar
schon die meisten Länder erledigt, aber Böhmen, Mähren und
Schlesien, wo Deutsche und Tschechen wohnen, waren noch zu er-
ledigen. Schlesien und Böhmen konnten vielleicht ohne allzu große Be-
schwernis gehen. Höchstens, daß bei Böhmen Jungtschechen und tsche-
chische Agrarier aneinander geraten konnten; aber schwer mußte eine
Einigung in Mähren zu erzielen sein. In Mähren bildeten die Tschechen
vier Fünftel der Bevölkerung, sie sollten wohl von den 46 Mandaten des
Landes 28 bekommen (bisher hatten sie nur die Hälfte): sie verlangten
aber, daß man ihnen wenigstens ein Mandat mehr gebe, was aber die
Deutschen um keinen Preis bewilligen wollten. Wie diese Differenz beseitigt
werden sollte, ließ sich im Augenblick noch nicht absehen.
Die Hoffnung, daß man vor den Sommerferien im Ausschuß mit der Be-
ratung der Wahlreform fertig werden würde, schien sich nicht erfüllen zu
wollen. Die Abgeordneten, selbst viele, die unzweifelhaft Freunde der
Wahlreform waren, erklärten, auf die Ferien im August nicht verzichten
zu können und tatsächlich erklärte sich der Ministerpräsident zu dem Zu-
geständnis bereit, daß der Ausschuß bloß die Wahlkreiseinteilung und die
Festlegung des allgemeinen Wahlrechtes beschließen müsse, die übrige
Arbeit aber bis nach den Ferien verschieben könne. Dadurch wurde aber
die Gefahr für die Wahlreform heraufbeschworen, daß ihre Feinde die
kurze Zeit, die dem Ausschuß dann noch zur Verfügung stand, zur Ver-
hinderung der Reform benützen könnten. Mit Ende dieses Jahres — es galt
als strittig, ob Anfang Dezember, wo vor 6 Jahren der erste Abgeordnete
gewählt wurde, oder Mitte Jänner, wo damals das Parlament einberufen
wurde — mußte die Mandatsdauer der Abgeordneten ablaufen, so daß, wenn
das Haus im September wieder zusammentreten sollte, dann nur drei,
höchstens vier Monate für die weitere Beratung im Ausschuß, im Haus und
schließlich im Herrenhaus zur Verfügung stehen mußten. Man erwog schon
ernstlich, die Session durch ein Gesetz um einige Monate zu verlängern,,
um so Zeit zu gewinnen.
Jedenfalls war aber klar, daß für den Herbst noch schwere Kämpfe be-
vorstünden, ob im Parlament selbst oder auf der Straße . . .
Das neueste Attentat aul die Wahlreform. 'M.t
anfachen, daß da der Stürgkh (Pfui!), der Pergelt (Nieder mit ihm!),
der Kaiser (Pfui!) sitzen, Leute, die nicht nur vom Haß gegen das
gleiche Recht, sondern auch durch eine Menge anderer Gehässig-
keiten getrieben werden. Es hat gestern jemand einen sehr guten
Spaß gemacht. Er meinte, am raschesten brächte der Landsmann-
minister Prade das Kompromiß zustande, wenn er den Herren
sagte: Nehmen Sic das Kompromiß an, und ich lege mein Porte-
feuille nieder und mache einen Ministerstuhl frei, auf den sich dann
ein anderer niedersetzen kann. (Heiterkeit.)
Wir haben im Wahlreformausschuß eine Anzahl Parteien, die
sich von Anfang an für die Wahlreform erklärten, wie die Jung-
tschechen, die Christlichsozialen und die Slowenen, dann Parteien,
die erst nach und nach dafür gewonnen wurden; das sind vor allem
die Polen. Die waren anfangs dagegen, haben dann vierzehn
Mandate mehr gekriegt, das Geschäft gemacht, und man kann mit
ihnen verfahren wie mit richtigen Geschäftsleuten. Anders steht es
mit jenen, die sich von vornherein als Wahlrechtsfreunde aus-
gespielt haben. Dazu gehört die Deutsche Fortschrittspartei, die den
Minister M a r c h e t, und die Deutsche Volkspartei, die die Minister
Derschatta und Prade in der Regierung sitzen hat, die sich
für die Wahlreform ausgesprochen hat und deren Leben und Exi-
stenz mit der Wahlreform verknüpft sind. Diese Parteien bringen es
nicht zuwege, diejenigen ihrer Mitglieder, die fortwährend gQgen die
Wahlreform wühlen, zum Schweigen und zur Disziplin zu bringen.
Es ist ein ganz unerhörter Zustand, daß eine Partei es nicht zustande
bringt, taktisch einheitlich vorzugehen. Wenn die Deutschen jemals
gezeigt haben, daß sie nicht befähigt sind zu herrschen, so haben
sie das bei dieser Wahlreform gezeigt. Wer regieren will, wer
herrschen will, muß erst sich selbst beherrschen. Eine Partei, die
herrschen will, die muß eine Seele und ein Körper sein. Eine Partei,
die zerrissen ist durch verschiedene Meinungen, durch persönliche
Gehässigkeiten, die nicht imstande ist, zu einem großen gemein-
schaftlichen Zwecke einheitlich zusammenzuwirken, ist keine
Partei, sondern ein zusammengelaufener Haufen von Menschen und
kann nichts durchsetzen. (Lebhafter Beifall.) So steht es
aber mit den Deutschen, und so ist es möglich geworden, daß, als
man zur Wahlkreiseinteilung für Böhmen kam, selbst die deutschen
Parteien vor Überraschungen standen, als Herr Pergelt plötzlich
für Deutschböhmen um acht Mandate mehr verlangte ohne jede
Kompensation an die Tschechen. Nun müssen Sie sich erinnern, daß
die Deutschen in der Wahlreform durchaus bevorzugt sind. Trotz-
dem verlangte Herr Pergelt diese Vermehrung der deutschen Man-
date, von denen er ganz genau wußte, daß sie nicht angenommen
werden können, von den Tschechen nicht, von niemand, weil sie
das ganze Werk zersprengten. Wenn sie das verlangen, so kann
das nicht der Grund sein, daß sie so naiv wären und die Welt nicht
kennten, wenn das die Pergelt und Baernreither verlangen, so weiß
man, das ist ein bewußter Plan, um die Wahlreform im letzten
Moment in die Luft zu sprengen. (Nieder mit den Wahl-
384 Der Sie;; des gleichen Wahlrechts.
rechts! einden! In ganz Österreich streiken! Ein-
mal anfangen mit dem üeneral streik!) Der Herr
Pergelt weiß heute noch nicht, wo seine acht Wahlkreise in
Böhmen liegen sollen. Keine Spur; darüber hat er nicht nach-
gedacht. Sie werden sich mit weniger begnügen müssen, und es
wird ihnen da schwer fallen, die Plätze zu finden. Sie suchen natür-
lich Gegenden, wo sie sind und nicht wir; aber es ist halt leider in
Deutschböhmen schwer, ein Fleckchen zu finden, wo keine Fabrik
steht; und wo heute keine steht, ist man nicht sicher, daß nicht
schon morgen eine dort steht. (Heiterkeit.) Den Fabriken aber
weichen sie aus. Und dabei sind sie stolz auf ihre Industrie, freuen
sich der wirklich herrlichen Reichenberger Ausstellung, die so
prächtig zeigt, was die deutschböhmische Industrie leistet, und den
Leuten, den Arbeitern, die die Grundlage dieser Pracht sind,
müssen sie politisch ausweichen, weil sie nicht ihr Vertrauen be-
sitzen. Es würde den Deutschen nichts nützen, wenn sie wirklich
im Wahlreformausschuß die acht Mandate durchbrächten, weil sich
die anderen Völker das nicht gefallen ließen. Nun ist aber die Wahl-
reform nicht bloß vom Standpunkt der Arbeiterschaft, nicht bloß
vom Standpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung eine Notwendig-
keit, sondern sie ist auch eine Notwendigkeit für alle Nationalitäten,
vor allem auch für die Deutschen. Jedes einzelne Volk muß die
Tage zählen, bis es sich endlich befreit hat von den Feinden jedes
Volkes, von den Blutegeln, von den politischen Schmarotzern, von
den Leuten, die sich an seiner Unterdrückung und Bevormundung
hinaufgefressen haben und die heute schon, wo die Kurien noch
bestehen und die Großgrundbesitzer lebendig im Hause herum-
wandeln, zur völligen Leerheit, zur völligen Bedeutungslosigkeit
herabgedrückt sind. Sie können nicht mehr nützen, sie können
nur mehr schaden. (Beifall.)
Nun ist die neueste Gefahr von den Deutschböhmen gekommen.
(Laute Entrüstungsrufe.) Die Herren Pergelt, Kaiser und wie sie
heißen, die uns kühn vorwerfen, daß wir die nationalen Interessen
des deutschen Volkes nicht vertreten, haben sich als die
ärgsten Feinde des deutschen Volkes erwiesen.
(Stürmischer Beifall.) Sie schänden den Namen des deutschen
Volkes, indem sie soviel getan haben, das Volk um sein Recht zu
bringen. (Laute Zustimmungsrufe.) Als der Antrag Pergelt
kam, hat sich Baron Beck — das muß anerkannt werden, wenn
wir auch mit der Nachgiebigkeit nicht zufrieden sind, die er bei
Festsetzung der Termine bewies — redliche Mühe um das Werk
gegeben, und es ist zu hoffen, daß ein Kompromiß zustande kommt,
das den Wünschen der Deutschen und der Tschechen Rechnung
trägt. Gestern hat es in Reichenberg gebrodelt (Bravo-
rufe der ganzen Versammlung), und die Arbeiter Nordböhmens
haben die Vorbereitungen getroffen, um nötigenfalls Montag mit
dem Massenstreik zu beginnen. (Großer Jubel. Rufe von allen
Seiten: Was ist es mit Wien? Auch in Wien könnt' es losgehen!)
Ich habe nie daran gezweifelt, daß auch Sie, Genossen, bereit
Das neueste Aüent;i! ;ml die Wiililreloi in. 385
sind, loszuschlagen, aber jetzt geht die Sache in erster Linie die
nordböhmischen Arbeiter an. Bilden Sie sich nicht ein, daß, wenn
jetzt in Wien der Streik nicht gemacht wird, die Gelegenheit dazu
schon vorbei sein muß. Auch für uns in Wien kann die
Zeit noch k o m inen! Früher als es unbedingt notwendig ist,
soll es nicht geschehen.
Der Antrag der acht deutschen Mandate in Böhmen besteht
heute nicht mehr. Nicht daß er zurückgezogen worden wäre. So
ehrlich sind die Leute nicht; aber es wird verhandelt. Es werden
die Tschechen drei neue Mandate und die Deutschen vier oder fünf
neue Mandate bekommen und dementsprechend auch in anderen
Ländern die Mandate vermehrt werden. Wenn die Bestien wild
werden, muß halt wieder eine allgemeine Fütterung vorgenommen
werden. Wenn es auch im Anzug ist, so muß ich offen gestehen,
daß eine Bürgschaft, daß dieses Kompromiß wirklich zustande
kommt, in diesem Moment nicht gegeben werden kann. (Leiden-
schaftliche Rufe: Streiken! Generalstreik!) Ich komme schon dazu.
Die Sicherheit würde ich nur dann haben, wenn ich die Leute, die
da zu entscheiden haben, für gewissenhafte, ehrliche, ihr Vaterland
und ihr Volk liebende Menschen hielte. Es wird die schwierigste
Arbeit geschehen sein, wenn morgen das Kompromiß fertig ist;
aber die Wahlreform wird damit noch nicht gegen zu-
künftige Attentate gesichert sein, und ich möchte Sie
auffordern, sich nicht bei dem Gedanken zu beruhigen, daß, weil
die schwierigste Arbeit überstanden ist, wir jetzt die Waffen aus
der Hand legen könnten. (Stürmische Rufe: Niemals! Nie-
mals! Wir haben zu lange gewartet!) Ich höre hier eine
Stimme, wir hätten zu lange gewartet. Nein, nein, Sie sind im Irr-
tum und dürfen nicht vergessen, daß zu den wichtigsten Tugenden
des Politikers, und das sind wir ja alle, die Geduld gehört. Wir
haben nichts versäumt, und überall haben unsere Genossen recht-
zeitig eingegriffen: als die Italiener Obstruktion machten, unsere
Genossen in Triest (Bravo! Nur wir auch einmal!), und als vor-
gestern Herr Pergelt seinen Antrag einbrachte, protestierten schon
am Abend unsere Genossen in Reichenberg und Warnsdorf, und sie
telegraphierten sofort, wenn es notwendig ist, steht Montag ganz
Deutschböhmen im Streik. (Allgemeiner Jubel und tausendstimmige
Rufe: Wir auch! Wir auch!) Man traut auch unserer Ruhe in Wien
nicht, und heute waren Polizisten im Parlament, weil die Herren
offenbar meinten, sie hätten einen Besuch der Wiener Arbeiter ver-
dient. (Heiterkeit.) Aber die Leute kennen unsere Taktik noch lange
nicht. Sie wissen noch nicht, daß wir nichts unternehmen, was
einem Putsch gleichkäme. Wenn die Wahlreform gefährdet ist,
dann werden wir ganz anders eingreifen als mit einer Demon-
stration, mit der fünfzig Polizisten fertig werden könnten. (Stür-
mischer Beifall und Rufe: Generalstreik!) Allerdings, Genossen, die
Herren sollen wissen, daß der eiserne Wille der Arbeiterschaft fest
hinter der Wahlreform steht und daß, wenn wir nicht jetzt den
Kurnpf beginnen (Ungeduldige Rufe: Warum nicht? Nur an-
Adler, Briefe. X. Bd. 25
386 Her Sieg des gleichen Wahlrechts.
fangen!), wir es nur darum nicht tun, weil wir nicht unnütz
Kräfte verschwenden wollen. Wenn es aber notwendig werden
sollte, dann wird die ganze Arbeiterschaft, wie wir nun zwei Stich-
proben in Triest und Reichenberg hatten, sofort auf dem Kampf-
platz sein, von Vorarlberg bis zum galizischen Osten, von Triest
bis Nordböhmen. Wir drängen uns nicht zu dem opferreichen
Kampfe, denn die Opfer sind überflüssig. Wenn ihn aber die Herren
haben wollen, werden sie ihn haben. Also halten Sie sich bereit!
(Brausender Beifall*).)
Das Prinzip des allgemeinen Wahlrechts.
Ausschuß, 13. September 19 06**).
Abgeordneter Dr. Adler stellt fest, daß im § 7 das allgemeine,
gleiche und direkte Wahlrecht ausgesprochen werde, soweit es
eben überhaupt anerkannt wird. Eine Einschränkung des gleichen
Wahlrechtes kommt darin nicht vor. Gegenüber dem Abgeordneten
Dr. Tollinger bemerkt er: Wenn Bedingungen, wie die Seßhaftig-
keit, die, so einschneidend sie ist, immerhin eine Bedingung zweiten
Grades darstellt, unter die Sanktion eines Grundgesetzes gestellt
werden, so müßte logischerweise, wenn man ein ungleiches Wahl-
recht fixieren wollte, eine solche Bestimmung gleichfalls unter die
Sanktion des Grundgesetzes gestellt werden.
In der Frage des Frauenwahlrechtes stehe die Partei
des Redners auf dem prinzipiellen Standpunkt, daß der Frau un-
bedingt das gleiche politische Wahlrecht wie dem Manne gebührt.
Er gebe sich aber keiner Täuschung darüber hin, daß der Antrag,
das Wahlrecht auf die Frauen auszudehnen, hier sehr wenige
Stimmen finden würde, und daß es aussichtslos wäre, dafür heute
*) Nachdem das Wahlrechtskompromiß am 21. Juli im Ausschuß an-
genommen worden war, wurde der Reichsrat vertagt und die Abgeordneten
konnten in die Ferien gehen. Am 18. September nahm das Abgeordneten-
haus wieder seine Sitzungen auf; am 12. September bereits der Wahl-
reformausschuß.
**) Am 12. September trat der Wahlreformausschuß wieder zusammen.
In seiner ersten Sitzung betonte der Ministerpräsident Beck die
unbedingte Notwendigkeit der Wahlreform und forderte den Ausschuß auf,
nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Am 13. September wurde der
§ 7 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung angenommen, wonach
das Wahlrecht jeder männliche Staatsbürger hat, der 24 Jahre alt ist und
in der Gemeinde seit einem Jahr seinen Wohnsitz hat. Damit war das
Prinzip des allgemeinen Wahlrechtes festgelegt. Dabei machten allerdings
die Wahlreformfeinde Versuche, auf Umwegen Bresche in die Gleichheit
des Wahlrechtes zu schlagen. Vor allen versuchte der tschechische Agrarier
Hruby den Schein eines Frauenwahlrechtes vorzutäuschen, indem er
beantragte, daß die Frauen, die in öffentlichen Diensten stehen oder selb-
ständig ein Gewerbe oder die Landwirtschaft ausüben, das Wahlrecht be-
kommen; der Abgeordnete der Deutschen Volkspartei, Professor Kaiser,
beantragte die Verlängerung der Seßhaftigkeit auf zwei Jahre. Alle diese
Anträge wurden aber abgelehnt.
h.is Prinzip des allgemeinen Wahlrechts. 387
einen prinzipiellen Kampf zu iTiliren. Selbstverständlich werde er
Für den Antrag Choc stimmen. Merkwürdig angemutet habe aber
der Antrag Hruby und insbesondere seine Ergänzung und Be-
gründung durch den Abgeordneten Kaiser. Man hat sehr viel zarte
Empfindung dafür, daß einer sehr kleinen Anzahl von Frauen ein
sehr verdünntes Wahlrecht heute zukommt, das ihnen genommen
werden soll, und dieses Vorrecht will man jenen Frauen konser-
vieren. Man vergißt aber an die Hunderttausende von
Frauen, welche selbständig erwerbende Arbeiterinnen sind. Die
gestellten Anträge haben mehr den Anschein einer freisinnigen
Auffassung, als daß sie sie wirklich betätigen.
Die in dem Gesetzentwurf für das Wahlrecht aufgestellte
Altersgrenze des vierundzwanzigsten Lebensjahres ist wohl
eine hergebrachte, aber unbillig hohe. In unserer Zeit sind die
breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung viel früher mündig.
Das sozialdemokratische Parteiprogramm verlangt die Feststellung
der Altersgrenze mit einundzwanzig Jahren, wo die Militärpflicht
beginnt. Er stelle trotzdem einen Antrag nicht, weil er damit so gut
wie allein bliebe.
Die einschneidendste, praktisch wirksamste Einschränkung des
Wahlrechtes erfolgt durch die Bedingung der Seßhaftigkeit,
die ziemlich ausschließlich gegen die Arbeiterklasse gerichtet ist.
Der klassische Ausdruck dafür ist das Wort „Wahlrechtsraub". Das
Wahlrecht für den Reichsrat ist nicht ein lokales, an den be-
schränkten Interessenkreis in der Gemeinde sich knüpfendes. In
den Reichsrat wählt man nicht als Gemeindebürger, sondern als
Staatsbürger. Auf dem Wege des Kompromisses ist man, wie
der Minister selbst gesagt hat, in der Regierungsvorlage zu der
einjährigen Seßhaftigkeit gekommen. Es scheint aber die Meinung
obzuwalten, als ob das eine so geringe Beeinträchtigung der
Arbeiterklasse wäre, daß man sie noch vermehren muß. Die ein-
jährige, ja schon die sechsmonatige Seßhaftigkeit beeinträchtigt aber
das Wahlrecht insbesondere der Arbeiterschaft in ganz
empfindlicher Weise. Sie wendet sich nicht etwa bloß
gegen jene Schichten, die man mit einer gewissen Geringschätzung
fluktuierende Elemente nennt, weil sie, wie die Kava-
liere, ihr Gewerbe im Umherziehen ausüben. Große Arbeiter-
schichten sind durch die Art ihrer Arbeit genötigt, einen
Teil des Jahres in der einen, einen Teil in einer
anderen Gemeinde zu verbringen, ohne dadurch den
Interessen des Staates, ja auch nur den Interessen der Gemeinde,
in der sie leben, entfremdet zu werden. Es wird immer darauf ver-
wiesen, daß bei einem Kanalbau oder einer Flußregulierung ein paar
hundert Arbeiter in eine Gemeinde strömen und diese majorisieren
könnten. Abgesehen davon, daß dieser Fall zu den äußerst
seltenen gehört, daß die Wahlbezirke so groß sind, daß das
Wahlresultat vielleicht in einem Teile eines Gemeindebezirkes, aber
durchaus nicht in einem ganzen Wahlbezirk beeinflußt würde, so
ist dies doch kein Grund, den Leuten, die den Kanal bauen, die
österreichische Staatsbürger sind und die Lasten dieser
25*
388 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Staatsbürgerschaft vielleicht in höherem Maße
zu tragen haben als andere, ihre politischen
Rechte zu rauben. Aber um diesen Ausnahmefall handelt es
sich gar nicht in erster Linie, sondern um einen Teil der ganz
seßhaften Arbeiterschaft, die zeitweilig fortzuziehen ge-
nötigt ist. Sind die Tausende von Schneidern oder Schuhmachern,
die gezwungen sind, alljährlich aus den großen
Zentren in die Badeorte zu gehen, um ihr Gewerbe
auszuüben, schlechtere Österreicher als der
Arzt, der im Sommer nach Karlsbad geht? Man
könnte und sollte dem Beispiel des deutschen Reichsgesetzes ruhig
folgen, das den Begriff der Seßhaftigkeit als Bedingung für das
Wahlrecht überhaupt nicht kennt.
Die einjährige Seßhaftigkeit würde in Wien im Durchschnitt fünf
Prozent aller Großjährigen vom Wahlrecht ausschließen. Bei dem
Alter zwischen 24 und 30 Jahren erhöht sich dieser Satz
bis a u f 9'6 Prozent. Es ist mit großer Befriedigung zu konsta-
tieren, daß der Eifer der christlichsozialen Partei, die diesen Punkt
lange mit besonderem Nachdruck verfochten und eine weit höhere
Seßhaftigkeit gefordert hat, ein geringerer geworden ist. Das Nach-
lassen dieses Eifers, vielleicht die Zurückstellung dieser Forderung
überhaupt, dürfte der allmählich erwachenden Erkenntnis zuzu-
schreiben sein, daß von der Einschränkung des Wahl-
rechtes nicht die sozialdemokratische Partei
allein, sondern alle Parteien getroffen werden.
Wie kann man es vom nationalen Standpunkt verantworten, den
eigenen Stammesgenossen zu einem erheblichen Bruchteil das
Wahlrecht einzuschränken? Ich bin überrascht, daß der Vorstoß
zu einer Verlängerung der Seßhaftigkeitsdauer nicht von christlich-
sozialer Seite kommt, sondern daß ein Mitglied der
Deutschen Volkspartei diese Arbeit für andere Parteien
auf sich genommen hat. Es ist übrigens wohl ausgeschlossen, daß
sie zu einem Resultat führe. Die einjährige Seßhaftigkeit ist das
Äußerste, was die Arbeiterschaft ertragen kann. Sie hat auf dem
Gebiet der Wahlkreiseinteilung eine ganze Reihe von Beeinträchti-
gungen in jedem Kronland über sich ergehen lassen, ohne mit der
Wimper zu zucken, um das große Ganze zu sichern. Sie hat auch
die Einschränkung des gleichen Rechtes durch die einjährige Seß-
haftigkeit zwar nicht akzeptiert, aber als das Resultat eines unab-
wendbaren Kompromisses über sich ergehen lassen. Jede weitere
Einschränkung aber wäre unerträglich.
Die Tendenz einer solchen Erweiterung der Seßhaftigkeit hat
auch die Anregung des Abgeordneten Kaiser, die Seßhaftigkeit mit
einem Stichtag festzusetzen. In Frankreich besteht dieser Stich-
tag wohl, aber er hat nur in Verbindung mit der dort
vorhandenen Einrichtung der permanenten
Wählerlisten einen Sinn. Ich werde selbstverständlich den
Antrag auf Beseitigung der Seßhaftigkeit überhaupt stellen. Wenn
aber irgendeine Seßhaftigkeitsfrist bestimmt wird, so beantrage ich
D.is Prinzip des allgemeinen Wahlrechts. .W)
im § 7 Statt der Worte: „in der Gemeinde, in welcher das Wahlrecht
auszuüben Ist", zu setzen: „in dem Wahlbezirk, in welchem
das Wahlrecht auszuüben ist, oder im Falle eine Gemeinde in
mehrere Wahlbezirke geteilt ist, in einem derselben." Auch
für diese Bestimmung kann ich mich auf die Autorität der deutschen
Reichsverfassung berufen, die allerdings die Forderung einer Seß-
haftigkeit nicht kennt, aber in bezug auf die Ausübung des Wahl-
rechtes an dem Orte, wo der Wähler zur Zeit der Wahl seinen
Wohnsitz hat, die Bestimmung in obiger Weise formuliert. Diese
Formulierung würde sich darum empfehlen, weil sonst ganz gegen
die Absicht der Vorlage sehr viele durchaus seßhafte und durch-
aus nicht fluktuierende Personen um ihr Wahlrecht kommen
werden. In allen Industriezentren — ich erinnere an die Umgebung
Reichenbergs, Brunns usw. gibt es zahlreiche Fabriksdörfer,
deren Grenzen zusammenfließen, die aber jedes eine selbständige
Gemeinde bilden. Der Mann, der aus einer dieser Gemeinden in
die benachbarte zieht, verändert seinen Wohnsitz so wenig als der,
der von einer Seite der Mariahilferstraße auf die andere, von Maria-
hilf auf den Neubau zieht. Trotzdem wird er nach der Fassung der
Regierungsvorlage seine Seßhaftigkeit unterbrechen und sein Wahl-
recht verlieren. Diese, wie ich annehme, ungewollte Unbilligkeit
zu verhindern, ist der Zweck des Antrages.
Das wichtigste aber ist die Abwehr jeder Verlängerung der Seß-
haftigkeit, und ich schließe mit der Bitte, der Arbeiterschaft den
Kampf gegen eine weitere Einschränkung des Wahlrechtes nicht
aufzuerlegen.
Dr. Adler*) findet es merkwürdig, daß man jetzt, in letzter Stunde
noch versuche, in einem sehr wichtigen Punkte auf einem Umweg
eine Erhöhung der Seßhaftigkeit herbeizuführen, also jene Bestim-
mungen abzuändern, welche das Resultat sehr eingehender Kom-
promißverhandlungen bilden. Befremdend ist es auch, daß der Ab-
geordnete Dr. P e r g e 1 1, der in so anerkennenswerter Weise für
die politischen Rechte der Militärdienenden eingetreten sei, in dem-
selben Atemzug einem Antrag das Wort geredet hat, der ganz offen
eine Verlängerung der Seßhaftigkeit — in gewissen Fällen, je nach-
dem, wann die Wahlen stattfinden, bis zur Verdopplung — bedeutet.
Die Feststellung der Seßhaftigkeit ist eine der schwierigsten Auf-
gaben bei Herstellung der Wählerlisten und insbesondere diejenigen,
die mit den Wiener Verhältnissen vertraut sind, werden zugeben
müssen, daß man auf diesem Gebiet sehr unangenehme Erfahrungen
machen kann, wenn die Behörden nicht volle Objektivität walten
lassen. Jeder Monat und jeder Tag, um den die Seßhaftigkeit erhöht
wird, bedeutet aus diesem Grunde eine weitere Einschränkung des
Wahlrechtes, und dies liegt doch wohl weder in den Intentionen der
*) Nach Adler sprach der Minister des Innern B i e n e r t h, der die
unveränderte Annahme der Regierungsvorlage empfahl. Dann beantragte
der Liberale Dr. P e r g e 1 t, daß die einjährige Seßhaftigkeit am 1. Jänner
vor der Wahlausschreibung vollstreckt sein müsse. Darauf erwiderte
Adler. Auch dieser Antrag wurde selbstverständlich abgelehnt.
390 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Mehrheit des Ausschusses noch in denen der Regierung. Es kann
keinem Zweifel unterliegen, daß in den Anregungen des Abgeord-
neten Kaiser eine schwere Ungebühr und eine Verletzung von
Rechten liegen, welche in erster Linie die Arbeiterklasse treffen,
und daß mit ihnen der Versuch gemacht wird, einer weiteren, heute
ziffermäßig nicht festzustellenden, aber jedenfalls sehr beträchtlichen
Anzahl von Staatsbürgern das Wahlrecht zu entziehen. Er richte
an den Ausschuß die Bitte, in der Bevölkerung nicht das Gefühl zu
erwecken, daß man heute, wo man darangeht, das allgemeine
Wahlrecht zu statuieren, es in einer so empfindlichen Weise zu-
ungunsten der Arbeiterklasse einschränke. Wenn auch der Antrag,
die Seßhaftigkeit überhaupt nicht zu fixieren, abgelehnt werde, so
möge der Ausschuß doch im schlimmsten Falle bei der Regierungs-
vorlage bleiben, in keinem Falle aber über diese Bestimmung
hinausgehen.
Der polnische Verschleppungsantrag.
Ausschuß, 14. September 190 6*).
Abgeordneter Dr. Adler betont, daß vom Standpunkt derjenigen,
die wünschen, daß die Wahlreform so rasch und glatt als möglich
abgewickelt werde, der gestellte Antrag nicht gerade er-
*) Am 13. September war das Prinzip des allgemeinen Wahlrechtes
beschlossen worden und schon am nächsten Tage stellten die Polen einen
Antrag, der unter Umständen geeignet war, die Wahlreform wieder zu
verschleppen. Beim Artikel II des Gesetzes, der bestimmt, daß die §§ 6
und 7 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung geändert werden,
verlangten die Polen, daß das Grundgesetz auch in den Bestimmungen
der §§ 11 und 12 geändert werde, die die Kompetenz des Reichsrates und
der Landtage regeln, und zwar in dem Sinne, daß die Kompetenzen des
Landtags auf dem Gebiet der Landeskultur vermehrt werden. Vergebens
wurde darauf aufmerksam gemacht, daß der Wahlreformausschuß nur die
Wahlreform zu beraten habe und daß auch die von der Regierung be-
antragte Änderung der Bestimmungen über die Immunität der Abgeord-
neten nicht diesem Ausschuß, sondern dem Verfassungsausschuß zuge-
wiesen wurde, vergebens verwies man darauf, daß dann, wenn dieser Be-
schluß gefaßt würde, der Artikel, mit dem die Abänderung des Wahlgesetz-
paragraphen schon beschlossen war, nochmals geändert werden müßte.
Die Polen hatten seinerzeit, als sie die Wahlreform verhindern wollten,
ihre verfassungsrechtlichen Forderungen in den Vordergrund geschoben.
Jetzt aber, nachdem sie durch ausreichende Mandatszuteilung für Galizien
befriedigt waren, konnten sie von dem populären Schlagwort der Ver-
stärkung der Länderautonomie nicht loskommen. Allerdings verlangte der
Antrag Starzynski nur ein neungliedriges Subkomitee zur Über-
prüfung dieser Paragraphen und Sicherstellung der Landesgesetzgebung,
aber sie beantragten zugleich, die Abstimmung über die Eingangsformel
des Artikels II vorläufig zu vertagen. Den Wahlreformfeinden schien die
Gelegenheit günstig und auch die Anhänger der verstärkten Länderauto-
nomie konnten der Versuchung schwer widerstehen und so gab es gleich
eine umfangreiche Debatte über Föderalismus und Zentralismus. Auch der
Ministerpräsident Beck stimmte der sachlichen Notwendigkeit einer
Der polnische Verschleppungsantrag 391
freu Meli sei. Er wirke auch ein wenig überraschend, denn man
hätte sich darüber schon früher benehmen und einen Ausweg finden
können. Die Bedenken bezüglich der Kompetenz dieses Ausschusses
treffen vollständig zu. Gerade der Abgeordnete Ritter
v. Abrahamowicz war es, der im Plenum des Abgeordnetenhauses
die Anträge bezüglich der Zuweisung der einzelnen Gesetzentwürfe,
die die Regierung in Verbindung mit der Wahlreform eingebracht
habe, gestellt hat. Gerade Ritter v. Abrahamowicz war derjenige,
der ganz sachlich und richtig jenen Teil der Verfassungsreform, der
sich auf die Abänderung des Staatsgrundgesetzes bezüglich der
Immunität der Abgeordneten bezieht, dem Verfassungsausschuß zu-
zuweisen beantragte, wohin er eben gehört. Wenn die Herren vom
Polenklub nun betonen, daß die Abgrenzung der Kompetenz
zwischen Reichsrat und Landtagen mit dem Wahlgesetz einen
innigen Zusammenhang habe, so werden sie wohl auch zugeben
müssen, daß der Gesetzentwurf über die Immunität der Abgeord-
neten auch einen gewissen Zusammenhang mit der Gestaltung des
Reichsrates hat. Es wäre also nur selbstverständlich, daß, wenn im
Zusammenhang mit der Wahlreform eine Interpretation bezüglich der
Kompetenzen zwischen Reichsrat und Landtagen gewünscht werde,
der betreffende Antrag in den Verfassungaus-
schuß gehört. Schon von diesem rein formalen Standpunkt aus
könne er sich für den Antrag Starzynski nicht erklären. Er wolle
dem schlechten Beispiel, das gegeben wurde, aus diesem
Anlaß die ganze Geschichte der Verfassung aufzurollen, gewiß nicht
folgen. Er möchte nur sagen, daß die Sozialdemokraten nicht auf
dem Standpunkt stehen, Österreich solle ein Länderstaat bleiben,
sondern daß sie aus diesem Länderstaat einen Völkerstaat
machen wollen.
Vom Standpunkt der Praxis kann man durchaus der Ansicht
sein, daß, wenn auch die wirtschaftliche Entwicklung mit ganz un-
überwindlicher Gewalt zu einer Zentralisierung der ganzen Ver-
waltungsagenden drängt, in der Aufteilung der Kompetenzen eine
neuen Abgrenzung der Kompetenzen zu und empfahl auch die Einsetzung
des Subkornitees; zugleich aber meinte er, daß dabei nur eine Resolution
herauskommen könne. Der Vertagung trat er aber energisch entgegen.
Zur Überraschung der Antragsteller wurde der Antrag mit 21 gegen
19 Stimmen angenommen. Diese Mehrheit kam dadurch zustande, daß
Graf Stürgkh, obwohl er als „verfassungstreuer" Großgrundbesitzer prinzi-
piell ein Gegner der Länderautonomie war, um der Wahlreform ein Bein
zu stellen, sich mit noch einem Großgrundbesitzer zu den Polen schlug
und die Klerikalen aus agrarischen Gründen mitstimmten. Ein Vermitt-
lungsantrag Geßmanns, daß sich die Kompetenzänderungen auf die Fragen
der Landeskultur beschränken, kam nicht mehr zur Abstimmung.
Bei dem Subkomitee kam natürlich schließlich nichts heraus als vier
Resolutionen, von denen eine (von Tollinger) die Regierung aufforderte,
über die Abänderung der Kompetenzen bei den Landesausschüssen eine
UmfruKe zu halten, die anderen (zwei des Abgeordneten Starzynski und
eine des Abgeordneten Geßrnann) sich als Interpretationen, zwar nicht
„authentischer Art" (wozu ein Gesetz notwendig wäre), aber doch mit
„richtunggebender Kraft" darstellten.
392 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Reihe von Härten und Schwierigkeiten besteht, die einen schleppen-
den Gang bei der Regelung gewisser Verhältnisse mit sich bringen.
Er gebe auch zu, daß Ritter v. Starzynski schon in seiner ersten
Rede, die er im Ausschuß hielt, auf eine Reihe solcher Schwierig-
keiten in sehr zutreffender Weise hinwies. Was geht das aber
den Wahlreformausschuß an? Dieser Ausschuß hat nicht
die Aufgabe, diese Frage zu regeln. Zwar wisse er leider sehr gut,
daß alle Erörterungen nichts nützen. Die Polen haben einen Antrag
gestellt und die Bedenken, die vorgebracht werden, werden sie von
diesem Antrag nicht abbringen. Was er aber nicht verstehe, seien
die Versicherungen, daß die Polen die Arbeiten des Wahlreform-
ausschusses nicht stören wollen. Mit diesen Versicherungen steht
der Antrag auf Vertagung in einem, vielleicht ungewollten, Wider-
spruch. Es sei nicht einzusehen, was zu dieser Vertagung zwinge.
Man hat eine unbestimmte Angst vor den Schwierigkeiten der
Reassumierung, die aber ganz überflüssig ist. Wenn aber in einer
so wichtigen, einschneidenden, das ganze Staatsleben treffenden
Frage die Parteien die Kraft haben würden, eine Änderung des
Staatsgrundgesetzes durchzusetzen, wird dann diese Kraft stehen-
bleiben vor dem mechanischen Hindernis der Unmöglichkeit, auch die
Abstimmung über Artikel II zu reassumieren? Das glaubt doch wohl
niemand. Wenn die Majorität des Ausschusses eine Abänderung des
Gesetzes durchsetzen zu können glaubt, dann wird sie nichts
hindern, ein besonderes drittes Gesetz zu schaffen, das
sich mit der Abänderung der §§11 und 12 des Staatsgrundgesetzes
beschäftigt. Die Schwierigkeiten der Wahlreform sind ja bekannt
und es ist bezeichnend, daß Graf Stürgkh, der gewiß nicht zu den
Förderern der Wahlreform gehört, eine Aktion unterstützt, die der
Erledigung der Wahlreform nicht dienen kann. Aus ungefähr den-
selben Gründen sei er begreiflicherweise absolut gegen die
Vertagung und er bitte den Ausschuß und insbesondere die
Herren vom Polenklub, mindestens auf diesen Vertagungsantrag zu
verzichten. Nach seiner Überzeugung sei eine solche Vertagung
auch für die Zwecke des Polenklubs vollständig über-
flüssig. Redner hätte auch gewünscht, daß der Ministerpräsident,
so sehr er seine sachlichen Ausführungen vielfach für gerechtfertigt
halte, in dieser Beziehung energischer gesprochen und
energischer die Schwierigkeit, die Arbeit zu bewältigen, betont
hätte.
Nach den Sommerferien.
Versammlung, 17. September 1906.
Als wir uns das letztemal hier in diesem Saale im Juni*) sahen,
war es eine heiße Zeit. Heiß, drückend und gewitterschwanger für
*) Am 11. Juni, als die Arbeiter mit dem Massenstreik drohen mußten,
um die Intrigen der Gegner zu durchkreuzen. (Siehe oben „Die letzte
Warnun g".)
Am 21. Juli war das Abgeordnetenhaus in die Sommerferien gegangen
und am 18. September trat es wieder zusammen. In sechs massenhaft be-
Nach ik'n Sommerferien.
ganz Österreich. Wir waren darauf gefaßt und im Begriff, unser
Äußerstes einzusetzen, um die Wahlreform, die im Ausschuß auf
allerhand Obstruktion gestoßen war, zum Gelingen zu bringen. Es
ist zu diesem Äußersten nicht gekommen, es hat gentigt, dal.» die
Arbeiterschaft ihre Kampfbereitschaft zeigt, um auch die Regierung
und. diejenigen Parteien, die der Wahlreform nicht abgeneigt sind,
neuen Mut schöpfen zu lassen und die Beratung im Ausschul) über
den schwierigsten Punkt zu führen. Dafür wurde namentlich von
den Feinden des allgemeinen Wahlrechtes die Aufteilung der Man-
date unter den Nationen erklärt. Wir, die V e r t r a u e n z u i h r e m
Volke haben, Deutsche zu Deutschen, Tschechen zu Tschechen
und so fort, würden uns überhaupt nicht auf eine mathematisch ab-
gezirkelte Verteilung der Mandate eingelassen haben. Die politische
und kulturelle Entwicklung einer Nation hängt von anderen Dingen
ab als von einem halben Dutzend Mandate mehr oder weniger.
Aber die Verteilung der Mandate in Österreich ist abhängig von
dem politischen Kräfteverhältnis im gegebenen
Moment. Es ist eine Tatsache, daß der politische Einfluß der
Deutschen gegenwärtig stärker ist als etwa der der Ruthenen, und
es ist wunderbar, wenn dieses Verhältnis auch in der Aufteilung
der Mandate zum Ausdruck kommt. Ein gleiches Wahlrecht gibt
es nur im sozialen Sinne innerhalb derselben Nation. Diese
soziale Ungleichheit im Wahlrecht ist jetzt beseitigt. Der Ausgleich
in den nationalen Wünschen ist zustande gekommen auf der Grund-
lage der allgemeinen Unzufriedenheit (Heiterkeit), unter dem
Drucke der absoluten Notwendigkeit. (Zustimmung.) Im Ausschuß
ist man heute allgemein der Ansicht: „Es ist am gescheitesten, wenn
wir die Sache machen." Wir stehen heute nicht mehr allein auf
dem Standpunkt des allgemeinen Wahlrechtes, wir sprechen im
Namen aller Völker ohne Unterschied der Klassen. (Leb-
hafter Beifall.) Die eigentlichen Feinde der Reform sind im Aus-
schuß die, welche den politischen Tod für sich selbst vorhersehen.
Graf Stürgkh ist ein deutscher Mann, seine Großgrundbesitzer
glauben es ihm; er fürchtet nur, daß es ihm kein deutscher Wahl-
kreis glauben wird. (Heiterkeit.) Herr v. Paris h*) ist ein guter
Tscheche, die Feudalen glauben es ihm, sie sind es nämlich ebenso
wie er, aber er fürchtet, einer tschechischen Wählerversammlung
seine tschechische Gesinnung nicht klarmachen zu können: er kann
nämlich nicht tschechisch. (Schallende Heiterkeit.) Diese Herren
suchten Versammlungen wurde den Wiener Arbeitern über die Wahlreform
und ihre Gegner berichtet. Unter den Anschlägen war wohl der Antrag auf
Verfassungsrevision im Sinne einer Verstärkung der Länderautonomie, der
gleich bei der Wiederaufnahme der Beratungen des Ausschusses gestellt
worden war (siehe die Rede über den polnischen Verschleppungsantrag vom
14. September), der aktuellste, wenn er auch nur ein Demonstrationsantrag
war. Daneben spukte aber bereits die Idee des „Mehrstimmenrechts", der
P 1 u r a 1 i t ä t, für die Besitzenden. Beim Wimberger referierte Dr. Adler.
Die Tagesordnung lautete: „Der Stand der Wahlreform."
*) Die böhmischen Feudalen gaben sich als Tschechen, sprachen aber
meist nicht tschechisch.
394 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
möchten der Reform gern Schwierigkeiten bereiten, wenn sie
könnten. Kämpfe waren für den § 7 zu erwarten, der das allgemeine
Wahlrecht festsetzt und es zugleich durch zwei Bestimmungen ein-
schränkt. Erstens gilt es nur für Männer. Prinzipiell, als Partei, sind
wir natürlich auch für das Frauenwahlrecht. Aber wir wären
schlechte politische Rechner, wenn wir uns auf diese gegenwärtig
absolut nicht durchsetzbare Forderung versteift hätten. Zweitens
aber wird auch das Wahlrecht der Männer beschränkt, einmal
durch die Festsetzung der Altersgrenze von 24 Jahren und durch
die einjährige Seßhaftigkeit. Wir fordern das Wahlrecht mindestens
für das militärpflichtige Alter, also für 21 Jahre; aber das ver-
stehen die Bürgerlichen einfach nicht. Auch die einjährige Seß-
haftigkeit bedeutet einen Ausgleich zwischen unseren Wünschen
und den noch weit über ein Jahr hinausgehenden Forderungen der
Gegner. Ich will den Genossen keine Begeisterung für die einjährige
Seßhaftigkeit, die auch Wahlmogeleien Raum läßt, einreden, aber
man darf ein sicheres allgemeines Wahlrecht mit dieser Seßhaftig-
keit nicht einem sehr unsicheren ohne Seßhaftigkeit opfern. Weitere
Schwierigkeiten werden erst beim § 5 der Wahlordnung, für die
im Abgeordnetenhause die einfache Majorität genügt, eintreten.
Der Antrag Starzynski ist eine aufgebauschte Lächerlichkeit.
Das Subkomitee, das ihn beraten soll, ist noch gar nicht zustande
gekommen. Ernster und nicht zu unterschätzen ist die Gefahr, die
dem § 5 droht. Hier wollen die Feinde mit dem Schwindel der
P 1 u r a 1 i t ä t einsetzen. Sie schlagen beispielsweise vor, eine
zweite Stimme jedem über 35 Jahre alten Manne zu geben. Aber
statistisch entfallen auf je 100 „Selbständige" noch solche
80 Stimmen, auf hundert Arbeiter aber nur 52. Die gleichen Ziffern
gelten auch für die Familienhäupter. Denn Besitz bedeutet auch
Gesundheit, Leben und Familie. Die Pluralität wäre also ein
Verrat am Prinzip des allgemeinen Wahlrechtes, das in der Wahl-
reform durchzusetzen die Regierung vom Kaiser nicht nur er-
mächtigt, sondern beauftragt ist. Die Arbeiterschaft wird die
Herren darauf festnageln. Wir wollen uns nicht einschläfern lassen.
Noch immer heißt es: Bereit sein und wach sein! Trotz
allem habe ich die Hoffnung, daß wir in einem Vierteljahr auf
Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahl-
rechtes wählen werden. (Stürmischer Beifall.)
Jeder Ort Wahlort.
Ausschuß, 17. September 190 6.
Abgeordneter Dr. Adler*) kündigt an, daß er bei § 9 den Antrag
stellen werde, daß alle Wahlen an einem Tage stattzu-
*) Am 17. September gelangte der Ausschuß endlich zur Beratung der
Wahlordnung. Gleich beim § 3 kam es zu einer längeren Auseinander-
setzung. Dieser bestimmte, daß jede Gemeinde in der Regel Wahlort sei,
daß aber Gemeinden mit weniger als 500 Einwohnern vereinigt werden
könnten. Der Pole Starzynski beantragte, daß Orte bis zu 1500 Ein-
Jeder Ort Walilort.
finden haben. Die Versuche, die Wahlorte vom Wohnort zu
entfernen, müsse er bekämpfen. Es kann doch nicht schwerer sein,
einen Abgeordneten zu wählen als zum Beispiel Wahlmänner,
und doch ist in den Landgemeinden bei indirekten Wahlen jede
Gemeinde Wahlort. Line andere Bestimmung damit zu motivieren,
daß bisher indirekte Wahlen stattfanden, gehe also nicht an. Lr
möchte überhaupt, daß alle Undeutlichkeiten und Möglichkeiten zu
abweichendem Vorgehen möglichst ausgeschaltet werden, wenn
er auch zur Regierung das Zutrauen habe, daß sie von der im 8 3
einzuräumenden Möglichkeit in den Kronländern nicht Gebrauch
machen wird, wo bereits andere Bestimmungen gelten. Er be-
antrage deshalb, die Worte „In der Regel" zu streichen und den
ersten Satz des § 3 in folgender Fassung anzunehmen: „Jede
Ortsgemeinde und jeder irn Anhang besonders angeführte
Gemeindeteil (Ortschaft, Stadtbezirk, Stadtteil) ist Wahlort." Dies
sei jedenfalls der Antrag, durch den jede Ausnahme aus-
geschlossen werde. Sollte der Antrag nicht akzeptiert werden,
könnte er mit der Textierung der Regierungsvorlage nur dann zu-
frieden sein, wenn die Ziffer 500 als Maximalgrenze festgesetzt und
gesagt werde, daß unter die Ziffer, die in der Landesgesetzgebung
festgesetzt ist, nicht herabgegangen werden darf. Man sollte keine
Bestimmungen in das Gesetz aufnehmen, die der Bevölkerung
Lasten und Schwierigkeiten verursachen. Die Be-
fugnis der Regierung, Gemeinden zu Gruppenwahlorten zusammen-
zulegen, sollte also durch die Bestimmungen der Landesgesetz-
gebung eingeschränkt werden. Dem Antrag Starzynski, der weit
über die Regierungsvorlage hinausgehe, müsse er ganz ausdrück-
lich entgegentreten. Man könne besondere Verhältnisse für jedes
Land zugeben, warum es aber gerade in Galizien künftig unmöglich
sein solle so zu wählen, wie man in der fünften Kurie bereits ge-
wählt hat, ist nicht einzusehen*).
wohnern zusammengelegt werden könnten. Demgegenüber wurde darauf
verwiesen, daß die Landesordnung in Niederösterreich 250 festsetzt und daß
in der Kurie der Landgemeinden jede Gemeinde, in der allgemeinen Kurie
sogar in Galizien jede Gemeinde bis zu 500 Einwohnern Wahlort war. (Über
den von Adler angekündigten Antrag beim § 9 siehe die Ausschußsitzung
vom 19. September.)
*) Schließlich wurde der Antrag Adler angenommen, aber für Galizien
eine Ausnahme gemäß dem Antrag Starzynski bewilligt. In der nächsten
Sitzung am 19. September beschwerte sich der ruthenische Abgeordnete
Ritter v. W a s s i 1 k o, daß diese in seiner Abwesenheit beschlossene Aus-
nahme für Galizien eine Illoyalität sei, da sie den Ruthenen von den ihnen
in dem Kompromiß zugestandenen 28 galizischen Mandaten 3 bis 4 weg-
nehme; denn wenn nur die großen Gemeinden Wahlort seien, werde allen
ruthenischen Gebirgsgemeinden, deren Wähler dann viele Meilen weit gehen
müßten, das Wahlrecht entzogen. Er beantragte die Reassumierung der
früheren Abstimmung. Dr. Adler bemerkte dazu, er habe den Antrag des
Polenklubs auf das schärfste bekämpft; er halte ihn für außerordentlich un-
glücklich und er wäre sehr zufrieden, wenn man den bezüglichen Beschluß
aufheben könnte. Die Reassumierung, gegen die die Polen protestierten,
wurde aber mit 17 gegen 16 Stimmen abgelehnt.
396 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Alle Wahlen an einem Tag.
Ausschuß, 19. September 19 ü 6*).
Abgeordneter Dr. Adler bemerkt, er habe schon in der letzten
Sitzung des Ausschusses einen Antrag angekündigt, wonach die
Wahlen an einem Tage vorzunehmen seien, und er sei der An-
sicht, daß es durchaus im Interesse einer vernünftigen Erledigung
des Wahlgeschäftes liege und geradezu eine politische Not-
wendigkeit sei, daß der Wahltag, wie dies ja auch in anderen
Staaten der Fall sei, für alle Länder ein und derselbe sei. Wenn von
der Regierung gegen diesen Antrag geltend gemacht werde, daß sie
nicht genug Beamte besitze, um die Wahl gleichzeitig an einem Tage
durchzuführen, so wolle er nur bemerken, daß bei den Wahlen nicht
die Beamten, sondern die Wähler die Hauptsache
seien, und daß es ja auch nicht notwendig erscheine, die ganze
Wahl gewissermaßen unter die Kuratel der Bürokratie zu stellen.
Man möge doch nicht glauben, daß sich in der Bevölkerung nichts
vollziehen kann, ohne daß angestellte Beamte des Staates dabei
funktionieren. In Deutschland beispielsweise ernennt man einfach
aus der Bevölkerung einen Wahlvorsteher und es wäre auch bei
uns nicht unangebracht, wenn man die Bevölkerung nach und nach
einigermaßen zur Selbständigkeit erziehen würde. Im übrigen habe
man ja auch bisher überall dort, wo direkte Wahlen stattfanden,
so zersplittert auch die Wahl im allgemeinen war, in einem Kronland
innerhalb der einzelnen Kurien stets an demselben Tage gewählt.
Man kann durchaus nicht glauben, daß die Regierung dem Mangel
an Beamten dadurch abhelfen will, daß sie, wenn die Wahlen an
verschiedenen Tagen stattfinden, beispielsweise Beamte aus Gali-
zien nach Wien dirigiert, um hier bei den Wahlen zu helfen.
Der Redner bittet den Ausschuß, es als ein durchaus mögliches
und berechtigtes Prinzip auszusprechen, daß die Wahl überall an
einem und demselben Tage stattfinde. Die Anordnung der Wahl
habe durch die Regierung und die Aufforderung zur Vornahme der*
selben durch den Minister des Innern zu erfolgen. Für die Durch-
führung der Wahlen im einzelnen wären Erlässe der politischen
Landesbehörden notwendig.
Abgeordneter Dr. Adler**) war sehr erfreut, die Anregung bezüg-
*) Dr. Adler hatte bereits am 17. September bei der Beratung des § 3r
der vom Wahlrecht handelt, angekündigt, daß er beim § 9 den Antrag
stellen werde, daß alle Wahlen an einem Tage stattzufinden haben. Nach
der Regierungsvorlage hatten die Landesbehörden die Tage zu bestimmen,,
an denen die Wahlen vorzunehmen seien. Man konnte es sich damals nicht
anders vorstellen, als daß, wie es bei den verschiedenen Kurien der Fall
war, in jedem Lande anders gewählt werde. Bisher hatten sich die Wahlen
durch Wochen, ja durch Monate hingezogen, was namentlich auch die
Folge der „indirekten" Wahlen war, bei denen zuerst Wahlmänner und erst
von diesen die Abgeordneten gewählt wurden. Als jetzt der § 9 zur Ver-
handlung gelangte, kam Dr. Adler auf dieses Verlangen zurück, daß die
Wahlen im ganzen Staat an einem Tage stattfinden.
**) Auf die Ausführungen Adlers erklärte der Minister B i e n e r t h
Das Pluralitätsattental noch verschoben. 397
lieh des Sonntass als Wahltag von einer Seite zu vernehmen,
von der er nielit darauf gefaßt war. Von der sozialdemokratischen
Partei, werde diese Forderung seit jeher erhöhen und er habe den
Antrag nur darum nicht gestellt, weil er seine Durchsetzung in
diesem Ausschuß für aussichtslos gehalten habe. Nachdem
aber In Aussicht gestellt wird, daß die Anregung des Ab-
geordneten Dr. Schu s t er schi t z nur in der Form durch-
gehen könnte, daß es hieße: „nach Beendigung des
Gottesdienstes", verzichte er allerdings darauf. Wohl aber
dürfe man hoffen, eine Majorität dafür zu finden, daß die Wahlen
an einem Tage durchgeführt werden. Was der Minister da ge-
sagt habe, schwäche die Berechtigung dieses Begehrens nicht ab,
sondern er erhärte sie geradezu. Die Erklärung des Ministers, daß
die Regierung nicht daran denke, die Wahlen in einem Lande an
verschiedenen Tagen vornehmen zu lassen, möchte er festgestellt
haben.
Das Pluralitätsattentat noch vorschoben.
Ausschuß, 19. September 190 6*).
Abgeordneter Dr. Adler betont, daß der Ausschuß schon bei Be-
ratung über § 7 des Grundgesetzes damit überrascht wurde, daß
zwar, daß es die Absicht der Regierung sei, die Wahlen tunlichst an einem
Tage vorzunehmen, sofern es technisch ausführbar sei. Die Regierung
könne sich aber noch kein klares Bild darüber machen, ob das möglich
sein werde, wobei er namentlich darauf hinwies, daß man kaum genügend
viel Wahlkommissäre habe, als welche bisher meist Staatsbeamte ver-
wendet worden waren. Er bat, der Regierung wenigstens die Möglichkeit
zu geben, wenn es notwendig sei, von der Einheit des Wahltages abzu-
gehen.
Im Laufe der Debatte regte der klerikale Slowene Dr. Sustersic
an, als einheitlichen Wahltag einen Sonntag zu fixieren, aber den
Beginn des Wahltages nach dem Hauptgottesdienst festzusetzen. Dagegen
wendete sich der polnische Pfarrer Dr. Pastor, weil dadurch der Sonn-
tag „profaniert" würde. Auch der polnische Schlachziz Abrahamowicz
meinte, daß das in Galizien allgemeine Entrüstung herbeiführen werde.
Schusterschitz blieb dabei, daß keine religiösen Bedenken gegen die
Wahlen am Sonntag bestehen, doch gebe er zu, daß die Zeit nach dem
Gottesdienst zu kurz sei und stelle deshalb keinen Antrag. Für die Wahlen
an einem Tage sprachen sich mit Ausnahme des Abrahamowicz alle Redner
aus und es wurde schließlich mit 28 gegen 9 Stimmen ein Antrag des
Deutschfortschrittlichen Dr. Groß angenommen, der Minister des Innern
habe für alle Länder einheitlich den Tag für die Vornahme der Wahl
und den für die engeren Wahlen anzuberaumen. (Zur Erklärung: Sustersic
wird Schusterschitz ausgesprochen, und daher wegen der Unlesbarkeit
der fremden, mit Zeichen versehenen Buchstaben im Deutschen oft so
geschrieben. — Das polnische „cz", bei Abrahamowicz zum Beispiel, wird
wie „tsch" gesprochen, das polnische „sz" wie „seh". — Im Tschechischen
wird „f" wie „rsch" gesprochen, also Kramaf wie Kramarsch und Fort
wie Forscht; es wird daher hier oft auch so geschrieben.)
In die Debatte hat Adler auch zum zweitenmal eingegriffen.
A) Nachdem am 19. September das Verlangen der Ruthenen, den Be-
398 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Anträge in Aussicht gestellt wurden, die das Wesen und das Prinzip
der Vorlage auf das schärfste berühren und gefährden. Diese An-
träge wurden damals aus der Verhandlung über das Grundgesetz
in die Verhandlung über die Reichsratswahlordnung verschoben.
Dieses Vorgehen war vielleicht vom Standpunkt der Antragsteller
durch taktische Erwägungen motiviert. Es war aber weder logisch
noch geeignet, die Beratungen zu fördern. Diejenigen, die das gleiche
Wahlrecht wollen, haben sich bei § 7 enthalten, über das gleiche
Wahlrecht zu sprechen, weil ein konkreter Gegenantrag nicht vor-
lag. Aber der Ausschuß und alle diejenigen in Österreich, die sich
für die Wahlreform interessieren, haben doch das Recht, endlich
darüber Gewißheit zu erlangen, daß das Prinzip und die Grundlage
der Wahlreform, das sozial gleiche Wahlrecht, nicht mehr in Frage
stehe. Es geht nicht an, fortwährend ein Gesetz in
allen Einzelheiten zu beraten, wenn der Grund-
stein des Gesetzes unter einem Damokles-
schwert, hoffentlich keinem gefährlich e n, stehe.
Wenn ich es auch begriffen habe, daß es bei der Wahlkreiseinteilung
notwendig war, mit den Klubs darüber zu beraten, so sei dies nicht
begründet, wo es sich um die Grundlage des ganzen Gesetzes, die
ja von allem Anfang an in Diskussion stand, handelt. Jeder Abge-
ordnete und alle Klubs müssen sich doch schon im klaren darüber
sein, wie sie sich zur Frage, die Abgeordneter Dr. Tollinger be-
rührte, stellen. Ich würde daher dringend wünschen, daß man jetzt
die Sache erledigt. Der Ausschuß kann nicht so lange warten, bis
alle die verschiedenen Wünsche in bezug auf das Pluralwahlrecht,
von dem es 158 Systeme gibt, in eine gemeinsame Formel
gebracht sind.
Zwei Wohnsitze.
Ausschuß, 19. September 190 6*).
Abgeordneter Dr. Adler bemerkt, er sei im allgemeinen nicht
dafür, daß man jedes Wort der Regierungsvorlage so unter die
Lupe nehme und daran herumtüftle, bis man irgendeinen Fehler
Schluß über die Zusammenziehung der Gemeinden in Galizien zu reassu-
mieren, abgelehnt worden war, sollte der § 5 zur Beratung kommen, der
festsetzt, daß jeder Wähler nur eine Stimme hat. Da beantragte der
Tiroler Klerikale Dr. Tollinger, diesen Paragraphen noch zurückzu-
stellen, da er einen Antrag über die Pluralität stellen, ihn aber wegen
seiner prinzipiellen Wichtigkeit vorher den Klubs zur Stellungnahme mit-
teilen wolle. Bei der Beratung des § 7 des Grundgesetzes hatte er auf den
§ 5 der Wahlordnung vertröstet, jetzt waren die Anhänger der Pluralität
noch immer nicht einig. Dagegen sprach nun Dr. Adler. Trotzdem wurde
die Vertagung mit 21 gegen 10 Stimmen beschlossen.
*) Nachdem die Beratung über den § 5, der bestimmte, daß jeder
Wähler nur eine Stimme habe, auf Verlangen des Abgeordneten T o 1 1 i n-
g e r, der mit seinem Pluralitätsattentat noch nicht fertig war, verschoben
worden war, wurde der § 6 in Verhandlung gezogen, der bestimmt, daß
das Wahlrecht am Wohnsitz auszuüben sei. Außerdem wurde bestimmt,
Armenunterstützung u ml Wahlrecht.
daran cnuicckt. Selbstverständlich müsse jeder wünschen, daß die
Wahlordnung so präzise abgefaßt sei, daß sie jede Möglichkeit einer
einseitigen Praxis ausschließe. Nun sei es aber einfach aus-
geschlossen, dem Gesetz eine Fassung zu geben, die nicht hei der
Absicht einer illoyalen Praktizierung auch zu illoyalen Ergebnissen
führen würde. Im großen und ganzen müsse man trotz aller bösen
Erfahrungen, die gemacht wurden, doch immer voraussetzen, daß
das Gesetz in der Regel loyal praktiziert werde. Will jemand illoyal
vorgehen, so wird er, wenn das Gesetz noch so prägnant gefaßt ist,
immer eine Pforte finden, von der aus er es umgehen kann. Was den
Antrag des Abgeordneten Dr. Vogler anlange, so müsse jeder, der
die Schwierigkeiten kennengelernt habe, die sich schon jetzt bei-
spielsweise bei der Feststellung der sechsmonatigen oder einjährigen
Seßhaftigkeit ergeben haben, zugeben, daß der Antrag nicht durch-
führbar sei. Der Redner billige wohl die Intentionen des Abgeord-
neten Dr. Vogler, glaube aber nicht, daß sie auf dem von demselben
vorgeschlagenen Wege erreicht werden können. Er beantragt
schließlich, anstatt des Wortes „Hauptniederlassung" das Wort
„H a u p t w o h n s i t z" zu setzen.
Armenunterstützung und Wahlrecht.
Ausschuß, 19. September 190 6*).
Abgeordneter Dr. Adler erklärt sich prinzipiell gegen jede Ein-
schränkung des Wahlrechtes und insbesondere dagegen, daß jenen
Personen das Wahlrecht entzogen werde, die durch den herrschen-
den wirtschaftlichen Prozeß am Ende eines arbeitsreichen Lebens
oder noch arbeitskräftig in die Unmöglichkeit geraten, ihren Lebens-
unterhalt durch eigene Arbeit zu finden. Es sei eine ungeheure
Härte, diejenigen, die ihr Leben lang arbeiteten und infolge der be-
stehenden gesellschaftlichen Einrichtungen nicht imstande waren.
wo das Wahlrecht auszuüben ist, wenn der Wähler mehrere Wohnungen
habe. Dabei verwies Dr. Vogler darauf, daß der Magistrat wieder, wie
früher, die Wiener Feuerwehrleute in der Inneren Stadt, wo sie
bei Nacht kaserniert sind, werde wählen lassen.
Schließlich wurde der Paragraph mit der von Adler beantragten Ände-
rung, das Wort „Hauptniederlassung" durch „H a u p t w o h n s i t z" zu
ersetzen, angenommen.
*) Der § 8 handelt von den Gründen der Ausschließung vom
Wahlrecht. Darunter war auch der Genuß der Armenversorgung oder
der öffentlichen Mildtätigkeit. Mit Rücksicht darauf, daß auch diese Be-
stimmungen dem Wiener christlichsozialen Magistrat Gelegenheit zu einem
Wahlschwindel geben konnten, beantragte der Liberale Dr. Vogler eine
Reihe von Verbesserungen. Auch Dr. Adler griff in die Debatte ein und
beantragte, unter den Umständen, die nicht als „Armenversorgung" gelten
dürften, auch die „unentgeltliche Verpflegung in den öffentlichen Kranken-
anstalten" aufzunehmen. Dieser Antrag wurde auch angenommen, die
Anträge Voglers aber abgelehnt. Im übrigen haben die Christlichsozialen
trotzdem diesen Paragraphen zu ihren Wahlschwindeleien auszunützen
verstanden.
400 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
sich so viel zurückzulegen, um im Alter davon leben zu können, die
infolgedessen auf die Gemeinde angewiesen sind, die sie ja früher
durch ihre Arbeit mit gestützt und erhalten haben, zum Danke dafür,
daß sie sich zeitlebens haben ausbeuten lassen, vom Wahlrecht aus-
zuschließen. Deshalb sei er selbstverständlich gegen diese Be-
stimmung. Kr werde aber trotzdem keinen Antrag stellen, sie
zu streichen, weil er wisse, daß seine Anschauungen in diesem
Kreise auf Zustimmung nicht rechnen können. Er müsse auch zu-
geben, daß ähnliche Bestimmungen auch in anderen Ländern be-
stehen. In der Praxis aber sei dieser Paragraph entschieden sehr
gefährlich. Der Begriff der Armenpflege und der Armenunter-
stützung werde kolossal ausgedehnt. In Wien sei es wiederholt vor-
gekommen, daß man einem Arbeiter, der Weib und Kind zu er-
nähren hat, das Wahlrecht entzog, weil sein alter, arbeitsunfähiger
Vater aus Gemeindemitteln eine Pfründe von drei bis vier Gulden
monatlich erhält. Man sagte, der Sohn habe die Alimentationspflicht
und wenn er dieser Pflicht nicht in vollem Umfang nachkomme und
der Vater, den er ja trotzdem erhalten muß, da er ja von den drei
Gulden nicht leben kann, aus Gemeindemitteln eine Zubuße genießt,
genieße sie indirekt der Sohn. Redner habe mit mehreren Juristen
gesprochen, es sei ihm aber nicht gelungen, eine Formulierung zu
finden, die derartige Auslegungen ausschließt. Es sei eben un-
möglich, jeder Illoyalität und Gewaltsamkeit und jeder bewußten
unrichtigen Auslegung des Gesetzes zuvorzukommen. Man muß sich
deshalb begnügen, die Intentionen des Gesetzgebers so deutlich als
möglich zum Ausdruck zu bringen und das Gesetz in die Hände von
Behörden zu legen, die entweder loyal sind oder die loyal zu
machen wir uns bestreben müssen.
Eine erhebliche Lücke scheint aber darin zu liegen, daß die un-
entgeltliche Verpflegung in öffentlichen Krankenanstalten nicht unter
jene Fälle von Armenversorgung aufgezählt erscheint, die vom
Wahlrecht nicht ausschließen. Es kann sein, daß ein Nichtversiche-
rungspflichtiger eine Zeitlang im Spital zubringen und daß die Ge-
meinde dann für die Kosten aufkommen muß. Da wäre es höchst
ungerecht, diese notgedrungene Unterbrechung seines gewohnten
Erwerbes als eine Armenunterstützung im Sinne der Bestimmungen
des § 8 anzusehen. Mit den Amendements des Abgeordneten Vogler
jedoch könne sich der Redner nicht einverstanden erklären, da, so
gut sie gemeint sein mögen, das Ganze dadurch nur verschlechtert
würde.
Der Schwindel mit den Wählerlisten.
Ausschuß, 20. Septemberl90 6*).
Abgeordneter Dr. Adler findet es bis zu einem gewissen Grade
gerechtfertigt, daß sich die Regierungsvorlage möglichst an die bis-
herigen Bestimmungen halte. Die Gewohnheiten der Bevölkerung
*) Die Bestimmungen der Wahlordnung über die Wählerlisten gaben
im Ausschuß wie auch dann im Hause zu lebhaften Debatten Anlaß, die
Der Schwindel mit den Wählerlisten. 1()1
Spielen eine gewisse Rolle, die berücksichtigt werden muß, aber
nicht ohne Einschränkung. Wir haben eine Menge Einrichtungen aus
einer Zeit mit herüber geschleppt, wo die Zahl der Wähler noch eine
äußerst beschränkte war, wo es noch einen Zensus von zehn und
zwanzig Gulden gab, von einer fünften Kurie noch keine Rede war.
Zu diesen überkommenen Gewohnheiten gehört zum Heispiel die
allzu große Ängstlichkeit, mit der man alle Leute, die nicht direkt
Staatsbeamte sind, von entscheidenden Funktionen bei den Wahlen
ausschließen zu müssen meint. Das ist bei einem demokratischen
Wahlrecht nicht mehr möglich. Er will auf die Einzelheiten des
Kampfes, den die Sozialdemokraten in Wien bei jeder Wahl gegen
Wahlmißbräuche zu führen haben, nicht eingehen, aber so
harmlos, wie der Abgeordnete Steiner die Sache dargestellt habe,
sei sie gewiß nicht. Er wolle den Vorwurf eines bewußt herbei-
geführten Mißbrauches hier nicht erheben und lasse es dahingestellt,
was seine persönliche Überzeugung sei, aber nicht zu leugnen ist,
daß sich die Zustände in bezug auf die Wählerlisten in Wien mit
ein paar Beispielen absolut nicht abtun lassen. Bei jeder Wahl er-
geben sich Zehntausende von Reklamationen, bei jeder Wahl er-
man jetzt kaum versteht, weil man sich über die Art, wie der Wiener
Magistrat ehemals — nicht nur vor der Wahlreform, sondern auch noch
nachher, solange eben die Christlichsozialen den Wiener Magistrat be-
herrschten — ganz offen die Wahlen im Interesse der Christlichsozialen
fälschte, keine Vorstellung machen kann. Noch nach der Wahlreform, wo
die gesetzlichen Bestimmungen über die Wählerlisten schon etwas ver-
bessert worden waren — am 12. März 1909 — , konnte Abgeordneter
Seitz in einer Interpellation, deren Abdruck in der „Arbeiter-Zeitung"
zwölf Seiten füllte, dieses System des magistratischen Wahlschwindels
brandmarken. Und noch im Jahre 1914 machte ein christlichsozialer Wahl-
schwindler, der Portier des städtischen Gaswerkes Guth, in einem Prozeß
als Zeuge Enthüllungen über die Art, wie im Jahre 1911, als der nachmalige
christlichsoziale Finanzminister Dr. Kienböck in der Leopoldstadt gegen
Schuhmeier kandidierte, vom magistratischen Bezirksamt geschwindelt
wurde. Allerdings hatten die Christlichsozialen damals mit ihrem
Schwindel kein Glück, weil es den Sozialdemokraten gelungen war, den
Schwindel rechtzeitig zu paralysieren, indem sie die Wahlschwindel-
zentrale aushoben. Aber als dann am 11. Februar 1913 Schuhmeier von
Paul Kunschak, dem Bruder des christlichsozialen Führers, ermordet
worden war, war wieder Guth der Leiter des Wahlschwindels und
nun gelang es den Christlichsozialen, das Mandat des Ermordeten in der
Stichwahl mit einer Mehrheit von 600 Stimmen zu erobern, aber es wurde
festgestellt, daß nicht weniger als 837 falsche Legitimationen für die
Christlichsozialen abgegeben worden waren. Bald darauf allerdings zer-
zankte sich Guth mit seinen Parteifreunden und machte jene Enthüllungen
über die Organisation des Wahlschwindels, die alles bestätigten, was die
Sozialdemokraten bereits aufgedeckt hatten. Über den christlichsozialen
Wahlschwindel hat Dr. Adler bereits in seiner Rede über die „M aro-
deure des K 1 e r i k a 1 i s m u s", die er am 11. Juli 1901 im nieder-
österreichischen Landtag hielt, ausführlich gesprochen. (Bd. VIII,
Seite 420 f.)
Hieser christlichsozialc Wahlschwindel beruhte vor allem auf der un-
übersichtlichen Art, wie die Wählerlisten angelegt waren und im Zu-
Adler, Briefe. X. Bd. 2(5
402 Der Sietf des gleichen Wahlrechts.
Keben sich Überraschungen in bezug auf die Listen für den
Magistrat selbst.
Der Magistrat ist nicht imstande, die Listen von denjenigen zu
reinigen, die schon auf dem Zentralfriedhof liegen. Ganz abgesehen
davon, wessen Schuld das ist, muß man doch zugeben, daß ein Ge-
fühl der Rechtsunsicherheit herrscht, das unbedingt beseitigt werden
muß. Mag man die Minorität in Wien mit 40 Prozent der Wähler
beziffern, so haben diese 40 Prozent doch gewiß das Recht, die
Überzeugung zu erlangen, daß ihnen kein Unrecht geschehen ist.
Man muß wünschen, daß auch die Gegner von
diesen ewigen Vorwürfen befreit werden. Es liegt
im Interesse aller, daß dieses Gift endlich aus dem politischen
Kampfe beseitigt wird. Man bekämpft sich ja auch in anderen
Ländern politisch bis aufs Messer. Warum erreichen diese Kämpfe
bei uns den furchtbaren Charakter, den auch wir bedauern? Weil
über den politischen Kampf hinaus das Gefühl der Übervor-
teilung herrscht. Ich habe Gelegenheit genommen, eine Reichs-
tagswahl in Berlin in allen technischen Details mitzumachen und zu
studieren. Ich bin darüber erstaunt gewesen, wie glatt sich dort alles
sammenhang damit auf dem System der Legitimationen. Während nämlich
in Deutschland die Wählerlisten in den größeren Orten, zum Beispiel in-
Berlin, nach Straßen und Häusern angeordnet waren, so daß sie schon
von den Nachbarn leicht kontrolliert werden konnten, war in Wien die
alphabetische Reihung, die die Kontrolle sehr erschwerte. Die Folge war,
daß zahlreiche Personen, die einmal in der Wählerliste gewesen waren,,
darin verblieben, wenn sie auch längst verzogen oder gestorben waren.
Ihre Legitimationen wurden von der Post als unbestellbar an den Magi-
strat zurückgeschickt, der sie dann den christlichsozialen Wahlkomitees
zur „Verarbeitung" abtrat. Dieses System, das nach dem Erfinder, dem
Leiter des magistratischen Wahlkatasters, das System P a w e 1 k a genannt
wurde, war die Grundlage der christlichsozialen Siege.
Auch die neue Wahlordnung bestimmte nun im § 11, daß die Wähler
jedes Wahlbezirkes in alphabetischer Ordnung in die Liste aufzunehmen
seien. Deshalb beantragte der Wiener fortschrittliche Abgeordnete Doktor
Ludwig Vogler, es sei nach den Worten „in alphabetischer Ordnung""
einzufügen: „In Städten von mehr als zwanzigtausend Einwohnern aber
Straßen- und häuserweis e". überdies beantragte er, daß die
Listen auch dauernd zur öffentlichen Einsicht aufliegen sollen, um eine-
permanente Kontrolle zu ermöglichen. Der Antrag Vogler wurde von den
Christlichsozialen, die an der Erhaltung des Wahlschwindels so inter-
essiert waren, und zwar von dem christlichsozialen Landesausschuß Leo-
pold Steiner und Dr. Albert G e ß m a n n heftig bekämpft, so daß
Dr. Adler den Eventualantrag stellte, die Einführung der Häuserlisten,,
wenn nicht vorzuschreiben, doch wenigstens zuzulassen. Der Minister
des Innern, Dr. v. Bienerth, den Adler schon im Jahre 1901, da er Statthalter
von Niederösterreich war, als den Protektor des christlichsozialen Wahl-
schwindels gebrandmarkt hatte, unterstützte durch gewundene Redens-
arten den christlichsozialen Widerstand gegen die Verhinderung des Wahl-
schwindels, und so wurde sowohl der Antrag Vogler wie der Eventual-
antrag Adler abgelehnt. Die einzige kleine Verbesserung des § 11 wurde
durch die Annahme des zweiten Antrages Vogler erzielt, daß die Wähler-
listen ständig in Evidenz und zu jedermanns Einsicht offen zu halten sind.
Der Schwindel mit den Wählerlisten. 403
nach der technischen Seile abgespielt hat. Auch dort steht bekannt-
lich die Majorität der Wählerschaft, die sozialdemokratische Partei,
mit dem Magistrat und denjenigen, die ihn in der Hand haben, nicht
auf gutem Fuße. Aber dort fällt es niemand ein, solche Vorwürfe zu
erheben, weil kein Anlaß dazu besteht.
Wenn der Abgeordnete Steiner darauf verweist, daß die An-
legung der Wählerlisten nach Häusern in Berlin nicht obligatorisch
ist, so ist das doch kein Argument. Tatsächlich ist damit die
Möglichkeit einer annähernd tadellosen Wählerliste und Wahl-
technik erwiesen, nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen
Städten, auch in österreichischen. Der einfachste Weg hiezu ist die
Aufstellung der Listen nach Häusern. Es ist ausgeschlossen, daß
man bei einer alphabetischen Wählerliste zu einer Klarheit kommt,
weil man solche Listen nicht klaglos territorial zerlegen kann,
wie man sie für die Wahl, die ja territorial in Sektionen erfolgt, be-
nötigt. Wenn irgendein „Czermak" sechsmal in der alphabetischen
Liste vorkommt, einmal „C", dann mit „Gz", mit „ck", am Schluß
mit einfachem „k" und so fort, so ist das unmöglich zu kontrollieren.
Aber der Mann kann sechs Namen haben, er hat nur eine Wohnung.
Nimmt man seine Wohnung zur Grundlage, so ist ein Unfug aus-
geschlossen. Die Mehranmeldungen, vor denen der Abgeordnete
Steiner solche Angst hat, müßten ja anderwärts auch vorgekommen
sein; und in welchem Umfang sind solche Dinge überhaupt möglich?
— abgesehen davon, daß man ja eine alphabetische Wählerliste da-
neben führen wird, wie es jede politische Partei tut. Ich unterstütze
also den Antrag Vogler auf das wärmste. Es ist dies einer der
wenigen Anträge unter jenen, die der Abgeordnete Dr. Vogler
zu vertreten hat, die ich für ernst und notwendig halte. Wenn aber
die Regierung einen überflüssig starken Widerstand entgegensetzen
sollte und es nicht gelingt, was im Interesse aller Parteien und eines
vernünftigen, würdigen politischen Kampfes liegt, diese Bestimmung
obligatorisch durchzusetzen, so melde ich als Eventualantrag
an, daß es wenigstens wie im deutschen Gesetze fakultativ zu
geschehen hätte. Ich bin überzeugt, daß beim Wiener Magistrat
nicht nur Parteiinteressen, sondern wirklich auch Vorurteile
mit im Spiele sind, und daß manches, was man heute für unausführ-
bar hält, in naher Zukunft vielleicht schon als das einzig Vernünftige
erscheinen wird. Wird im Sinne der Regierungsvorlage beschlossen,,
so versperrt man dadurch einer späteren Erkenntnis den Weg.
Das geht nicht allein Wien an. Obwohl in Reichenberg anläßlich
der vor kurzem stattgehabten Wahlen von irgendwelchen größeren
Beschwerden im Verhältnis zu den bei den Wiener Wahlen
aufgetauchten Beschwerden nicht die Rede war, muß man
doch zugeben, daß auch dort die Wählerlisten nicht ganz tadellos
waren. Es wurde auch von den Organen, die mit dieser Wahl zu
tun hatten, sowie von Wählern konstatiert, daß, wenn man die Liste
nach Häusern geführt hätte, die Sache viel leichter gewesen wäre.
— Eine permanente Wählerliste, die mit einem bestimmten Datum'
abgeschlossen wird, wie es in Frankreich der Fall ist, wäre bei uns
schon darum nicht möglich, weil wir die Seßhaftigkeit als Voraus-
26*
404 Der Sie« des gleichen Wahlrechts.
setzung des Wahlrechtes statuiert haben. Dr. Vogler hat auch nicht-
permanente Wählerlisten in diesem Sinne beantragt; sein Antrag
besagt nichts anderes, als daß die Wählerlisten permanent zur Ein-
sicht offen stehen. Das ist etwas viel Milderes und etwas, was
man wirklich ohne Schwierigkeiten durchführen kann. Es ist das
eine rein technische Einrichtung, die die Reklamationen wesentlich
vereinfacht und erleichtert, gar keine Gefahren mit sich bringt und
nicht einmal technische Vorkehrungen besonderer Art braucht, weil
in allen größeren Städten das Büro des Wahlkatasters ohnedies eine
ständige Einrichtung ist, die ziemlich viele Beamte beschäftigt. Ich
schließe mit der Bitte, die häuserweisen Wählerlisten zu bewilligen.
Die Regierung und auch jede Partei, die im Besitz der kommunalen
Macht ist, würde sich damit den größten Dienst
leisten. Es würde damit aber auch der Würde des poli-
tischen Kampfes sehr gedient.
Abgeordneter Dr. Adler*) bekämpft noch einmal die Bedenken
gegen die geforderte Anlegung der Wählerlisten nach Häusern. Auch
in der Regierungsvorlage ist nicht die reine alphabetische Ordnung,
sondern besondere Listen für jede Wahlsektion vorgesehen. Da ist
also die territoriale Teilung bis zu einem gewissen Grade ja schon
durchgeführt, wobei noch die Einteilung der Wähler in die Sektionen
viel später erfolgt als die Wahlausschreibung selbst. Er bitte noch-
mals aus objektiven, im Interesse allerWähler ohne
Unterschied der Partei gelegenen Gründen, den
Antrag auf Anlegung der Listen nach Häusern anzunehmen. Sollte
dies nicht geschehen, so bitte er den Abgeordneten Dr. Geßmann,
sich vielleicht seinem Eventualantrag zu konformieren; insbesondere
aber ersuche er die Regierung, fürdie Zukunft wenigstens
den Weg nicht abzuschneiden, wenn die bessere Einsicht
gekommen sein wird.
Abgeordneter Dr. Adler**) weist darauf hin, daß die ursprüng-
lichen Wählerlisten nach der Reklamation mitunter wesentliche
Änderungen aufweisen, und beantragt deshalb, am Schluß des § 12,
wo von der Verabfolgung von Exemplaren der Wählerlisten gegen
Ersatz der Kosten gesprochen wird, hinzuzufügen: „und die
eventuellen Nachtrag e".
Abgeordneter Dr. Adler modifiziert seinen Zusatzantrag zu Ab-
satz 3 wie folgt: „Unter denselben Bedingungen sind auch eventuelle
Nachträge zur Wählerliste jedermann auszufolgen." Er spricht sich
gegen den Antrag Geßmann auf Weglassung der Worte: „Vom Be-
*) Diese Rede hielt Dr. Adler unmittelbar nachdem Geßmann behauptet
hatte, daß der Antrag nur im Interesse der Sozialdemokraten liege. Adler
sprach dann im Laufe der Debatte über einzelne Bestimmungen noch
zweimal in dieser Sitzung.
**) Der § 12 bestimmte, daß jedermann ein Exemplar der Wählerliste
gegen Ersatz der Kosten erhalten müsse. Dazu beantragte Adler, daß auch
die eventuellen Anträge auszufolgen sind. Der Antrag wurde irrtümlich
abgelehnt, in der später modifizierten Fassung ist er dann in das Gesetz
gekommen.
Nochmals Wählerlisten und LcgiLiiualioniMi. . — 4I&
gintt der Reklamationsfrist an*)", aus. da die ganze Bestim-
ni u n g wertlos wäre, wenn diese Wort e ans der
R e g i e r n n g S v o r 1 a g e w e g g e I a s s e n würde n.
Nochmals Wählerlisten und
Legitimationen.
Ausschuß, 2 1. September 1906.
Abgeordneter Dr. Adler**) wendet sicli zunächst gegen die Aus-
führungen des Ministers des Innern in betreff des Antrages Vogler,
wonach diejenigen, deren Streichung in der Wählerliste vor-
genommen wird,
hievon zu verständigen seien.
Der Minister habe diese Verständigung als eine unnötige Weit-
schweifigkeit bezeichnet. Die Ansicht mag wohl in Landgemeinden
und kleineren Städten zutreffen, allein in Wien und in den Landes-
hauptstädten erscheine eine solche Verständigung wohl not-
wendig; denn speziell in Wien herrsche im Reklamations-
verfahren eigentlich ein Ausnahmezustand. Während nämlich auf
dem Lande derjenige, dessen Reklamation von der Bezifkshaupt-
mannschaft zurückgewiesen wird, das Rekursrecht an die Statt-
.*) Geßmann hatte versucht, den Vorteil der Vervielfältigung der Liste
und ihrer Abgabe an jeden Wähler durch einen Kniff illusorisch zu mächen.
Der Antrag wurde aber abgelehnt, so daß jeder die Listen zu einer Zeit
bekommen mußte, wo er sie noch für die Reklamation verwenden konnte.
**) Nach Erledigung der §§ 11 und 12, die von den Wählerlisten
handelten, wurde am folgenden Tag § 13, der die Reklamationen be-
trifft, verhandelt. Dabei mußte vor allem der schwierige Nachweis der
Seßhaftigkeit erörtert werden, weil der Wähler ja, namentlich in der
großen Stadt, innerhalb der einjährigen Frist oft die Wohnung mehrmals
gewechselt hat und sich für die Beweisführung da leicht Lücken in den
Dokumenten ergeben. Dr. Vogler beantragte deshalb, daß die Seßhaftigkeit
erforderlichenfalls von Amts wegen zu erheben sei. Dagegen wendeten der
Minister Bienerth und Dr. Geßmann ein, daß der Reklamant am besten
wisse, wo er die Ersitzungsfrist zugebracht, während das Amt keinen
Anhaltspunkt dafür habe und das nur auf sehr zeitraubendem Wege fest-
stellen könne. Dem Einwurf begegnete ein Eventualantrag Adlers, der die
Behörde nur verpflichtet, die von dem Reklamanten über seine Seßhaftig-
keit gemachten Angaben von Amts wegen zu ergänzen. Dieser Antrag
wurde angenommen.
Die zweite Schwierigkeit bei der Reklamation betraf die Tatsache,
daß man aus der Wählerliste hinausreklamiert werden konnte, ohne sich
dagegen wehren zu können, ja ohne es vor der Wahl zu erfahren. Deshalb
beantragte Dr. Vogler, daß dem Manne, dessen Streichung verlangt wird,
vorher Gelegenheit gegeben werden müsse, sich zu äußern. Der Minister
wendete dagegen ein, diese Arbeit könnten die Ämter nicht bewältigen
und der Hinausreklamierte könne auch später rekurrieren. Da Adler aber
nachweisen konnte, daß es gerade in den Landeshauptstädten keinen
Rekurs gebe, die eventuell ohne Anhörung des Bedrohten gefällte Ent-
scheidung also eine endgültige ist, wurde der Antrag Vogler ange-
nommen.
406 Der Sic« des gleichen Wahlrechts.
lialterei besitzt, muß man in Wien und in den Landeshauptstädten
gleich an die Statthalterei gehen; sie ist also die erste und
zugleich auch die letzte Instanz. Es führe also der An-
trag Vogler keineswegs zu einer unnötigen Weitschweifigkeit, son-
dern er müsse einfach als eine Vorkehrung dagegen bezeichnet
werden, daß jemand sozusagen im Schla'fe sein Wahlrecht ge-
nommen werde, ohne daß er sich dagegen irgendwie wehren kann.
Was den weiteren Antrag des Abgeordneten Dr. Vogler anlangt,
daß die politische Behörde das Recht haben soll, eine Reklamation
dann abzuweisen, wenn
alle Dokumente
mit Ausnahme jener, welche die Seßhaftigkeit nachweisen, fehlen,
daß aber im Falle des Fehlens auch der letzteren die poli-
tische Behörde von Amts wegen verpflichtet sein soll, diese selbst
zu erheben, so hat sich der Minister des Innern auch gegen diesen
Antrag gewendet. Gewiß sei jeder selbst am besten in der Lage,
anzugeben, wo er sich aufgehalten hat, allein man dürfe die Zu-
stände nicht vergessen, in denen wir tatsächlich leben; im all-
gemeinen herrsche bei den Behörden nicht die Auffassung, daß der-
jenige, der sein Wahlrecht reklamiert, die Behörde wohlwollend auf
den oder jenen Mangel aufmerksam zu machen habe und diese dann
daran interessiert ist, den Mangel zu beheben. Im französischen
Gesetz ist allerdings ausdrücklich fixiert, daß derjenige, der eine
Richtigstellung verlangt, im öffentlichen Interesse handelt. Bei uns
aber ist ein solcher Mann eine unangenehme Person, deren
Bemühungen abzuwehren die Behörde auf jede Weise versucht.
Dazu kommt, daß in Wahlzeiten selbstverständlich eine ungeheure
Belastung aller sich mit den Wahlen befassenden Behörden herrscht
und die Beamten jene Reklamationen, die nicht vollständig dem Ge-
setz entsprechen, einfach als eine Behelligung auffassen. Da ich
aber fürchte, daß der Antrag des Abgeordneten Dr. Vogler, trotz-
dem er in den Verhältnissen wohl begründet ist, nicht angenommen
werden könnte, stelle ich für den Fall der .Ablehnung desselben
folgenden Eventualantrag : „Die Angaben über die Seß-
haftigkeit sind erforderlichenfalls von Amts
wegen zu erhebe n."
Schließlich beantragt er, daß im letzten Absatz an Stelle des
Wortes „anzuschließen" das Wort „vorzulegen" zu setzen sei. Bei
sehr vielen Reklamanten bildet das Arbeitsbuch das Haupt-
dokument, das in der Regel vom Arbeitgeber nur schwer und,
wenn überhaupt, nur auf kurze Zeit zu erlangen sei. Es wäre daher
angezeigt, daß dem Reklamanten das Recht eingeräumt werde, sich
mit dem Arbeitsbuch zur politischen Behörde zu begeben, wo proto-
kollarisch zu vermerken wäre, daß das Arbeitsbuch korrigiert
wurde.
Abgeordneter Dr. Adler*) konstatiert, daß die vom Abgeordneten
*) Geßmann hatte Adler erwidert, daß die Anträge Vogler und Adier
in Wien undurchführbar seien, da hier mindestens 40.000 Reklamationen
zu erwarten seien. — Adler antwortete ihm sofort.
Nochmals Wählerlisten und Legitimationen. 40?
Dr. Geßmann vorgebrachten Argumente, so verführerisch sie aus
sehen, nicht zutreffen. Dr. Geßmann Sagte, es nütze nichts, wenn
jemand, der hinausreklainiert werden solle, die Mitteilung erhalte,
daß er hinausreklainiert werden wird, wenn er Zufällig deshalb
hinausreklainiert wird, weil er nicht in Wien anwesend ist. Für diese
kleine Zahl von Fällen werde eben die bezügliche Mitteilung von
■der Post unerledigt an die Behörde zurückkommen. In neun Zehn-
teln der Fälle aber wird es sich nicht um die Abwesenheit von
Wien, sondern um eine behauptete Armen Unter-
stützung und ähnliches handeln, in welchen Fällen dann die
Leute in die Lage versetzt werden müssen, sich gegen ein an ihren
Rechten verübtes Attentat zu wehren. In Wien muß gegen die
Reklamation vor der Entscheidung eine Abwehr möglich sein, denn
nach der Entscheidung ist eine solche unmöglich. Der Minister des
Innern hat es wohlweislich vermieden, auf meine Frage, wo gegen
eine Ausscheidung reklamiert werden soll, zu antworten. Eine solche
Reklamation ist eben nicht möglich; jede Abweisung ist, da in den
Landeshauptstädten die erste und die zweite Instanz zusammen-
fallen, in Wien ja endgültig. Auch die Argumente, die Abgeordneter
Dr. Geßmann bezüglich der Seßhaftigkeit anführte, sind nicht stich-
haltig. Sie würden nur dann zutreffen, wenn im Gesetz bestimmt
würde, die Seßhaftigkeit sei in allen Fällen von Amts wegen fest-
zusetzen. Das wird aber nicht einmal im Antrag Vogler verlangt;
meinen Eventualantrag aber trifft die Einwendung des Abgeord-
neten Dr. Geßmann gar nicht.
Abgeordneter Dr. Adler*) bemerkt, sosehr er dasselbe wünsche,
wie Dr. Vogler, halte er seinen Antrag wegen der Zustellung nicht
für notwendig, da auch der Text der Regierungsvorlage es den Ge-
meinden freiläßt, die Zustellung durch die Post vornehmen zu
lassen. Dr. Geßmann habe zu viel bewiesen: nämlich daß es un-
möglich sei, die Legitimationen durch die Post zuzustellen, und daß
-dies seit 1901 bereits geschehen ist. Wenn der Paragraph bleibt,
wie er ist, wird es künftig sein wie bisher: wo es für praktisch
angesehen werden wird, wird die Post zustellen, dann wird man
über die Post schimpfen, oder es wird die Kommune zustellen, dann
wird man über die Kommune schimpfen. Eine andere und gefähr-
liche Frage ist, was mit den nicht zustellbaren Legitimationen ge-
schieht. Diese bilden in Wien ein Reservoir, mit dem man — ganz
objektiv gesprochen, er führe die Diskussion mit Ausschaltung jeder
Verdächtigung einer subjektiven Absicht — für den unmöglichen
Fall, daß man damit Mißbrauch treiben will, Mißbrauch treiben
kann.
Auch wenn der Antrag Vogler angenommen wird, ist eine abso-
lute Sicherung nicht gegeben. Vom Wege der mißglückten Zu-
stellung bis zur Statthalterei und von der Statthalterei bis zur Wahl-
*) Nach der Erledigung des § 13 kam noch in derselben Sitzung der
§ 14 zur Verhandlung, der die Legitimationen betraf. Dazu beantragte
Dr. Vogler, daß die Zustellung in der Regel durch die Post zu erfolgen
habe. In der Vorlage hieß es, daß sie in die Wohnung zuzustellen seien.
Der Antra« wurde dann abgelehnt.
408 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
kommission ist eine ganze Reihe von Zwischenfällen möglich. Es
nützt gar nichts, wenn der Ausschuß jedes Loch verstopft, weil
wieder ein anderes gefunden wird. Wenn das nächste Haus
ein- oder zweimal mit annähernd solcher Schärfe
gegen Wahlmißbräuche vorgehen würde wie der
deutsche Reichstag, ohne Unterschied der Partei,
so werden diese Dinge aufhören. Solange sich das Haus
gefallen läßt, daß durch sechs Jahre beanstandete Wahlen un-
erledigt bleiben, ist dagegen nichts zu machen. Ich möchte daran
den Wunsch knüpfen, sich mit diesen Bestimmungen nicht gar so
viel zu beschäftigen. Ich habe ja selbst sehr viele Beschwerden;
aber wenn ein Antrag auf En-bloc-Abstimmung gestellt würde, so
schlucke ich das Ganze samt den Beschwerden.
Öffentlichkeit des Wahlaktes.
Ausschuß, 2 5. und2 6. September 190 6*).
Abgeordneter Dr. Adler hebt hervor, daß die Geheimerklärung
des Wahlaktes nicht nur zu allen möglichen Unterschleifen, son-
dern auch zu einer Verdächtigung aller an dem
Wahlakt beteiligten Funktionäre Anlaß geben
k ö n n t'e. Aus diesem Grunde, um das Bewußtsein der Rechts-
sicherheit bei den Wählern zu schaffen, erscheine die Öffentlichkeit
des Wahlaktes als unbedingt notwendig. Er glaube
übrigens, daß der Wahlakt in der Regel ein öffentlicher sein werde
und daß durch Alinea 2 nur für den Fall Vorsorge getroffen
werden soll, als sich Ruhestörungen bei der Wahl ergeben sollten.
Aber auch für diesen Fall sei es notwendig, daß Leute anwesend
sind, die den Wahlakt kontrollieren. Was die Vertrauensmänner
anlangt, so halte er dafür, daß es am einfachsten wäre, wenn die
einzelnen politischen Parteien ihre Vertrauensmänner der Wahl-
kommission namhaft machen und diese die Vertrauensmänner im
Sinne der gemachten Vorschläge bestimme. Er bittet deshalb den
Ausschuß, für die Anträge der Abgeordneten Dr. Stransky und
Dr. Schusterschitz zu stimmen. Er verlangt weiter von der Regie-
rung eine Aufklärung über den Widerspruch, der zweifellos gelegen
sei zwischen der Bestimmung des § 23, wonach die Wähler nur
einzeln zugelassen werden dürfen, und jener des § 28, wonach
Wähler, welche zwar vor Schluß der Stimmenabgabe anwesend
waren, ihre Stimme jedoch nicht abgeben konnten, zur Wahl zuzu-
*) Während bisher auch in Österreich die Wahl von der Abgabe der
Stimmen bis zur Verkündigung des Wahlresultats öffentlich war, wollte die
Regierungsvorlage im § 23 das geheime Skrutinium einführen und sie ließ
eine bedenkliche Einschränkung der Öffentlichkeit bei der Stimmenabgabe
zu. Der Wähler hatte das Wahllokal sofort nach Abgabe der Stimme zu
verlassen. Überdies sollten Wahlagitationen jeglicher Art nicht nur im Wahl-
lokal und im Gebäude, sondern auch noch in dem von der Bezirksbehörde
zu bezeichnenden Umkreis verboten sein. Am 25. und 26. September wurde
darüber beraten.
Öffentlichkeit des Wahlaktes. 4W
lassen seien. Schließlich wendet sich der Redner gegen die Bestim-
mung des § 23, derzufolgc während der Wahlhandlung im Wahllokal
sowie in dem (iehäude, in dem sich dieses Lokal befindet, und in der
näheren Umgebung um das (iehäude in dem Umkreise, welcher von
der politischen Behörde bestimmt wird, Ansprachen an die Wähler
sowie sonstige Wahlagitation jeder Art untersagt seien. Durch diese
Bestimmung werde in die Hand der politischen Bezirksbehörde eine
allzu große Machtvollkommenheit gelegt. Für das
Wahllokal selbst könne eine derartige Bestimmung wohl geschaffen
werden, damit die Wahlkommission ruhig arbeiten könne. Dem
Redner wäre es am sympathischesten, wenn der ganze Satz elimi-
niert würde. Da er aber nicht annehme, daß er mit einem derartigen
Antrag durchdringen könnte, beschränke er sich darauf, zu bean-
tragen, daß die Worte: „Sowie in dem Gebäude, in dem sich dieses
Lokal befindet, wie in der näheren Umgebung um dieses Gebäude
in dem Umkreise, welcher von der politischen Bezirksbehörde be-
stimmt wird", gestrichen werden.
Abgeordneter Dr. Adler*) glaubt im allgemeinen, daß sich der Aus-
schuß seine Aufgabe durch die zahllosen Bedenken, die im Laufe
der Debatte über die Fassung des § 23 vorgebracht wurden, über-
flüssigerweise kompliziere; ein großer Teil dieser Bedenken falle
weg, wenn man erwäge, daß im Gegensatz zu der bisherigen Praxis
die Wahlen nur mehr geheim, schriftlich und direkt erfolgen sollen.
Dr. Kramarsch gehe mit seinem Antrag über die Öffentlichkeit der
Wahlhandlung noch über den Rahme nd er Regierungs-
vorlagehin aus, indem er prinzipiell die Öffentlichkeit beseitigt.
In der Regierungsvorlage sei die Einzelzulassung der Wähler nur
in Ausnahmefällen aus rein technischen Gründen vorgesehen, wäh-
rend durch den Antrag Kramarsch die Einzelzulassung zur Regel
erhoben werde. Der Ausschuß nehme in dieser Frage eine Haltung
ein, als ob das Wählen eine österreichische Erfindung wäre, als ob
man in der ganzen Welt überhaupt noch nicht gewählt hätte und
der Ausschuß jetzt sich darüber den Kopf zerbrechen müßte, all die
Schwierigkeiten, welche bei Wahlen zutage treten könnten, zu be-
seitigen. Was speziell die sozialdemokratische Partei anlange, so
sei die Arbeiterschaft durch eine Reihe von Verfügungen, die man
jetzt zu treffen beabsichtigt, nicht berührt; denn die Arbeiter
wählen in der Regel zeitlich früh. Das dürfe aber nicht als eine Be-
*) Am zweiten Verhandlungstag beantragte Dr. Kramarsch, daß
dem Wahlakt auf Wunsch der wahlwerbenden Parteien zwei bis fünf, in
größeren Städten bis zu zehn Vertrauensmänner aus der Mitte der Wahl-
berechtigten beizuziehen seien, die bis zur Verkündigung des Wahlergeb-
nisses dem Wahlakt anzuwohnen berechtigt seien. Dr. Stransky
(mährischer Jungtscheche, in der tschechoslowakischen Republik Handels-
minister und später Senator) beantragte, daß der ganze Wahlakt mit Ein-
schluß des Skrutiniums öffentlich sein solle. Das Ergebnis der Beratungen
war die Annahme des Antrages Kramarsch, der es zwar zuließ, daß die
Wahlkommission den Wählern den Zutritt zum Wahllokal nur einzeln ge-
v'atte, aber das Institut der Vertrauensmänner der Parteien einführte, die
atll jeden Fall anwesend sein durften.
410 Der Sieg des gleichet Wahlrechts.
gründung dafür bezeichnet werden, daß es von vornherein aus-
geschlossen sein soll, daß sich Wähler im Wahllokal aufhalten. Der
Antrag Kramarsch werde jedenfalls, auch wenn er noch so gut er-
scheinen mag, eine schwere Einschränkung der Wahl-
handlung zur Folge haben.
Was die Bestimmung hinsichtlich der Agitation in der Nähe des
Wahllokals anlange, so beharre er auf seinem Antrag, wolle ihn
jedoch insofern modifizieren, als er nur die Auslassung der Worte:
„und in der näheren Umgebung ... bis bestimmt wird", beantrage.
Er bittet den Ausschuß, für den Antrag des Abgeordneten
Dr. Stransky, der die volle Öffentlichkeit des Wahlaktes bezweckt,
zu stimmen.
Wahlprüfung.
Ausschuß, 2 7. September 190 6*).
Abgeordneter Dr. Adler konstatiert zunächst gegenüber den im
Laufe der Debatte über die Agnoszierung der Wahl des Abgeord-
neten Seitz gefallenen Bemerkungen, daß nicht nur nicht der Protest
gegen die Wahl des Abgeordneten Seitz, sondern überhaupt nur
sehr wenige Wahlproteste erledigt worden seien, und daß in dem
fertiggestellten Referat über die Wahl des Abgeordneten Seitz als
einzig belangreicher Punkt das Überschreiten des Mandats durch
die Wahlkommission, die nicht aus Parteigenossen des
Abgeordneten Seitz bestanden habe, angeführt er-
scheine. In der Sache selbst stimme er mit den Anschauungen der-
*) Am 27. September erledigte der Ausschuß im wesentlichen die Be-
ratung der Regierungsvorlage, mit Ausnahme der zurückgestellten Para-
graphen. Es war vor allem noch der § 5 zu erledigen, bei dem der ange-
kündigte Pluraiitätsantrag verhandelt werden sollte, dann die von Hohen-
lohe angeregte, aber viel bestrittene Bestimmung, die die Wahlkreisein-
teilung unter den Schutz der Zweidrittelmehrheit stellte; ferner die Wahl-
kreiseinteilung für Böhmen und Mähren, die nun fertiggestellt worden
war, und schließlich der Artikel II des Grundgesetzes, zu dem das Sub-
komitee seine vier Resolutionen beschlossen hatte.
Schließlich kündigte noch der oberösterreichische Klerikale Schlegel
einen Antrag über die Wahlpflicht an. .
In der Sitzung selbst wurde zunächst die Angelegenheit der g a 1 i z i-
sehen Doppelwahlbezirke geregelt, in denen der Schutz der polni-
schen Minderheit dadurch gewährleistet wurde, daß auch der Kandidat, der
ein Drittel der Stimmen erhielt, das Minderheitsmandat erhielt; dazu
wurde nun bestimmt, daß zugleich auch für jeden Abgeordneten ein Ersatz-
mann gewählt werden sollte, der beim Ausscheiden des Abgeordneten ohne
Wahl an seine Stelle treten sollte. Dann wurde zur Frage der Doppel-
wahlen beschlossen, daß der zweimal gewählte Abgeordnete längstens
acht Tage nach der Konstituierung des Hauses zu erklären habe, welche
Wahl er annehme.
Nun kam die Frage der Wahlprüfung zur Verhandlung. Dabei
wurde es von Stein als sonderbar erklärt, daß über die Wahl des Ab-
geordneten Seitz (der bekanntlich in der Zensuswahl im Städtewahl-
bezirk Korneuburg-Floridsdorf gegen den Deutschnationalen Richter mit
Walilpriiiimn. 411
jenigen überein, die die bisher geübte Praxis als einen geradezu
unwürdigen Zustand bezeichnen. Er werde auch jeden Antrag, der
geeignet sei, in Hinkunft ein derart bedauerliches Vorgehen zu ver-
hindern, aufs wärmste unterstützen. Er sei aber nicht so pessimi-
stisch, um zu Klauben, daß das künftige Haus auf einem noch
niedrigeren Niveau als das gegenwärtige oder im besten Falle auf
•demselben Niveau stehen werde. Im Gegenteil liefere der
deutsche Reichstag den Beweis, daß ein auf Grund
des allgemeinen Wahlrechtes gewähltes Parla-
ment in diesen Dingen objektiv und prompt vor-
gehe. Die politische Moral sei im Deutschen Reiche auf diese
Weise außerordentlich gehoben worden, und da die Österreicher
gewiß nicht schlechter veranlagt sind als die Deutschen, sei zu
hoffen, daß sich, wenn nur einmal demokratische Institutionen in
Österreich bestehen, auch das neue Parlament auf dieselbe Höhe
erheben werde wie der deutsche Reichstag.
Was den Antrag des Abgeordneten Dr. Vogler anlangt, so sei
•es ja gewiß außerordentlich verlockend, einen vermeintlich objek-
tiven, außenstehenden Richter zur Entscheidung anzurufen. Er habe
aber das Bedenken, daß es nicht angezeigt erscheine, daß das
Parlament seine eigenen Befugnisse auf außenstehende Körper-
schaften übertragen soll. Auf jeden Fall sei es bei Beratung dieser
Vorlage und in diesem Zusammenhange technisch ein Ding der
großen Unwahrscheinlichkeit, daß ein Antrag auf Schaffung eines
Wahlgerichtshofes jetzt erledigt werden könnte. So sehr er die
Motive des Abgeordneten Dr. Vogler würdige, müsse er doch den
Ausschuß davor warnen, dem § 40 eine Stilisierung zu geben,
durch welche eine Erledigung des ganzen Gesetzes ohne Einsetzung
eines Wahlgerichtshofes unmöglich gemacht und die ganze Vorlage
in ein Junktim mit einem derzeit noch ziemlich nebulosen Vorschlag
gebracht werde.
Auch der Antrag des Abgeordneten Hruby klinge ganz plausibel.
Jedoch müsse wieder erwogen werden, daß hier eigentlich ein ganz
unlogischer Zustand geschaffen werde, denn es könne ganz leicht
der Fall eintreten, daß der Ausschuß zwar sein Referat fertiggestellt
habe, daß jedoch aus in der Geschäftsordnung gelegenen Gründen
die Verhandlung über diesen Bericht nicht auf die Tagesordnung
gelangen kann. Er hält es also im allgemeinen überhaupt nicht für
2737 gegen 2679 Stimmen gewählt worden war) kein Bericht erstattet
werde. Darauf erwiderte Dr. Vogler, daß er nach genauer Prüfung der
Akten einen Grund für eine Nichtigkeit der Wahl nicht finde, daß kein
Anlaß sei, gerade über diese Wahl zu berichten, wo andere, heftig an-
gefochtene Wahlen bestehen bleiben, und daß deshalb die Mitglieder des
Ausschusses gewünscht hätten, es wären alle Referate auf einmal dem
Hause vorzulegen.
In der Debatte beantragte Dr. Vogler die Errichtung eines Wahl-
gerichtshofes, der tschechische Agrarier Hruby beantragte, daß
das Haus binnen sechs Monaten die Wahlen prüfen müsse, widrigenfalls
das Mandat als agnosziert (anerkannt) gelte. Diese Anträge wurden aber
abgelehnt.
412 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
opportun, daß sich der Ausschuß mit Dingen beschäftige, die eigent-
lich dem neuen Hause überlassen werden sollten. In diesem Hause
werde eine ganz andere Luft wehen als im Kurienparlament und
es werde sicherlich auch mehr Ehre im Leibe haben.
Die Wahlpflicht.
Ausschuß, 1. Oktober 190 6*).
Abgeordneter Dr. Adler konstatiert, daß die gegenwärtig in Dis-
kussion stehende Frage von der bisherigen Richtung und Tendenz
der ganzen Verhandlungen und des Wahlrechtskampfes überhaupt
abweiche. Das Wesen des Wahlrechtskampfes besteht darin, daß
man denjenigen Leuten, die bisher wählen wollten, hiezu aber ent-
weder gar nicht oder nur in ganz unwirksamer Weise zugelassen
wurden, nunmehr das Recht gibt, zu wählen. In der Debatte über
die Wahlpflicht beschäftigt man sich aber mit denjenigen Leuten,
die nicht wählen wollen, hiezu aber gezwungen werden
sollen. Er verwahrt sich dagegen, daß man die Wahlpflicht, wie
dies Abgeordneter Dr. v. Grabmayr getan habe, von dem Gesichts-
punkt der Einschränkung der Freiheit betrachte. Würde er
selbst bloß das Interesse seiner eigenen Partei im Auge haben,
dann hätte er keinen Anlaß, allzu scharf gegen die
Statuier ung der Wahlpflicht aufzutreten, und er
glaube, man mache sich in den Kreisen,' welche jetzt so sehr für
die Wahlpflicht eingenommen sind, viel zu übertriebene Vor-
stellungen von den Vorteilen, die den reaktionären oder konser-
vativen Parteien aus der Einführung der Wahlpflicht erwachsen
könnten. Nach der Ansicht des Redners liege in der Wahlpflicht
eine reaktionäre Tendenz
und aus diesem Grunde bekämpfe er sie und werde auch gegen
deren Einführung stimmen: nämlich die Tendenz, das Gewicht jener
Bevölkerungsschichten zur Geltung zu bringen, die politisch
am allerwenigsten nachdenken und eigentlich
keinen politischen Willen besitzen. Diese Bevölke-
rungsschichten finden sich an der Spitze des Bürgertums, und zwar
sind das diejenigen Leute, die entweder zu faul, zu gedanken-
1 o s sind oder sich für zu vornehm halten, sich um Politik zu
kümmern. Sie befinden sich weiter in jenen Kreisen der Bevölke-
*) In der vorigen Sitzung hatte der Abgeordnete Dr. Schlegel an-
gekündigt, daß er einen Antrag auf Einführung der Wahlpflicht einbringen
werde. Nachdem der Antrag, der offenbar von den Wiener Christlich-
sozialen angeregt war, in gewissen Kreisen durchberaten worden war,
wurde er nun eingebracht. Danach soll als letzter Absatz des § 4 folgende
Bestimmung aufgenommen werden:
Der Landesgesetzgebung bleibt es überlassen, die Wahlberechtigten
zur Abgabe ihrer Stimme bei den Wahlen der Mitglieder des Abgeord-
netenhauses des Reichsrates zu verpflichten und die erforderlichen
Durchführungsbestimmungen festzusetzen.
Die Wahlpflicht. 413
ruug, die deklassiert sind und ein politisches Interesse über-
haupt nicht haben, und schließlich in jenen Ständen, die sich aus
Unbildung oder infolge des Milieus, in dem sie leben, wie beispiels-
weise die Klasse der Bedienten, an der Politik nicht beteiligen.
In der Absicht, diese Schichten mit Polizeigewalt zu einer poli-
tischen Meinungsäußerung zu zwingen, liegt die Tendenz, den
politisch nicht Denkenden ein Über-
gewicht über die politisch Denkenden zu
geben. Es ist auch selbstverständlich, daß Leute, die mit Polizei-
gewalt zur Urne getrieben werden müssen, nichtpolitischen Beein-
flussungen zugänglicher sind, und es ist ebenso selbstverständlich,
daß es unter Umständen, wenn es sich um zwei Parteien handelt,
die einander an Stimmenzahl ungefähr gleich sind, gelingen kann,
durch die Heranziehung von Elementen, die keiner Partei an-
gehören und politisch gedankenlos sind, das Schwergewicht der
Wahl auf die eine oder die andere Seite zu bekommen. Darin
liegt der Grund, warum die Sozialdemokraten die Einführung der
Wahlpflicht als eine Maßregel reaktionärer Natur ansehen und da-
gegen sind. Er wolle zugeben, daß sich an die Wahlpflicht auch
Gedankengänge demokratischer Art
knüpfen können, allein die Einführung der Wahlpflicht werde den
Wählern die Ausübung des Wahlrechtes als etwas Lästiges, als
etwas von dem Ausdruck ihrer politischen Überzeugung Los-
getrenntes, als eine unangenehme Behelligung und Zeremonie
erscheinen lassen. Die günstigen Erfahrungen, welche die
Sozialdemokraten in Belgien mit der Einführung der Wahlpflicht
gemacht haben, mildern die prinzipielle Abneigung des Redners
gegen die Einführung wesentlich. In Belgien, wo die Wahl-
pflicht ursprünglich aus reaktionären Interessen statuiert wurde,
haben im Laufe der Jahre gerade die Sozialdemokraten
am meisten Vorteil aus der Wahlpflicht gezogen,
weil es einfach die Staatsgewalt übernommen hat, die Wähler voll-
zählig zur Urne zu bringen, wodurch der Partei eine Menge
Schwierigkeiten und Kosten erspart blieben. Er sehe deshalb auch
die eventuelle Einführung der Wahlpflicht in Österreich nicht
als einen casus bellian. Er würde aber, auch wenn er über-
zeugt wäre, durch diese seine Haltung der eigenen Partei zu
schaden, gegen die Wahlpflicht Stellung nehmen, weil er es nicht
billigen könnte, daß jenen Elementen der Bevölkerung, die poli-
tischen Willen besitzen, solche entgegengesetzt werden, die keine
politische Anschauung haben. Er müsse es auch als eigentümlich
bezeichnen, daß der Versuch, die Wahlpflicht in Österreich einzu-
führen,
so spät
gemacht werde. Es sei gewiß richtig gewesen, in erster Linie an
die nationale Aufteilung der Mandate zu gehen; aber dies geschah
nur unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß die in der
Regierungsvorlage enthaltenen Grundsätze unverändert an-
genommen werden. Nun sei wohl die Einführung der Wahlpflicht
414 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
insbesondere von christlichsozialer Seite wiederholt als wünschens-
wert bezeichnet worden; aber kein Mensch konnte vermuten, daß
die Wahlpflicht eine der Grundlagen der Wahlreform werden soll,
und deshalb scheint ja auch Abgeordneter Dr. Schlegel den außer-
ordentlich klugen Weg eingeschlagen zu haben, daß die Land-
tage mit der Gesetzgebung über die Wahlpflicht betraut werden,
da er selbst nicht glaube, daß die Wahlpflicht noch jetzt in die
Regierungsvorlage aufgenommen werden wird. Klug ist der An-
trag deswegen, weil in unserem Parlament einerseits Leute sitzen,
die, wenn sie das Wort „Landtage" hören, das objektive Urteil über
den Inhalt eines Antrages gänzlich verlieren und sich einfach als
Autonomisten fühlen, und andererseits wieder Leute, die, wenn sie
in einem Antrag das Wort „Landtage" finden, absolut nein sagen
und sofort gegen den Antrag eingenommen sind. Es steht somit zu
befürchten, daß die Abstimmung über den Antrag Schlegel nicht
eine Abstimmung darüber sein wird, ob die Einführung der Wahl-
pflicht in Österreich nützlich oder schädlich ist, sondern darüber,,
ob man _
den Landtagen
etwas überlassen soll oder nicht. Er glaube, daß selbst der Ab-
geordnete Dr. v. Grabmayr den Antrag, der ja die Durchführung
der Wahlreform nicht gerade erleichtere, nicht so entschieden be-
kämpft hätte, wenn damit die Autonomiefrage nicht verbunden
wäre. Wenn man aus der bisherigen, teilweise sehr schwachen
Wahlbeteiligung ein Argument für die Einführung der Wahlpflicht
konstruieren wolle, so müsse konstatiert werden, daß die
Wahlbeteiligung
überall dort eine verhältnismäßig schwächere war, wo bisher ent-
weder indirekt gewählt wurde oder wo die Wahl in der fünften
Kurie das Wahlrecht nicht nur in dieser, sondern auch in den
anderen Kurien entwertet hat und wo durch die Schaffung un-
geheuer großer Wahlkreise das Wählen weniger interessant ge-
worden ist. Nun geht es aber nicht an, die bisherigen Verhältnisse
mit den kommenden zu vergleichen, und diejenigen, die eine inten-
sivere Teilnahme der Bevölkerung an dem politischen Leben herbei-
führen wollen, werden die Überzeugung gewinnen, daß hiezu nicht
die Anwendung von Polizeigewalt notwendig ist, sondern daß die-
jenigen Neuerungen genügen, die eben durch die Wahlreform ge-
schaffen werden.
Ein Versuch, der Landesregierung die Regelung der Wahlpflicht
zu übertragen, liege ja übrigens in Österreich bereits vor. Der § 13
des Wiener Gemeindestatutes bestimmt, daß die Verpflichtung der
Wähler zur Ausübung des Gemeindewahlrechtes durch ein b e-
sonderes Landesgesetz zu normieren sei. Dieses Gesetz
sei aber bis heute nicht geschaffen, weil die christlich-
soziale Partei auf den Widerstand der Regierung gestoßen ist, den
sie nicht überwunden hat. Es ist auch vorauszusehen, daß in allen
anderen Ländern ein derartiges Gesetz nicht zum Beschluß erhoben
würde. Es wäre übrigens auch ganz unzulässig, daß die L a n d-
Die Pluralität. 41 r>
t a g c darüber entscheiden, wie das R e i c h s r a t $ w a h 1 r e c h t
auszuüben sei. Man kann Joch dein Landtag nicht das Recht über-
trafen, nicht nur ein Prinzip einzuführen, sondern auch ein neues
Gesetz ZU schaffen, das dem Reichsrat einfach oktroyiert wird, ohne
daß er auch nur die Möglichkeit hätte, liier einzugreifen. Das ist
verfassungstechnisch eine
absolute Unmöglichkeit,
und so wird der Vorteil, den Abgeordneter Dr. Schlegel dadurch
zu erreichen suchte, daß er einzelnen Herren seinen Antrag durch
die Übertragung der Gesetzgebung an die Landtage sympathischer
gemacht hat, reichlich dadurch aufgehoben werden, daß er damit
etwas vorgeschlagen hat, was auch Leute, die sonst nicht Zentra-
listen sind, aus prinzipiellen Gründen unmöglich zugeben könnten.
Was die Anregung des Abgeordneten Dr. Schlegel hinsichtlich der
technischen Durchführung anlangt, so muß sie für jeden Kenner der
Wahltechnik als nicht durchführbar erscheinen. Es wäre ganz aus-
geschlossen, der Wahlkommission ein Jurisdiktionsrecht einzu-
räumen, auch wäre die Höhe der Strafen, wie sie vom Abgeordneten
Schlegel angeregt wurde, viel zu gering und ich würde, falls man
schon die Einführung der Festsetzung von Geldstrafen beschließt,
dafür eintreten, daß ein Minimum von zwei Kronen festgesetzt
werde, daß aber die Strafe dem Betrag der Personaleinkommen-
steuer eines Jahres gleichzukommen hätte.
Deshalb ersuche ich Sie den Antrag Schlegel abzulehnen, nicht
weil er föderalistisch oder reaktionär ist, sondern weil damit eine
Maßregel getroffen würde, die in der vorgeschlagenen Form ver-
fassungsmäßig unmöglich war e*).
Die Pluralität.
Ausschuß, 3. Oktober 1906**).
Abgeordneter Dr. Adler bemerkt, daß man mit der Diskussion
über § 5 eigentlich zum Anfang der Diskussion über das Wahlrecht
zurückgekommen sei. Meine Empfindung und die der gesamten Be-
völkerung ist, daß man hier über eine res iudicata, über eine Sache
*) Nachdem Adler seinen Standpunkt dargelegt hatte, setzte sich
üeßmann, der eigentliche Vater des Plans, leidenschaftlich für die Wahl-
pflicht ein, appellierte an die Solidarität der bürgerlichen Parteien gegen
den „Terrorismus" und die „bewundernswerte" Organisation der Sozial-
demokratie. Der Minister B i e n e r t h fand den Gedanken „erwägenswert"
und überließ dem Ausschuß die Entscheidung. Es wurde dann ein S u b-
komitee gewählt. Schließlich wurde es den Landtagen überlassen, die
Wahlpflicht einzuführen. Der niederösterreichische Landtag hat die Wahl-
pflicht schon am 24. Dezember 1906 beschlossen.
**) Als die Wahlreformfeinde sahen, daß die Wahlreform nicht mehr zu
verhindern sei und als alle Intrigen hintertrieben waren, sammelten sie ihre
Kräfte in dem Angriff auf das gleiche Wahlrecht. Auf einem Umweg sollte
den Arbeitern das eben gewährte Wahlrecht wieder gestohlen werden. Die
416 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
spreche, die bereits von allen gesetzlichen Faktoren, vom Parla-
ment, von der Regierung und von der Krone erledigt ist. Man ist
in die Diskussion über die Wahlkreiseinteilung und über die Wahl-
ordnung unter der
Voraussetzung des gleichen Wahlrechtes
eingetreten. Als der Ministerpräsident Qautsch am 23. Februar die
Wahlreform mit den Worten vorgelegt, daß sie auf dem
Grundgedanken der Beseitigung aller Wahlvor-
Feudalen hatten den feinen Plan eines Pluralwahlrechts ausgeheckt und
fanden bei einem Teil der Klerikalen eitrigste Unterstützung.
Am 19. September hatte der Tiroler Klerikale Dr. Tollinger (Ab-
geordneter der Landgemeinden von Schwaz) angekündigt, daß er einen An-
trag über die Einführung des Mehrstimmenrechtes einbringen werde, den
er zunächst den Klubs zur Beratung zugestellt habe und der Ausschuß hatte
deshalb die Beratung des § 5 zurückgestellt, der festsetzt, daß jeder Wähler
eine Stimme hat. Am 2. Oktober wurde endlich der Antrag eingebracht.
Er gab sich als Abänderungsantrag zum § 5 und hatte folgenden Wortlaut:
Das Wahlrecht kann nur persönlich ausgeübt werden.
Jeder Wahlberechtigte hat das Recht auf eine Stimme.
Das Recht auf eine weitere Stimme haben jene Wahlberechtigten,
a) welche das 35. Lebensjahr vollendet haben, verheiratet oder ver-
witwet und Väter wenigstens eines ehelichen Nachkommens sowie In-
haber einer selbständigen Wohnung als Eigentümer, Nutznießer oder
Mieter sind;
b) welche an einer inländischen Mittelschule oder Lehrerbildungs-
anstalt die Reifeprüfung abgelegt oder eine den Mittelschulen in bezug
auf das Einjährigfreiwilligenrecht bei Ableistung der militärischen Prä-
senzdienstpflicht gleichgestellte Fachschule mit Erfolg absolviert haben;
c) welche eine selbständige Unternehmung betreiben oder eine
Liegenschaft besitzen, wofür direkte landesfürstÜche Steuern im
Mindestbetrage von jährlich 25 Kronen in dem der Wahlausschreibung
vorangehenden Steuerjahr vorgeschrieben waren und bis zur Wahl-
ausschreibung tatsächlich entrichtet wurden.
Durch die Landesgesetzgebung kann bestimmt werden, daß der
Mindestbetrag von 25 Kronen im betreffenden Kronland, jedoch nicht
unter den Betrag von 8 Kronen ermäßigt werde.
Jenen Wahlberechtigten, bei denen eine der im vorstehenden Ab-
satz a bis c aufgeführten Voraussetzungen zutrifft, kommen zwei Wahl-
stimmen zu.
Jenen Wahlberechtigten, bei welchen mindestens zwei von den er-
wähnten Voraussetzungen zutreffen, kommen drei Wahlstimmen zu.
Wahlberechtigte, welchen mehr als eine Stimme zukommt, können
die Wahlstimmen nur einem Wahlwerber zuwenden.
In der Debatte sprach auch der Ministerpräsident Beck. Aber er wagte
es nicht, energisch gegen die Pluralität aufzutreten. Wohl sagte er, man
dürfe nicht die günstigen Wirkungen, die man der Wahlreform verdanke,
nämlich die feste Verankerung des Staatsgedankens bei den großen Massen,
preisgeben. Aber im wesentlichen hoffte er die Gegner der Wahlreform
noch umzustimmen und so erzählte er, wie sich die Regierung alle Mühe
gegeben habe, ein Pluralitätssystem zu finden, das möglich wäre, ja er er-
klärte, es lasse sich nicht leugnen, daß die Bevorrechtung des Alters und
Die Plitfalität. 417
rechte und jedes Zensus beruhe, sprach er damit aus,
daß die Krone und die Regierung einig sind, das allgemeine, gleiche
Wahlrecht einzuführen. Eis hat deshalb auf mich einen eigentüm-
lichen Kindruck gemacht, als Ministerpräsident Baron Heck er-
wähnte, daß sich auch die Regierung vielfach mit Frwägungen und
Möglichkeiten des Pluralwahlrechtes noch bis vor kurzer Zeit
abgegeben hat. Die Regierung des Baron Beck hat ja erklärt, sie
übernehme die Erbschaft der Regierungsvorlage des Baron (iautscli
und sie werde diese Vorlage zum Siege tragen. Kein Mensch konnte
dabei etwas anderes denken, als daß Baron Beck das allgemeine,
gleiche Wahlrecht zum Siege bringen wolle. Trotzdem ich diese
Erklärung der Regierung ein wenig inkonsequent oder u n-
logisch finde, hat sie doch auf mich einen
recht beruhigenden Eindruck
gemacht; denn wenn sich die Regierung, die in der Durchbringung
dieser Vorlage ihre Lebensaufgabe erblicken muß, bemüht hat,
Wege zu suchen, ob man nicht den Wünschen der Herren, die das
gleiche Wahlrecht gern verderben möchten, auf eine unschädliche
Weise Rechnung tragen kann, und die trotz des Aufgebots aller ihr
zur Verfügung stehenden Kräfte nicht in der Lage war, einen
solchen Weg zu finden, um das Pluralitätswahlrecht mit dem Prin-
zip der Vorlage zu vereinen, so ist es wohl ganz aus-
geschlossen, daß dies dem Ausschuß gelingen werde.
Wenn der Ministerpräsident schließlich sagte, die Regierung
würde kein Hindernis in den Weg legen, wenn der Ausschuß ein
Mittel finden würde, um ein Kompromiß zwischen den Anhängern
und den Gegnern des Pluralwahlrechtes beziehungsweise des
gleichen Wahlrechtes zustande zu bringen, so hätte der Minister-
präsident mit dem gleichen Rechte sagen können, er würde sich
dem nicht in den Weg stellen, wenn jemand die
Quadratur des Zirkels
erfände, wenn jemand Weiß und Schwarz, Gleich und Ungleich in
eine Formel bringen könnte, wenn jemand diejenigen unter eine
Formel vereinigen könnte, die zum gleichen Wahlrecht aus voller
der Verehelichung eine Reihe von Vorzügen besitze. Aber zum Schluß
mußte er doch den Antrag Tollinger ablehnen, wobei er allerdings die Frage
offen ließ, ob es dem Ausschuß gelingen könne, „ein die Fertigstellung des
Werkes förderndes Kompromiß der Parteien" zu finden. Viel energischer
trat allerdings dann der Jungtschechenführer Dr. Kramarsch gegen die
Pluralität auf. Nach ihm kam Adler zu Worte. Erwähnt sei, daß Baron
Beck später, als er die Empörung der Massen über die Pläne der Feu-
dalen sah, viel energischer dagegen auftrat.
Der Antrag Tollinger wurde übrigens am 6. Oktober mit 29 gegen
19 Stimmen abgelehnt. (Siehe noch Adlers Rede in der Parlaments-
sitzimg vom 8. November über die Ränke gegen das Wahlrecht
und die Fußnote über die weiteren Kämpfe gegen die Pläne der Herren-
häusler, sowie auch seine Rede über die Pluralität in der SpezialdebaUe
am 21. November sowie die dort in einer Fußnote gemachten Angäbet1
über die Wirkungen einer Pluralität.)
Adler, Briefe. X. Bd. 27
418 Der Sie« des gleichen Wahlrechts.
Überzeugung ja sagen, mit denjenigen, die zum gleichen Wahlrecht
ebenso aus voller Überzeugung nein sagen. Diese Formel gibt es
aber nicht und es erscheint darum die Erklärung des Minister-
präsidenten auch nach dieser Richtung sehr beruhigend.
Dr. Tollinger sagte, man könne von einem Raube, von einem
Unrecht nicht sprechen, man nehme ja niemand etwas, was er
schon habe, sondern man weigere sich nur, ihm etwas zu geben,
was er noch nicht habe. Das ist ein großer Irrtum. Das gleiche
politische Recht ist etwas, was nie und unter gar keinen Umständen
jemand erst gegeben zu werden braucht. Es ist
das jedem Staatsbürger innewohnende Recht.
Es einschränken heißt es nehmen. Und der chronische Zustand
des Wahlrechtsraubes, wie er in der bisherigen Verfassung gelegen
ist, kann diesen Raub vielleicht bis zu einem gewissen Grad straf-
los machen, legalisiert kann der Raub niemals werden. Aber
auch vom Standpunkt des Gesetzes und der Rechtsentwicklung ist
die Auffassung des Abgeordneten Dr. Tollinger ganz falsch. Es ist
nicht richtig, daß die Völker Österreichs ohne Unterschied der
Nation heute nicht bereits im vollen Bewußtsein leben, daß sie das
gleiche Wahlrecht bereits besitzen. So wenig die österreichische
Geschichte geeignet ist, viel Vertrauen für das, was oben vorgeht,
zu erregen, spurlos sind die Ereignisse der letzten Jahre an der
Bevölkerung nicht vorübergegangen. Mußte nicht das, was ge-
schehen ist, den größten Eindruck machen? Sehen Sie nicht, daß
die Ruhe, die seit einem halben Jahre herrscht, nur auf das
feste Vertrauen
zurückzuführen ist, daß in der Hauptsache dem Volke bereits ge-
währt ist, was sein Recht ist. Einzelne berufen sich darauf, daß
nicht alle Bevölkerungskreise mit dem gleichen Wahlrecht ein-
verstanden sind, und der Abgeordnete Kaiser hat mit Kassandra-
stimme einen Bauernaufstand angekündigt. Wo sind denn aber diese
unzufriedenen Bevölkerungen, von denen da gesprochen wird?
Wo ist denn diese Empörung in der bäuerlichen
Bevölkerung gegen das gleiche Wahlrecht? Diese
Empörung besteht vielleicht bei einer Anzahl von Vertrauens-
männern in gewissen Wahlkreisen, aber wo sich sonst in der bäuer-
lichen Bevölkerung eine Stimme für die Ungleichheit des Wahl-
rechtes oder für die Pluralität regte, hat sie sofort einen starken
Gegenchor auch in der Bauernschaft hervorgerufen. Zur Ehre
der Bauern und des Bürgertums sei es gesagt, daß
die Bewegung für das gleiche Wahlrecht und das
Bewußtsein, daß dieses das allein Richtige, Mög-
liche und Durchführbare sei, wenn nicht ein un-
erhörter Rechtsbruch begangen werden soll,,
durchaus nicht Eigentum der Arbeiterschaft
allein ist, sondern daß die ganze Bevölkerung,
Bürger und Bauern, dieser Überzeugung leben.
Die Pluralität 419
Die Herren, die für die Pluralität schwärmen, sind die rari nantes
in gurgite vasto. (Die wenigen, die in dem weiten Abgrund
schwimmen.)
Versteht der Abgeordnete Kaiser nicht, daß die Arbeiterschaft,
der er so ungern auf der Ringstraße begegnet, für die angeblich
Ausnahmsprivilegien, eine absolute Bewegungsfreiheit geschaffen
wurde, nur darum auf den Ring geht, und in ganz Österreich diese
Wahlrechtsbewegung, die angeblich so fürchterliche Formen an-
genommen hat, entfesseln und in dieser hinreißenden Form zum
Siege bringen konnte,
weil sie nicht allein war,
weil sie die ganze Öffentlichkeit, die gesamte Be-
völkerung mit sich gehabt hat? Alles, was denkt und
urteilt, was Gefühl für Verantwortung hat auch über die Stunde
und den engen Bezirk seiner Klasse hinaus, war auf Seite der
Arbeiterschaft. Wir sind nicht so dumme Politiker, wir wissen
schon, wann wir etwas durchsetzen können. Wenn wir manchen
Herren zuhören, wir könnten den Größenwahn bekommen.
Uns wird von allen Seiten gesagt, die Sozialdemokratie habe die
Regierung in ihren Bann gezogen und terrorisiert, habe das Bürger-
tum terrorisiert, genieße absolute Immunität, brauche nur noch das
allgemeine Wahlrecht und dann ist ihnen ganz Österreich rettungs-
los ausgeliefert. Wenn wir zu solchen Tollheiten Talent hätten, wir
müßten den Worten dieser Herren glauben. Leider ist davon gar
keine Rede. Die Arbeiterschaft hat gewiß ein hervorragendes Ver-
dienst an dem Zustandekommen dieser Vorlage; aber wir reden
uns nicht ein, daß wir diese Vorlage zu irgendeiner anderen Zeit
hätten willkürlich provozieren können. Wir haben
uns einfach dessen bemächtigt, was in diesem Moment not-
wendigwar. Wir haben das Wort der Situation, der Notwendig-
keit für Österreich ausgesprochen. In aller Bescheidenheit kann ich
im Namen unserer Partei sagen, daß wir unser Teil so gut erfüllt
haben, als wir konnten. Aber über Ihre übertriebene Angst
vor uns muß ich wirklich lächeln.
Ebenso übertrieben ist Ihre Angst in bezug auf das Ergebnis des
allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes. Der Abgeordnete
Dr. Tollinger hat davon gesprochen, daß wir 80 Mandate erhalten*).
Das sind Fabeln! Sie glauben es selbst nicht. Sie haben wirk-
lich mit einem Fleiß und einer Sorgfalt, die einer besseren Sache
würdig wären, dafür gesorgt, daß die Arbeiterschaft auch unter
dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht im Parlament
nicht jenen Einfluß erhält, der ihr nach ihrer Zahl und nach der
wirtschaftlichen und politischen Rolle, die sie im Staate spielt, zu-
kommt. Es wurde das in jedem einzelnen Kronland und ins-
besondere in den industriellen Kronländern gemacht und demnächst
wird die Wahlkreiseinteilung für Böhmen und Mähren vorgelegt
werden, die eine neue Einschränkung des politischen Gewichtes
') hekanntlich sind es dann noch mehr geworden, nämlich 87 Mandate.
27*
420 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
der Arbeiterschaft mit sich bringt, herbeigeführt durch die raffi-
niertesten
Mittel der Wahlkreisgeometrie.
Wir haben dagegen protestiert, aber wir haben es bei einem
akademischen Protest gelassen, weil wir wissen, daß die Macht-
verhältnisse so liegen, daß es unmöglich ist, dies zu ändern, und
weil wir es für eine Kräfteverschwendung halten, unser ganzes
Gewicht hiefür einzusetzen. Wir haben dies auch . darum hin-
genommen, weil man heute die wirtschaftlichen Verschiebungen
nicht berechnen kann und es sich vielleicht zeigen wird, daß doch
die eine oder die andere der raffinierten Spekulationen auf Ent-
rechtung der Arbeiterschaft nicht gelungen ist.
Etwas anderes aber ist es, wenn man nun auf die
Grundlagen des Gesetzes,
auf das zurückgreift, was allein dem Gesetz einen Wert gibt und
ohne was es einfach eine wertlose Sache wird. Denn damit würde
eine Vorlage geschaffen, die eine direkte Verhöhnung und Be-
schimpfung der Arbeiterschaft bedeutet. Das verträgt die öster-
reichische Arbeiterklasse nicht. Gewiß ist die Arbeiterschaft allein
viel zu schwach, um ein solches Attentat so zu strafen, wie es be-
straft werden sollte. In dieser Sache des gleichen Rechtes steht der
beste Teil des Bürgertums, der städtischen und der länd-
lichen Bevölkerung auf unserer Seite, weil sie politisches Verständ-
nis genug hat, um zu wissen, daß man nicht in peius (zum Schlech-
teren) reformieren darf, und politisch ist es eine Reform zum
Schlechten, weil Hoffnungen wachgerufen, weil das Bewußtsein
des Volkes an das gleiche Recht gewöhnt wurde und weil man in
dem Moment, wo das gegebene Wort eingelöst werden soll, wo
es zu neun Zehnteln bereits verwirklicht ist, es zurücknimmt. Die
meisten Redner haben seinerzeit in den mehrfachen General-
debatten erklärt, sie seien keine prinzipiellen Gegner des all-
gemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes; aber sie können sich
der Vorlage nicht anschließen, weil die nationale Gefahr da ist. So
wurde auf deutscher und tschechischer und auch auf italienischer
Seite gesprochen, wobei ich besonders hervorhebe, daß sich die
Italiener mehrfach kategorisch zum allgemeinen, gleichen
und direkten Wahlrecht bekannt haben. Überall hat man nur natio-
nale Einwendungen gemacht. Ich glaube nun nicht, daß sich die
Abgeordneten Kaiser und Tollinger aus nationalen Gründen so
ernsthaft über die Vorlage zu beklagen haben, daß sie sie ver-
werfen. Es würde mich wundern, wenn den Abgeordneten Doktor
Tollinger die Ungleichheit, mit der man Tirol behandelt hat, so
empören würde, daß er für die Vorlage absolut nicht stimmen kann.
Dr. Tollinger hat sich über die Wahlkreiseinteilung lustig gemacht,
hat von Gleichheitsschwindel gesprochen. Auch ich bin durchaus
nicht von der Lösung der nationalen Gleichheit, wie sie in der Vor-
lage geschieht, entzückt; aber es mutet doch sehr sonderbar an,
wenn jene, die
Die Plurälität. 421
am meisten davon profitieren,
zum Schlüsse am meisten darüber schimpfen! Es mutet sonderbar
an, wenn ein Abgeordneter aus einem Lande, in dem 32.000 Ein-
wohner auf einen Abgeordneten kommen, sieh über die Ungleich-
heit beklagt, wo doeh in den industriellen Ländern 60.000 Einwohner
einen Abgeordneten zu wählen haben?
Und dann kommt ein Vertreter angeblieh agrarischer, bäuer-
licher Interessen, die gar keine agrarischen, bäuerlichen Interessen,
sondern Interessen einer bestimmten Partei, die um ihre Existenz
fürchtet, sind, und sagt, es sei wahr, in dieser Wahlkreiseinteilung
sei eine Ungleichheit gelegen, aber die „notwendige Ergänzung"
dieser Ungleichheit sei, daß man auch durch die Plurälität eine
soziale Ungleichheit hineinbringe! Man würde es doch gewiß sehr
sonderbar finden, wenn jemand einem armen Teufel
seinen Rock nimmt
und es dann als notwendige Ergänzung ansieht, ihm
auch das Hemd wegzunehmen.
Die nationale Einteilung findet vielleicht ihre Erklärung in den
Verhältnissen, die wir alle miteinander nicht ändern können. In
dieser Wahlreform, wie sie heute im allgemeinen und im einzelnen
vorliegt, steckt ein Schatz vonpersönlicher undnatio-
naler Selbstverleugnung, eine politische Arbeit, wie sie
in Österreich seit Jahrzehnten nicht geleistet wurde, sie ist das
Resultat eines Ausgleiches,
der gewiß die besten Früchte tragen muß. Nun will man aber die
Grundlagen dieses Ausgleiches erschüttern! Wenn der
Ministerpräsident heute in seiner vornehm abgetönten offiziellen
Erklärung bloß andeutete, daß der Maßstab für den nationalen Aus-
gleich durch das Pluralwahlrecht möglicherweise erschüttert
werden könnte, so heißt das in Wirklichkeit, daß jedes Abweichen
vom gleichen Recht die ersten Grundlagen des nationalen Aus-
gleiches tatsächlich bedroht. Man kann den Maßstab des nationalen
Ausgleiches nicht hinterher entfernen, ohne das Ganze zu vereiteln.
Ich unterlasse es, die Argumentation des unmittelbaren Vor-
redners für die Plurälität zu widerlegen, teils weil dies von Doktor
Kra marsch schon geschehen ist, teils weil ich es für unmöglich
halte, daß die vorgebrachten Argumente eine ernsthafte Wirkung
haben werden. Was die Pluralisten wollen, ist, als eine Einheit an-
gesehen, eine
absolute Unmöglichkeit
für die übergroße Mehrzahl auch jener Leute, die nur pluralrecht-
lichen Erwägungen zugänglich waren. Ich halte es für aus-
geschlossen, daß sich auch nur eine erhebliche Anzahl von Stimmen
für die Einführung eines Zensus finden wird, wodurch so brutal der
Grundsatz der Vorlage in sein Gegenteil verkehrt würde. Über den
Intelligenzzensus lächeln ja die Antragsteller selbst. Dieses Kompli-
ment vor der Wissenschaft wird ihnen niemand danken. Wenn man
422 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
dem Manne, der mehr weiß, mehr Rechte geben will, weil er mehr
Verdienste um die Gesamtheit hat, wieviel Stimmen müßte man
einem Rokitansky oder Billroth im Vergleich zu einem Grafen mit
einem noch so großen Grundbesitz geben? Die ungeklärten
Meinungen und die Hoffnungen mancher konzentrieren sich in der
Pluralität des Alters, des Familienstandes und der
Wohnung. Diejenigen, die glauben, daß darin eine mögliche
Form gelegen ist, in der man die Pluralität in das Gesetz einführen
könnte, gehen von der Ansicht aus, sie könnten es plausibel machen,
daß es sich hier nicht um eine Pluralität des Besitzes, sondern nur
um eine
Pluralität gewisser moralischer und intellektueller Eigenschaften
handle. Es wird erklärt, ein 35jähriger Mann sei besonnener als der
jüngere. Ich will nicht mit dem billigen Argument kommen: Alter
schützt vor Torheit nicht. Die Familienväter sollen konservativen
Anschauungen huldigen und aus diesem Grunde bevorzugt werden.
Ein Mann, der eine selbständige Wohnung hat, denke gesetzter als
ein Mann, der mit seiner Familie als Aftermieter wohnen muß. Da-
bei wird vergessen, daß ein großer Teil gerade der agrarischen Be-
völkerung, so ziemlich sämtliche Knechte, dadurch tiefer gestellt
würde als die große Mehrheit der industriellen Arbeiter, die selb-
ständige Wohnungen haben. Warum sagt man es nicht direkt,
welchen Zweck hat es, der Bevölkerung derartiges vorzutäuschen,
was doch kein Mensch glaubt? Was die Herren wollen, ist die
Pluralität des Besitzes, das Privilegium der Be-
sitzenden gegenüber dem, der ein Arbeitender ist. Wiederholt
konnte man auch hören, der Arbeiter wird auch alt, er heiratet auch,
er bekommt auch Kinder. Ja, der Arbeiter altert, und er altert
früher als alle anderen Klassen, aber er wird nicht alt. Unter
1000 Selbständigen im wahlfähigen Alter sind 800 mehr als 35 Jahre
alt und sollen eine zweite Stimme bekommen, während unter
1000 Arbeitern nur 532 aus diesem Grunde eine zweite Stimme er-
halten würden. Ganz ähnlich sind die Ziffern bezüglich der Ver-
heiratung. Auch der Arbeiter heiratet, aber viel seltener, als man
annimmt; auch er bekommt Kinder, aber sie leben nicht, sie gehen
zu einem furchtbaren Prozentsatz zugrunde; ja, auch der Arbeiter
wohnt, aber er muß einen Wucherzins für eine Wohnung bezahlen,
die man vielleicht als eine selbständige Wohnung gar nicht an-
erkennen würde. Wenn gesagt wurde, die Pluralität würde nicht
wirksam werden, so muß ich dem entgegentreten. Die Plurali-
tät des Alters und des Besitzes würde
die Arbeiterschaft furchtbar treffen.
Diese Pluralität, die nur an die Besonnenheit des Alters appel-
liert, würde den Arbeitern, welche die Gesellschaft dafür, daß sie
arbeiten, mit dem frühen Tode, mit der Kinder-
sterblichkeit, mit der erzwungenen Ehelosig-
keit, mit schlechten Wohnungen straft, in einem hohen
Grade ihr Recht nehmen. Wenn die Herren Lust haben, dieses
Die Pluralität. 423
Attentat auf das gleiche Recht zu begehen, dann mögen sie es tun.
Sie mögen es aber nicht hinter allerlei Redensarten verhehlen,
sondern offen sagen, sie wollen das gleiche Recht nicht,
sie wollen den Arbeiter unterkriegen, sie wollen
ihm selbst das bißchen Recht, das ihm die Wahl-
kreiseinteilung gelassen, verkürzen. Dann möge
man sich auch nicht wundern, wenn die Arbeiterschaft und mit ihr
alle, die für das gleiche Wahlrecht sind, eine solche Politik wahr-
haftig nicht als eine konservative anerkennen werden, denn eine
solche Politik ist eine subversive Politik, weil sie alles, was in der
Arbeiterschaft und darüber hinaus gerecht denkt, alles, was von
dem Gedanken des gleichen Rechtes heute erfüllt ist, aufwühlen
und zum äußersten Kampf führen müßte!
Es wurde auseinandergesetzt, daß
die Sozialdemokratie
so mächtig ist und so furchtbare Gefahren bringt. Man hat auch
nicht verfehlt, hinzuzufügen, daß man sich auch stark und energisch
genug fühlt, die Arbeiterschaft, wenn sie unzufrieden ist, niederzu-
treten. Hier im Ausschuß und auch sonst im Parlament laufen kleine
Bismarcks massenhaft herum: Blut und Eisen. Man möge aber
nicht vergessen, daß man mit Bajonetten verschiedenes machen
kann, sitzen kann man auf ihnen nicht. Man möge auch
nicht vergessen, daß man es nicht allein mit den Arbeitern, sondern
mit ganz gewaltigen Kreisen der Bevölkerung zu
tun hätte, die den Betreffenden sehr dafür danken würden, was sie
in Österreich angerichtet haben, wenn es ihnen gelingen würde, die
Wahlreform zu vereiteln. Denn darüber möge man sich nicht
täuschen, dieser Antrag hat nicht den Zweck, die Wahlreform zu
verbessern und sie annehmbarer zu machen, sondern er bezweckt
ausschließlich,
die Wahlreform zu vereiteln.
Er ist nichts als eine neue Form des Kampfes gegen die Wahl-
reform, ein Anschlag der Wahlrechtsfeinde. Mit dankbarer Offen-
heit, ja fast mit Naivität hat Dr. Tavcar*) dies heute vormittags ein-
gestanden: weil er glaubt, daß die Pluralität gewissermaßen eine
Dynamitpatrone sei, die er in diese Vorlage hineinstecke, ist
er für die Pluralität. Es liegt gewiß ein Widerspruch darin, daß auf
der einen Seite konservative Leute, wie der Abgeordnete Dr. Geß-
mann, Dr. Kramarsch und Dr. Locker, erklären, man brauche das
gleiche Wahlrecht im Kampfe gegen die Sozialdemokratie und daß
auf der anderen Seite Abgeordneter Kaiser sagt, um die Sozial-
demokratie umzubringen, ist die Pluralität das beste Mittel. Und
nun komme ich und schlage mich auf die Seite der einen Partei der
Feinde der Sozialdemokratie und sage: Ja, Sie haben recht, man
*) Ein slowenischer Liberaler, Abgeordneter der Stadt Laibach, der in
dem klerikalen Land Krain nur als Vertreter einer kleinen Schicht von
Bürgerlichen gewählt war und deshalb ein fanatischer Feind der Wahl-
reform.
424 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
bekämpft uns am besten mit dem gleichen Rechte. Diese Wahrheit
ist ja selbst schon auf die Ministerbank gedrungen und schon
Ministerpräsident Baron Qautsch hat erklärt: Man bekämpft die
Sozialdemokratie am erfolgreichsten, indem man ihr die wichtigste
Waffe, die
Anklage gegen den Staat,
daß die Minderbemittelten in ihrem Rechte verkürzt werden, ent-
windet. Wir liefern Ihnen diese Waffe gegen uns mit größter
Freude aus, denn wir sind überzeugt, daß, so sicher der Klassen-
kampf eine Notwendigkeit, ein Hebel der Weltgeschichte ist und
durch die Gewährung des gleichen Rechtes gewiß nicht beendet
werden wird, so sicher haben beide kämpfenden Teile, das Prole-
tariat und die besitzenden Klassen, das gemeinsame Interesse, d a ß.
der Kampf auf einem Boden, in einer Form und
unter Bedingungen geführt werde, die unserer
Natur entsprechen, und daß wir unsere Kräfte
nicht müßig verschwenden müssen wegen einer
Frage, die wir jetzt mit einem bißchen Vernunft
sofort lösen können. Glauben Sie, daß, wenn es Ihnen ge-
länge, ein Wahlrecht mit der Pluralität zu konstruieren, dies von
den Arbeitern würde ertragen werden? Glauben Sie, daß ein auf
Grund eines solchen Wahlrechtes gewähltes Parlament auch nur
einen Tag lang arbeiten könnte? Vom ersten Tage an würden die
Sozialdemokraten und mit ihnen eine ganze Reihe von
bürgerlichen Parteien den Kampf gegen dieses neue Par-
lament des
neuen und vertieften Unrechtes
mit der größten Leidenschaftlichkeit und Rücksichtslosigkeit führen.
Im Belgien hat man ja die Erfahrungen mit dem Pluralitätssystem
gemacht und dort ruht der Kampf auch heute noch nicht, trotz des
Proportionalsystems, und er wird auch nicht aufhören, ehe nicht
die Pluralität beseitigt ist. Sie können die Sozialdemokratie ein-
schätzen wie sie wollen, das eine Mal als eine wüste Horde von
Leuten, die jeder Demagogie unterworfen ist, das andere MaL
wieder als eine furchtbare, immer wachsende Gefahr; aber so stark
und so fest ist die Sozialdemokratie heute gewiß, so geweckt ist die
Arbeiterklasse sicherlich, daß dieses neue Unrecht wie eine Ver-
giftung bis in die letzte Hütte wirken und daß niemand ruhen würde,
ehe dieses neue schimpfliche Unrecht beseitigt sein wird. Wäre ich
als Sozialdemokrat ein Katastrophenpolitiker, ich könnte sagen:
Meine Herren, es ist gut. Treibt uns nur die Massen zu, reizt sie
auf und wir sind bereit, sie zu empfangen! Ihr macht agitatorische
Arbeit für uns! Wozu brauchen wir von Ort zu Ort zu gehen, wenn
wir diesen Wortbruch, diese Felonie — und der Beschluß
der Einführung des Pluralitätssystems wäre eine Felonie — in
Händen haben. Allein wir Sozialdemokraten sind keine solchen
Katastrophenpolitiker. Wir haben noch andere Dinge auf der Welt
zu verrichten, als Österreich die Bedingungen seiner politischen
Wahlkreiseinteilung in Mähren. 425
Existenz zu verschaffen^ Die Arbeit, die wir heute leisten, leisten
wir nicht für die Arbeiterklasse allein, sondern auch für den
ganzen Staat,
und sie wird gerade von denjenigen ZU vereiteln gesucht, die sich
als Staatsstützen aufspielen. Auch wir sagen, wie der Minister-
präsident, der Wahlrechtskampf muß ein Ende nehmen*), wir haben
genug, wir haben Opfer dafür gebracht, wir haben aber auch noch
andere Dinge zu tun, wir haben soziale, positive Aufgaben, wir
wollen mit Ihnen im Klassenkampf, aber in ei n e m vernünf-
tigen Klassenkampf, ringen um den sozialen F o r t-
schritt, wir wollen nicht, daß diese
Seuche des Unrechtes
weiter frißt und daß dieser Staat, an dem wir mit mehr Interesse
hängen als Sie alle, von einer Katastrophe zur anderen eilt. Wir
sind gewiß nicht eine Staatspartei in dem Sinne, daß wir eine Partei
des heutigen Staates sind; dieser Staat ist nicht danach. Aber wir
sind eine Staatspartei und dies mehr als die Parteien der bürger-
lichen Klasse in dem Sinne, daß wir ein Lebensinteresse daran
haben, daß sich der Staat, in dem wir leben, kulturell ent-
wickle und fortschreite, und daß endlich die
Grundlagen für einen politischen Frieden ge-
schaffen werden.
Sie werden die Pluralität nicht annehmen, mögen Sie auch die
Neigung dazu haben. Denn Sie haben ein solches Verantwortlich-
keitsgefühl in sich, daß Sie nicht für die Pluralität stimmen würden»
wenn Sie nicht gewiß wären, daß sie nicht an-
genommen wird. Jeder von Ihnen hat so viel Empfindung für
die Geschicke des Staates und des Volkes, daß, wenn es auf seine
Stimme ankäme, er den Staat und die Völker nicht in dieses Aben-
teuer hineinhetzen würde, dessen Konsequenzen sich nicht absehen
lassen.
Wahlkreiseinteilung in Mähren.
Ausschuß, 9. Oktober 1906**).
Abgeordneter Dr. Adler polemisiert gegen diese Ausführungen.
Abgeordneter Choc habe heute wieder einmal behauptet, daß die
Sozialdemokratie im Dienste der Regierung stehe und von ihr mit
der Wahlreform „gekauft" werde. Die Sozialdemokraten wünschen
gewiß diese Wahlreform, auch wenn sie sie nicht in allen Punkten
für das Ideal halten, und sie kämpfen mit der größten Anstrengung
für diese Reform, nicht weil durch sie das sozialdemokratische Pro-
*) Rede des Ministerpräsidenten Beck in der Ausschußsitzung vom
8. luni.
) In Mahren wurde der sogenannte „nationale Kataster" ge-
schaffen: Ganz Mähren wurde für diejenigen, die sich zur deutschen
Nation bekannten, in deutsche Wahlbezirke und für die Tschechen in
426 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
gramm vollständig erfüllt sei, sondern weil die Reform das gegen-
wärtig Erreichbare bringe. Wenn Abgeordneter Choc behauptet
habe, die sozialdemokratischen Abgeordneten hätten Jahre hindurch
nicht einmal einen Antrag auf Einführung des allgemeinen Wahl-
rechtes eingebracht, so verweise ich darauf, daß ein solcher Antrag
zu Beginn einer jeden Session von den Sozialdemokraten über-
reicht wurde und daß sie auch einen dahinzielenden Dringlichkeits-
antrag gestellt haben. Daß die Sozialdemokraten gerade jetzt den
Kampf für das allgemeine Wahlrecht mit solcher Intensität führen,
habe darin seinen Grund, daß ihnen der jetzige Zeitpunkt am ge-
eignetsten hiezu erscheint und daß es unvernünftig gewesen wäre,
die Kräfte früher, zu ungelegener Zeit, zu verbrauchen. Abgeord-
neter Choc hat auch erklärt, ich hätte durch meine Ausführungen
im Parlament die Abgeordneten „terrorisiert", indem ich „erklärt"
habe, man werde jeden für sein Verhalten in der Frage der Wahl-
reform persönlich für verantwortlich halten. Gewiß nehme jeder
Abgeordnete nicht nur seinem Gewissen gegenüber, sondern auch
gegenüber der Öffentlichkeit und der Bevölkerung durch seine
Stellungnahme zur Wahlreform eine Verantwortung auf sich und
werde auch zur Verantwortung gezogen werden.
Der Redner geht sodann zur Besprechung der Wahlkreis-
einteilung für Mähren über und führt aus, auch aus dieser Ein-
teilung gehe klar hervor, von welchen Intentionen die bürgerlichen
Parteien bei Feststellung der Wahlkreise überall geleitet gewesen
seien. Man wollte eben die Arbeiterschaft entweder in mög-
lichst wenige Bezirke zusammendrängen oder sie
so zersprengen, damit sie in agrarischen und kleinbürgerlichen
Wahlkreisen untergehen. Obwohl zu einer eingehenden Kritik ein
genaueres Studium nötig wäre, zeige sich diese Tendenz schon auf
den ersten Blick bei der Behandlung der Stadt und des Gerichts-
bezirkes Sternberg, der in der Regierungsvorlage mit Industrie-
orten, zu welchen er ja auch naturgemäß gehöre, zusammengelegt
war, während die neue Wahlkreiseinteilung diesen Bezirk z u
tschechische Wahlbezirke eingeteilt. Dadurch war eine Majorisierung
nationaler Minderheiten, die bei der gemischten Siedelung der beiden
Nationen sonst unvermeidlich war, verhindert. Darüber bestand voll-
kommene Einigung, ebenso auch über die Zahl der Mandate: 30 tschechi-
sche, 19 deutsche Wahlkreise. Auch über die Aufteilung der Wahlbezirke,
die deshalb wieder geändert werden mußte, weil ursprünglich die
Tschechen 27, die Deutschen 17 Mandate haben sollten, was aber im
Laufe der Verhandlungen eine Änderung erfahren hatte, war unter den
bürgerlichen Parteien eine Einigung erzielt worden. Nur die tschechischen
Nationalisten waren unzufrieden und der Tschechischradikale Choc be-
schwerte sich wieder über die Vergewaltigung der Tschechen und darüber,
daß sich die Sozialdemokraten von der Regierung hätten kaufen lassen.
Darauf mußte Adler antworten.
Der auf dem „Personalitätsprinzip" beruhende nationale Kataster
geht auf eine Idee zurück, die Karl Renner unter dem Namen „Synopti-
cus" zuerst gemacht hatte. Dieser nationale Kataster wurde im Jahre 1905
zum erstenmal für die Landtagswahlen in Mähren eingeführt. (Siehe
Bd. VIII, Seite 141, Note.)
Nordbahnverstaatlichung und Wahlreform. 427
O 1 in ü t z schläft, um die industrielle Arbeiterschaft Sternbergs
um einen Teil ilires Hinflusses zu bringen. Er wolle keinen Antrag
auf Änderung der Wahlkreiseiiiteilung stellen und durch seine Kon-
statierung nur verhindern, daß sich etwa der Glaube festsetze, die
Sozialdemokraten sähen nicht ganz genau, wie man in dieser Sache
verfahre. Die Sozialdemokraten werden sicherlich aus der partei-
mäßigen Wahlkreiseinteilung in allen Kronländern die Konsequenzen
ziehen und sich keineswegs schweigend in ihr Schicksal fügen.
Nordbahnverstaatlichung und Wahlreform.
Obmännerkonferenz, 19. Oktober 190 6*).
Die Polen und Tschechen irren, wenn sie vermuten, daß die
Erklärungen der Vorredner gegen die Perfektionierung der Nord-
bahnvorlage gerichtet sind. Unsere Partei ist prinzipiell für die Ver-
staatlichung der Bahnen, selbstverständlich wollen wir uns aber
jedes einzelne Geschäft anschauen. Ohne daß man auf die Nord-
bahnvorlage näher eingeht, läßt sich sagen, daß uns ein ziemlich
zweifelhaftes Geschäft vorliegt. Aber es ist wahrscheinlich, daß es
nicht zu machen, ein noch schlechteres Geschäft wäre. Daraus er-
gibt sich die praktische Haltung. Niemand denkt daran, die
*) Am 19. Oktober wurde eine Konferenz der Obmänner der parlamen-
tarischen Klubs abgehalten, weil sich die Polen und die Tschechen
darüber beschwerten, daß die Vorlage über die Verstaatlichung der Nord-
bahn, die für die tschechische Industrie wie für die galizische Landwirt-
schaft wichtig war, da die Bahn Wien mit dem mährisch-schlesischen
Kohlen- und Hüttenrevier und weiterhin mit Galizien verband, nicht endlich
im Hause erledigt werde. So wenig die Nordbahnfrage mit der Wahlreform
zu tun hatte, so hatte die Obmännerkonferenz für die Erledigung der Wahl-
reform doch eine große Bedeutung; denn nicht nur die Sozialdemokraten,
sondern auch die Jungtschechen und die Christlichsozialen benutzten das
Drängen nach der Nordbahnvorlage, um den Drängern klarzumachen,
daß wichtiger und dringender die Wahlreform sei und daß die Majorität
keine Lust habe, im Hause die Nordbahnvorlage fertigzustellen, während
im Ausschuß die Wahlreform von den polnischen Wahlreformfeinden und
von den tschechischen Radikalen, unter denen besonders der mährische
radikale Jungtscheche Dr. Stransky und der tschechische Agrarier
Zazvorka hervorragten, obstruiert werde.
In der Obmännerkonferenz verlangte Ritter v. Abrahamowicz im
Namen des Polenklubs die rasche Erledigung der Nordbahnvorlage, damit
die Frist, die mit der Nordbahngesellschaft vereinbart sei, nicht versäumt
werde. Darauf verwies Dr. G e ß m a n n im Namen der Christlichsozialen
darauf, daß man die Vorlage, die mit großkapitalistischen Interessen ver-
knüpft sei, erledigen wolle, während sich die Wahlreform alle möglichen
Verschiebungen gefallen lassen müsse. Zuerst müsse mindestens im Aus-
schuß die Wahlreform erledigt sein. Der Jungtscheche Dr. Kramarsch
wieder erklärte, es sei die verkehrteste Politik, den Tschechen gerade in
dieser Frage das Messer an den Hals zu setzen. Die Wahlreform stehe
jetzt auf dem schwierigsten Punkt und man täusche sich, wenn man
glaube, sie durch solche Mittel durchdrücken zu können. Auch hier gebe
es nur ein Kompromiß. Nun kam Dr. Adler zu Worte.
428 Der Sieg (Jus gleichen Wahlrechts.
Regierung zu zwingen, die Frist zu versäumen. Etwas anderes ist
aber die Methode der Erledigung und die Zeit, die man dafür zur
Verfügung stellt. Solange im Wahlreformausschuß eine endlose
Debatte geführt wird und die Wahlreform nicht endgültig erledigt
ist, ist es unmöglich, sich auf eine komplizierte, weittragende Ver-
handlung im Plenum einzulassen, die die Nordbahnvorlage mit sich
bringen würde. Was über die Stimmung der Bevöl-
kerung gesagt wurde, muß in der allerschärfsten
Weise unterstrichen werden. So mächtig die Interessen-
ten am Nordbahngesetz sein mögen, die Interessenten an der Wahl-
reform sind alle Völker, und ihre Geduld ist bis zum Äußersten
angespannt worden. Die Stimmung im Hause in der wichtigsten
Frage, die uns beschäftigt, läßt es absolut nicht zu, daß wir uns auf
die Nordbahndebatte einlassen. In dieser Laune wird das Weib der
Nordbahn nicht gefreit werden. Darum braucht die Verhandlung
aber nicht hinausgeschoben zu werden. Es ist nicht nötig, daß der
Wahlreformausschuß den heiligen Sabbat und den blauen Montag
feiert. Die Debatte im Ausschuß kann Anfang nächster Woche be-
endigt sein und dann mag man die Nordbahn vornehmen*).
Prestigefragen.
Ausschuß, 23. Oktober 1906**).
Abgeordneter Dr. Adler führt aus, daß sich die Diskussion
wiederholt um Dinge gedreht habe, deren politische Wichtigkeit
*) Nach Adler kam der Ministerpräsident Baron Beck zu Worte, der
ersuchte, die Nordbahnvorlage, die auf einem nationalen Kompromiß be-
ruhe, rasch fertigzustellen. Die Vorlage habe mit der Wahlreform keinen
Zusammenhang. Er habe auch die Überzeugung, daß man an den unleug-
baren Schwierigkeiten nicht scheitern werde. Er sei überzeugt, daß die
Wahlreform nicht scheitern werde, weil sie nicht schei-
tern dürfe. Adler schlug dann noch vor, so lange keine Plenar-
sitzungen abzuhalten, bis der Wahlreformausschuß seine Arbeiten be-
endet habe oder mindestens die gegenwärtigen Schwierigkeiten über-
wunden seien . . . Man einigte sich schließlich dahin, die nächste Haus-
sitzung am 24. Oktober abzuhalten, wie es die Tschechen und Polen
wünschten, aber die Entscheidung, ob die Nordbahnvorlage auf die Tages-
ordnung dieser Sitzung gesteht werde, von der „Geschäftslage des Hauses
und des Ausschusses" abhängig zu machen.
Tatsächlich kam dann im Ausschuß das Kompromiß über die „Prestige-
fragen" der Wahlreform zustande (siehe die nächste Rede, vom 23. Oktober,
über die Prestigefragen), das am 25. Oktober im Ausschuß genehmigt
wurde, und am 26. Oktober wurde im Hause die Vorlage über die Ver-
staatlichung der Nordbahn angenommen.
**) Am 29. Oktober wurde der Ausschuß mit der Wahlreform fertig.
Aber vorher hatte er noch eine schwierige Frage, eine richtige Prestige-
frage, zu erledigen.
Nachdem die Krise, die durch den Pluralitätsantrag der Wahlreform-
feinde entstanden war, beseitigt war, brach plötzlich wieder eine nationale
Prestigefragen. 489
sowohl für den Staat als auch für die Bevölkerung und die ein/einen
Nationen weit hinter der Aufregung zurückgestanden sei, die im
Ausschuß darüber herrschte. Nun sei man abermals hei einem
solchen Punkte angelangt, dessen Wichtigkeit
ganz maßlos
überschätzt werde. Die Wahlreforni ist aus einer unbedingten Not-
wendigkeit für den Staat, aus der UnerträKlichkeit des heutigen Zu-
Krisc aus, die gerade, weil es sich um keine ernste Frage handelte, so
gefährlich wurde. Der Anlaß war belanglos genug: die Deutschen er-
klärten, sie hätten der Wahlreform das Opfer gebracht, auf ihre Majorität
zu verzichten, dafür verlangten sie aber Bürgschaften, daß die
slawische Majorität nicht dazu ihre Macht mißbrauche, um die Zahl der
deutschen Mandate herabzusetzen Diese Bürgschaft sollte darin bestehen,
daß Änderungen der Wahlkreise in Zukunft nur mit Zweidrittelmehrheit
beschlossen werden könnten. In der Tat hatte Hohenlohe dies im
neuen § 42 in seine Vorschläge aufgenommen. Dieses Verlangen war an
sich ganz harmlos, aber auch überflüssig, denn jeder wußte, daß es ganz
unmöglich sei — und im österreichischen Parlament infolge der Leichtig-
keit einer Obstruktion weniger möglich als sonstwo — Wahlkreisände-
rungen gegen eine so große Nation, die überdies auch im neuen Parlament
45 Prozent aller Mandate hatte, durchzuführen. Kam es doch selbst unter
Taaffe, als der sogenannte „eiserne Ring" der mit den Klerikalen ver-
einigten Slawen herrschte, niemand in den Sinn, die deutsch-bürger-
liche Opposition auf diese Weise zu schwächen, obwohl damals die Waffe
■der Obstruktion noch nicht einmal recht bekannt war.
Aber die Jungtschechen konnten auf dieses Verlangen wieder deshalb
nicht eingehen, weil sie ihre Radikalen im Nacken hatten, die darin eine
Anerkennung der deutschen Wahlgeometrie für ewige Zeiten sahen. Die
.lungtschechen, die um der großen Vorteile willen, die das gleiche Wahl-
recht dem tschechischen Volke bot (die Zahl seiner Vertreter stieg von
60 auf 108), den Deutschen schon so viele Konzessionen gemacht hatten,
wußten, daß sie ihre Existenz als Partei gefährdeten, wenn sie den
Deutschen auch noch diese letzte Konzession machten. Und darum
sträubten sie sich mit Händen und Füßen dagegen und drohten mit Obstruk-
tion, wenn man sie überstimmen wollte. Unterstützung fanden sie in dieser
Frage nur bei den Südslawen und Ruthenen, während sich die Polen zu
den Deutschen schlugen. Die Polen, die bei der Reform durch die unge-
heuerlichste Wahlgeometrie die Ruthenen betrogen hatten, fürchteten
nämlich mehr noch als die Deutschen, daß in wenigen Jahren eine Ände-
rung der Wahlkreise eintreten könnte, und sie waren es, die insgeheim
die Deutschen hetzten, nicht nachzugeben.
Es war auf beiden Seiten ein Kampf nicht um materielle Vorteile, son-
dern einer jener für die österreichische Politik so symptomatischen
Kämpfe um die „nationale Ehre". Es war völlig gleichgültig, ob jene
Garantie der Zweidrittelmehrheit in das Gesetz aufgenommen werde oder
nicht, aber gerade darum ward der Kampf auf beiden Seiten mit größter
Leidenschaft geführt. Lange bemühte sich die Regierung vergeblich, beide
Parteien für ein Kompromiß zu gewinnen. Dieses Kompromiß sollte darin
bestehen, daß entweder die Zweidrittelmehrheit nur für 12 oder 18 Jahre
erforderlich sein solle oder daß sie durch eine Dreifünftel- oder Sieben-
430 Der Sie« des gleichen Wahlrechts.
Standes und aus dem Willen der Völker geboren. Wegen der Be-
dingungen für die Möglichkeit einer zukünftigen Änderung
will man nun die augenblickliche Notwendigkeit, allerdings
nur in Worten, in Frage stellen; denn ich glaube, daß keiner der
Abgeordneten, auch jene nicht, die diesem § 42 am allerschärfsten
widersprechen oder daraus eine conditio sine qua non machen, ernst-
lich die Eventualität in Aussicht nimmt, die Wahlreform wirklich
scheitern zu lassen! Das Argument von der Zufallsmajorität ist nicht
stichhältig, wenn man weiß, welch komplizierter Apparat dazu ge-
hört, in unserem Parlament den kleinsten und unerheblichsten An-
zwölftelmehrheit ersetzt werde oder daß die einfache Mehrheit genüge,
jedoch die Anwesenheit von zwei Dritteln oder drei Fünfteln oder sieben
Zwölfteln aller Abgeordneten erforderlich sein solle. Aber beide Parteien
wiesen diese Vorschläge entrüstet zurück. Die Frage war eine Frage der
nationalen Ehre geworden. Vergebens versuchte der Ministerpräsident
Beck, der Sache mit den taktischen Kunststücken — in denen er gerade-
zu ein Meister war — beizukommen. Die Wahlreform war wieder an
einem toten Punkt angelangt. Da die Wahlreformfreunde aller Nationen
gern Frieden geschlossen hätten, die Schwierigkeiten hauptsächlich bei
den konservativen Abgeordneten lagen, so veranlaßte Freiherr v. Beck
den Kaiser, wieder einzugreifen. So wurden denn plötzlich eines Vor-
mittags die parlamentarischen Minister zum Kaiser berufen, der ihnen
seinen Wunsch aussprach, daß die Wahlreform raschest erledigt werde,
und mit einer bei ihm ungewohnten Energie sie darauf aufmerksam
machte, daß auf Grund der geltenden Wahlordnung nicht mehr gewählt
werden könne. Der polnische Landsmannminister Graf Dzieduszycki
schilderte in den Wandelgängen des Parlaments sein Gespräch mit dem
Kaiser in seiner drolligen Weise folgendermaßen: „Da sind wir jeder auf
eine Bank gelegt worden und haben unsere fünfundzwanzig bekommen,
und damit war die Audienz vorbei." Das war am Mittwoch den
24. Oktober. Und am Donnerstag wurde mit 32 gegen 12 Stimmen der
Kompromißantrag angenommen, der von einer Zweidrittelmajorität nicht
mehr sprach, wohl aber die Anwesenheit von 343 Abgeordneten
(344 wären zwei Drittel aller Abgeordneten) zur Beschlußfassung über
die Änderung von Wahlkreisen verlangte, wobei aber das Präsidium, die
amtierenden Schriftführer und die Minister nicht zu zählen waren. Aus.
diesem lächerlichen Kompromiß ist die Natur des ganzen Streites klar
zu erkennen. Und doch war das der gefährlichste Konflikt und um ein
Haar wäre an ihm die Wahlreform gescheitert.
Aber am 23. Oktober, als Adler im Ausschuß zu Worte kam, war die
Sache noch sehr gefährlich, wenn die Stimmung auch schon im Abflauen,
war. Der erste Redner war der Abgeordnete Schusterschitz, der
erklärte, daß die Sache leider eine Prestigefrage geworden sei. Infolge-
dessen sei die Stellungnahme für die Slowenen von selbst gegeben; sie
würden in der Frage der Zweidrittelmajorität mit den Tschechen stehen
und fallen. Aber er trat doch in sehr eindringlichen Worten für die zwin-
gende Notwendigkeit ein, eine Formel zu finden, durch deren Annahme
der Streit so beigelegt werde, daß es weder Sieger noch Besiegte gäbe.
Er deutete an, daß die Lösung darin liegen werde, an Stelle der quali-
fizierten Majorität die qualifizierte Präsenzziffer zu setzen. Dann kam
Dr. Adler zu Wort.
Prestigefragen. 431
trag durchzusetzen. Worte wie Überrumpelung usw. sind nichts
anderes als
rhetorische Übertreibungen,
die geeignet sind, in weiten Kreisen der Bevölkerung falsche Vor-
stellungen zu erwecken. Zum Glücke ist es nicht gelungen, die
Massen wegen dieser Forderung in Aufregung zu versetzen, sondern
die Debatte, die wir hier führen, erregt bei dem größten Teile der
Bevölkerung nur das Gefühl der maßlosesten Verwunde-
rung und einer nicht mehr zurückzuhaltenden Un-
geduld, weil man sich hier wegen einer Bagatelle streitet und das
Fertigstellen der Wahlreform verzögert. Bei diesem Anlaß sei auch
festgestellt, daß es ein schwerer Irrtum des Abgeordneten Doktor
Stransky*) ist, wenn er annimmt, die tschechischen Sozialdemokraten
würden es billigen oder auch nur ruhig hinnehmen, wenn die Wahl-
reform wegen der Zweidrittelmajorität vereitelt würde. Dafür, daß
das Gegenteil richtig ist, und daß in der Entschlossenheit, für die
Wahlreform einzutreten, kein Unterschied zwischen tschechischen
und deutschen Sozialdemokraten besteht, dafür hat Herr Doktor
Stransky heute schon einige Beweise. (Zwischenruf des Abgeord-
neten C h o c ; Abgeordneter Zazvorka**): Weil sie sich von Wien
kommandieren lassen!) Sie haben von Ihren Nationsgenossen, den
tschechischen Arbeitern, die sehr selbständige Leute sind, eine sehr
falsche Anschauung, wenn Sie wirklich meinen, sie würden eine Be-
einflussung von irgendeiner Seite dulden. (Abgeordneter Choc:
Das haben wir ihnen immer vorgeworfen.) Eine falsche Behauptung
wird dadurch nicht zur Wahrheit, daß man sie oft wiederholt.
Der nationale Besitzstand der Deutschen und Polen ist durchaus
nicht in den Ziffern fixiert, die jetzt durch die Zweidrittel- oder eine
andere qualifizierte Majorität gesichert werden sollen. Es ist nicht
wahr, daß der nationale Besitzstand der Deutschen der einfachen
Majorität preisgegeben ist. Der wichtigste ziffermäßige Inhalt des
nationalen Besitzstandes der Deutschen liegt nicht in der Einteilung
der Wahlkreise, sondern in der Verteilung der Mandate
auf die Länder. Man möge auch nicht vergessen, daß der Aus-
schuß nicht allein und nicht in erster Linie um die Verteilung der
Mandate innerhalb eines Kronlandes, sondern um das Verhältnis der
Gesamtzahlen der Mandate der einzelnen Nationen zueinander zu
kämpfen hatte. Dieses Verhältnis ist aber im § 6 des Staatsgrund-
gesetzes festgestellt, der an und für sich schon durch die Zwei-
drittelmajorität gesichert erscheint. Es berührt deshalb jeden, der
die Sache einigermaßen ruhig ansieht, eigentümlich, daß man auf
beiden Seiten die Sicherung des nationalen Besitzstandes und die
*) Dr. Stransky hatte in seiner Rede im Ausschuß behauptet, daß die
tschechischen Sozialdemokraten auf seiner Seite stünden, und als diese
deutlich erklärten, daß sie seine nationalistischen Treibereien gegen die
Wahlreform nicht unterstützen, und auch eine Demonstration gegen ihn
veranstalteten, warf er ihnen später wieder vor, daß sie Terrorismus üben
und dem deutschen Diktat gehorchen.
'*) Zazvorka war ein tscheschischer Agrarier.
432 Der Sietf des gleichen Wahlrechts.
eventuelle Möglichkeit, diesen Besitzstand abzuändern, an einem
Orte sucht, wo der Schwerpunkt gar nicht liegt. Nach-
dem die Verteilung der Mandate nach Kronländern bereits fest-
gestellt und das Präzipuum der Deutschen und Polen in dieser
Mandatsverteilung auf die Kronländer sichergestellt ist, kann man
jetzt nicht aus einer Frage einen Kriegsfall und einen Ehrenpunkt
machen, die in zweiter Linie steht, nämlich aus der Sicherung der
Wahlkreiseinteilung innerhalb der einzelnen Kronländer. Man legt
darauf einen großen Wert, obwohl man sehr gut weiß, daß auch
diese Festlegung keiner mechanischen Sicherung bedarf. Ich glaube,
die Ausschußmitglieder leiden sämtlich an einer unmäßigen Über-
schätzung des Wertes der einfachen mechanischen Ziffern. Es ist
nicht richtig, daß sich die politische Macht einer Partei oder eines
Volkes an diese Ziffern so bindet, wie hier angenommen wird. Es
ist auch nicht richtig, daß diese Ziffern mit der politischen Macht
des deutschen oder tschechischen Volkes so wesentlich zusammen-
hängen, daß die Macht der einen Nation dadurch ins Ungemessene
erhöht, die der anderen Nation vernichtet oder erheblich vermindert
wird, wenn das eine Volk um drei Mandate mehr, das andere um
drei Mandate weniger bekommt. Die heute bestehende Wahlordnung
ist durch alle möglichen mechanischen Schutzmaßregeln gesichert
und liegt heute dennoch in Trümmern. Umgekehrt war bisher die
Wahlkreiseinteilung nur unter die einfache Majorität gestellt und
trotzdem ist es niemand eingefallen, eine Abänderung zu versuchen,
und wenn einmal ein ernster Versuch gemacht wurde, wie im Jahre
1893, ist er trotz der einfachen Majorität nicht gelungen. Denn die
politische Entwicklung der Bevölkerung
ist das Entscheidende, ob eine Einrichtung befestigt oder beseitigt
werden soll, wenn sie obsolet geworden ist. Auch diese Wahlreform
wird gemacht werden müssen, nicht weil eine Zweidrittelmajorität
im Hause, sondern weil eine Zweidrittelmajorität in der
Bevölkerung dafür vorhanden ist. Eine Änderung der jetzt zu
beschließenden Wahlordnung wird erst dann wieder möglich sein,
wenn die wirklichen Machtverhältnisse zwischen den Völkern ver-
schoben, die Entwicklung der Kultur eine derartige sein wird, daß
die bestehenden Zustände unerträglich erscheinen und durch neue
abgelöst werden müssen. Es scheint mir, daß die Luft im Wahl-
reformausschuß stark von dem beeinflußt ist, was Karl Marx als
„p arlamentarischen Kretinismus" bezeichnete, ohne
damit selbstverständlich die einzelnen Abgeordneten, sondern nur
die eigentümliche, in den Parlamenten entwickelte
Wahnvorstellung
zu meinen, daß das Parlament nicht bloß der Exponent, sondernder
Beweger der Dinge im letzten Ende sei. Wenn die Sozialdemo-
kraten der Wahlreform unbedingt zum Durchbruch verhelfen wollen,
so bedeutet das nicht, daß sie sie für tadellos halten. Sie wissen, daß
einer der Hauptmängel in der Verteilung der Mandate liegt, die sich
allerdings an die bestehenden nationalen Verhältnisse mit Not-
Prestigefragen. 433
wendigkeit anpassen muß, und obwohl die Wahlkreiseinteilung mit
allem Raffinement der Wahlgeometrie gegen die Arbeiterschaft ge-
macht wurde, weiß diese doch, daß es notwendig sei, den Schritt,
der in der Wahlreform liegt, jetzt zu machen und dasjenige zu rea-
lisieren und gesetzgeberisch festzulegen, was sich als Ergebnis der
großen politischen Umwälzungen, in welchen wir in den allerletzten
Jahren leben, darstellt. Speziell in Niederösterreich, Böhmen und
Mähren hat die Wahlgeometrie gegen die Sozialdemokraten wahre
Orgien gefeiert und deswegen kann man von unserer Partei nicht
verlangen, daß sie noch außerdem Schutzmaßregeln zu treffen hilft,
damit Änderungen dieser Wahlkreiseinteilung nicht möglich sein
sollen. Ich werde daher als Vertreter der Sozialdemokraten im Aus-
schuß auch gegen die Sicherung der Wahlkreiseinteilung durch eine
Qualifizierte Majorität stimmen. Die Sozialdemokraten verkennen
aber nicht, daß das Bestehen oder Nichtbestehen dieser sogenannten
Schutzmaßregel eine Sache von untergeordneter Wichtigkeit sei, und
erklären, daß sie sich als Partei für das Plenum
vollständig freie Hand
wahren wollen und werden, um einen günstigen Abschluß der Wahl-
reform zu fördern und zu sichern. Die Sozialdemokraten stehen auf
dem Standpunkt: die geforderten Schutzmaßnahmen sind ebenso
überflüssig wie schädlich, ihre Schädlichkeit aber ist so gering und
so wenig aktuell, daß sie nicht in Betracht kommt, wenn es sich
darum handelt, das Zustandekommen der Wahlreform zu sichern.
Der Ausschuß hat einfach die Aufgabe, eine Formel zu finden,
die den Ehrenpunkt beseitigt.
Man sollte meinen, daß auch nationale Parteien so vernünftig
seien (Widerspruch bei den Tschechischradikalen. — Abgeordneter
Zazvorka: Nehmen Sie sich in acht, wir lassen uns hier nicht
beleidigen! Sie haben die Vernunft nicht gepachtet!) und die tat-
sächlichen Verhältnisse so ansehen könnten, wie sie in Wirklichkeit
liegen. Diese Parteien sind durchaus nicht gezwungen, sich fort-
während auf falsche Wertungen einzulassen und sich durch diese
falschen Wertungen zu ihrem eigenen Schaden geradezu selbst zu
täuschen. Sowohl die Tschechen wie die Deutschen übertreiben maß-
los die Wichtigkeit der Frage
zum Schaden ihres eigenen Volkes
und sie sind auf dem besten Wege, sich durch diese Übertreibungen
enorm zu schädigen. Fs wäre hoch an der Zeit, daß endlich die klare
Einsicht in die politische Notwendigkeit die Oberhand gewinnen
würde. Wir haben noch eine lange Debatte und mithin eine große
Spanne Zeit vor uns, die bei diesem Punkte hier rettungslos geopfert
wird. Allein ich darf die Hoffnung aussprechen, daß das, was ein
Gebot der Notwendigkeit und der politischen Vernunft ist, daß man
nämlich wirkliche Vorteile nicht eingebildeten Dingen opfert, auch
hier in diesem Ausschuß bei dieser Frage zum Durchbruch kommen
wird.
Adler, Bride. X. Bd. 28
434 Der Sie^ des gleichen Wahlrechts.
Schutz der Wahlfreiheit.
Ausschuß, 5. November 190 6*).
Abgeordneter Dr. Adler erklärt es für selbstverständlich, daß
auch seiner Partei daran gelegen ist, daß der Wille der Wähler-
schaft vor Vergewaltigungen geschützt wird. Allzuviel erwarte er
allerdings von strafgesetzlichen Bestimmungen nicht. Das Wich-
tigste, was geschehen konnte, um Delikte zu vermeiden, sei durch
die Wahlreform geschehen; denn dadurch, daß jedem das
gleiche Recht gegeben wird, wurde die Achtung
vor dem Rechte desanderen am meisten gefördert
und gefestigt. Die Delikte, um welche es sich bei Wahlen
handelt, sind aber solche, bei denen die wirtschaftlich Schwachen
viel häufiger Objekt als Subjekt des Deliktes sind. Die Fälle aber,
in denen die wirtschaftlich Schwachen Objekt des Deliktes sind,
kommen in den allerseltensten Fällen zur Anzeige, geschweige denn
zur Verfolgung oder zur Bestrafung, während jene Fälle, in denen
die wirtschaftlich Schwachen selbst gegen das Gesetz verstoßen,
sehr häufig zur Anzeige und zur Bestrafung gelangen. Darin liegt
etwas Bedenkliches. Ich spreche nicht gegen das Gesetz;
ich akzeptiere es im großen und ganzen, wenn ich auch manche
Bestimmungen für zu kautschukartig, andere für zu eng
halte. Das Bedenken aber kann ich nicht unterdrücken, daß jede
Pression in Wahlangelegenheiten, die an dem wirtschaftlich
Schwachen immer verübt worden ist und verübt werden wird, in
den allermeisten Fällen der Anzeige und um so mehr der Be-
strafung entgehen wird. Die Wahlbeeinflussungen, mit denen in
vielen Fällen die Unternehmer gegen die von ihnen wirtschaftlich
Abhängigen vorgegangen sind, sind sehr arger Natur, ein großer
Teil dieser Beeinflussungen wird aber jetzt durch die einfache Tat-
sache wegfallen, daß die Wahlen direkt und geheim
sein werden. Es wird schwerlich dazu kommen, daß ein
Arbeiter seinen Unternehmer wegen Wahlbeeinflussung anzeigt, es
wird insbesondere niemals dazu kommen, daß eine öffentliche Be-
hörde oder eine Gemeinde, die zugleich über ein Unternehmen ver-
fügt, von einem Angestellten wegen Wahlbeeinflussung angezeigt
wird. Andererseits aber werden die Fälle gewiß häufig sein, in denen
die Unternehmer jede starke Agitation als eine Wahlbeeinflussung
zur Anzeige bringen und die Bestrafung der dieser Delikte Be-
schuldigten durchsetzen werden.
Eine andere Gefahr des Gesetzentwurfes liegt darin, daß der
Mißbrauch der Amtsgewalt,
der allerdings im Strafgesetz bereits mit sehr scharfen Strafen be-
droht ist, darin völlig unerwähnt gelassen wurde. Man kann alle
*) Dem Wahlreformausschuß war außer der eigentlichen Wahlreform
auch das Wahlschutzgesetz zugewiesen worden. Als es am 5. November
zur Verhandlung im Ausschuß kam, legte Dr. Adler die prinzipielle Stellung
dazu dar.
Schutz der Walillmhcit. 435
Achtung vor der Legalität tmcl dem Pflichteifer der Beamten haben,
aber 111:111 kann doch nicht deshalb so weit gehen, daß man den
Mißbrauch der Amtsgewall für ein so großes Delikt hält, daß es
Überhaupt gar nicht vorkommt, und daß man es deshalb in diesem
Gesetzentwurf gar nicht erwähnt. Es wäre von großem Wert, wenn
dieser spezielle Fall des Mißbrauches der Amtsgewalt durch Auf-
nahme in den Entwurf in den Bereich der realen Möglichkeiten und
der Bestrafung gestellt würde, wenn dies auch nur dadurch ge-
schehen würde, daß von dem Mißbrauch der Amtsgewalt gesagt
wird, daß er nicht nach diesem Gesetz, sondern nach dem all-
gemeinen Strafgesetz zu bestrafen ist. Je mehr man eine erziehe-
rische Wirkung von diesem Gesetzentwurf erwartet, um so not-
wendiger wird es sein, auch dem Beamten und dem amtlichen
Funktionär, der bei Wahlen beteiligt ist, das Bewußtsein einzu-
prägen, daß ein Delikt gegen die Wahlordnung und
gegen das Recht der Wähler ein ebensolcher Miß-
brauch der Amtsgewalt ist wie jeder andere.
Das Wählen im Auftrag.
Der Redner bespricht auch jenen so verbreiteten Wahlmiß-
brauch, der wohl am allermeisten vorkommt, jene Form des Wahl-
betruges nämlich, bei welchem jemand für einen anderen wählen
geht. Eine große Anzahl der Fälle, die zur Abstrafung gekommen
sind, haben sich in Wien ereignet. Dabei wurde auch eine Anzahl
Sozialdemokraten gestraft und er lege deshalb den größten Wert
darauf, sich darüber mit der größten Offenheit zu äußern. Selbst-
verständlich könne niemand billigen oder entschuldigen, wenn je-
mand für einen anderen wählt. Es ist ein solcher Vorgang im
Gegenteil auf das allerschärfste zu verurteilen. Ein großer Teil der
Wiener Wählerschaft aber befindet sich in der Stimmung und hat
die Überzeugung, daß ihr schon bei der Anlegung der
Wählerlisten und beim Hergang der Wahl ein
schweres Unrecht geschehen ist. Ob diese Meinung
berechtigt sei oder nicht, darüber wolle er jetzt nicht streiten, aber
bei der Beurteilung dieser Vorkommnisse spielt das mit. Es
ist aber außerdem ein wichtiger Unterschied festzuhalten. Wenn
sich jemand Legitimationen von Leuten verschafft, die er nicht
kennt, und sie ohne ihre Zustimmung und geradezu gegen ihren
Willen benützt und die Stimmen in einer Richtung für sie abgeben
läßt, die diese Leute am schärfsten perhorreszieren, so ist das ent-
schieden ein Wahlbetrug in ausgesprochenem Sinne des Wortes.
Es gibt aber Leute, die verhindert sind, zur Wahl zu gehen
und für die nun andere — auch das sei ja gewiß illegal und straf-
bar — unter Benützung der Legitimation wählen. Indem sie dies
tun, vereiteln sie nicht den Willen des anderen, sie führen ihn viel-
mehr aus und in sehr vielen Fällen befinden sie sich in dem guten
Glauben, daß sie, obwohl sie gegen das Gesetz verstoßen, doch
die Tendenz des Gesetzes und den Willen des Wählers gegenüber
Machinationen, denen sie sonst nicht gewachsen sind, zur Geltung
bringen. Der Redner sei überzeugt, daß auch dieses Delikt, das
28*
436 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
moralisch schwächste, von dem überhaupt die Rede sein könne,
nicht mehr in dem Maße vorkommen wird wie bisher, weil das
Bewußtsein, das gleiche Recht zu haben wie der
andere, vorwalten wird. Wenn der Abgeordnete Abra-
hamowiez von einem Schutze der Kandidaten sprach, so
glaube er, der gerade in bezug auf das Kandidieren eine sehr große
Erfahrung habe, daß es eines solchen Schutzes nicht bedürfe. Ein
solch besonderer Schutz liege aber auch gewiß nicht darin, wenn
dem Kandidaten das Recht eingeräumt wird, anstatt auf Grund des
Strafgesetzes auf Grund des Wahlgesetzes zu klagen. Wohl aber
befürchte Redner, daß die Gefahr vergrößert wird, was durch den
Gesetzentwurf überhaupt heraufbeschworen wird, daß die Wahl-
agitation allzusehr behindert wird. Seine Partei aber
wünsche nicht, daran behindert zu werden, die Wahrheit auch über
die Kandidaten zu sagen. Der Redner wendet sich schließlich
gegen die Einsetzung eines Subkomitees, da die Übersichtlichkeit
des Gesetzentwurfes und der Umstand, daß alle Parteien in
gleichem Maße daran interessiert sind, eine Verhandlung im Voll-
ausschuß empfehlen.
Immer neue Ränke.
Zweite Lesung der Wahlreform,
8. November 190 6*).
Es sind jetzt dreizehn Monate her, daß hier Dringlichkeitsanträge
über das allgemeine, gleiche Wahlrecht beraten wurden. Im Ver-
lauf dieser dreizehn Monate hat das allgemeine Wahlrecht den Weg
von einer akademischen Demonstration der Majorität des Hauses
für das Prinzip zu seiner Verwirklichung zurückgelegt. Heute stehen
wir nicht mehr vor einer bloßen Forderung der breiten Massen, ja
nicht einmal mehr vor einer Vorlage, die dies Produkt der Ver-
zweiflung der Herrschenden ist, der Verzweiflung an dem Bestand
und der Existenzmöglichkeit Österreichs unter den alten Bedin-
gungen, heute stehen wir vor einem Werke, das das gemeinsame
Arbeitsprodukt aller großen Parteien dieses Hauses ist. Das ist
*) Am 30. Oktober war der Wahlreformausschuß mit dem Gesetz fertig
geworden. Aber noch immer drohte die Gefahr der Obstruktion im Parla-
ment. Also mußte auch dafür vorgesorgt werden, und im Namen der Wahl-
reformparteien brachte Dr. Geßmann am 31. Oktober im Hause einen
Dringlichkeitsantrag ein, daß der Bericht des Ausschusses sofort in Ver-
handlung gezogen werden solle. Wie wichtig das war, geht daraus hervor,
daß zwanzig Abgeordnete — die Tschechischradikalen, die slowenischen
Liberalen und Sternberg — bereits Obstruktionsanträge zur Verhinderung
der Beratung der Wahlreform eingebracht hatten. Sie waren allerdings zu
spät gekommen. Am 5. November kam der Dringlichkeitsantrag Geßmanns
zur Verhandlung. Trotz der Krawalle der Alldeutschen, unter denen be-
sonders Schönerer einen förmlichen Anfall erlitt, wurde in der nächsten
Sitzung am 7. November die Dringlichkeit, das heißt die sofortige Ver-
handlung des Berichtes des Ausschusses, also die Vornahme der zweiten
Immer neue Ränke. 4.J7
nicht mehr und Ich Sage das mit aller Schärfe, um die Verant-
wortlichkeiten sowohl in positiver als mich in negativer Beziehung
abzugrenzen das allgemeine Wahlrecht, wie es die Förderung
der Sozialdemokraten war und ist, sondern
diese Vorlage ist Ihr Werk,
und eingegraben sind diesem Werke ebensowohl der politische
Fortschritt, den diese Parteien im Verlauf dieses Jahres gemacht
haben, als alle Rückständigkeiten der politischen Einsicht, die diesen
Parteien anhaften. Die gestrige Abstimmung war eine historische
in dein Sinne, daß das Parlament, man kann sagen zu seiner Gänze,
sich als Träger dieser Reform erklärt hat. Die Sozialdemokraten
sehen diese Entwicklung mit stolzer Genugtuung, denn sie waren
die Fahnenträger des gleichen Rechtes zu einer Zeit, wo es noch
als Wahnsinn galt, vielleicht als menschenfreundliche, ideologische
Verirrung politischer Phantasten. (Sehr gut!) In diese Genugtuung
mischt sich aber gar nichts von der Torheit, zu meinen, daß allein
die Arbeiterklasse und ihre Notwendigkeiten die Wahlreform zum
Siege getragen haben. Die politische Notwendigkeit für die Arbeiter-
klasse ist zum Siege gelangt, weil sie zugleich die Notwendigkeit
dieses Staates und aller Völker ist. Nichts ist törichter als das
Gerede, das wir in diesem Jahre so oft gehört haben, das Gerede
von dem
Terrorisnius von unten
und neuerdings auch von der
Einschüchterung von oben»
Von der sehr feinen, höchst aristokratischen Minorität — es
sind allerdings unter den Gegnern auch einige Elemente, die wohl
nur so viel Ahnen zählen, als die tollwütige Demagogie in allen
politischen Dingen Ahnen zählt — wird mit Hohn gesagt, die
Regierung habe sich vor der Straße gebeugt, und auf der anderen
Seite wird allen Freunden der Wahlreform gesagt, sie seien die
Sklaven der Dynastie.
Abgeordneter Seitz: Bezahlt!
Abgeordneter Dr. Adler: Von dem Delirium, das wir gestern
vernommen haben, lassen Sie mich schweigen. Es ist unter unserer
Lesung mit weit mehr als der erforderlichen Zweidrittelmehrheit, nämlich
mit 227 .^egen 46 Stimmen beschlossen. Noch am 7. November begann die
zweite Lesung. Die Generaldebatte füllte die drei Sitzungen vom 8., 9. und
12. November aus, die Spezialdebatte fünfzehn Sitzungen, sie begann am
13. November und endete am 1. Dezember.
Am 8. November kam auch Adler zu Wort. Nach ihm sprach unter
anderen der Tiroler Klerikale, Pfarrer Schrott, der eigentliche Erfinder
des von Tollinger eingebrachten Pluralitätsantrages; dann Weis-
kirchner, der die Pluralität ablehnte. Vergebens appellierte nochmals der
Ministerpräsident Beck an die Großgrundbesitzer, worauf Stürgkh
noch einmal ankündigte, daß die Großgrundbesitzer für die Pluralität und
in der dritten Lesung gegen die Wahlreform stimmen würden.
t$8 Der Sietf des gleichen Wahlrechts.
Würde, auf Exzesse einzusehen, die von einzelnen Desperados
besangen werden, die keine politische Zukunft haben und denen
mehr um ihre persönliche Zukunft bange ist... Aber ist es nicht
Torheit, zu meinen, daß die Massen oder die Krone terrorisiert
hatten? Die Massen, die Krone und jene ungeheure Mehrheit der
großen Parteien, die sich gestern gezeigt hat, unterliegen alle einem
und demselben Zwange. Meinen Sie, daß die Krone, die Regierungen
sich einer demokratischen Politik freiwillig gebeugt haben, daß sie
nicht Vertrauen in ihre Kanonen haben? Aber sie sind endlich so
klug geworden — es ist unbegreiflich, daß, wenn man einmal oben
klug geworden ist, es noch immer Leute gibt, die hinter dieser
Klugheit böse Absichten vermuten — , nun sind sie klug geworden,
daß sie einsehen,
mit Kanonen läßt sich die Sache nicht machen.
Dieselbe Notwendigkeit, die die Arbeiterklasse in den Kampf
für das Wahlrecht gezwungen hat. die die Krone und die Regierung
in diesen Kampf gezwungen hat, ist es, die gestern dieses Haus zu
einem Träger des allgemeinen Wahlrechtes gemacht hat. Das ist
kein Druck von unten, das ist kein Druck von oben, das ist die
innere Logik und Notwendigkeit der Dinge. Was wir für uns in
Anspruch nehmen, ist nichts, als daß wir diese Notwendigkeit früher
erkannt und mutig und opferfähig verfochten haben.
Für das vorliegende Gesetz im einzelnen müssen wir die Ver-
antwortung ablehnen. Eine Reihe von Mängeln haftet dem Gesetz
an, die nur zum Teil der traurigen Notwendigkeit der österreichi-
schen Verhältnisse entspringen, zum anderen Teile aber der Rück-
ständigkeit und Furchtsamkeit und zum Teil auch der dünkelhaften
Präpotenz einzelner Abgeordneten.
Wir haben nun ein allgemeines Wahlrecht. Aber können wir das
ein allgemeines Wahlrecht nennen, solange die Hälfte der Bevölke-
rung ausgeschlossen bleibt? Wir verfechten mit allem Ernst und
allem Nachdruck
das Recht der Frau auf politische Vertretung
(Beifall), auch wrenn wir wissen, daß Österreich noch nicht so weit
ist, daß Aussicht wräre, daß dieses Recht Anerkennung findet. Wir
verfechten dieses Recht durchaus nicht im Sinne jener Herren, die
es wieder bloß für einzelne privilegierte Schichten in Anspruch
nehmen, bloß für die sogenannten erwerbenden Frauen, womit nur
gewisse Berufe gemeint sind, während sie der breiten Schichten des
arbeitenden weiblichen Proletariats, die in derselben Mühsal und
mit vermehrten Opfern und Schwierigkeiten im Dienste der Arbeit
stehen, die mehr als die Männer ausgebeutet werden und denen
mehr Lasten obliegen als den Männern, vollständig vergessen. So-
lange nicht die Frauen das Wahlrecht haben, besteht kein all-
gemeines Wahlrecht, und wir werden niemals aufhören, für das
Frauenwahlrecht einzutreten. Wir glauben sogar, daß die Bedin-
gungen dafür erst geschaffen sein werden, wenn das allgemeine,
Immer neue Ränke. l ''''
gleiche und direkte Wahlrecht für die Männer wenigstens verwirk-
licht ist (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten«)
Aber auch für die Männer wird kein allgemeines Wahlrecht ein-
geführt und ich wiederhole den Protest gegen die Einschränkung
des Wahlrechtes durch die
einjährige Seßhaftigkeit.
Ich weiß, auch die einjährige Seßhaftigkeit ist ein Kompromiß,
wie ja die ganze Vorlage ein Kompromiß ist zwischen der politischen
Vernunft und den österreichischen Verhältnissen. (Heiterkeit und
Beifall.) Schon diese einjährige Seßhaftigkeit ist eine Konzession
an die Vernunft; aber was man zur Begründung der einjährigen
Seßhaftigkeit vorgebracht hat, hat sich als ganz unstichhältig er-
wiesen. Der einzige Grund, den man vorbringen konnte, ist der von
der technischen Notwendigkeit bei der Anlegung der Wählerlisten.
Aber jeder Fachmann weiß, daß je komplizierter die Bedingungen
des Wahlrechtes gestaltet werden, um so schwerer die Verfassung
der Wählerliste ist. Die Wahrheit ist, daß man einem Teile der
arbeitenden Klassen dadurch das Wahlrecht nehmen will.
Ich komme nun zu dem Gebiet, das den Ausschuß am meisten
in Anspruch genommen hat. Der Wahlreformausschwß hat eine
politische Arbeit geleistet, die gewiß alle Anerkennung verdient.
Ich kann das sagen, denn an den größten Schwierigkeiten waren ich
und meine Partei nicht beteiligt. Er hat die ungeheure Schwierig-
keit gelöst, das nationale Kräfteverhältnis zu konstatieren und in
Mandatsziffern zu fixieren. Ich bin weit entfernt, zu behaupten, daß
diese Arbeit in einwandfreier Weise geleistet wurde. Im Gegenteil,
ich habe die Überzeugung, daß in einzelnen Fällen
ein schweres Unrecht verübt wurde.
Das politische Ideal der Zuweisung der Mandate nach der
Kopfzahl ist in Österreich heute eine unmögliche Sache. Darüber
geben wir uns keiner Täuschung hin. Aber wer das allgemeine
Wahlrecht will, kann es nur unter Berücksichtigung der be-
stehenden politischen Verhältnisse durchzusetzen trachten. Es ist
ganz ausgeschlossen, daß bei der bestehenden Verteilung der
politischen Macht jenes Ideal durchzusetzen war, das den be-
stehenden Machtverhältnissen so sehr widerspricht. Es ist gewiß
das erstrebenswerte Ideal, daß alle Nationen über die gleiche
politische Macht verfügen; aber solange das nicht der Fall ist,
ist die Verteilung der Mandate nach der Kopfzahl ein politisches
Ideal, das der
Notwendigkeit, heute die Wahlreform zu schaffen,
unterzuordnen ist. Das hat der Ausschuß auch getan. Er hat
Schritt für Schritt, unter den furchtbarsten Kämpfen, immer
begleitet von den hinterlistigen Komplotten jener, die unter dem
Vorwand der nationalen Schwierigkeiten die Wahlreform über-
haupt vereiteln wollten, und von der Gefahr, in die listigen Schlingen
zu geraten, die diese Übernationalen und Überdemokraten legten,
es vollbracht, zu einer Feststellung zu gelangen. Wir können diese
440 Der Sieg des Kleichen Wahlrechts.
__ ___ 0
Feststellung im einzelnen nicht billigen, aber wer die Wahlreform
will, muß alles anerkennen, was ein wirkliches Kompromiß zwischen
den Völkern ist. Neben den Kompromissen aber sind auch Dinge
hergegangen, die — das muß offen anerkannt werden — nur als
Vergewaltigung bezeichnet werden können. Auch diese Wahlreform,
sosehr sie für alle Völker ein erlösendes Werk ist, ist nicht frei
von den Spuren der Vergewaltigung der Völker. Da spreche ich
besonders von dem politisch schwächsten der Völker, von den
Ruthenen. Es ist ganz sicher, daß das ein Fleck auf der Wahlreform
ist. Alle
Ausnahmsbestimmungen für Galizien
bedeuten ebenso viele Vergewaltigungen am ruthenischen Volks-
stamm. (Beifall.) Es wäre aber eine Torheit, wenn man aus Ab-
neigung gegen diese Vergewaltigung, aus dem Wunsche, den
Ruthenen ihr volles Recht zu verschaffen, den Ruthenen und auch
allen anderen Völkern gar kein Recht geben würde. (Beifall.) Ich
habe unseren ruthenischen Kollegen keine Ratschläge zu geben,
aber ich möchte ihnen wohl sagen, daß sie niemand einen
größeren Gefallen tun könnten, wenn sie sich den Wahlrechtsfeinden
anschließen aus berechtigtem Ingrimm über die ihnen angetane Ver-
gewaltigung, als den Erzfeinden ihres Volkes und aller Völker.
(Beifall.) Mögen die Ruthenen nicht vergessen, daß diese Wahl-
reform selbst in der heutigen Gestalt erst die Möglichkeit, der Aus-
gangspunkt ist für eine Reorganisation, eine politische Entwicklung
des ruthenischen Volkes! Man möge nicht allzu sanguinisch denken,
eine andere Wahlreform müsse für die Ruthenen besser sein.
Wer weiß, wann wieder der nächste Anfall von politischer Ver-
nunft in Österreich sein wird? (Heiterkeit und Beifall.) Dazwischen
kann ein Meer von Elend und das Zugrundegehen vieler Kultur-
hoffnungen liegen. Wem verdanken Sie denn Ihre heutige Ver-
gewaltigung? Wrem sonst als den ungünstigen Machtverhältnissen,
als Ihrer politischen Schwäche. Glauben Sie aber, daß Sie in einem
halben Jahre oder in zwei Jahren eine größere politische Macht
haben werden? Und würde irgendein Parlament oder eine Macht,
die eine andere Wahlreform oktroyieren würde, mit etwas anderem
rechnen als mit der wirklichen politischen Macht, die Sie dann
ebensowenig haben werden wie jetzt? Dasselbe gilt auch von den
anderen Völkern, die sich benachteiligt fühlen. So benachteiligt ist
kein Volk durch die Verteilung der Mandate, daß es nicht trotzdem
aus dieser Wahlreform eine Quelle reicher Entwicklung und
Lebensfähigkeit schöpfen könnte. Allein schon das direkte und
geheime Wahlrecht unter Wegfall der Kurien schafft eine Quelle
von Mißbräuchen und die Möglichkeit galizischer Wahlen in sehr
hohem Maße aus der Welt.
Die ganze Debatte im Wahlreformausschuß haben nationale
Schlagworte beherrscht. Bei der Verteilung der Mandate innerhalb
eines Volkes aber
entschied ausschließlich das Klasseninteresse.
Immer neu« Ränke. 441
Wir haben wohl gewußt, daß es uns gelingen kann, den stein ins
Rollen zu bringen; wir haben gewußt, wie weit unsere politische
Macht reicht, und deshalb haben wir auch gewußt, daß wir dann,
wenn es sich um die Einzelheiten handeln wird, auf den nicht sehr
eilten Willen derer angewiesen sein werden, die heute im Parla-
ment die Macht in der Hand haben werden. Die Wahlbezirke wur-
den ganz rücksichtslos nach dem Klasseninteresse konstruiert, so-
weit es nur irgendwie möglich war. Denn vollständig konnte man
die Arbeiter nicht verschwinden machen, nachdem man ihnen ein-
mal das Wahlrecht gegeben hat. Gerade die Wahlkreiseinteilung
für Mähren gibt dafür ein Beispiel. Hier besteht der nationale
Kataster, so daß von nationalen Schwierigkeiten absolut keine
Rede sein konnte. Aber wenn Sie alle die komplizierten Wahlkreis-
einteilungen — und es sind höchst merkwürdige abenteuerliche
Kombinationen darunter — durchgehen, so ist darunter die Wahl-
kreiseinteilung für Mähren die abenteuerlichste. Es drückt sich
darin nichts anderes aus als ein Klassengegensatz, der mit Rück-
sichtslosigkeit bis zum Exzeß seine Mittel wählt. Dagegen muß
protestiert werden; aber wir geben uns nicht der Täuschung hin,
daß wir daran etwas ändern werden. Wir wissen sehr wohl, daß
das, was der Wahlreformausschuß beschlossen hat, so gut wie
unabänderlich ist und daß die Macht der Sozialdemokraten nicht
ausreicht, um eine gerechte Einteilung zu schaffen.
Ähnlich steht es mit der Wahlordnung. Auch da findet sich eine
Reihe von komplizierten Bestimmungen, die durchaus nur von dem
Mißtrauen gegen das Wahlrecht des Volkes
sprechen, die nur von dem Wunsche eingegeben wurden, hemmend
einzugreifen und insbesondere die Agitation nach Möglichkeit ein-
zuschränken. Hier wird es hoffentlich gelingen, einige Verbesse-
rungen durchzuführen und die schlimmsten Dinge zu beseitigen.
Hier muß ich auch der
Wahlpflicht*)
gedenken. Wir Sozialdemokraten sind keine Freunde der Wahl-
pflicht, wir halten sie in ihren Wirkungen für reaktionär und für
geeignet, die politisch unbeweglichen und rückständigen Elemente
zu Entscheidern des politischen Kampfes zu machen. Eine Gefahr
aber sehe ich in der Wahlpflicht nicht; ich erblicke darin nichts,
was die Tendenz des Entwurfes vereiteln würde, und wir gestehen
Ihnen, daß unsere Abneigung gegen die Wahlpflicht wesentlich
gemildert wurde durch die günstigen Erfahrungen, die unsere belgi-
schen Parteigenossen damit gemacht haben. Wenn die Herren
geglaubt haben, die Wahlpflicht sei etwas, was speziell der Sozial-
demokratie den Strick um den Hals legen oder sie wenigstens —
*) Die Wahlpflicht war von Geßmann durchgesetzt worden, allerdings
nicht obligatorisch, sondern nur für jene Länder, deren Landtage sie be-
schließen. (Siehe Ausschußsitzung vom 1. Oktober, oben, Seite 412 f.)
Der niederösterreichische Landtag hat schon am 24. Dezember 1906
die Wahlpflicht beschlossen.
442 Der Sieg des gleichen Wahlreehts.
icli weiß, die Herren sind nicht grausam — an die Leine legen soll
(Heiterkeit), so werden Sie sich damit irren. Die Sozialdemokratie
hat schlimmere Kampfbedingungen überstanden als die Wahlpflicht.
Es war gewiß schwerer, den politischen Kampf zu einer Zeit zu
führen, wo man die Arbeiterschaft zu den Urnen nicht zulassen
wollte, als es zu einer Zeit sein wird, wo man sie zur Urne treiben
wird. (Heiterkeit und Sehr gut!)
Wir werden uns selbstverständlich bei der zweiten Lesung dar-
auf beschränken, nur wenige Anträge und nur in den allerwichtigsten
Dingen zu stellen, wo entweder ein großes Prinzip in Frage kommt
oder wo die Möglichkeit winkt, eine Verbesserung durchzusetzen.
So bescheiden und zurückhaltend aber unser Bestreben sein wird,
die Wahlreform positiv zu verbessern, so energisch und rücksichts-
los wird die Verteidigung der Wahlreform gegen Verschlechterungen
sein. (Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)
Und da möchte ich Sie denn doch vor der Zuversicht warnen,
daß die Prinzipien der Wahlreform heute schon geborgen seien.
Nein!
Die Feinde der Völker sind immer viel fleißiger und eifriger als die
Freunde.
Die Herren rüsten nicht ab und man hat bis zum letzten Moment
zu gewärtigen . . .
Abgeordneter Daszynski: Im Herrenhause!
Abgeordneter Dr. Adler: . . . einen
Versuch, durch das Pluralwahlrecht*)
die Wahlreform zu vereiteln. (Zustimmung.) Das Plural-
wahlrecht bedeutet aber nicht allein eine Verschlechterung und Ver-
unzierung, sondern eine Verderbung und Vernichtung der Wahl-
reform. (Lebhafter Beifall.) Möge aber jedermann wissen, daß nach
wie vor das gleiche Wahlrecht die Grundbedingung ist, unter der
diese Vorlage Gesetz werden kann. Möge sich jedermann zum
*) Tatsächlich hat dann die Pluralität noch eine große Rolle gespielt:
Am 19. November begründete der Tiroler Klerikale Dr. Tollinge r sein
Minoritätsvotum auf Schaffung eines Pluralwahlrechtes und dieses wurde
am 21. November mit 201 gegen 143 Stimmen abgelehnt. Am 10. Dezember
beschloß die fierrenhauskommission mit 14 gegen 4 Stimmen eine Alters-
pluralität. Am 14. Dezember hielt dann die Gesamtexekutive der Sozial-
demokratischen Partei gemeinsam mit dem Abgeordnetenverband eine
Sitzung ab, in der beschlossen wurde, die Vertrauensmänner der politi-
schen Organisationen und der gewerkschaftlichen Verbände aufzufordern,
sich sofort bereitzumachen, um unmittelbar nach der Abstimmung im
Herrenhaus, wenn notwendig, zu einer außerordentlichen Reichskonferenz
in Wien zusammenzutreten und die zur Durchführung des neuen Wahl-
rechtskampfes notwendigen Beschlüsse zu fassen. Zugleich sollten die
seit Mai bestehenden Generalstreikausschüsse wieder in Funktion treten.
Darauf lehnte am 21. Dezember das Herrenhaus die Pluralität mit großer
Mehrheit ab. (Siehe auch Adlers Rede im Ausschuß vom 3. Oktober sowie
die in der Spezialdebatte vom 21. November über die Pluralität und die
Fußnote über die Bedeutung der Pluralität.)
Immer neue Ränke. 44.'*
Bewußtsein kommen lassen, daß es ohne gleiches Wahlrecht eine
Wahlreform in üsterreieh nicht «eben kann und nicht «eben wird.
(Lebhafter Beifall.)
Die Gegner der Wahlreform haben sich gestern als eine nicht
allzu zahlreiche Armee präsentiert. Man darf aber die Zähigkeit und
Rastlosigkeit dieser Herren, ihreNeigung zum Terrorismus und zum
Terrorisieren an Stellen, die weit empfindlicher gegen Terrorismus
sind als dieses Haus, nicht unterschätzen. Man darf ihre altererbte
Schlauheit, ihre Kunst, zu herrschen mit kleinen, ohne Rücksicht
gewählten Mitteln, nicht unterschätzen. Wir sind in der Politik alle
noch Knechte der Moral und Sittlichkeit. Diese alten Herrscher und
Aussauger der Völker stehen längst und haben immer gestanden
jenseits jeder Moral, jenseits jeder Sittlichkeit, sie haben immer
rücksichtslos und ohne Gewissensbisse und Skrupel zur einzigen
Maxime das gemacht,
was sie ihr Herrenrecht nennen
(lebhafte Zustimmung), dessen dekrepideste und kläglichste Er-
scheinung*) durch die Wahlreform ein Ende nehmen soll. (Lebhafter
Beifall.) Unterschätzen Sie diese Herren nicht, seien Sie auf der
Wacht, und Sie können das um so besser, je schneller Sie die
Wahlreform zu Ende führen.
Wir haben den wichtigsten Teil der Wahlreformaktion hinter
uns und obwohl die Wahlreform noch nicht Gesetz ist, spürt man
bereits
die wohltätigen Folgen dieser ganzen Aktion.
Dieses Haus, das jede Würde preisgegeben hat, das hoffnungslos
und desperat in die eigene Kraft absolut kein Vertrauen setzte, das
vollständig entmannt war, hat sich schon durch den Gedanken
der Wahlreform und den Entschluß, etwas Notwendiges und Ver-
nünftiges zu tun, aufgerafft, und es ist heute tatsächlich gewachsen.
Das hat schließlich auch Leute überzeugt, die dem gleichen Wahl-
recht sehr fern, ja fremd und feindselig gegenüberstehen. Ob die
große Majorität, die sich gestern für die Frage der Dringlichkeit
gefunden hat, aus lauter überzeugten Freunden des gleichen Rechtes
besteht, das untersuchen wir nicht; wir haben die Gewissen nicht
zu erforschen. Für den politischen Fortschritt dieses Hauses ist das
auch vollständig gleichgültig. Es ist durchaus gleichgültig, aus
welchen Motiven und seit welcher Zeit man Anhänger des gleichen
Rechtes ist. Sie aber, meine Herren, die sich etwas darauf einbilden,
weil Sie
stolz auf den Ruinen des Unrechtes sitzen bleiben,
haben kein Recht, die Achseln zu zucken und mitleidig auf die zu
sehen, die „keinen Mut haben", während Sie den Mut, den ver-
brecherischen Mut haben, eine Notwendigkeit des Staates und der
Völker bis zum letzten Moment zu bekämpfen. Hier steht kein
Grundprinzip in Frage, hier steht nur ein Vorurteil und ein Vorrecht
*) Die GroßKrundbesitzcrkurie.
444 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
einer Kaste in Frage, einer Kaste, die Österreich von einer Kata-
strophe zur anderen geführt hat (lebhafter Beifall und Hände-
klatschen); und die Notwendigkeit des gleichen Rechtes und die
Überzeugung aller Völker, daß ein neues Leben für Österreich
beginnen muß, entspringen eben der Einsicht, daß mit dieser Sorte
von Katastrophenpolitik in Österreich ein Ende gemacht werden
muß. Wir wollen das gleiche Recht verwirklichen, nicht als das Ende
unserer Politik, sondern als ihren Anfang, als ihre Vorbedingung.
Wir wollen ein Volkshaus haben, um den Völkern die Möglichkeit
zu einem neuen staatlichen Gebäude zu geben; wir wollen die Mög-
lichkeit schaffen, an die Stelle des namenlosen „Etwas", dieses
Rahmens für einige unzufriedene und untereinander feindselige
Völker, den man die im Reichsrat vertretenen Königreiche und
Länder nennt, an die Stelle dieses Konglomerats von Wahnsinn und
historischem Verbrechen ein neues Leben zu setzen, eine neue
Welt, die die Völker führen soll zur Kultur und Freiheit. (Lebhafter
Beifall und Händeklatschen bei den Sozialdemokraten.)
Die Seßhaftigkeit.
Parlament, zum Minoritätsbericht,
14. November 190 6*).
Minoritätsberichterstatter Dr. Adler führt aus, seine Partei
mußte in der Frage der Seßhaftigkeit ein Minoritätsvotum ein-
bringen und den prinzipiellen Standpunkt wahren, der das Er-
fordernis der Seßhaftigkeit ausschließt. Er wendet sich gegen die
Behauptung, man könne ohne die Bedingung der Seßhaftigkeit
Wählerlisten nicht aufstellen. Abgesehen davon, daß sich damit die
einjährige Seßhaftigkeit nicht rechtfertigen ließe, da sich in der
allgemeinen Wählerklasse gezeigt hat, daß man auch mit der
sechsmonatigen reichlich auskommt, muß aber auch bestritten
werden, daß auch nur eine sechsmonatige Seßhaftigkeit die Auf-
stellung der Wählerlisten erleichtern würde, geschweige denn not-
wendig wäre.
Im Gegenteil. Je mehr Bedingungen gestellt werden, je mehr
Nachweise notwendig sind, um das Wahlrecht zu erlangen, um so
schwieriger und komplizierter gestaltet sich das Geschäft der Her-
stellung der Wählerlisten. (Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)
Und nichts macht so viel Schwierigkeiten als gerade die Kon-
statierung der Seßhaftigkeit, und nichts führt zu so viel Be-
schwerden und gerechten Anfechtungen der Reinheit der Wahlen
als diese Bedingung.
Man wünscht weiter, den Einfluß der Leute zu vermindern, die
*) Dr. Adler hatte zum § 7 seinen Antrag auf Abschaffung der einjährigen
Seßhaftigkeit, der im Ausschuß abgelehnt worden war, als Minoritätsvotum
angemeldet und hatte nun dieses als Minoritätsberichterstatter zu be-
gründen. (Siehe seine Rede in der Ausschußsitzung vom 13. September
unter dem Titel „DasPrinzipdesallgemeinenWahlrechte s".)
Die Seßhaftigkeit. 44r>
keinen Ständigen Wohnsitz, also weniger konservative Interessen
haben. Es ist aber zunächst unrichtig, daß die Seßhaftigkeit etwas
anderes sei als eine Beschränkung des Wahlrechtes ausschließlich
der Arbeiterklasse. Es ist weiter ebenso unrichtig, daß es sich hier
etwa um irgendeinen Bodensatz der Gesellschaft
handeln würde. Der Seßhaftigkeit entbehre eine sehr große Anzahl
von Arbeitern aller Branchen, die höchst qualifiziert, ständig in
Arbeit sind, insofern sie nicht durch die wirtschaftlichen Bedürf-
nisse des Kapitalismus selbst von einem Ort an den anderen ver-
setzt werden. Diese großen Schichten der Arbeiterschaft können
in keinem anderen Sinne zu den fluktuierenden Kiementen gezählt
werden als wie der Arzt, der im Winter in Wien, im Sommer in
Karlsbad seine Praxis ausübt. Man unterschätze die Wirkung der
einjährigen Seßhaftigkeit nicht. Die Christlichsozialen, die sich
früher so ungeheuer für die dreijährige und fünfjährige Seßhaftig-
keit eingesetzt haben, haben sich langsam nach rückwärts kon-
zentriert und mit einer platonischen Erklärung begnügt, weil sie
sich überzeugt haben, daß die Bedingung der Seßhaftigkeit nicht
nur die sozialdemokratische, sondern die ganze Arbeiterklasse
trifft, auch jene indifferenten Massen, die ihr Gefolge bilden. In
Wien haben im Jahre 1900 von 416.700 Männern über 24 Jahre
nicht weniger als 21.000 das Erfordernis der einjährigen Seßhaftig-
keit nicht gehabt. Das sind etwas mehr als 5 Prozent. In der
Altersstufe zwischen 24 und 30 Jahren aber macht die Zahl der
Wähler, denen die einjährige Seßhaftigkeit fehlte, 9'6 Prozent aus.
Da die Arbeiterklasse eine kurze Lebensdauer hat, alle früheren
Jahrgänge stärker mit Proletariern besetzt sind, trifft diese Ent-
ziehung des Wahlrechtes sie mit doppelter Stärke. Der nächste
Fortschritt der Gesetzgebung wird ganz gewiß die Beseitigung
dieser Einschränkung sein. Einstweilen mußte der Versuch dieser
Beseitigung gemacht werden, deshalb beantragen wir die
Streichung der Worte: „Seit mindestens einem Jahre."
Für den voraussichtlichen Fall der Ablehnung dieses Minoritäts-
votums stelle er einen Eventualantrag. Die Seßhaftigkeit ist jetzt
an die Gemeinde geknüpft, in der das Wahlrecht auszuüben ist.
Das ist für große Gemeinden wie Wien oder Prag ein anderer
Begriff als der Wahlkreis. In sehr vielen Gegenden aber, besonders
in den Industriebezirken, wird dadurch das Gebiet für das Wohnen
innerhalb des Jahres sehr eingeschränkt. Der Gesetzgeber kann
unmöglich wollen, daß alle die Leute, die einfach über die Straße
ziehen und damit die Gemeinde wechseln, zu fluktuierenden Ele-
menten gestempelt werden und das Wahlrecht verlieren sollen.
Der Redner beantragt, statt der Worte „in der Gemeinde, in
welcher das Wahlrecht auszuüben ist", zu setzen „in dem Wahl-
bezirk, in welchem das Wahlrecht auszuüben ist, oder im Falle
eine Gemeinde in mehrere Wahlbezirke geteilt ist, in einem der-
selben". Die einjährige Seßhaftigkeit überhaupt ist ein bewußtes,
schweres Unrecht an der Arbeiterklasse. Die Verweigerung aber
selbst dieser kleinen damit vorgeschlagenen Erleichterung wäre
446 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
eine überflüssige Schikane, deren man sich nicht schuldig zu
machen braucht*). (Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Billige Demagogie,
Spezialdebatte, 16. November 19 06**).
Minoritätsberichterstatter Dr. Adler tritt den von den sla-
wischradikalen Parteien gegen die Sozialdemokraten erhobenen
Vorwürfen entgegen. Nach der Meinung dieser Herren wäre es-
für die Sozialdemokratie angemessener, wenn sie auf dem Stand-
punkt stünde: die Vorlage entspricht nicht dem Ideal des all-
gemeinen und gleichen Wahlrechtes, darum verwerfen wir sie und
überlassen es den anderen Parteien, dafür zu stimmen. Diese
Taktik kann den radikalen Tschechen***) sehr angemessen dünken,
für die Sozialdemokraten wäre sie eine selbstmörderische gewesen.
Heute vereinigen sich wohl viele Stimmen auf die Vorlage; aber
man wird doch nicht glauben, daß diese Parteien solche Fanatiker
für das allgemeine Wahlrecht sind, daß sie auch nur dieses
mangelhafte Gesetz mit solcher Begeisterung zum Siege tragen
würden, wenn sich die Arbeiterschaft und die Sozialdemokratie
dagegen aussprechen würden. Darum stimmen wir für die Vorlage
trotz ihren Mängeln und verzichten darauf, unseren Wählern
gegenüber eine
billige Demagogie
zu üben, die wir nicht nötig haben. Die Arbeiterschaft weiß, daß
dasjenige, was an der Vorlage gut ist, im wesentlichen der treiben-
den Kraft der organisierten Arbeiterschaft zu danken ist, und was an
ihr mangelhaft ist, nicht unsere Schuld ist, sondern die notwendigen
Konzessionen an die Rückständigkeit dieses Parlaments und unsere
politischen Parteien darstellt. Deshalb werden wir für unser Mino-
ritätsvotum auf Aufhebung der Seßhaftigkeitsklausel bis zum
Schluß eintreten, wenn dieses fällt, für den Antrag Choc auf drei-
monatige Seßhaftigkeit stimmen, wenn aber beides abgelehnt wird,
trotz der Seßhaftigkeitsklausel für den § 7 in der vorliegenden
Gestalt. Redner erörtert sodann insbesondere die Entziehung des
Wahlrechtes, die an einer großen Zahl von Saisonarbeitern da-
durch geübt wird, daß die Seßhaftigkeit von der bisherigen Dauer
von sechs Monaten auf ein Jahr ausgedehnt werden soll. Schließ-
lich empfiehlt Redner insbesondere wenigstens seinen Eventual-
antrag bezüglich der Seßhaftigkeit anzunehmen, wonach dieser
*) Die Abstimmung fand in der nächsten Sitzung am 16. November statt.
Der Minoritätsantrag Adler wurde abgelehnt.
**) Am 16. November wurde der grundlegende Paragraph der Wahl-
reform, der § 7, der das allgemeine Wahlrecht für alle 24jährigen männ-
lichen Staatsbürger enthält, mit großer Mehrheit beschlossen. Adler ver-
trat den Minoritätsantrag auf Abschaffung der einjährigen Seßhaftigkeit.
(Siehe die vorhergehende Rede vom 14. November über die Seßhaftigkeit.)
'*) Die radikalen Tschechen hatten wirklich, wie schon berichtet wurde»
durch Obstruktionsanträge die Wahlreform verhindern wollen.
Billige Demagogie. Die Pluralltät. 447
Begriff dort, wo der Wahlbezirk größer ist als die Gemeinde, sieh
nicht auf diese, sondern auf den Wahlbezirk zu beziehen hätte.
(Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Die Pluralität.
S |) e z i a I d chatte, 2 1. N o v e m her 1 (> 0 6*).
Wenn es etwas gibt, was nieht konservativ, sondern subversiv
ist, so sind es die Anschauungen der Abgeordneten Morsey und
Bobrzynski, der Vertreter der konservativen Parteien. Warum
*) Am 6. Oktober hatte der Wahlreformausschuß, wie oben berichtet
wurde, den Pluralitätsantrag abgelehnt. Die Klerikalen jedoch, hinter denen
auch noch die Fronde der Herrenhäusler und der Großgrundbesitzer stand,
versuchten den Antrag, den Dr. Tollinger als Minoritätsvotum angemeldet
hatte, im Hause durchzubringen. Aber die Erregung, die die Arbeiterschaft
über dieses Attentat auf das gleiche Recht erfaßt hatte, hatte die Regie-
rung und die volksfreundlicheren Elemente unter den Klerikalen davon
überzeugt, welche Gefahren dieses Attentat für den Staat mit sich bringen
müsse. Gegenüber den Angriffen der Erzkonservativen verwiesen die an-
ständigeren Klerikalen, die nicht unter dem Einfluß der Aristokratie
standen, vornehmlich die aus Oberösterreich, auf die Macht des deutschen
Zentrums, die unter dem gleichen Wahlrecht so groß geworden sei, und
der klerikale Landeshauptmann von Oberösterreich, Dr. Ebenhoch,
veranlaßte sogar den deutschen Reichstagsabgeordneten Hitze, im
„Linzer Volksblatt" einen Artikel gegen das Pluralwahlrecht zu schreiben.
(Zum besseren Verständnis sei noch bemerkt, daß die Vereinigung der Alt-
klerikalen mit den Christlichsozialen erst nach den Wahlen des Jahres 1907
erfolgte, weil sonst die Sozialdemokraten im Volkshaus die stärkste Partei
gewesen wären. Bis zur Einführung des allgemeinen Wahlrechtes waren
die Christlichsozialen und die Klerikalen zwei verschiedene Parteien, und
Ebenhoch, der nachmalige christlichsoziale Minister, war ebenso wie
Morsey und Tollinger damals Mitglied des klerikalen „Zentrums".) Waren
also die demokratischeren Klerikalen aus Oberösterreich für das gleiche
Wahlrecht, so blieben die Klerikalen aus Tirol und Steiermark dabei, daß
der Knecht nicht dasselbe Recht haben dürfe wie der Bauer. Nach lang-
wierigen Beratungen aller reaktionären Parteien brachte endlich der Ver-
treter der Tiroler Klerikalen, Abgeordneter Dr. Tollinger, seinen
Pluralitätsantrag neuerlich ein. (Siehe oben Adlers Rede über die Pluralität
in der Ausschußsitzung vom 3. Oktober sowie die Fußnote über seine Be-
merkungen zur Pluralität in seiner Parlamentsrede vom 8. November über
den weiteren Kampf gegen die Pluralitätspläne, namentlich der Herren-
häusler.)
Welche Wirkung auch nur eine bloße Alterspluralität hätte, darüber
gaben die Ziffern der Volkszählung deutlich Aufschluß.
Es waren von 2,879.575 männlichen Selbständigen, die über 24 Jahre alt
sind, 2,265.248 über 35 Jahre alt, von 2,461.280 Arbeitern und Taglöhnern
im wahlfähigen Alter nur 1,324.632 über 35 Jahre alt.
Es mußten also die Bürgerlichen, deren Zahl die der Proletarier nur
um rund 400.000 überstieg, bei der einfachen Alterspluralität 5,144.823, die
Proletarier aber nur 3,785.912 Stimmen haben, wodurch die Differenz auf
rund 1,400.000 atigewachsen wäre. Nun verschlechterte man diese Plura-
lität noch durch die der Mittelschulbildung und den Zensus und man kann
448 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
wird von Baron Morsey behauptet, die Sozialdemokratie sei die
Partei des Klassenkampfes? Als ob nicht alle Parteien in diesem
Hause Klassenparteien wären! Ich mache es diesen beiden Ab-
geordneten nicht zum Vorwurf, daß auch sie Vertreter einer
Klasse sind, sondern ich werfe ihnen vor, daß Sie es leugnen
und daß sie die Interessen ihrer Klasse so schlecht vertreten, daß
sie damit alle Klassen, den Staat und alle Völker schädigen. (Zu-
stimmung bei den Sozialdemokraten.) Diesen Herren handelt es
sich nicht um die ländlichen Dienstboten, für die angeblich das
gleiche Recht ein Ansporn zur Auflehnung und die Verkümmerung
des gleichen Rechtes ein Beruhigungsmittel wäre. So gegen alle
menschliche Natur sind auch die landwirtschaftlichen Dienstboten
nicht, daß sie, wenn man ihnen das gleiche Recht mit dem Bauern
gibt, empört sein sollen, und daß sie, wenn man sie degradiert, zu-
frieden und beruhigt wären. Aber auch die Bauern sind Menschen,
auch die Knechte müssen nicht eine knechtische Gesinnung haben,
Gesetze der menschlichen Psychologie sind auch auf sie anwend-
bar. Es ist kein konservatives Motiv, wenn man
die Entrechtung gerade in dieses Wahlrecht
hineinträgt!
Im Namen aller Parteien, die auf dem Boden der Vorlage in
in diesem entscheidendsten und wichtigsten Punkte stehen, im
Namen der großen Majorität dieses Hauses, die sich vor ein paar
Tagen zum allgemeinen und gleichen Wahlrecht bekannt hat,
müssen wir dieses Attentat, das auf das W'ahlreformwerk versucht
wird, zurückweisen. Nicht eine Faser an dem Antrag Tollinger ist
mehr ganz. Der Widersinn dieses Antrages liegt in allen Details
ganz klar zutage. Das Gefährliche dieses Antrages steckt darin,
daß er die Absicht hat, das gleiche Recht zu vernichten und da-
mit die Vorlage, das Resultat schwerer politi-
scher Arbeit, zu Grabe zu tragen. (Zustimmung bei den
die Perfidie dieses Planes annähernd erkennen. Aber auch dann nur an-
nähernd. In seiner ganzen Kniffigkeit kann man ihn nur ermessen, wenn
man bedenkt, daß die Pluralität des Stimmrechtes nicht in das Grund-
gesetz über die Reichsvertretung, wo die allgemeinen Bestimmungen über
das Wahlrecht festgesetzt wurden, aufgenommen werden sollte, sondern
in die Wahlordnung, die nur die technischen Bestimmungen über das Wahl-
verfahren enthielt. So sollte die Notwendigkeit der Zweidrittelmehrheit für
die Pluralität umgangen werden und die einfache Majorität, die bei der
Wahlordnung genügt, auch für sie als hinreichend erklärt werden. Ein
Kniff, der den geriebenen Klerikalen alle Ehre machte.
Nun beriet das Haus in der Spezialdebatte schon drei Tage über die
Pluralität, die von Tollinger als Minderheitsberichterstatter vertreten
wurde. Am dritten Tag — 21. November 1906 — hielt zunächst Baron
Morsey, ein steirischer Klerikaler, eine giftige Rede gegen das allgemeine
Wahlrecht, nach ihm sprach der Abgeordnete Dr. Bobrzynski vom
Polenklub aus „nationalen" Gründen für die Pluralität. Dann kam Adler
zu Wort.
Bei der Abstimmung — der ersten namentlichen Abstimmung — wurde
der Antrag Tollinger mit 201 gegen 143 Stimmen abgelehnt.
Die Pluralität. 449
Sozialdemokraten.) Baron Morsey weiß das am allerbesten« er
weiß ganz genau, daß, wenn cs ihm gelänge, die Pluralität ins
Gesetz hineinzubringen, damit nicht etwa die Plur alit ä I
g e r e 1 1 e t, sondern die W a li 1 r e f o r m vernichtet
wird. (Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Das allein wollen diese Herren und deshalb ist es nicht nötig,
gegen die sachlichen Argumente anzukämpfen, die nur der Aus-
druck der Abneigung des Hasses gegen das gleiche Recht und
gegen die Wahlreform sind. Baron Morsey sagte, in ihrem Herzen
sei die große Majorität der Parteien des Hauses gegen die Wahl-
reform, nur wagen diese Parteien es nicht, gegen die Wahlreform
aufzutreten, und haben Baron Morsey und seine Partei beauftragt,
die Wahlreform umzubringen. Baron Morsey hat sich ausgegeben
als ein Träger der Gedanken und Pläne nicht bloß der offenen
Wahlrechtsfeinde, sondern auch der Parteien, die diese Wahl-
reform im schweren Kampfe geboren und sich nun als Träger der
Wahlreform bekannt haben. Er hat diese Parteien dadurch eines
Aktes der
politischen Heuchelei und Unaufrichtigkeit
geziehen; einer Politik, für die der Ausdruck macchiavellistisch
ein fast ehrender Begriff und eine Bezeichnung wäre, die vielleicht
die Moral, nicht aber den niedrigen Grad von Intelligenz charakteri-
sieren würde, die mit einer solchen Taktik verbunden wäre. (Leb-
hafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)
Wir haben aber gesehen, daß sich auch innerhalb der bürger-
lichen Parteien Schritt für Schritt, langsam und nicht ohne Rück-
fälle, aber im großen unaufhaltsam und ehrlich die Über-
zeugung Bahn gebrochen hat, daß es notwendig und unabwendbar
ist, zum gleichen Recht überzugehen. Diejenigen, die hier die Ver-
antwortung für das Chaos nicht tragen möchten, das entstehen
müßte, wenn die Wahlreform vereitelt würde, halte ich, trotzdem
ich ihr schärfster Gegner bin, nicht für verwerflich, feig
und niedrig genug, daß sie die Verantwortung für eine Un-
tat, die sie selbst begangen haben, dem Baron Morsey übertragen.
Baron Morsey hat sich als der
geheime Agent
aller jener Parteien aufgespielt, die die Wahlreform nicht wollen
und die ihn gedungen — Pardon! betraut haben mit der ehren-
vollen Aufgabe, sie geheim umzubringen. Gegen diesen Vorwurf
muß ich diese Parteien in Schutz nehmen. Es ist nicht wahr, daß
diese Parteien nur darauf warten, daß die Kavaliere da drüben sich
sammeln zum Kampfe gegen die heiligsten Interessen des Volkes.
Es ist nicht wahr, daß die großen Parteien des Hauses, des Bürger-
tums, des breiten Bauernstandes diese Herren beauftragt haben,
ihnen Henkersdienste an der Wahlreform zu leisten. Ich bin über-
zeugt davon, daß alle Schichten der Bevölkerung
heute von der Notwendigkeit und Unabwendbar-
keit des allgemeinen und gleichen Rechtes durch-
Adler, Briefe. X. Bd. 29
450 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
drungen sind. Das allgemeine und gleiche Recht wird auch
beschlossen werden, weil man sonst einem
politischen Chaos
gegenüberstehen würde, weil sonst Baron Morsey und seine Ge-
sinnungsgenossen die Ehre hätten, über dieses Land eine Kata-
strophe verhängt zu haben, über die nur ein fanatischer Feind
dieses Landes und seiner Völker oder ein ganz einsichtsloser
Mensch eine Freude haben kann. Für so politisch pervers halte ich
die politischen Parteien nicht, wie sie Baron Morsey schilderte. Wenn
man sich vor den Sozialdemokraten fürchtet, wenn das gleiche Recht
gewährt wird, wie würde man sie erst kennenlernen,
wenn das gleiche Recht vereitelt würde! Die Sozial-
demokraten wollen eine ruhige Entwicklung für das Proletariat,
für alle Klassen und für diesen Staat, weil auch das Proletariat
dieser ruhigen Entwicklung bedarf; sie wollen ein Ende auch für
die Wahlrechtsbewegung. Diese Bewegung würde aber nicht
enden, sondern anfangen und in ganz anderen Formen
sich bewegen, wenn jetzt die Wahlreform ver-
eitelt würde. Darum ist es nicht vernünftig, nicht recht,
aber auch nicht konservativ, wenn jemand für den Antrag
Tollinger stimmt. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen bei den
Sozialdemokraten.)
Die Wählerlisten.
Spezialdebatte, 2 2. November 190 6.
Minoritätsberichterstatter Dr. Adler*) begründet seinen zu § 12
gestellten Minoritätsantrag, nach welchem auch eventuelle Nach-
träge zur Wählerliste auf Verlangen jedermann aus-
zufolgen seien. In dem Gesetzentwurf sei nur bestimmt, daß die
ursprünglichen Wählerlisten gegen Ersatz der Kosten ausgefolgt
werden müssen; es sei jedoch auch notwendig, die nach Durch-
führung des Reklamationsverfahrens vorgenommenen Richtig-
stellungen den Parteien zur Verfügung zu stellen, und deshalb sei
die von ihm beantragte Bestimmung notwendig.
Abgeordneter Dr. Adler**) tritt neuerlich für die Annahme seines
Minoritätsantrages über die Verabfolgung der Nachträge zur
*) Im Wahlreiormausschuß hatte Adler den Antrag gestellt, daß auch die
Nachträge zu den Wählerlisten den Wählern gegen Ersatz der Kosten ge-
geben werden. Der Antrag war aber abgelehnt und von Adler als Mino-
ritätsvotum angemeldet worden. (Siehe den Bericht über die Sitzung des
Ausschusses vom 20. September, wo auch über den christlich-
sozialen Wahlschwindel das Nötige gesagt ist.) Der Antrag, gegen
den sich Geßmann jetzt wieder wendete, wurde nun angenommen.
**) Beim § 13, der von den Reklamationen handelt, war am
21. September im Ausschuß ein Antrag Vogler und Adler angenommen
worden, daß die Seßhaftigkeit erforderlichenfalls von Amts wegen
Die Wählerlisten. 4f>i
Wählerliste ein. Die Gründe, die er hiefür vorbrachte, als er den
Antrag stellte, seien durch den Verlauf der Dehatte außer-
ordentlich vermehrt worden. Er wolle als Minoritäts-
berichterstatter gewiß nicht über die ihm durch die Geschäfts-
ordnung gezogenen Grenzen hinausgehen, denn er sei nicht Vize-
präsident des Hauses*). (Heiterkeit.) Aher er müsse darauf auf-
merksam machen, daß im letzten Moment Anträge gestellt wurden,
die sich mit dem ganzen 0 p e r a t des Ausschusses
nicht im Einklang befinden. Insbesondere wurde die
Bestimmung des § 13 angefochten, daß die Angaben über die Seß-
haftigkeit erforderlichenfalls von Amts wegen zu ergänzen seien.
Abgeordneter Dr. Geßmann: Mit einer Stimme Majorität
wurde dieser Antrag im Ausschuß angenommen!
Abgeordneter Dr. Adler: Um so leichter wäre es gewesen, den
Gegenantrag als Minoritätsvotum anzumelden und das Haus nicht
heute damit zu überraschen. Wenn die Behörde dem Staats-
bürger, der sein Wahlrecht, das ihm rechtswidrig vorenthalten
werden soll, reklamiert, nicht zur Seite steht und ihm dabei be-
hilflich ist, so wird es nur um so notwendiger sein, sein Minoritäts-
votum anzunehmen, damit man in die Vorgänge klare Einsicht
gewinnt und sieht, was bei der Reklamation herausgekommen ist.
Er hoffe aber, daß das Haus der Ausschußvorlage zustimmen und
den Antrag Geßmann ablehnen werde. Es sieht gerade so aus,
als ob derjenige, der sein Wahlrecht reklamiert, etwas haben will,
das ihm nur durch besondere Gunst zu gewähren sei. Jeder, der
reklamiert, ist gewissermaßen ein
Beschwerdeführer gegen das Amt,
das ihn in die Wählerliste nicht aufgenommen hat. Diese Behörde
ist deshalb auch verpflichtet, ihm zu helfen, daß das Unrecht
das sie an ihm verübt, wieder gutgemacht werde.
Abgeordneter Dr. Geßmann: Sie ist das gar nicht imstande!
Abgeordneter Dr. Adler: Sie ist das ganz gut imstande, das
wissen Sie am besten, Herr Regierungsrat. Die Behörde hat es
jedenfalls leichter als der Reklamant, den Nachweis zu erbringen,
ob der Betreffende die einjährige Seßhaftigkeit in der Gemeinde
erlangt hat oder nicht. Wie kann man die Behörden von diesen
ganz selbstverständlichen Verpflichtungen los-
sprechen? Wenn jemand fünf Gulden gestohlen werden, ist sofort
alles in Bewegung. Aber daß das Wahlrecht auch ein Eigentum
zu erheben sei. Das war den Christlichsozialen sehr unangenehm und G e ß-
m a n n suchte das Haus zu überrumpeln, indem er plötzlich in der Debatte
den Antrag auf Streichung stellte. Tatsächlich gelang es ihm, diese
Verbesserung wieder zu beseitigen, so daß jeder Reklamant die Dokumente
seiner Seßhaftigkeit selbst beibringen mußte. Die Erfahrung hat dann ge-
zeigt, zu welchen Schwierigkeiten das führte, also für die Christlichsozialen
zu vielen Gelegenheiten des Wahlrechtsraubes.
') Der deutschnationale Vizepräsident Dr. Kaiser hatte von allem
möglichen gesprochen.
2<)*
452 Der Sie^ des gleiche« Wahlrechts.
ist, noch dazu das Eigentum von Leuten, die gar kein anderes
Eigentum haben als das bißchen politisches Recht, scheint man
nicht zu begreifen. Dr. Geßmann hat eine ganze Menge derartiger
Schutzmaßregeln beanstandet und immer mit der gleichen Be-
gründung, daß die Behörden so überlastet werden. Die Behörden
sind sonst gar nicht so faul, wenn es gilt, einem armen Teufel sein
Recht wegzunehmen. Wenn einer ein paar Gulden Armenunter-
stützung bekommen hat, werden die Erhebungen von
Amts wegen gepflogen, auch ohne daß der Betreffende es
will. Da wird er gleich aus der Wählerliste gestrichen.
Hier aber, wo es sich um ein ganz
klares Recht
handelt, will man es verweigern. Ich stelle keine Anträge, weil ich
weiß, daß man hinter allen Anträgen, die von den Sozialdemo-
kraten kommen, etwas Teuflisches sieht. Ich verlange nur, daß das
Haus den wohldurchdachten Antrag des Aus-
schusses annimmt, in dem doch höchst konservative Leute
gesessen sind. Wenn man aber auch den Ausschußantrag nicht an-
nehme, werde man die heute ohnehin schwierige Aufstellung der
Wählerlisten noch weiter erschweren. Die technisch schwierige
Materie ist im Ausschuß sehr gründlich nach allen Seiten durch-
gesprochen worden, es liegt eine einheitliche Arbeit vor, und nun
versucht man es, durch eine Masse von Anträgen diese Arbeit zu
erschüttern!
Abgeordneter Dr. Geßmann: Ich habe nicht eine Masse, son-
dern nur drei Anträge gestellt, und zwei davon haben den
Zweck, einen Unsinn, den der Ausschuß beschlossen hat, aus der
Welt zu schaffen! Lassen Sie die Bestimmung nur drin, mir ist sie
ganz recht, dann zahlen sie 200.000 fl. für die Wählerlisten!
Abgeordneter Dr. Adler: Na, es wird schon billiger gehen!
Abgeordneter Pernerstorf er: Ich habe ihm schon eine Druckerei
empfohlen, die es billiger macht!
Abgeordneter Dr. Geßmann: Den „Vorwärts"! (Lebhafte
Heiterkeit.)
Abgeordneter Dr. Adler: Ich kann nur wiederholt bitten, die
Ausschußanträge unverändert sowie auch den Minoritätsantrag,
der nur eine logische Konsequenz der Ausschußanträge darstellt,
zum Beschluß zu erheben.
Wahlbestechung.
Ausschuß, 2 9. November 1906*).
Abgeordneter Dr. Adler hält die Anregung des Abgeordneten
Hagenhofer für beachtenswert. Der § 12, auf den sich der Justiz-
*) Das „Gesetz zum Schutze der Wahlfreiheit" hatte der Ausschuß
einem Subkomitee überwiesen und dort war es ziemlich stark umgearbeitet
WahlbestechiMig. 45:{
minister beruft, spricht mir vom Wahlkonmiissär und der Wahl-
kommission, nicht al)er von denjenigen, die die Wählerlisten an-
fertigen. Daß auch diese Personen hcamlenchnraktcr haben, daß
jeder Mißbrauch, den sie begeben, den Mißbrauch der Amtsgewalt
darstellt, ist richtig; aber es ist ganz nützlich, das in diesem Gesetz
ausdrücklich zu sagen, wo auch viele andere selbstverständliche
Dinge gesagt werden. Der Antrag Kaiser ist gleichfalls beachtens-
wert und hat zunächst das Verdienst, die Erklärung des Justiz-
ministers provoziert zu haben, daß das Verteilen von „Wahlbier"
und „Wahlwürsteln" unter den Begriff der Wahlbestechung gehöre.
Bisher hat man in weiten Kreisen darüber nicht so gedaöht. Das
zeigen einem drastische Beispiele, Vorgänge bei der Landtagswahl
in Mähren am 11. November. In dem Wahlprotest, der gegen die
Wahlmißbräuche in W i t k o w i t z vorgebracht wurde, wird unter
anderem konstatiert, daß in großem Umfang auf Grund von An-
weisungen Bier und Gulyas von den Funktionären des Deutschen
Vereines für Witkowitz und Umgebung an die Wähler verabreicht
wurden. Nun ist kaum anzunehmen, daß diese Vereinsfunktionäre
wirklich auf Grund dieses Gesetzes mit einem bis zu sechs Monaten
strengen Arrests bestraft werden würden; andererseits aber wäre
es eine Härte, die armen Menschen, die, ohne zu wissen, was sie
tun, solches Bier angenommen haben, mit so schweren Strafen zu
treffen. Die Folge wäre, daß in der Praxis dieser häufigste Fall von
Wahlbestechung, gerade weil er unter so schwerer Strafe steht,
in weitaus den meisten Fällen straflos bleiben würde. Will man also
diesen Mißbrauch wirklich treffen, dann müßte die Strafe eine ge-
ringere sein.
worden. Als „Gesetz über strafrechtliche Bestimmungen zum Schutze der
Wahl- und Versammlungsfreiheit" kam es am 29. November zur Verhand-
lung im Ausschuß. Zu einer lebhaften Debatte kam es namentlich beim § 3,
der von der Wahlbestechung handelte, wobei viel von Gratisessen
und Gratisbier bei Wahlen gesprochen wurde. Der steirische Klerikale
Hagenhofer beantragte einen Zusatz, daß, wer bei Verfassung von
Wählerlisten absichtlich oder aus grober Fahrlässigkeit die Eintragung
von wahlberechtigten Personen unterläßt oder nichtwahlberechtigte Per-
sonen einträgt, wegen Vergehens bestraft werden solle. Der volkspartei-
liche Abgeordnete Kaiser beantragte, daß auch derjenige, der Wahlberech-
tigte durch unentgeltliche Verabreichung von Speisen und Getränken in der
Ausübung ihres Wahlrechtes zu beeinflussen sucht, ein Vergehen begehe —
worauf der Justizminister Dr. Klein erklärte, das sei auch ohnedies im
Begriff der Wahlbestechung mitenthalten, da schon nach alten Ent-
scheidungen des Obersten Gerichtshofes die Verabreichung von Speisen
und Getränken als Stimmenkauf strafbar sei. Die Fälschung der Wähler-
listen sei schon jetzt als Verbrechen des Mißbrauchs der Amtsgewalt straf-
bar. Darauf zog Hagenhofer seinen Antrag zurück und in der Ab-
stimmung wurde der Antrag Kaiser mit 16 gegen 9 Stimmen abgelehnt.
Die Wahhnißbräuche, die Dr. Adler von den Landtagswahlen in Witkowitz
berichtete, wurden auch nach der Wahlreform von der Rothschildschcn
Werksdirektion und ihrem Generaldirektor in Witkowitz begangen und von
der Wahl des Abgeordneten Dr. Licht wurden im Legitimationsausschuß
die unerhörtesten derartigen Wahhnißbräuche bewiesen.
454 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Der Kanzelparagraph.
Ausschuß, 3 0. November 19 0 6.
Abgeordneter Dr. Adler führt aus, in der Tatsache, daß die
Sozialdemokraten gegen die Aufnahme des Kanzelparagraphen*)
stimmen werden, liege keineswegs, wie einige Vorredner meinten,
ein Widerspruch zu deren Programm, sondern im Gegenteil, sie
stimmen gegen diesen Paragraphen in unverbrüchlicher
Konsequenz ihres prinzipiellen Standpunktes,
der darin bestehe, daß sie weder Ausnahmegesetze gegen irgend-
eine Klasse und irgendeinen Stand, noch irgendwelche Einschrän-
kung der Meinungsäußerung billigen können. Die schweren Miß-
brauche, die von Geistlichen aller Konfessionen verübt werden,
kennen wir genau und unterschätzen ihre Gefahr nicht. Aber wenn
die Herren verhindern wollen, daß durch Mißbrauch der Kanzel zu
politischen Zwecken ihr Gotteshaus entweiht und ihr Priesteramt
geschändet werde, so erklären wir, daß das unsere Sorge nicht ist.
Die Würde des Priesters zu wahren, ist die Angelegenheit der
Kirche, nicht die der Gesetzgebung. Aus prinzipiellen Gründen, wie
auf Grund der politischen Erfahrung sind wir gegen dieses Aus-
nahmegesetz. Die Idee des Kanzelparagraphen stamme keineswegs
aus Krain, wie in der Debatte bemerkt worden sei, sondern sie
*) Am 30. November, an demselben Tage, an dem im Abgeordnetenhaus,
allerdings unter andauernden Krawallen und sogar Raufereien der
Tschechischradikalen und der Alldeutschen die Wahlkreiseinteilung von
Böhmen, Mähren, Schlesien, Galizien und Bukowina erledigt und die von
Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg bis zur
Abstimmung gebracht, also entscheidende Arbeit geleistet wurde, kam im
Wahlreformausschuß bei der Beratung des Wahlrechtsschutzgesetzes, nach-
dem der § 4, der von der Wahlnötigung handelte, angenommen worden
war, ein Antrag zur Verhandlung, der einen sogenannten „Kanzelpara-
graphen", eine Bestimmung gegen den Mißbrauch der Kanzel schaffen
wollte. Der Antrag, der nach dem liberalen Slowenen Ferjancic benannt
und auch von den Deutschnationalen Locker, Erler, Malik und
W a s t i a n sowie von dem Tschechischradikalen C h o c unterschrieben
war, hatte folgenden Wortlaut:
Ein Geistlicher oder anderer Religionsdiener, der aus
Anlaß von Wahlen zu den im § 2 genannten Vertretungskörpern in der
Absicht, einen Wahlberechtigten zur Nichtausübung seines Wahlrechtes
oder zu dessen Ausübung in einem bestimmten Sinne zu bewegen, a n
einem zum Gottesdienst geweihten Orte Wahlagi-
tation betreibt oder in dieser Absicht gottesdienst-
liche Handlungen vornimmt oder auch außerhalb des-
selben geistliche Versprechungen oder Drohungen
anwendet, begeht, sofern die Tathandlung nicht den Tatbestand des
§ 4 begründet, eine Übertretung und wird mit Arrest von einer Woche
bis zu drei Monaten oder an Geld von 50 Kronen bis 1000 Kronen bestraft.
Dazu legte Adler die Stellung der Sozialdemokraten dar. Über den Aus-
gang dieses Streites um den Kanzelparagraphen siehe die Bemerkungen zu
der Rede im Plenum vom 12. Jänner 1907: „Der Wahlterror der
Autiterroriste n".
Der Kanzelparagraph. Der Sieg der Wahlreform, 455
rühre vom Fürsten Bismarck her, entspringe also der-
selben politischen Anschauung, ans welcher das Sozialistengesetz
entstanden sei. Es sei charakteristisch, daß Fürst Bismarck in
.seinem Kriege gegen die Katholiken in zwei Fällen Niederlasen er-
litten habe, mit dem Jesuitengesetz und mit dem Kanzelpara-
graphen. Die Bundesgenossenschaft des Polenklubs, der durch den
Abgeordneten Bobrzynski habe erklären lassen, dal.» er des-
wegen gegen den Kanzelparagraphen sei, weil er nie für ein Aus-
nahmegesetz stimme, weist er feierlich auf das entschiedenste von
sich. Der Abgeordnete Bobrzynski werde wohl wissen, dal.) n i e
eine Ausnahmeverfügung gesell die Arbeiterschaft, nie auch ein
anderes Ausnahmegesetz zustande gekommen sei, für das der
P o 1 e n k 1 u b nicht gestimmt hätte. Gerade weil er wisse,
wie gefährlich und verbreitet die von der Priesterschaft aller
Kirchen ausgehende politische Agitation sei, soll man den Einfluß*
den die Geistlichen überall auf die Massen besitzen, nicht noch
dadurch verzehnfachen, daß man ein Ausnahme-
gesetz gegen die Geistlichkeit schafft. Man würde
der Priesterschaft ganz gratis ein starkes Agitationsmittel schaffen,
ein fakultatives Martyrium, aus dem selbstverständlich nie ein
reales Martyrium werden würde. Denn nie würde es zu einer Be-
strafung kommen, wenn aber ja, dann um so schlimmer. Wenn be-
hauptet werde, für die Sozialdemokraten sei der Kanzelparagraph
ebenso wichtig wie für alle anderen Parteien, weil ja auch sehr
viele Sozialdemokraten die Gotteshäuser besuchen, so wolle er
demgegenüber bemerken: Die Sozialdemokraten gehen gewiß in
die Kirche, allein wer als Sozialdemokrat hinein-
gegangen ist, ist noch nie als Klerikaler heraus-
gekommen, wohl aber ist der umgekehrte Fall
schon öfter eingetreten. Die Sozialdemokraten können auf
den Mißbrauch der Kanzel gar nicht verzichten und es ist ihnen
keineswegs unangenehm, wenn sich die Klerikalen durch ihre
Priester kompromittieren.
Der Sieg der Wahlreform.
Versammlung in der Volks halle,
2. Dezember 1906*).
Parteigenossen und -genossinnen! Sie sind heute versammelt
zur Besprechung einer wirtschaftlichen Frage, die in alle unsere
Verhältnisse tief einschneidet. Diese wirtschaftliche Frage ist zu-
*) Für den 2. Dezember war eine Kroße Kundgebung gegen den Fleisch-
wucher einberufen. Gut fünfundzwanzigtausend Menschen waren ge-
kommen, um an der großen Versammlung, die in die Volkshalle des Rat-
hauses einberufen war, teilzunehmen. Selbstverständlich fand nur ein
kleiner Teil in der Volkshalle Platz, die anderen mußten draußen vor dem
Rathaus demonstrieren. Als Redner in der Versammlung sprachen über die
Fleischteuerung Reumann, Schuhmeier und S e i t z. Aber vor Ein-
gehen in die Tagesordnung berichtete Adler über den Abschluß der
456 Der Steg des gleichen Wahlrechts.
gleich eine politische Frage ersten Ranges und sie wird zugunsten
des Volkes nicht entschieden werden, wenn das Volk nicht seine
ganze politische Macht in die Wagschale legen kann. Aber, Partei-
genossen, bevor Sie zur Erörterung dieser Frage schreiten, war
es mir — ich gestehe es Ihnen — ein Bedürfnis, am heutigen Tage
einige Worte an Sie zu richten. Gestern wurde im Abgeordneten-
haus das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht in zweiter und
dritter Lesung beschlossen. (Brausende Hochrufe auf das all-
gemeine und gleiche Wahlrecht und auf Dr. Adler.) Drei Tage
über ein Jahr ist es her, daß wir vor das Parlament gezogen an
jenem glorreichen 4. November, in einer Demonstration, die uner-
hört war und unvergleichlich. Mit ihr haben wir vor aller Augen
klargestellt, daß die Arbeiterschaft Österreichs überzeugt und ent-
schlossen ist, die Notwendigkeit für Österreich durchzusetzen,
koste es, was es wolle. (Stürmische Zustimmung.) Ein Jahr der
schwersten politischen Arbeit ist vergangen, ein Jahr voll Krisen,
voll Gefahren, ein Jahr, wo jede Woche so viel politischen Inhalt
hatte wie sonst oft nicht Jahre. Dieses Jahr ist zu Ende und das
gleiche politische Recht ist eine Tatsache in Österreich. (Brausen-
der Jubel.)
Parteigenossen! Wir sind weit davon entfernt, zu sagen, das
Proletariat allein habe durch seine Übermacht und durch seine Ge-
walt das gleiche Recht durchgesetzt. Wir wären ohnmächtig, wenn
wir uns nicht in den Dienst der geschichtlichen Notwendigkeit ge-
Wahlreform im Abgeordnetenhaus. Am Tage vorher, am 1. Dezember,,
hatte das Abgeordnetenhaus mit 194 gegen 63 Stimmen die Wahlreform
angenommen, nachdem sie in den letzten Tagen noch mannigfache
Schwierigkeiten hatte überwinden müssen. Am 21. November hatten, wie
ja berichtet wurde, die Wahlreformfeinde die Einführung des Pluralwahl-
rechtes beantragt. Aber der Antrag wurde mit 201 gegen 143 Stimmen ab-
gelehnt. Am 27. November krawallierten die Tschechischradikalen wegen
der Aufteilung der Mandate in Böhmen. Am 29. beantragte Kramarsch
unter dem Eindruck dieser Krawalle die Abänderung der Mandatsaufteilung
in Böhmen — statt der im Ausschuß beschlossenen 75 Mandate für die
Tschechen und 55 für die Deutschen 78 für die Tschechen und 52 für die
Deutschen. Als aber Beck rund heraus erklärte, daß das die Wahlreform
zum Scheitern bringe, ließen sich die vernünftigen Tschechen überstimmen,,
die Tschechischradikalen aber erzwangen am nächsten Tage durch tätliche
Angriffe auf die Schriftführer die Unterbrechung der Sitzung. Doch konnte
am 1. Dezember auf die zweite Lesung im Wege eines Dringlichkeits-
antrages gleich die dritte Lesung folgen.
So hatte die Wahlreform im Abgeordnetenhaus gesiegt. Aber nun kamen
noch die Schwierigkeiten im Herrenhaus. Aber als die Regierung dem
Wunsche der Herrenhäusler, auf das Recht des „Pairsschubs" zu ver-
zichten, indem die Zahl der Mitglieder des Herrenhauses mit einer Mindest-
zahl und einer Höchstzahl bestimmt werde, nachgegeben und die Vorlage
über den „numerus clausus" (geschlossene Zahl) eingebracht hatte, die die
Mindestzahl der auf Lebenszeit ernannten Herrenhausmitglieder mit 150,.
die Höchstzahl mit 170 festsetzte, gaben auch die Herrenhäusler nach und
am 11. Jänner nahm auch das Herrenhaus die Wahlreform an, die am
26. Jänner die kaiserliche Sanktion erhielt.
Der Sieg der WaWreform. 4-r>7
stellt hätten; wir wären ohnmächtig, wenn wir nicht die Träger
wären der Ideen, die zum Siege kommen müssen, wenn die Ver-
nunft der Menschheit sich verwirklichen soll. So aber sehen wir,
daß die geschichtliche Notwendigkeit überwunden hat den Wider-
stand der Kurien, den Widerstand der Bürokratie, den Widerstand
alles dessen, was Macht und Gewalt hat in Österreich, und so
wissen wir, daß die Kraft unserer Idee uns auch weiter führen wird.
Das allgemeine und gleiche Wahlrecht, das rinde des Kurienparla-
ments und der Kurienschande, der Beginn eines wirklichen Volks-
parlaments ist in diesem alten Österreich Tatsache. Zwar, Ge-
nossen, ist noch nicht der letzte Streich zu diesem Werke getan.
Noch harrt das gleiche Wahlrecht der Unterschrift des Herren-
hauses. Wir wissen sehr genau, leicht wird es den Herren im
Herrenhause nicht werden, das gleiche Recht des Volkes anzu-
erkennen. Das wissen wir. Aber wir haben das eiserne Vertrauen,
daß die unabwendbare Notwendigkeit, die das Abgeordnetenhaus,
ja die die widerstrebenden Parteien gezwungen hat, das gleiche
Recht zu fördern — wir sind überzeugt, daß diese Notwendigkeit
für den Staat, für das Volk und für die Möglichkeit der Kultur und
Entwicklung in Österreich auch stark genug sein wird, daß sich
die Herren im Herrenhause ihr werden beugen müssen. Fern von
uns liegt es, Terrorismus üben oder auch nur andeuten zu wollen.
Wir wollen die Herren nicht vergewaltigen — wir haben ja nicht
die Gewalt hiezu — , aber vergewaltigt werden sie werden und
beugen werden sie sich müssen, wie wir uns alle beugen müssen
vor der Notwendigkeit der Völker und des Staates.
Parteigenossen! Den Arbeitern Österreichs aller Zungen ge-
bührt heute der größte und wärmste Dank ganz Österreichs. Sie
haben in einer wahrhaft musterhaften und bewundernswerten Weise
gezeigt, daß sie alle Eigenschaften haben, die zur politischen Reife
gehören, die sie befähigen zu großen politischen Dingen. Die
Arbeiterschaft Österreichs hat Energie, Entschlossenheit und
Kampfbereitschaft gezeigt, wenn es notwendig war; sie hat aber
auch eine weise Mäßigung, jene kluge Zurückhaltung zu bewahren
gewußt, wo es am Platze war. Tapferkeit und Weisheit, die haben
unsere Sache zum Siege geführt.
Eines will ich noch sagen: ich hoffe und wünsche, daß das.
klassenbewußte Proletariat Österreichs, das mit dieser bewunderns-
werten Energie und mit dieser noch größeren Weisheit sein Recht
zu erkämpfen verstanden hat, dieselbe Weisheit und dieselbe Kraft
bewahren wird, wenn es gilt, das Recht zu gebrauchen, das es sich
jetzt als Waffe erkämpft hat, seine Interessen durchzusetzen. (All-
gemeiner Beifall.) Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht
ist heute ein erreichtes Ziel; von morgen an ist es der Beginn eines
neuen Kampfes in neuem, größerem Umfang, mit mehr Kraft und
mehr Mitteln und hoffentlich auch mit mehr Glück für die Arbeiter-
schaft. Der Kampf für das Wahlrecht ist zu Ende. Was nun beginnt,
ist der Gebrauch des Rechtes, ist der Kampf für die speziellen
Interessen der Arbeiterklasse, bewehrt mit dem gleichen Rechte,
das sie sich erobert und von niemand wird nehmen lassen. (Tosen-
458 Der Sic« des gleichen Wahlrechts.
der Heifall.) Und so schließe ich: Es lebe das allgemeine, gleiche
und direkte Wahlrecht! (Hoch! Hoch! Hoch!) Es lebe die inter-
nationale Sozialdemokratie! (Brausende Hochrufe, jubelnde Be-
geisterung in der ganzen Versammlung.)
Die Grundlagen der neuen Politik.
Budgetprovisorium, 19. Dezember 190 6.
Aber über alle diese Fragen*) werden wir noch zu sprechen
haben, wenn das neue Haus zusammentreten wird. Sie begreifen,
daß ich, wenn ich zum Budget spreche, an der Tatsache nicht
vorübergehen kann, daß der
Abschluß der Wahlreform
bevorsteht, daß er aber leider noch nicht erfolgt ist. Die Wahl-
reform stößt auf Hindernisse in dem anderen Hause. Das Herren-
haus hat Schwierigkeiten gemacht. (Rufe: Es hat schon nach-
gegeben!) Ich bin überzeugt, daß trotz allen Intrigen, aller Bös-
willigkeit der Feinde des Volkes, trotz allen heimlichen Schleich-
wegen derjenigen, die ein persönliches Interesse an dem Scheitern
der Wahlreform haben und dieses persönliche Interesse der Zu-
kunft des Staates und seiner Völker entgegensetzen, auch das
Herrenhaus dem Appell, den die gesamte Öffentlichkeit, den alle
Schichten der Bevölkerung ohne Unterschied an seine bekannte
Weisheit haben ergehen lassen, nicht widerstehen werde. Ich hoffe
und wünsche das, aber ich muß auch sagen, daß der Abgrund, vor
dem wir bewahrt wurden, sehr gefährlich war.
Täuschen Sie sich darüber nicht! Ich sehe hier Herren, die
immer noch bis zur letzten Stunde gemeint haben, das bißchen
Pluralität und gar Alterspluralität könne niemand schaden, das
werden alle, sogar die Sozialdemokraten schlucken. Wir erklären
Ihnen nochmals feierlich, lieber heute gar keine Wahl-
reform, als eine auf lange Zeit verpfuschte Wahl-
reform! (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Es
wäre die schlechteste Politik, die wir machen könnten, uns auf
Jahre hinaus politisch die Zukunft abzuschneiden; heute, wo man
*) Am 19. Dezember mußte das Abgeordnetenhaus noch ein Budget-
provisorium beschließen, wobei Adler selbstverständlich auch die Wahl-
reform zur Sprache brachte. Vorher hatte er einige andere Fragen kurz
erörtert. Bei der Erörterung der Wahlreform mußte er natürlich auch die
Fronde der Herrenhäusler erörtern, die eben durch ein Kompromiß bei-
gelegt worden war. Die Herrenhäusler hatten außer der Alterspluralität
noch die Aufnahme einer Bestimmung verlangt, wonach das Recht der
Krone, auf Ernennung von Mitgliedern des Herrenhauses, das bisher un-
beschränkt war, beschränkt werden sollte. Die Zahl der vom Kaiser auf
Lebenszeit ernannten Mitglieder sollte nicht mehr als 170 und nicht
weniger als 150 betragen. Indem die Regierung diesen „numerus clausus"
(beschränkte Zahl) zugestand, verzichteten die Herrenhäusler schließlich
auf die Pluralität. (Siehe die Rede vom 2. Dezember.)
Die Grundlagen der neuen Politik. 159
mit etwas Verstand, Energie und Pflichtgefühl da drüben ein ver-
nünftiges Werk vernünftig zu Ende führen kann. Ich habe seihst
die Überzeugung, daß die Vernunft gesiegt hat. Einzelne Parteien
i\cs Herrenhauses wünschen nun
an die Wahlreform Bedingungen
für die Reform des eigenen Hauses zu knüpfen. Es ist etwas ver-
wunderlich, daß dieser Wunsch so spät und so plötzlich gekommen
ist. Es liegt da der Verdacht nahe, daß wenigstens einzelne Herren
weniger wünschen, das Herrenhaus zu reformieren, als der Wahl-
reform Schwierigkeiten zu bereiten oder einen allzu großen Zuzug
aus dem Abgeordnetenhaus fernzuhalten. (Heiterkeit.) Wenn der
Regierung ein Vorwurf zu machen ist, darf er nicht vom Herren-
haus, sondern könnte höchstens vom Abgeordnetenhaus über die
allzu große und schnelle Bereitwilligkeit erhoben werden, mit der
die Regierung einem Wunsche des Herrenhauses so pünktlich und
umfassend nachgekommen ist. Die Völker Österreichs haben
etwas länger petitionieren müssen, bis sie die Reform ihres Hauses
zuwege brachten. Die einzige uns wünschenswerte Reform des
Herrenhauses ist dessen Abschaffung. Aktuell ist aber heute nur
der
Numerus clausus,
der gewissermaßen eine Stärkung der Position des Herrenhauses
bedeutet und uns als solcher nicht erwünscht ist. Dieser Numerus
clausus bedeutet aber zugleich auch eine Schwächung der Krone,
und dagegen haben wir von unserer Seite nichts einzuwenden.
Man kann da ohne weiteres annehmen, daß der eine Vorteil den
anderen Nachteil kompensiert. Wir werden diesen Vorschlag nicht
mit Entzücken aufnehmen, wir werden ihn aber als eines der
vielen Kompromisse über uns ergehen lassen —
ohne Entzücken, aber auch ohne Feindseligkeit.
Das Herrenhaus hätte es aber gar nicht notwendig, allzu harte
Bedingungen zu stellen, das Kompromiß durch harte Förmlich-
keiten allzusehr zu erschweren. Ich habe die feste Überzeugung,
daß dieses Haus, das heute in seiner überwältigenden Majorität
von der Notwendigkeit der Wahlreform durchdrungen ist, auch die
Bedingung des Numerus clausus im Herrenhaus anerkennen wird.
Vor uns liegt eine Zeit, wo durch die Wahl auf Grund des
gleichen Rechtes
die Grundlage für eine neue Politik
gelegt werden soll; eine Zeit, die über die nächste Zukunft des
Staates bestimmen soll und die zeigen wird, daß das allgemeine,
gleiche und direkte Wahlrecht nicht ' der Abschluß, sondern der
Beginn einer neuen Entwicklungsperiode ist,
einer Periode der vollständigen Umwälzung aller Bedingungen des
Lebens des Staates. Das wird eine schwere und umfassende Arbeit
sein. Und wenn Sie sich ermüdet zeigen, wenn alle politisch Arbei-
tenden erschöpft sind durch das große Werk, das eben vollbracht
wurde, müssen wir uns alle sagen: Nach den Wahlen hoffen wir
460 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
neu gestärkt und neu gekräftigt wieder hieher zu kommen und
ein neues Österreich zu schaffen, das basiert auf
dem Alleinwillen der Völker und in dem zum
erstenmal die Völker ihre Politik selbst machen
können. (Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Das Wahlschutzgesetz.
Parlament, 11. Jänner 190 7*).
Das Gesetz über die Wahlfreiheit hat ursprünglich den Zweck
gehabt, der Wahlreform Prügel in den Weg zu werfen. Man hat
die Wahlreform als etwas angesehen, was man nur mit der größten
Vorsicht und mit allerlei Sicherheitsventilen machen kann. Nur so
konnte man auch die schwankenden Elemente dafür gewinnen.
Eine große Anzahl von Parteien war ja damals noch nicht so be-
geistert vom allgemeinen Wahlrecht wie jetzt. (Heiterkeit.) Wir
beglückwünschen Sie ehrlich zu dieser Wandlung Ihrer Anschau-
ungen. Das ist ja der Werdegang aller großen Ideen, daß zuerst die
Klasse voranschreitet, die in erster Linie an der Freiheit ein Inter-
esse hat, daß sie zuerst eine Minorität ist, die bekämpft und belächelt
wird, daß aber die Minorität die Majorität mit sich fortreißt und
endlich zur Majorität wird. Sehr viele von unseren Forderungen, die
heute noch bekämpft werden, werden seinerzeit Gesetz werden a 1 s
Werk dieser Majorität, und wir werden Ihnen immer den
Ruhm neidlos gönnen. Wir sind in allen Fragen immer bereit dazu,
uns, indem wir den Vorstoß führen, einsperren zu lassen für eine
Sache, die, wenn sie eingeführt ist, denjenigen, die sich zuletzt
für sie eingesetzt haben, Ehren und Würden bringt. Eingesperrt zu
werden ist unsere Funktion, Auszeichnungen zu erhalten, ist die
Funktion der anderen. Wir sind beide in unseren Rollen und wollen
bei diesen Rollen auch in Zukunft bleiben. (Lebhafter
Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Abgeordneter Pernerstorf er: Ich werde gerade gefragt, ob du
nicht auch Hofrat werden willst?
Abgeordneter Dr. Adler: Vorläufig nicht!
Abgeordneter Loser**): Der Sternberg hat gesagt, daß Sie der
Vizekaiser werden sollen!
*) Unter den Vorlagen, die schon Gautsch mit der Wahlreform zu-
sammen dem Parlament vorgelegt hatte, war auch eine „zum Schutz der
Wahlfreiheit", die auch im wesentlichen Gesetz wurde. Sie war aus-
schließlich das Werk Geßmanns, der dann auch durchsetzte, daß die
Bestimmungen, die sich gegen einen Wahlterror richteten, gemildert
wurden. (Siehe die Reden Adlers vom 29. und 30. November 1906 im
Ausschuß, aber auch vom 12. Jänner 1907 im Haus.)
'*) Franz Loser, ein Christlichsozialer (von Beruf Eisenbahner), Ab-
geordneter der fünften Kurie von Vorarlberg.
Das Wahlschutzgesetz. 461
Abgeordneter Malik'): Vorläufig! Sehr vorsichtig, Herr Doktor
Adler!
Abgeordneter Eldersch: Da ist der Malik ganz anders, der weil.',
es gleich! (Heiterkeit.)
Abgeordneter Malik: Vorläufig hängen ihm die Trauben noch
zu hoch!
Abgeordneter Eldersch: So ist es! Sie haben wieder einmal den
Nagel auf den Kopf getroffen! (Heiterkeit.)
Abgeordneter Dr. Adler: Vorläufig ist mir die Gesell-
schaft der Hochverräter noch lieber als die der
Hof rate! (Lebhafte Heiterkeit.)
Abgeordneter Malik: Wir danken dafür!
Abgeordneter Dr. Adler: Aber das geht Sie ja gar nichts an, Sie
sind ja kein Hochverräter! Das ist Größenwahn, wenn Sie das
glauben! (Heiterkeit.)
Alle die Momente, welche bei der jetzigen Wahlordnung für ein
Gesetz betreffend die Wahlfreiheit sprechen, entfallen beim allge-
meinen, gleichen und direkten Wahlrecht. Jeder muß den Eindruck
haben, daß die Herren, welche das Gesetz wollen, nämlich die
Christlichsozialen und die Polen, nur fürchten, daß die obli-
gaten Mittel galizischer und Wiener Wahlen beim
allgemeinen, gleichen Wahlrecht nicht mehr ver-
fangen werden. Es war also nicht begründet, gerade jetzt
ein solches Gesetz zu schaffen. Eine Abhilfe gegen Wahlmißbräuche
kann nur herbeigeführt werden, wenn sich das sittliche Niveau des
Parlaments hebt und wenn das Parlament die Kraft besitzt, um
Leute, die durch Mißbrauch in das Haus gekommen sind, wieder
auszuschließen. Es ist nicht wahr, daß man dem allgemeinen
Stimmrecht gegenüberstehen muß wie
einer Bestie,
gegen die man sich mit Netzen, Gewehren und Stricken ausrüstet,
und es ist nicht nötig, daß man der Wahlreform mit einem Gesetz
an den Leib rückt, das nach seiner Tendenz zwar ideal, aber nach
seinem Inhalt ein Monstrum ist. Wahrscheinlich gefällt das
Gesetz den Christlichsozialen auch nicht mehr.
Abgeordneter Dr. Geßmann: Gewiß nicht in seinem
jetzigen Umfang; es ist ein Kompromiß wie jedes andere.
Abgeordneter Dr. Adler: Aber es ist nicht ein Kompromiß wie
sonst zwischen der Vernunft und den Machtverhältnissen, sondern
es ist ein Kompromiß zwischen der Angst und dem Wunsche, dieses
Gesetz einseitig gegen diejenigen auszubeuten, zu deren Schutz es
angeblich ersonnen ist. Wesentlich ist dieses Gesetz ein
Angstprodukt!
*) Vinzenz Malik, Abgeordneter der jetzt jugoslawischen Stadt
Leibnitz, Alldeutscher, fanatischer Bekütnpfer der Wahlreform, gehörte
übrigens auch dem Parlament des allgemeinen Wahlrechtes an.
462 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Es ist ein Produkt der Angst vor dem Wahlrecht, vor den
Massen.
Abgeordneter Dr. Geßmann: Es ist ein Produkt der praktischen
Erfahrung!
Abgeordneter Dr. Adler: Es ist erstens ein Produkt der Angst
und zweitens ein Produkt des schlechten Gewissens; das
ist das, was Sie als „praktische Erfahrungen" bezeichnen! Eigent-
lich sollte ein Gesetz, das den Schutz der wirtschaftlich Schwachen
bei den Wahlen anstrebt, das Wahlmißbräuche, Bestechungen, Miß-
brauch der Amtsgewalt verbietet, von den Sozialdemokraten aufs
wärmste begrüßt werden, weil immer die Arbeiter als die wirt-
schaftlich Schwächeren bei den Wahlen vergewaltigt werden. Bei
dem allgemeinen Wahlrecht ist aber eine Quelle der Mißbräuche
schon weggeschafft durch die Beseitigung der indirekten und der
mündlichen Wahlen. Die herrschende Partei in Wien ist gewohnt,
ihre Arbeiter und Beamten zu den Wahlen zu kommandieren. Diese
politische Beeinflussung ist die einzige Schattenseite der von mir
sonst anerkannten kommunalen Großbetriebe.
Abgeordneter Dr. Geßmann: Sie vertreten ja selber das Recht
der wirtschaftlichen Beeinflussung!
Abgeordneter Dr. Adler: Das ist nicht richtig!
Abgeordneter Schoiswohl*): Boykottandrohungen!
Abgeordneter Dr. Adler: Tatsache ist, daß von Leuten, die die
wirtschaftliche Macht haben, die Angestellten bisher in Gruppen
und unter genauer Kontrolle zu der Urne geführt wurden, ob sie
die richtigen Stimmzettel abgeben.
Abgeordneter Dr. Geßmann: Das ist in Wien nie geschehen!
Abgeordneter Dr. Adler: Ich bin überzeugt, daß das in Zukunft
nicht mehr möglich sein wird. Es wird auch nicht nötig sein, weil
die Wahlkreise entsprechend zugemessen sind.
Abgeordneter Dr. Geßmann: Aber Sie haben sich wirklich nicht
zu beklagen!
Abgeordneter Dr. Adler: Oh, Herr Hofrat, Sie sind unschuldig
wie ein neugeborenes Kind! (Heiterkeit.) Sie wären ein schlechter
Politiker, wenn Sie Ihre Macht nicht zu Ihren Gunsten gebraucht
hätten. Ich nehme Sie aber jetzt beim Wort. Ich kann nicht
annehmen, daß der Führer einer Partei, der so
hervorragenden Einfluß auf ein solches Gesetz
genommen hat, dulden wird, daß in seiner eigenen
Partei von den offiziellen Beamten dieser Partei
dieser selbe Mißbrauch gegen die Arbeiterschaft
wieder geübt werden wird. Auch in Böhmen, Mähren
und Schlesien sind Wahlmißbräuche vorgekommen, die gegen die
Arbeiter gerichtet wraren, so auch bei den letzten mährischen Land-
tagswahlen.
*) Michael Schoiswohl, christlichsozialer Arbeitervertreter, Werk-
stättenvorarbeiter in Gußwerk, Abgeordneter der fünften Kurie von Brück
an der Mur in Steiermark, wurde auch unter dem allgemeinen Wahlrecht
gewählt.
Das Wahrschutzgesetz. 463
Abgeordneter Eider seh: Ich kann Ihnen noch ein paar Bier-
marken geben!
Abgeordneter Dr. Adler: Die Fabrikanten haben bei den Wahlen
die Arbeiter terrorisiert. Jedes Land hat darin seine Sitten. Von
den galizischen Wahlsitten zu sprechen, wäre überflüssig, denn diese
sind geschichtliche Beispiele für alle Formen des Wahlschwindels
und des Wahlterrorismus, der Vergewaltigung der Wahlen bis zum
Erschlagen.
Der S 5 des Gesetzes, der von der Wahlnötigung spricht, wird
nicht gegen die wirtschaftlich Stärkeren angewendet werden, son-
dern gegen die wirtschaftlich Schwachen, die sich
koalieren, sich organisieren und sich dadurch den freien Ausdruck
ihres politischen Willens sichern wollen.
Abgeordneter Dr. Geßtnann: Wer ist heute der wirtschaftlich
Stärkere? In vielen Fällen viel mehr Sie als das Großkapital!
Abgeordneter Dr. Adler: Herr Hof rat! Ich bewundere Ihren
Optimismus; wir sind leider noch lange nicht so weit, denn wenn
die Arbeiterschaft wirklich wirtschaftlich stärker wäre als das
Großkapital, dann würde manches in diesem Lande anders aus-
schauen . . . Ich frage niemals, was in einem Gesetz steht, sondern
immer nur, wie das Gesetz gehandhabt wird. Darum muß ich
über die Bemühungen lächeln, die den Mißbrauch der Kanzel zu
Wahlzwecken verhindern wollen.
Abgeordneter De Geßmann: Sagen Sie gleich, es ist eine Macht-
frage.
Abgeordneter Dr. Adler: Es ist eine Machtfrage und darum ist
unser ganzes Bestreben nicht darauf gerichtet, die Herren zu über-
zeugen, sondern darauf, die Macht zu erlangen. Die Sozial-
demokraten haben es nie verheimlicht, daß der ganze Kampf nur
der politischen Macht des Proletariats gilt.
Abgeordneter Dr. Geßmann: Gleiches Recht für alle.
Abgeordneter Dr. Adler: Wir wundern uns nicht, daß Sie sich
an der Macht halten wollen, aber tun Sie sich nicht in Tugend
drapieren!... Ich bin nicht für die Einführung eines Kanzelpara-
graphen, obwohl ich die Gefahr der Agitation der Geistlichkeit nicht
unterschätze. Ich weiß genau, daß meiner Partei in der Organi-
sation der Geistlichkeit eine politische Organisation gegenübersteht,
die so vollkommen funktioniert, wie leider die sozialdemokratische
Organisation nie funktionieren wird. Die Organisation, an deren
Spitze oder an deren Seite Herr Hofrat Geßmann steht, hat ihren
Vertrauensmann in jedem Pfarrhof, es ist eine Organisation, die
funktioniert wie ein Uhrwerk.
Abgeordneter Dr. Geßmann: Das ist eine Übertreibung!
Abgeordneter Schuhmeier: Wird auch fortwährend aufgezogen!
Abgeordneter Dr. Adler: Herr Hofrat Geßmann, wenn die Or-
ganisation auch noch nicht vollständig klappt, geben Sie die Hoff-
nung nicht auf, Sie werden's schon dermachen! (Heiterkeit.)
Abgeordneter Seitz: Wir schmieren ja mit der Kongrua! (Heiter-
keit.)
464 Der Sieg des gleichen Wahlrechts.
Abgeordneter Dr. Adler: Die Agitation der Geistlichen wird man
nicht verhindern können. Keinem Geistlichen wird je ein Haar ge-
krümmt werden, wenn wir auch ein noch so scharfes Gesetz
schaffen. Die Geistlichen werden dadurch nur in die Rolle von
Märtyrern gedrängt. Jedes Ausnahmegesetz hat die Folge, daß
nur der Schwache davon getroffen wird und niemals der Starke.
Der Antrag auf Einführung eines Kanzelparagraphen entspringt
nur der Angst des Bürgertums und dem Gefühl, daß seine Macht
zu wanken beginnt. Die Sozialdemokraten fürchten die Agitation
von der Kanzel nicht. Es ist noch keiner in die Kirche
gegangen als Sozialdemokrat und als Klerikaler
herausgekommen. Wohl aber sind sehr viele schon als
Klerikale hineingegangen und als Sozialdemokraten herausgekom-
men. Die Sozialdemokraten wollen der Geistlichkeit nicht er-
schweren, in dieser Weise zu ihren Gunsten zu wirken. Wir sind
allerdings nicht dazu bereit, diesen Herren
eine Immunität
zuzugestehen. Durch dieses Gesetz wird ja jeder Amtsmißbrauch
bestraft, und demgemäß sollte auch ein Geistlicher bestraft werden,
wenn er in Ausübung seines Amtes eine Wahlbeeinflussung vor-
nimmt. § 5 bedeutet also für mich eine Beruhigung, allerdings nicht
meines politischen, aber meines formalen Gewissens; denn ich
weiß, politisch wird nichts herauskommen, aber es ist wegen der
Ordnung, daß auch das im Gesetz drin steht. (Lebhafte Heiterkeit.)
Es existieren autoritative Aussagen über die Art und
Weise, wie die Geistlichkeit das Wahlgeschäft auffaßt. Ich werde
Ihnen aus einer mit bischöflicher Genehmigung erschienenen theo-
logisch-praktischen Quartalschrift aus dem Jahre 1898 ein paar
Nutzanwendungen vorlesen, in welchen Dr. Hermann Strohsacker
eine Abhandlung über
Wahlkasuistik
geschrieben hat, die einen gewissen Einblick in die Psychologie
der priesterlichen Wahllogik gewährt. Er kommt unter anderem
zu dem Schlüsse, daß, wenn es keine Sünde ist, in gewissen Fällen,
um die Wahl eines Sozialdemokraten zu verhindern, mit Liberalen
oder Nationalen zu paktieren, es dann auch keine Sünde
sein kann, Geld oder sonstige Emolumente für
seine Stimme anzunehmen, allerdings unter der Voraus-
setzung, daß der Katholik dem Skandalum ausweicht. Das Geschäft
eines Wahlagitators besteht nach seiner Ansicht in folgenden Hand-
lungen: Plakate des vom Agitator vertretenen Kandidaten anzu-
heften, gegnerische Plakate herabzureißen, den gegnerischen Kan-
didaten nach Möglichkeit als unfähig und unwürdig hinzustellen . . .
Abgeordneter Pastor*): Sie machen das ja auch!
Abgeordneter Pernerstorfer (zum Abgeordneten Pastor): Aber
Sie vertreten doch die Tugend!
*) Dechant Leo Pastor, Vorsitzender der polnischklerikalen Partei,
Abgeordneter der Landgemeinden von Jaslo, auch später dort gewählt.
Das Wahlschutzgesetz. J,>>
Abgeordneter Dr. Adler: ... eventuell den Mangel an Freunden
durch Geldverteilung ZU paralysieren. Sie, Hochwürden Pastor,
Sie würden selbstverständlich fragen: Welches dieser Agitations-
mittel verträgt sich erstens mit dem Gesetz, zweitens mit der
Moral und drittens mit dem Gebot, nicht zu lügen? Aber Dr. Stroh-
sacker ist ein Weltkind gegen Sie. (Lebhafte Heiterkeit.) Er ist nicht
so heikel, er sagt, es kommt darauf an, welcher Couleur der Kan-
didat angehört (lebhafte Heiterkeit), dem der Agitator seine Dienste
anbietet. Ist es ein Sozialdemokrat oder ein Kandidat, dessen Wahl
hie et nunc nicht erlaubt ist, so ist natürlich die Ranze Tätigkeit des
Agitators unerlaubt, auch wenn die Schritte, die er im Interesse
seines Auftraggebers unternimmt, an und für sich erlaubt wären.
Mit dem Abreißen der gegnerischen Plakate aber hat es seine
eigene Bewandtnis. Es könnten Bedenken entstehen, ob diese Zettel
nicht als Eigentum des gegnerischen Kandidaten zu betrachten
wären und daher ohne seine Zustimmung nicht vernichtet werden
dürfen. Allein eine doppelte Rücksicht läßt Dr. Strohsacker das
Herabreißen der gegnerischen Plakate in unserem Falle als erlaubt
erscheinen. (Lebhafte Heiterkeit.) Fürs erste verlassen die Plakate,
sobald sie aufgeklebt sind, von selbst das Dominium des Heraus-
gebers. Fürs zweite enthalten liberale und sozialdemokratische
Plakate regelmäßig Anwürfe gegen die Kirche, zum allerwenigsten
Aufforderungen zu unmoralischen Handlungen, nämlich zur Wahl
eines schlechten Kandidaten und können somit mit dem-
selben Rechte unschädlich gemacht werden, mit
welchem man etwa ein schädliches Tier nieder-
schießt. (Lebhafte Heiterkeit.) Das ist die Moral, von der diese
Herren ausgehen.
Abgeordneter Pastor: Ich stimme dem nicht bei!
Abgeordneter Dr. Adler: Die Schrift erscheint doch mit erz-
bischöflicher Genehmigung.
Abgeordneter Dr. Geßmann: Das imponiert uns gar nicht!
Abgeordneter Eldersch (zu Dr. Geßmann): Geben Sie acht, Sie
kommen auf den Index!
Abgeordneter Dr. Adler: Vermutlich ist dem Dr. Strohsacker,
seitdem diese Abhandlung erschienen ist, öfter der Vorwurf ge-
macht worden, daß er sich in diesem Falle zu sehr als Strohsack
bewährt hat. (Lebhafte Heiterkeit.)
Abgeordneter Pastor: Schlecht hat er gesprochen!
Abgeordneter Dr. Adler: Ungeschickt! Ich weiß, wenn Sie so
etwas schrieben, würden Sie es geschickter machen. (Heiterkeit.)
Wir unterschätzen die Macht der Geistlichkeit und insbesondere
ihre vollständige Unbedenklichkeit in der Wahl der Mittel, die ganz
andere sind als die, welche der sozialdemokratischen Partei zur
Verfügung stehen, durchaus nicht. Wir wissen, daß ihre Macht der
Suggestion der Massen
heute noch eine ganz gewaltige ist. Allein diese Macht würde noch
bedeutend erhöht, wenn wir den Zwangsparagraphen beschließen
Adler, Briefe. X. hd. 30
466 Der Sieg' des gleichen Wahlrechts.
würden. Darum und nicht aus Schonung oder aus Neigung, son-
dern aus der Überzeugung, daß es theoretisch und prinzipiell falsch
und politisch ein Fehler wäre, sind wir gegen einen solchen Para-
graphen. Allerdings müßte man wünschen, daß die Anträge Vogler
und Choc*) aus einem anderen Grunde im Gesetz stehen. In diesen
Anträgen werden nämlich nicht direkt Priester angeführt, sondern
überhaupt öffentliche Funktionäre und gewiß bildet der Mißbrauch
durch den Beamten eine der größten Gefahren. Wenn der Justiz-
minister**) gesagt hat, jede Einwirkung eines Beamten bei den
Wahlen ist ein faktischer Mißbrauch der Amtsgewalt, so kann ich
demgegenüber erklären , wenn der Justizminister das in vollem
Ernste meint, dann beneide ich ihn trotz seiner ziemlich langen Amts-
führung um seinen Sanguinismus, ich gratuliere ihm, daß er sich in
einer so schweren Stellung, wie es die eines Justizministers ist, die
Unschuld seiner Seele so lange bewahrt hat. (Heiterkeit.) Wrer soll
denn den Beamten strafen? Vielleicht derjenige, nach dessen In-
formationen und Instruktionen der Beamte handelt? Der Justiz-
minister sagte, ein solcher Bezirkshauptmann begehe ja einen Miß-,
brauch der Amtsgewalt und müsse viele Monate eingesperrt wer-
den. Meine Herren! Haben Sie schon einen eingesperrten Bezirks-
hauptmann gesehen? (Lebhafte Heiterkeit.)
Abgeordneter Daszynski: Da lacht sogar Hochwürden Pastor!
Abgeordneter Dr. Adler: Künftighin bekommen die Mitglieder
der Wahlkommission Amtscharakter, das heißt, wer sie nur schief
anschaut, macht sich der Amtsehrenbeleidigung schuldig. Ob das
aber auch dahin führen wird, daß sie den Mißbrauch der Amts-
gewalt mehr scheuen werden, darauf möchte ich nicht schwören.
Die Initiatoren dieses Gesetzes waren wesentlich die Christlich-
sozialen und die Polen. Nun kommt im Gesetz ein Paragraph vor,
wonach man
wegen Terrorismus,
so heißt es, wenn es die Sozialdemokraten begehen, Ausüben des
legalen Einflusses nennt man es, wenn es die anderen begehen, zu
sehr vielen Monaten Strafe verurteilt werden kann, vorausgesetzt,
daß man angeklagt wird. Nun kann es aber geschehen, daß jemand,
der sich einer Erpressung oder Bestechung schuldig macht, vom
Staatsanwalt nicht geklagt wird. Um dem vorzubeugen, daß der
Schuldige straflos bleibe, hat Dr. Locker***) beantragt, daß dem
betreffenden Wahlberechtigten die Befugnis eines Privatbeteiligten
im Strafverfahren zustehen soll. Gegen diesen Paragraphen wendet
*) Wenzel Choc, der tschechische nationalsozialistische Abgeordnete
von Prag; Dr. Ludwig Vogler, der liberale Abgeordnete der Leopoldstadt.
**) Justizminister im Kabinett Gautsch war der bekannte Jurist und
Schöpfer des österreichischen Zivilprozesses Dr. Franz Klein, der auch
dem Kabinett Koerber angehört hatte und dann wieder dem Kabinett Beck
angehörte; nach dem Umsturz kurze Zeit auch dem Nationalrat.
'*) Dr. Julius Locker, Abgeordneter der Stadt Linz, Mitglied der
Deutschen Volkspartei, Berichterstatter des Ausschusses über die Wahl-
reform.
D;is Wahlschatzgesetz. 467
sich gerade ein Teil der polnischen Abgeordneten (lebhafte Hört!
Hört!-Rufe), während er jede andere Verschärfung des Gesetzes
begrüßt hat und jede Strafe erhöht wissen wollte.
Abgeordneter Daszynski: Der Polenklub hat doch die Staats-
anwälte in der Hand!
Abgeordneter Dr. Adler: Ich darf eine solche Annahme hier
nicht machen (Heiterkeit), wo es sich gar nicht darum handelt, die
eine Partei in der Ausübung des politischen Terrorismus bis auf
das äußerste zu sichern und die andere Partei zu beschweren und
ihr auch nur die Ausübung der ihr zukommenden legalen, primi-
tivsten Rechte zu nehmen, hier, wo es sich um das blanke Recht
handelt, während die Polen doch nicht der Gerechtigkeit in den
Arm fallen wollen, wenn der Privatbeteiligte auftritt, um so ein
Delikt zu verfolgen! (Heiterkeit.) Die Polen werden sich doch nicht
so bloßstellen, gegen diesen Paragraphen zu stimmen.
Ich und meine Partei sind von dem Gesetz nicht entzückt.
Abgeordneter Dr. Geßmann: Wir auch nicht!
Abgeordneter Pastor: Wir auch nicht!
Abgeordneter Dr. Adler: Also, Herr Hof rat Geßmann auch nicht,
die Polen auch nicht, so lassen wir das Ganze liegen. Glauben Sie,
nur wegen der Regierung müssen wir es machen?
Abgeordneter Pernerstorf er: Lehnen wir es ab, wir haben ja
hier die Majorität!
Abgeordneter Schuhmeier: Also, stimmen wir gleich ab! (Leb-
hafte Heiterkeit.)
Abgeordneter Dr. Adler: Das Gesetz wird die Hoffnungen, die
Sie daran knüpfen, nicht erfüllen, es ist ein Feigenblatt für manchen
Mißbrauch der Amtsgewalt und eine Quelle der Schikane in hun-
dert Fällen. Es wird in den seltensten Fällen den Wahlmißbrauch
verhüten, in den häufigsten Fällen der herrschenden Partei, die den
Einfluß besitzt, ein Mittel der Verfolgung bieten. Deshalb sind wir
zwar für dengrößtenSchutz derWahlfreiheit, aber
nicht für dieses Gesetz. (Lebhafter Beifall und Hände-
klatschen bei den Sozialdemokraten.)
Abgeordneter Dr. Adler*) konstatiert, daß das in Verhandlung
stehende Gesetz zum Schutze der bürgerlichen Parteien gegen Ein-
schränkungen ihres Versammlungsrechtes durch die Sozialdemo-
kraten gemacht wurde. Das wäre vollständig überflüssig gewesen,
denn die Sozialdemokraten als Partei sind prinzipiell da-
gegen, daß Versammlungen der Gegner unmöglich
*) Nachdem Geßmann gesprochen hatte, erhielt Adler zur nächsten
Gruppe von Paragraphen das Wort.
Geßmann hatte in seiner Rede ausdrücklich erklärt, er sei für das
Gesetz lediglich aus der Besorgnis vor der Macht und dem unerlaubten
Oebrauch des Wahlrechtes durch die Sozialdemokratie. Es wäre an der
Zeit, daß die Angehörigen der bürgerlichen Gesellschaft daran denken, durch
eine vernünftige Verständigung sich einander zu nähern, um gegen-
über der von der Sozialdemokratie drohenden Gefahr zur rechten Zeit die
Mittel der Abwehr zu finden. (Beifall.)
30*
468 Der Sic« des gleichen Wahlrechts.
gemacht werden. Ich gebe zu, daß in einzelnen Fällen auch
von Angehörigen der Sozialdemokratie gegen diesen Grundsatz ge-
sündigt wurde, allein niemals mit Zustimmung der Parteiorgani-
sation und niemals mit gewaltsamen Mitteln. Sicherlich werden die
in dem Gesetz festgelegten Strafen gegen die Gegner der Sozial-
demokratie nie erfließen, es werden voraussichtlich nicht einmal
Prozesse geführt werden, wohl aber werden die sehr unangenehmen
Bestimmungen gegen die Arbeiter in Anwendung gebracht werden.
Die Bestimmungen sind in ihrem Wesen nichts anderes als ein
Ausfluß des Gefühls der Angst der bürgerlichen
Parteien. Sie glauben, ihre Versammlungen durch solche Para-
graphen schützen zu müssen, weil sie dem Bürgertum wieder Mut
machen und ihm wieder Gelegenheit zur politischen Betätigung
geben wollen. Aber durch Strafparagraphen erweckt man nicht die
Lebensgeister einer Klasse, die zu einer solchen Betätigung immer
mehr und mehr unfähig wird. Mut gewinnt man im Kampfe, nicht
indem man sich hinter der Polizei versteckt. Der Abgeordnete Dok-
tor Geßmann hat gesagt, er wünsche, daß sich die
Vereinigung aller bürgerlichen Parteien
gegen die Sozialdemokratie recht bald vollziehe. Niemand sieht
dieser Vereinigung mit so herzlicher Freude entgegen wie die
Sozialdemokraten selbst. Sie wünschen nichts sehnlicher, als daß die
KlarstellungdeseigentlichenKlassencharakters
der bürgerlichen Parteien endlich erfolge und daß die g e e i n i g-
ten Parteien der besitzenden Klassen dem organi-
sierten Proletariat entgegentreten. Die Stellung der
Sozialdemokraten ist um so besser, je mehr die Wahrheit ge-
sprochen wird, sie profitieren immer, wenn die Wahrheit siegt. Über
die Motive, die die Christlichsozialen veranlaßt haben, für das all-
gemeine Wahlrecht einzutreten, waren sich die Sozialdemokraten
niemals im unklaren. Wir haben gewußt, daß das allgemeine Wahl-
recht von ihnen nicht zu dem Zwecke unterstützt wurde, um das
sozialdemokratische Proletariat in seinen Bestrebungen zu fördern,
sondern umgekehrt, um die Sozialdemokratie zu bekämpfen. Der
Streit dreht sich immer nur darum: kann man die Sozialdemokratie
besser umbringen, wenn man sie mit dem Kurienparlament siedet
oder wenn man sie mit dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht brät?
Wir haben den letzteren Weg vorgezogen; uns ist der Tod im Wege
des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes lieber (Heiterkeit) und
insofern sind wir Ihnen dankbar dafür, daß Sie diese Tötungs-
methode gewählt haben.
Wir wissen auch genau, daß die bald öffentlich werdende Koali-
tion aller bürgerlichen Parteien innerhalb und außerhalb dieses
Hauses mitsamt ihrer Regierung gegen uns auftreten wird.
Wenn Sie sich darüber aufregen, daß sich die Stellung der Sozial-
demokraten gegenüber der Vergangenheit geändert hat, so ist das
nur insofern geschehen, als es uns gelungen ist, einen Teil des furcht-
baren Unrechts, das in diesem Staate auf allen Gebieten der öffent-
lichen Verwaltung gegen uns verübt wurde, endlich zu verhindern,
Der Wahlterror der Arrtiterrotisten. 4WI
und zwar nicht durch eine Machtciitfaltung, sondern dadurch, daß
wir es verstanden haben, trotz dieses Unrechts immer wieder a u f
unsere in R echt e z u b e s t e h e n u n d 0 p f e r z u I) r i n g e n.
Das, Herr Höfrat Geßmann, werden Sie aber nie erleben, dal.» wir
es als eine (iniist der Regier u n k ansehen, wenn man mit den
Arbeitern nach dem (iesetz verfährt. Eine Schwäche der RetfierunK
hat nur Ihnen tfegenüber bestanden, uns Kenenüber gab es nie etwas
anderes als die starke Faust und, wenn man sich nicht anders
helfen konnte, ein Ciewährenlassen.
Abgeordneter Dr. (ieUmann: Und was war am 28. November?
Abgeordneter Dr. Adler: Herr Hofrat Geßmann, Sie sind nicht
knieschwach, Sie sind ein starker Mann in Ihrer Verwaltung, Sie
haben eine starke Faust und wissen zu herrschen; ich frage Sie,
wenn Sie
am 28. November
Minister des Innern gewesen wären, hätten Sie die Vorgänge damals
verhindern können? Überlassen wir doch diese Frage den Herren,
die schon fertig sind. Die Mithilfe Ihrer Partei, Herr Hofrat, in allen
Ehren, aber die Zeit zwischen dem 15. Oktober und 28. November
war eine politisch entscheidende Zeit und Sie, Herr Hofrat, und Ihre
Partei hätten vielleicht keine Gelegenheit gehabt, eine so außer-
ordentliche Geschicklichkeit in der Frage des allgemeinen Wahl-
rechtes zu bekunden, wenn die Sozialdemokraten im Oktober und
November nicht so tapfer und so treu gegenüber ihren Prinzipien
gewesen wären. Was Sie uns vorwerfen, ist, daß wir am 28. No-
vember nicht dafür zusammengepfeffert worden
sind, wofür Sie, Herr Hofrat, Hofrat wurden!
Wenn Dr. Geßmann noch meinte, der Moment, wo das allgemeine
Wahlrecht zur Anwendung gelangen werde, werde auch der Moment
des politischen Bankrotts für die Sozialdemokraten sein, so rufe ich
dem Abgeordneten Dr. Geßmann zu: Arbeiten wir gemeinsam,
räumen Sie uns die Schwierigkeiten aus dem Wege, damit wir recht
bald an jenes Ziel gelangen, das wir das Erringen der politischen
Macht, Sie den politischen Bankrott nennen. (Lebhafter Beifall bei
den Sozialdemokraten.)
Der Wahlterror der Antiterroristen.
Debatte über das Wahlschutzgesetz,
12. Jänner 190 7*).
Ich finde es begreiflich, daß die Herren auf der polnischen Seite
keine rechte Lust und Courage haben, sich als Redner für die
Streichung des § 18 zu exponieren.
*) Der Wahlreformausschuß hatte das sogenannte WahlschutzKcsetz
dahin verbessert, daß auch der Terror, der von amtlicher Seite oder von
wirtschaftlich Stärkeren ausgeübt würde, wirklich getroffen werden könne.
Eg sollte die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur rürhehiins der An-
klage dadurch Kestci^ert werden, daß er den durch die Wahlnötigung ge-
470 Der Sic« des gleichen Wahlrechts.
Abgeordneter Ritter v. Abrahamowicz: Ich bitte ums Wort!
Abgeordneter Dr. Adler: Die Herren, die im Ausschuß Kautelen
gegen jede Art von Gesetzesübertretung verlangt haben, müßten
doch konsequenterweise auch dafür sein, daß alle diese Kautelen
verschärft werden. Sie haben allerdings ganz recht, Vertrauen zu
Ihren Beamten zu haben.
Abgeordneter Dr. Binder: Zu den österreichischen Beamten
im allgemeinen!
Abgeordneter Dr. Adler: Und speziell zu den galizischen
Beamten! Bedenklich ist nur, daß die Herren Beamten
zuviel Vertrauen zu Ihnen
haben. (Heiterkeit.)
Abgeordneter Dr. Binder: Manche haben zum Herrn Daszynski
Vertrauen.
Abgeordneter Dr. Adler: Diese Spezialität ist leider bis jetzt
nicht sehr ausgebildet. Die Staatsanwälte haben für
Daszynski allerdings sehr viel Neigung (lebhafte Heiterkeit) und
wünschen mit ihm in ausgiebigeren Verkehr zu treten. (Heiterkeit.)
Die Regierung ist im Ausschuß für diesen Paragraphen nicht sehr
eingetreten. Sie hat ihn sogar nicht gewünscht; aber das kann für
uns nicht bestimmend sein. Die Regierung mußte sich bei vielen
troffenen und geschädigten Personen die Befugnis einräumte, in dem Straf-
verfahren als Privatbeteiligte aufzutreten, welche Befugnis den
Verletzten auch im Strafrecht eingeräumt ist. Diese Bestimmung wäre auch
deshalb sehr nützlich gewesen, weil dem Privatbeteiligten auch das Recht
der subsidiären Verfolgung zusteht, er also eingreifen könnte, wo
der öffentliche Ankläger versagt. Aber das war den Christlich-
sozialen und Polen, die das Wahlschutzgesetz betrieben, nicht sehr an-
genehm und sie lehnten deshalb im Plenum am 12. Jänner den vom Aus-
schuß beschlossenen § 18, der jenes Recht statuierte, ab. Die „Arbeiter-
Zeitung" sagte sehr richtig, warum: Sie wollten zwar ein Gesetz, womit
sie unter Umständen die berechtigteste Einwirkung auf die
Wähler verfolgen können, wünschten aber nicht, daß sich die Bedrohten
selbst zur Wehr setzen: weil sie ahnten, welche Erpresser dann
zumeist auf die Anklagebank kommen könnten. Ist jemals die Einschüchte-
rung von Unternehmern angeklagt worden — obwohl das Koalitionsgesetz
sie ebenso bedroht wie die der Arbeiter? Wohl noch niemals, und so wird
es auch mit der Wahlnötigung sein. Der Ausbeuter, der seine Arbeiter
durch Androhung von „Schädigungen in i'hrer beruflichen
Tätigkeit" in der Freiheit der Wahl stört; der Beamte, der von
seiner Gunst abhängige Bürger durch „Schädigungen in ihrer ge-
schäftlichen Tätigkeit", der Hetzpfaffe, der die frommen
Schäflein durch Androhung „anderer für sie empfindlicher Übel" beirrt —
was als schäbiger Rest des Kanzelparagraphen ins Gesetz aufgenommen
wurde — : sie alle blieben, selbstverständlich, vor den Staatsanwälten sicher.
Was zu der Hacke der Strafandrohung der Stiel sein sollte, ist fürsorg-
lich abgelehnt worden, und der Rest war ein Gesetz, das tendenziös im Auf-
bau und zum tendenziösen Gebrauch bestimmt war. Die Schützer der Wahl-
freiheit hatten sich als Handlanger der Erpresser demaskiert.
In der Debatte kam auch an diesem Tag Dr. Adler zu Wort, der den
Wahlschützlern die Larve vom Gesicht riß.
Der Wahlterror der Antiterroristeft. 471
anderen Bestimmungen dem Ausschuß fügeil, die durchaus niclit
im Interesse der Reinheit der Wahlen sind, und sie müßte sich uns
fügen, wenn das Parlament konsequent vorgebt.
Es ist nicht bloß in (ializien so. Die Staatsanwälte haben über-
haupt nicht den Antrieb, auf Leute zu greifen, die an der Macht
sind. Der § 18 ist. ja kein so ausschlaggebendes Mittel, der Staats-
anwalt ist ja nicht alles. Zu Ihrem Tröste haben Sie die Rats-
kammer; es wäre ein Irrtum, ihr nicht dasselbe Vertrauen ent-
gegenzubringen. Um so weniger ist es zu begreifen, warum Sie
sich so gegen den § 18 sperren. Die Parteien, welche breite Volks-
schichten vertreten, würden einen schweren Fehler begehen, wenn
sie diesen Paragraphen, der dank den Vertretern der Deutschen
Volkspartei im Ausschuß eingefügt wurde, fallen ließen.
Der Berichterstatter hat darauf hingewiesen, daß Fälle von
Sprengungen gegnerischer Versammlungen vorkommen. Das habe
ich ja gestern selbst eingeräumt. Ich habe aber hinzugefügt, daß
die sozialdemokratische Partei damit nicht einverstanden ist und
daß solche Fälle bei allen Parteien vorkommen. Dr. Qeßmann wird
nicht sagen können, daß seine Partei von diesem Fehler frei ist.
Abgeordneter Dr. Geßmann: Das gebe ich zu!
Abgeordneter Dr. Adler: Ich freue mich, daß wir in diesem
Punkte einig sind, und ich will hier öffentlich konstatieren, daß wir
im Interesse unserer eigenen Partei künftighin solche Dinge ver-
mieden wissen wollen. Der Berichterstatter hat auch einen ver-
schärften Appell an die bürgerlichen Parteien gerichtet, sich im
neuen Hause gegen die Sozialdemokratie zu ver-
einigen. Ich kann mich diesem Appell nur auf das wärmste an-
schließen. Ich werde mich freuen, wenn
unter der grünen Fahne des Propheten Geßmann
das vereinigte Bürgertum gegen die Sozialdemokratie anstürmen
wird. Hofrat Geßmann hat der Sozialdemokratie ferner den Vor-
wurf anzuhängen für gut befunden, sie hätte sich am 28. November
1905 einer besonderen Begünstigung der Regierung zu erfreuen
gehabt. Dr. Geßmann täte gut, solche Argumente dem Fürsten
Schwarzenberg zu überlassen.
Abgeordneter Dr. Geßmann: Die Wahrheit kann jeder sagen!
Abgeordneter Dr. Adler: Das ist nicht die Wahrheit. Sie wissen
ganz gut, daß den Tausenden von Menschen am 28. November die
Regierung nicht aus Liebe die Möglichkeit gegeben hat, vor dem
Parlament zu erscheinen ; sie konnte es nicht hindern.
Jeder muß anerkennen, daß die Demonstration tadellos verlief, mit
einer geradezu achtunggebietenden Disziplin.
Abgeordneter Dr. Geßmann: In der Eigenartigkeit des Be-
triebes liegt ja gerade die Stärke Ihrer Partei, nicht in den Grund-
sätzen!
Abgeordneter Dr. Adler: Wenn Sie damit sagen wollen, daß die
Entwicklung der Partei mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu-
sammenhängt und daß die Regimenter der Sozialdemokratie ge-
schult und erzogen werden in den Fabriken selbst, so ist das sehr
472 Der Sic« des gleichen Wahlrechts.
richtig. Und darum ist Ihre Hoffnung auch vergeblich, daß Sie
jemals diese Entwicklung werden aufhalten können. Dr. (ießmann
hat gestern auch davon gesprochen, was der 28. November der
Sozialdemokratie an Geld kostete. Ich sage es allen, die es nicht
wissen: Darin liegt die große Kluft zwischen der Sozialdemokratie
und Ihnen allen, das werden Sie nie verstehen, daß alle diese
Hunderttausende nicht nur hier in Wien, sondern in ganz Öster-
reich nicht für Geld bei der Demonstration erschienen sind,
sondern daß das älteste Weiberl aus der Fabrik
einzig und allein gekommen war, um der heiligen
Sache zu dienen. Es war
ein Tag der Erfüllung ihres höchsten Ideals,
als es ihnen möglich war, das Opfer dieses Arbeits-
tages zu bringen. Daß Sie das nicht verstehen, finde ich
begreiflich, weil Sie sich in die proletarische Gedankenwelt gar
nicht hineindenken können, weil Sie von dem ungeheuren Idea-
lismus, von dieser Triebkraft, die das Proletariat beseelt, keine
Vorstellung haben können.
Abgeordneter Dr. Geßmann: Die Herren sind ja alle keine Pro-
letarier gewesen, so wenig wie ich!
Abgeordneter Dr. Adler: Wenn darauf hingewiesen wird, daß
noch nicht die ganze Arbeiterschaft sozialdemokratisch organisiert
sei — die fünf Prozent, von denen da gesprochen worden ist, sind
einer älteren Statistik entnommen, die neuen Ziffern sind für die
Sozialdemokratie bei weitem erfreulicher — , so hat ja Dr. Geß-
mann sehr recht, es geht auch für uns viel zu langsam, und wir
werden uns bemühen, viel schneller zu dem Ergebnis zu kommen,
daß die heute noch indifferente Arbeiterschaft mit vollem Bewußt-
sein und mit voller Klarheit über das Programm in die Reihen der
Sozialdemokratie tritt. Ich habe absichtlich jedes verletzende Wort
vermieden und hoffe, daß damit die Polemik erledigt ist. Gegen
das Schlußwort bin ich natürlich ohnmächtig. (Heiterkeit und
Beifall.)
I
Vorbereitungen zum Wahikampf. 473
Die ersten Wahlen zum Volkshaus-
Vorbereitungen zum Wahlkampf.
Reichs konteren z, 2 7. Jänner 190 7*).
Wenn wir uns heute versammelt haben, um über den Wahl-
kampf zu beraten, so ist doch unser erster Gedanke der Tatsache
gewidmet, daß morgen die letzte Sitzung des Kurienparlaments ist
und daß übermorgen schon das allgemeine, gleiche Wahlrecht in
Österreich Gesetz sein wird, daß ein neues Blatt der Geschichte
Österreichs beginnt. Hier in diesem Saale ist vor fünf Vierteljahren
wie blitzartig der Entschluß in uns allen entstanden: Jetzt oder
nie! Als damals von diesem Saale aus ein Sturm durch ganz Öster-
reich ging, da konnte niemand wissen, wie lange der Kampf dauern
und wie er zunächst enden werde. Aber das wußten wir alle, daß
das die Schicksalsstunde für Österreich, die
Schicksalsstunde für das österreichische Pro-
letariat war. Seit damals hat sich in Österreich eine Wandlung
vollzogen, die wir nur in unseren besten, hoffnungsvollsten Stunden
zu ahnen wagten, eine Wandlung, die unsere Gegner, die die bürger-
liche Klasse, die Bürokratie, die alles, was mächtig ist in Österreich,
für unmöglich hielten. Wir sind Leute, die Energie und aufopfernde
Begeisterung aufzubringen gewohnt sind, aber wir sind auch Leute
— und das möchte ich als Ruhmestitel der österreichischen Sozial-
demokratie in Anspruch nehmen — , die nüchtern und kaltblütig
alle Umstände erwägen. Es fällt uns nicht ein, uns an dem Erfolg
zu berauschen. Wir wissen sehr gut, daß die vollständige Um-
wandlung dieses Staates, die die notwendige Bedingung des Lebens
der Völker in diesem Staate ist, mit der Erringung des allgemeinen
und gleichen Wahlrechtes erst begonnen hat und lange nicht voll-
*) Einen Tag, nachdem die Wahlreform des allgemeinen gleichen Wahl-
rechtes die kaiserliche Sanktion erhalten hatte, also Gesetz geworden war,
trat im Favoritner Arbeiterheini die Reichskonferenz der deutschen Sozial-
demokratie zur Vorbereitung der Wahlen zusammen. Unmittelbar vorher
hatten die Wahlen zum Deutschen Reichstag stattgefunden, die, wie der
Vorsitzende Abgeordneter S k a r e t feststellte, den Jubel der Gegner her-
vorgerufen hatten, aber den Arbeitern den Mut nicht zu nehmen ver-
mochten. Die deutsche Sozialdemokratie hatte zwar einen Rückgang der
Mandate von 81 auf 44, aber einen Stimmenzuwachs von 3,001.000 auf
3,259.000. (1912 erhöhte sie ihre Stimmen auf 4,250.000 und die Mandate
auf 110.) Das Referat auf der Reichskonferenz erstattete Dr. Adler.
474 Die ersten Wahlen zum Volkshaus.
endet ist. Aber wenn uns etwas für die weiteren Kämpfe stärken
und in uns die unerschütterliche Überzeugung von den notwendigen
Siegen unserer Ideen befestigen kann, so ist es der Gedanke, daß
das allgemeine Wahlrecht vor nicht sehr langer Zeit — wie heißt
es im Evangelium? — ein Ärgernis war den Juden und den Heiden
eine Torheit, daß es aber heute die Grundlage aller Staatskunst in
Österreich ist und das Gemeingut aller Parteien, die Anspruch dar-
auf machen, politisch überhaupt zu existieren. (Lebhafter Beifall.)
Die Sozialdemokratie hat den Erfolg des allgemeinen Wahl-
rechtes gewiß nicht dadurch erringen können, daß sie die Gegner
unterdrückt hätte, daß sie dem Staate, den herrschenden Klassen,
der Krone das allgemeine Wahlrecht gewaltsam auferlegt hätte, als
eine Maßregel, die nur wir wollen und gegen die sich jene sträuben.
Das ist vielleicht niemals der Weg gewesen, auf dem Ideen zum
Siege kommen. Nein, wir waren die Träger der Idee, wir waren ihre
Vorkämpfer und so mancher von uns ist vor den Gerichten ge-
standen und in den Kerkern gesessen dafür, daß er Sätze und Lehren
ausgesprochen hat, die heute von den Bänken der Minister ver-
kündet werden. (Beifall.) Wir haben Bresche gelegt, wir haben den
Sieg gebahnt, wir haben Stück für Stück die Herrschenden dem
Gedanken näher gebracht, mit allen Mitteln der Überredung, und
Sie gestatten, daß ich bei dieser Gelegenheit einer unserer stärksten
Waffen, der sozialdemokratischen Parteipresse, gedenke. Ich kann,
obwohl selbst ein Mann der Presse, unbefangen davon sprechen,
denn an diesem Verdienst war ich sehr wenig persönlich beteiligt,
ich hatte anderswo meinen Posten. Aber das muß jeder zugeben,
daß das, was die Parteipresse, was insbesondere die „Arbeiter-
Zeitung" in diesem Kampfe geleistet hat, eine geschichtliche Bedeu-
tung besitzt. (Lebhafter Beifall.) Wir wußten von jeher, daß das
gleiche Wahlrecht die Lebensbedingung für das Proletariat ist. Aber
so weit sind unsere herrschenden Klassen nicht, daß ihnen etwas,
was nur dem Proletariat nützt, als notwendig erschiene. Ander-
seits gibt es nicht eine Forderung des Proletariats, die allein dem
Proletariat nützlich wäre, sondern jede Forderung des
Proletariats und jede seiner Notwendigkeiten
ist in letzter Instanz eine Notwendigkeit für die
Gesamtheit. Darin liegt ja unsere Kraft, darin unsere Sieges-
sicherheit, daß alles, was die Sozialdemokratie verkündet, aller-
dings eine Forderung der Klasse des Proletariats ist, daß aber die
Notwendigkeiten des Proletariats auf dem Wege der Kulturmensch-
heit überhaupt liegen. Und für Österreich speziell gilt es, daß diese
unsere Forderung auf dem Wrege liegt der Entwicklung unseres
Staates, oder genauer gesagt, auf dem Wege der Entwicklung
Österreichs zu einem Staate.
Die Geheimgeschichte zwischen dem September 1905 und dem
November, zwischen dem Gautschischen „Niemals" und dann dem
Gau4schischen „Unter allen Umständen" ist noch nicht geschrieben;
aber mit der Wandlung des Ministeriums aus einem bürokratischen
Ministerium, das die Wahlreform verweigerte, zu einem Wahl-
Vorbereitungen »lim Wahlkampf- 47:>
refornmünisteriiim war noch lallte nicht alles getan und die Gegner,
die im Herbste noch schwankten /wischen der Behauptung, daß die
Sozialdemokraten ihren terroristischen Willen dem ganzen Reich
aufdrücken wollen, und der Behauptung, daß die Sozialdemokraten
nur offene Türen einrennen, waren zu der Zeit noch weit entfernt
von der Erkenntnis der Notwendigkeit der Wahlreform und noch
weiter vom Willen, das allgemeine Wahlrecht (iesetz werden zu
lassen. Wir sind versöhnliche Leute und wir haben jeden, der sich
aus einem verbissenen Gegner zu einem Förderer der Wahlreform
gewandelt hat, als Mitstreiter freundlichst begrüßt. Heute ist natürlich
jeder für das gleiche Wahlrecht; aber wir wissen, daß dieselben
Parteien, die sich der Wahlreform entgegengesetzt haben und die
heute für die Wahlreform sind, mit derselben Verbissenheit sich uns
bei jedem weiteren Schritte, den das Proletariat machen wird, ent-
gegenstellen werden. Wie das allgemeine Wahlrecht geworden
ist, darüber brauche ich nur wenige Worte zu sagen. Wir wissen,
wie unser Proletariat jederzeit kampfbereit dagestanden ist, ge-
rüstet zum äußersten Kampfe, aber wie es doch jene eiserne Ruhe
und Disziplin bewahrt hat, auf die wir mit Freude und Stolz hin-
weisen können und die uns die Gewähr dafür ist, daß wir noch
ganz andere Siege erringen werden als das gleiche Wahlrecht. In
-dieser Zeit des Kampfes hat die Partei erfreuliche Fortschritte
gemacht. Betrachten Sie unsere politischen, unsere gewerkschaft-
lichen Organisationen, wie sie gewachsen sind, wie sie sich nun
fühlen, wie sie eine Schlagfertigkeit und Kraft gewonnen haben,
die wir vor wenigen Jahren noch nicht zu erhoffen wagten. Das
alles ist im Kampfe geschehen. Mit dem Schwert in einer Hand
und mit der Kelle in der anderen, gekämpft und gebaut zugleich
hat das österreichische Proletariat in diesem Jahre. (Lebhafter
Beifall.)
Aus dem Wahlrechtskampf kommen wir, in den Wahlkampf
gehen wir. Allerdings dank der bürokratischen Schwerfälligkeit
Österreichs — die nicht verstehen kann, daß man eine Wählerliste
rascher fertigstellen kann als vier — werden wir noch ein Viertel-
jahr auf die Wahlen zu warten haben. Trotzdem werden wir nicht
zögern, alle organisatorischen Arbeiten für den Wahlkampf sofort
in Angriff zu nehmen, wenn ich auch davor warnen möchte, zu früh
eine sehr lebhafte agitatorische Tätigkeit zu führen und so vor-
zeitig die Kraft zu verschwenden. Die stärksten Trümpfe hebt man
für den Schluß auf. Aber längst sind wir auch von der jugendlichen
Vorstellung abgekommen, daß die Wahlschlachten in großen
Massenversammlungen gewonnen werden, und haben uns längst
überzeugt, daß die Wahlen nur durch eifrige organisatorische Klein-
arbeit gewonnen werden. Man kann bei der Wahl nicht ernten, was
man nicht jahrelang gesät hat. Die Festigung unserer politischen
Organisation, die Vollendung des Netzes unserer politischen Organi-
sation, diese Arbeit kann nicht früh genug begonnen werden.
Es wird nun eine merkwürdige Umkehr der Verhältnisse ein-
treten. In den letzten Monaten namentlich hat die Sozialdemokratie
476 Die ersten Wahlen zum Volkshaus.
mit einer Anzahl von bürgerlichen Parteien zusammengehen müssen,
die zu unseren erbittertsten Gegnern gehört haben, und wer von
außen das Bild betrachtet hat, mußte glauben, es sei ein Gottes-
frieden über Österreich gekommen. Aber das Bild wird sich bald
und gründlich ändern. Alle Parteien, die ihren Ruhm darin gesehen
haben, mit der Sozialdemokratie für die Wahlreform zu kämpfen,
werden nun unter sich geeinigt in einer Front gegen die Sozial-
demokratie das Wahlrecht auszunützen suchen. Darum machen Sie
sich gefaßt auf einen schweren, ernsten Kampf. Das ist der Punkt,
auf dem wir unsere Gegner erwarten, das ist die Fahne, unter der
wir endlich kämpfen wollen, wenn alle die kleinlichen Gruppen-
interessen zurücktreten hinter das große Problem des Klassen-
kampfes. Wenn der Kampf, der nun beginnt, die Anspannung der
Kraft jedes einzelnen Parteigenossen erlangt, so ist der Kampf des
Opfers wert. Es gilt nicht nur, der Arbeiterschaft im Parlament eine
gebührende Vertretung zu schaffen, nicht nur, ihr eine Stätte des
Sprechens und Verkündens, eine Stätte des Wirkens zu schaffen,
sondern es gilt für Österreich — und für uns — eine weitere grund-
legende Arbeit zu leisten. Große Aufgaben treten nun an uns heran.
Vor allem werden wir im Parlament den jahrzehntelang vernach-
lässigten Arbeiterschutz mit aller Kraft auf die Tagesordnung zu
setzen haben, wir werden das Koalitionsrecht mit unserer ganzen
Energie verteidigen müssen, wir werden die Interessen des Prole-
tariates an dem freiheitlichen Ausbau unserer Gesetzgebung zu
wahren haben und dabei besonders den Ansturm des Klerikalismus
abwehren müssen. Das allgemeine Wahlrecht hat das alte feudale
Österreich demoliert, aber es wird auch ein neues Österreich auf-
bauen müssen. Wir werden das Wort wahr zu machen suchen, das
wir immer gesprochen haben, daß das Parlament des gleichen Wahl-
rechtes nur den Weg für uns geebnet hat, daß aber der Kampf für
das Österreich der Völker jetzt erst beginnen muß. Wenn es bis jetzt
geheißen hat: Keine Ruhe in Österreich, so lange wir das allgemeine
Wahlrecht nicht errungen haben! Wir haben jetzt das allgemeine
Wahlrecht, und jetzt erst recht keine Ruhe. (Stürmischer Beifall.)
Wir haben viel zu tun, um die Sünden zu beseitigen, die das alte
Österreich an den Völkern und vor allem an dem Proletariat be-
gangen hat. Wir haben Arbeit genug, um aus diesem Österreich
erst einen Staat zu machen, einen lebendigen Staat, der ein brauch-
bares Werkzeug sei für die Kulturentwicklung der Völker, an Stelle
eines hinfälligen Gesamtstaates, dem die Interessen der in Öster-
reich lebenden Völkern geopfert werden, ein selbständiges Öster-
reich zu setzen, das in einem wirtschaftlichen Bunde mit einem
selbständigen Ungarn steht.
Eine große Reihe von Arbeiten steht uns bevor. Wir sind eine
Partei der Revolution, eine Partei, die den Sieg des Proletariats
vollenden will, die den Staat in die Hände der arbeitenden Klassen
bringen will. Wir verneinen das ganze heutige Herrschaftssystem;
aber das hindert uns keinen Augenblick, im einzelnen — im Größten
wie im Kleinsten — positiv zu arbeiten und jeden Schritt, den wir
)as Walilreditslest. 477
vorwärts machen können, zu gehen, alles, was wir den Mächtigen
im Staate abringen können, ihnen aneli in Zukunft wieder abzu-
ringen. Denn wir sind nicht wie unsere Qegner uns tütflieh ver-
leumden, die uns als eine Partei der ohnmächtigen Deklamation hin-
stellen; wir sind und waren nie der Anschauung •** und nirgends
waren es die Sozialdemokraten, die zu politischer Wirkungsmög-
liehkeit erwachsen sind — , daß sieh die Sozialdemokraten abseits
von dem Boden des wirkliehen politischen Kampfes zu stellen haben:
sondern wir wollen im neuen Parlament wie im Parlament der
Kuriensehande, das morgen eingescharrt werden wird, als eine
Partei des unablässigen Kampfes auf allen (iebieten für die
Arbeiter durch die Arbeiter und damit für alle Völker wirken. Das
ist unser Programm. In diesem Zeichen werden wir in den Wahl-
kampf gehen, und möge uns die ganze Rotte der vereinigten
Reaktion gegenüberstehen, wir fürchten sie nicht, denn wir wissen,
daß wir den Kampf, der vor uns liegt, mit der guten und scharfen
Waffe führen werden, die wir uns selbst geschmiedet haben.
(Stürmischer Beifall.)
Dr. Adler beantragt hierauf, folgendes Telegramm an den Partei-
vorstand der deutschen Sozialdemokratie zu senden :
Die Reichskonferenz der deutschen Sozialdemokraten in Österreich,
versammelt, um die ersten Wahlen des gleichen Rechtes vorzubereiten,
begrüßt die stärkste und älteste Vorkämpferin des internationalen
Proletariats, die deutsche Sozialdemokratie, am Tage nach dem
schweren Kampfe und beglückwünscht das Proletariat Deutschlands,
das gegenüber einer unerhörten Koalition der reaktionären Parteien,
die aufgepeitscht wurden von demagogischen Schlagworten, seine volle
Kraft bewährt hat.
Jederzeit brüderlich mit euch verbunden, marschieren wir mit euch
trotz alledem und alledem mit fester Siegeszuversicht den Zielen der
Sozialdemokratie entgegen.
Dieses Telegramm wird unter anhaltendem und stürmischem Beifäll
einstimmig beschlossen.
Das Wahlrechtsfest.
Arbeiterheim Favoriten, 2 8. Jänner 1907*).
Werte Genossen und Genossinnen! In einer Festversammlung
begrüßt Sie heute die Parteivertretung der deutschen Sozialdemo-
kratie in Österreich. In einer Festversammlung nach einem Jahre
*) Am 28. Jänner 1907 fand die letzte Sitzung des Kurienparlamentes
statt und am nächsten Tage konnte der Aufruf der Parteivertretung der
deutschen Sozialdemokratie erscheinen, der nach einem Rückblick über
den Wahlrechtskampf zum Wahlkampf aufforderte. Am Abend des
28. Jänner fand im Favoritner Arbeiterheim in der Form eines Kommerses
ein Wahlrechtsfest der Vertrauensmänner statt, bei dem Adler, Schuh-
meier, Seliger (Teplitz), Schäfer (Reichenberg), Preußler
(Salzburg) und Adelheid Popp sprachen.
478 Die ersten Wahlen zum Volkshaus.
von Kampf, an dem Tage, an dem das Privilegienparlament, dem
Millionen Flüche zugedacht waren, das wir Stück für Stück fast
mit blutenden Händen demoliert haben, seinen letzten Seufzer aus-
gehaucht hat. (Bravorufe.) Nun hat es die Sache überstanden. Es
ruht sanft. In unserem Gedächtnis nur darum so sanft, weil es sich
doch zuletzt — der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe —
dazu aufgerafft hat, zu tun, was es nicht vermeiden konnte: die
Möglichkeit zu schaffen, daß auf politischem Wege die Umwälzung
erfolge, die aus Österreich einen Staat mit demokratischer Grund-
lage der Verfassung macht. Wir dürfen sagen, das Proletariat in
Österreich, das Proletariat aller Zungen und aller Länder hat in dem
Lebenskampf für die Völker seine Schuldigkeit getan. (So ist es!)
Wir haben die Bresche gelegt, so daß das Parlament, die Regierung
und die Krone den Weg wandeln konnten, den wir ihnen gezeigt
haben. Wir haben den Herrschenden die Überzeugung beigebracht,
daß das, was an der Spitze unseres Programms gestanden hat, eine
Notwendigkeit nicht nur für die Entwicklung des arbeitenden Volkes,
sondern auch für die des Staates ist. (Sehr richtig!) Genossen und
Genossinnen! Indem wir Sie an einem Tage des Sieges begrüßen,
danken wir Ihnen als den Vertretern der Hunderttausende, die mit
uns gekämpft haben: für alle Opfer, die Sie gebracht; für den Mut,
den Sie bewiesen; für die Selbstbeherrschung und . Disziplin, die
Sie in den schwersten Tagen bekundet haben. Und wir sagen Ihnen
gleich: Die Freude des Sieges, das Fest, wird nicht lange dauern,
nach dem Feste kommt wieder der Kampf! Und heute
laden wir Sie schon zu dem großen gewaltigen Kampfe ein, der der
österreichischen Arbeiterschaft zum erstenmal Gelegenheit geben
wird, die Waffe des gleichen Rechtes, die sie sich selbst geschmiedet
hat, zu gebrauchen. Wir begrüßen Sie, indem wir die Erwartung
aussprechen, daß dieselben Tugenden wie bisher, unzerbrechlicher
Mut, Siegessicherheit in dem Gedanken unserer heiligen großen
Sache, Sie auch weiter beseelen werden, daß Sie einig sind mit den
Sozialdemokraten aller Zungen in Österreich in dem Gedanken:
So wie wir diesen ersten Kampf bestanden haben, wollen wir weiter
kämpfen, bis unser letztes, s großes Ziel erreicht ist, die Befreiung
der arbeitenden Menschen. (Brausender BeifälfO
Der Wahlkampf beginnt.
Erste Kandidatenrede in Favoriten.
• 19. März 1907*).
Wir stehen nun im ersten Wahlkampf unter dem Wahlrecht,
für das wir durch dreißig Jahre gekämpft haben und das wir in
*) Die erste Wählerversammlung in Favoriten, die am 19. März im
Favoritner Arbeiterheim stattfand, war natürlich massenhaft besucht. Da
das volkreiche Favoriten zwei Wahlbezirke bildete, referierten zwei
Kandidaten: Jakob Reumann, der nachmalige erste rote Bürgermeister
von Wien, und Victor Adler.
Kr Wiililkampt beginnt. 47<)
einem rühmlichen Schlußkampf endlich erobert haben; Die Lmp-
findungen, die wir bei diesem Kampf haben, sind vor allem die des
Stolzes und der Genugtuung darüber, daß die Arbeiterklasse in
Osterreich das politische Werk Releistet hat, das die Völker schon
lange so notwendig gebraucht haben, das ein Lebensbedürfnis der
Völker war und das alle anderen Klassen miteinander nicht nur
nicht zuwege bringen konnten, sondern dem sie sich mit Klauen
und Zähnen widersetzt haben. Heute freilich gibt es
nur Freunde des allgemeinen Wahlrechtes.
Heute möchten alle das allgemeine Wahlrecht erobert haben
und von der Bevölkerung den Dank einkassieren, daß sie Öster-
reich von der Kurienschande und dem Scheinparlamentarismus
befreit und ihm den Weg in ein neues, ehrliches politisches Leben
geebnet haben. (Heiterkeit.) Alle Parteien bis auf die Großgrund-
besitzer; aber die können sich natürlich nicht dessen rühmen, weil
sie einfach vom Schauplatz verschwunden sind. Aber alle diese
Leute, die sich heute rühmen, daß sie das Wahlrecht erobert
haben, haben uns durch Jahrzehnte als Utopisten verhöhnt,
uns im letzten Jahre als Terroristen gebrandmarkt, weil wir
dem Staate das Wahlrecht erobert haben. (Lebhafte Zustimmung.)
Gewiß, das allgemeine Wahlrecht — so sehr es die Lebens-
bedingung nicht nur der Völker, sondern auch des Staates ist —
war nur zu erobern durch den eisernen Druck, durch einen
eisernen Willen, durch die Entschlossenheit, vor nichts zurück-
zuweichen und jedes Opfer zu bringen. Der Staat und die Völker,
die Regierenden, alles, was Macht hat in Österreich, mußte
— wenn sie es so nennen wollen — durch Terrorismus
dazu gezwungen werden, das zu tun, was sie
selbst gebraucht haben. (Lebhafter Beifall.) Und der ge-
schichtliche Ruhm der österreichischen Arbeiterklasse ist es, daß
sie den eisernen Willen, den Mut und die Unerschrockenheit gehabt
hat, als der richtige Moment gekommen war, alles in die Schanzen
zu schlagen, den Mut, die Schlacht zu schlagen, die für sie ver-
hängnisvoll werden konnte, aber auch den Verstand, die
Schlacht zu gewinnen. (Beifall.) Hinterher ist es leicht, klug zu
sein, hinterher kann man sich leicht rühmen, und ich will dankbar
anerkennen, daß sich die einzelnen Parteien und Abgeordneten so
nach und nach zum allgemeinen Wahlrecht herübergeschlängelt
haben. Ich trage es niemand nach, daß er es zu spät getan hat,
wenn er nur gekommen ist. Denn schließlich waren die Anhänger
des allgemeinen Wahlrechtes vor zwei Jahren im Parlament nicht
sehr zahlreich, und mit unseren elf Stimmen*) allein hätten wir die
Sache nicht machen können, und außerdem waren nur zwei oder
drei Dutzend mit uns. Wir sind den Herren wirklich sehr dankbar,
die rechtzeitig erkannt haben, wie der Wagen läuft, und sich recht-
') In der letzten Session des Kurienparlaments hatten die Sozialdemo-
kraten ;iller Nationen nur 11 von 425 Mandaten des Abgeordnetenhauses.
80 Die ersten Wahlen zum Volkshaus.
zeitig hineingesetzt haben. (Heiterkeit und Beifall.) Und ich gebe
dem Herrn Hofrat Geßmann öffentlich das Zeugnis — weil er es
ja wiederholt verlangt hat — , daß er allerdings klug genug war,
sich beizeiten dorthin zu setzen, wo er am besten fährt. (Lebhafte
Heiterkeit und Beifall.) Aber das Wichtigste war, den Wagen in
Gang zu bringen, und das zu einer Zeit, wo man nicht bequem
darin sitzen konnte, sondern wo man sehr stark der Gefahr aus-
gesetzt war, unter die Räder zu kommen. Und damals waren wir
allein.
Wenn jemand glaubt, daß das ein überflüssiges Reden ist, weil
die Dinge ja vorbei sind, so irrt er sich; denn wir sind nicht am
Ende, sondern am Anfang*) der Neugestaltung unseres Staates, und
wir haben mit dem allgemeinen Wahlrecht erst die Vor-
bedingungen dafür geschaffen, durch die sie möglich wird — wenn
auch nur möglich mit den größten und schwersten Opfern. Wir
stehen am Ende des einen Kampfes und am Anfang neuer,
schwererer Kämpfe als wir sie bisher hatten. Aber die Lehre
können wir daraus ziehen, daß die Arbeiterklasse, die sozialdemo-
kratisch organisierte Arbeiterschaft das
Rückgrat dieses Staates
ist. Sie ist das politische Rückgrat dieses Staates, die einzige poli-
tische Macht, die weiß, was sie will, und die ihren Willen mit allen
Opfern durchsetzt. (Lebhafter Beifall.) Oh, wir haben große Par-
teien, Parteien mit Macht und Einfluß. Aber alles das schwankt
von Programm zu Programm, das ist weich, das schmiegt sich an
oder jagt demagogischen Schlagworten nach, das schillert in allen
Farben, das ist quappig und schwammig, da ist nichts fest und
alles unecht. Die einzige Partei in Österreich, die mit ehernem
Willen in allen Formen, ruhig, bescheiden, aber unablässig arbeitet,
aber, wenn es notwendig ist, auch mit eisernem Schritte und alles
vor sich niederwerfend; die einzige Partei, die ein klares Pro-
gramm hat, die einzige, die das Gesamtinteresse aller Klassen der
Bevölkerung, vor allem aber das Interesse der arbeitenden Massen
vertritt, ist die Sozialdemokratie, und jede politische Hoffnung in
Österreich knüpft sich zuletzt an das Erstarken der Sozialdemo-
kratie, an das Gedeihen unserer Partei. (Lebhafter Beifall.)
Wenn Sie den Wahlkampf, wie er sich bisher entwickelt hat,
überblicken, so zeigt sich bei allen Parteien ohne Unterschied ein
gemeinsamer Zug : die Angst vor der Sozialdemo-
kratie. (Zustimmung.) Ihre ganze Politik wird bis ins einzelne
davon beeinflußt, und sogar ein so schlauer Politiker wie Seine
Durchlaucht — oder vielleicht schon gar Exzellenz**) (Heiterkeit) —
*) Diesen Gedanken hatte Adler auch schon im Wahlrechtskampf immer
wieder ausgesprochen, so zum Beispiel in seinem Referat über Ver-
fassungsrevision auf dem Parteitag in Salzburg 1904. (Siehe Band VIII der
Adler-Schriften, Seite 244.)
**) Exzellenz, nämlich Minister und geheimer Rat, ist dann allerdings
nicht Prinz Alois Liechtenstein geworden, sondern Dr. Albert
Geßmann.
Der Wahlkampi beginnt. 481
Prinz Liechtenstein warnte auf seinem Parteitag vor einer
Unterschätzung der Sozialdemokratie, für die das allgemeine
Wahlrecht, wie er sich ausdrückte, das Plewna ist, wo sie sich
verschanzt. Für die Vergangenheit hat er wirklich recht. Da war
allerdings das allgemeine Wahlrecht das nächste Ziel, dem alles
andere untergeordnet werden mußte. Denn man kann auch in der
Politik nicht vielen Hasen nachjagen. Da muß man wissen, was
man jetzt durchsetzen will und kann, und auf den einen Punkt
muß man alle Kraft vereinigen.
Wenn die Herren aber glauben, daß wir so töricht sind, zu
meinen, daß, weil wir jetzt das Wahlrecht haben, wir die Herren
in Österreich sind, daß wir unsere Macht so überschätzen wie sie
die Gefahr, die ihnen von uns droht, so täuschen sie sich. Wir
wissen sehr genau, daß die Sozialdemokratie dank ihrer Organi-
sation, dank ihrer moralischen Kraft und dank dem starken sitt-
lichen Bewußtsein, das in der Arbeiterklasse lebt, allerdings ein
politischer Faktor allerersten Ranges ist. Aber wir wissen ebenso
genau, daß die politische Erziehung der breiten Massen noch lange
nicht so groß ist, als daß wir im nächsten Parlament wirklich be-
stimmend auf die Geschicke des Staates einwirken könnten. Wir
sind auch nicht so geneigt, groß von uns zu sprechen, wie unsere
Freunde, die Christlichsozialen, von sich. Hofrat Geßmann ver-
kündet ein über das andere Mal, daß die Christlichsozialen bisher
eine Wiener Partei waren und nun eine
Reichspartei*)
werden (Heiterkeit), und er beginnt die Eroberung Österreichs
gleich in der Bukowina. Das haben wir Sozialdemokraten gar
nicht notwendig. Wir waren immer eine Reichspartei; wir waren
immer eine Partei, die die arbeitenden Massen im ganzen Reiche
erfaßt hat. Wir haben nie eine Kirchturmpolitik getrieben, nie mit
lokalen, persönlichen Mitteln gearbeitet, nie mit dem Einfluß ein-
zelner Persönlichkeiten agitiert, denen wir eine abgöttische Ver-
ehrung hätten zuteil werden lassen, nie eine lokale Demagogie
getrieben wie die Christlichsozialen. Es ist ja sehr hübsch von
ihnen, wenn sie jetzt wünschen, einen größeren Gesichtskreis zu
bekommen, und es wird ihnen nicht schaden, wenn sie ihren
Gesichtskreis erweitern, denn ihr Gesichtskreis war bisher wirk-
lich sehr eng. (Heiterkeit.) Aber sie sollen nur aufpassen, daß sie
sich dabei nicht irren. Es könnte kommen, daß es ihnen bei dem
Bestreben, aus einer Wiener Partei eine Reichspartei zu werden,
so ergeht wie dem Frosch, der sich aufgebläht hat, bis er zer-
platzte. Das ist auch eine Erweiterung (Heiterkeit), allerdings
keine des Gesichtskreises. (Neuerlicher Beifall.)
*) Wirklich haben sich die Christlichsozialen dann Christlichsoziale
Reichspartei genannt. In der Bukowina hatten sie zunächst nicht viel Glück
mit ihren Kandidaturen und knüpften dann Beziehungen zu den Rumänen
an, die die Thronfolgerpolitik als Freunde Österreichs gegen Ungarn ansah!
Adler, Briefe. X. Bd. 31
482 Die ersten Wahlen zum Volkshaus.
Man hat uns die Bedingungen für unseren Wahlkampf nach
Möglichkeit erschwert, schon im Gesetz durch die kunstvolle Ein-
teilung der Wahlkreise. Man hat dann — worauf die Christlich-
sozialen besonders stolz sind — die Wahlpflicht erfunden, die
nichts ist als ein Angstprodukt. Man will die politisch bewußten,
selbständig denkenden, politisch erzogenen Massen der Arbeiter
durch die indifferenten Massen erdrücken lassen, durch jenen
Bodensatz von Leuten, die politisch überhaupt niemals gedacht
haben, die ganz indifferent, gleichgültig sind, die sich für die
Wahlen nicht interessieren. Auf die Gedankenlosigkeit baut man
seine Hoffnungen. Die
Wahlpflicht der Gedankenlosen
soll die politisch Denkenden erdrücken. Praktisch bedeutet das,
daß wir nicht nur über unsere Feinde siegen müssen, sondern auch
über die stumpfe, gleichgültige Masse, und daß wir also unsere
Arbeit verdoppeln müssen. Aber wie alles, was man gegen uns tut,
schließlich für uns ausschlägt, so wird die Wahlpflicht, wenn sie
uns auch anfangs hie und da ein Mandat kosten mag, uns politisch
schließlich nützen, denn der Mann, den sie uns jetzt mit der
Polizei an die Urne schleppen, der heute gleichgültig und ver-
drossen hingeht, der wird sich das nächste Mal vielleicht doch
darüber Gedanken machen, wenn er schon wählt, wren er wählen
soll und warum er wählen soll. Und übrigens — es ist das keine
Schmeichelei für Sie, Genossen — , es gibt auch in unseren Reihen
eine große Anzahl sehr braver und guter Genossen, die sich aber
am Wahltag weniger auf sich selber als auf die anderen verlassen
(Zustimmung), und wenn die Idee des Herrn Hofrates Geßmann
uns diese faulen Genossen zur Wahl bringt, so ist das ja ganz
hübsch. (Heiterkeit und Zustimmung.) Bisher hat die Behörde sich
sehr angestrengt, unsere Wähler am Wählen zu hindern, jetzt wird
sie sie zum Wählen zwingen. Wir kommen eben immer aus einem
Extrem ins andere. (Heiterkeit.)
Ich möchte Sie aber warnen, sich den Sieg gar zu leicht vor-
zustellen, selbst in einem so proletarischen Bezirk, wie es Favo-
riten ist. Wir haben gegen uns alle bürgerlichen Parteien. Die
Sozialdemokratie hat ein altes Schlagwort gehabt, das allerdings
im einzelnen nicht immer gestimmt hat und das man erklären muß,
wenn man es anwendet, das Wort von der
einen reaktionären Masse*).
Wir wissen, daß diese eine reaktionäre Masse nicht ein ein-
heitlicher Körper ist, daß sie in sich gespalten ist in Parteien und
Gruppen, die entgegengesetzte Interessen haben und miteinander
vielfach im Kampf liegen; aber wenn dieses Wort von der einen
reaktionären Masse bewiesen werden sollte, so sind unsere Gegner
*) Siehe zu Adlers Anschauungen über dieses Schlagwort unter
anderem Band VIII dieser Schriften, Seite 392 f. und 443.
Der Wahlkampf beginnt 48;*
jetzt daran, es zu beweisen. Überall in Österreich seilen Sie die
Bemühungen, gegenüber der Sozialdemokratie die Parteien JM
Vereinigen und den verhaßten Sozialdemokraten, denen man das
so vielgepriesene Wahlrecht verdankt, die Mandate streitig zu
machen, und wir werden da Bundesgenossenschaften merk-
würdigster Art sehen. Nun, wir fürchten uns vor ihnen
allen nicht (lebhafter Beifall); wir sind keine Partei, deren
Schicksal in einem Wahlkreis und an einem Tage entschieden
wird. Jedes Mandat, ja jede Stimme ist für uns wichtig. Wichtiger
aber ist, daß sich in diesem großen Kampfe das Klassenbewußtsein
der Arbeiterschaft auspräge und schärfe. Und unsere Herren
Gegner können gar nichts Besseres für uns tun, als wenn sie uns
von allen Seiten umzingelten und den Arbeitern damit sagten:
„Rechts und links, Bürger und Bauern, Aristokraten und Fabri-
kanten und Zünftler, alle sind wir einig gegen euch, die
arbeitenden Klassen!" Ja, das wollen wir, und da
erwarten wir sie! Mir ist gar nicht bange, daß dieselben
Herren, die sich bei den Wahlen gegen uns vereinigen, wenn sie
ihre speziellen Ziele werden durchsetzen wollen und unsere Hilfe
brauchen, doch wieder zu uns kommen werden — mit Augen-
zwinkern und freundlichen Redensarten, wir möchten sie denn
doch, weil es sich um eine gute Sache handle, unterstützen. Und
wenn es eine wirklich gute Sache ist, die wir wollen, werden
wir es auch tun. Wir helfen den anderen ja nie um ihretwillen,
sondern nur um der Arbeiter willen . . .
Im neuen Parlament wird hoffentlich die Sozialdemokratie eine
stattliche, arbeitsfähige Partei sein, und sie wird imstande sein, für
die Aufgaben, die dem Parlament dann vorliegen werden, das
ganze Aufgebot der sittlichen und geistigen Kraft der Partei und
die ganze Energie der Arbeiterschaft zu widmen. Unser
Verhältnis zu Ungarn
muß neu geregelt werden; aber die Krise, in der wir uns heute
befinden, kann nur dann zum Vorteil Österreichs gelöst werden,
wenn die Politiker den Mut haben, ein Österreich zu schaffen, das
unabhängig ist von Ungarn und unabhängig auch vom Traum
eines habsburgischen Weltreiches, eines Reiches, das bisher nur
die besten Kräfte der Völker für eine Utopie in Anspruch ge-
nommen hat. Diesen Mut muß man nicht nur in Pest haben, son-
dern hier in Wien muß man ihn haben; hier gilt es, gegenüber
den alten dynastischen und militärischen Interessen die Interessen
der Völker, die in Österreich leben, geltend zu machen. Hier wird
die eigentliche Schlacht geschlagen werden. (Lebhafter Beifall.) Und
es wird auch der eine Moment kommen, wo von der Energie, von
der Schneidigkeit und Zielklarheit der Sozialdemokratie sehr viel
abhängt. Die ganze Verfassung Österreichs muß neu gestaltet
werden. Wir haben eine Gesetzgebung, die mit dem allgemeinen
Wahlrecht im schärfsten Widerspruch steht. Wie sieht denn unser
Koalitionsgesetz aus, das primitivste Recht des Arbeiters, für eine
31*
484 Die ersten Wahlen zum Volkshaus.
bessere Lebenshaltung zu kämpfen? Es ist dem guten Willen und
der Willkür der Bürokraten preisgegeben und wird gegen uns
gehandhabt je nach der Laune, je nach der Eingebung, ja sehr oft
je nach der Stärke des Einflusses, den einzelne Unternehmer auf
einzelne Beamte haben. Das ist ein Zustand, der auf die Dauer
nicht ertragen werden kann. Wir wollen die politischen Lebens-
bedingungen der Bevölkerung gesetzlich festgelegt haben, wir
wollen die politische Verwaltung modernisieren, wir wollen das
bestehende Abgabensystem ändern . . .
Die wichtigste Frage, die die Lebensfrage Österreichs ist, ist die
nationale Frage.
Die Völker, die in Österreich leben, müssen zu einer Form des
Zusammenlebens kommen, die jedem eine selbständige Ent-
wicklung erlaubt. Und wenn unser Wahlrecht nur so mangelhaft
den nationalen Bedürfnissen gerecht wird, so ist das nur dem
Umstand zuzuschreiben, daß man froh sein mußte, bei dieser
Wahlordnung in Sicherheit zu bringen, was der Kern ist, das
gleiche Recht. Wir finden es für ganz selbstverständlich, daß auch
die Minoritäten, die in einer großen Majorität eingesprengt sind,
das natürliche Recht auf eine gesonderte Vertretung in Anspruch
nehmen können, und wir haben es auch durchaus verstanden, daß
die tschechischen Genossen in Wien gewünscht haben, einen
tschechischen Genossen in den Reichsrat zu schicken, und wenn
es möglich gewesen wäre, ihren Wunsch zu erfüllen, ohne daß das
politische Opfer für die deutsche Sozialdemokratie zu groß ge-
wesen wäre, hätten wir ihnen gewiß dazu geholfen. Aber wir
mußten uns davon überzeugen, daß die Vertretung der nationalen
Minoritäten nur durch ein Gesetz ermöglicht werden kann, das
festsetzt, daß die Vertreter einer nationalen Minorität nur von
dieser Minorität selbst gewählt werden und nicht angewiesen sein
dürfen darauf, von der anderen Nationalität gewählt zu werden.
Nicht die Majorität kann der Minorität zum Wahlrecht verhelfen,
sondern ein Gesetz muß der Minorität das Recht auf die Ver-
tretung geben. (Beifall.) Wir haben es nie geleugnet, daß es auch
bei uns nationale Schwierigkeiten zu überwinden gibt; aber unser
Ruhm ist, daß wir sie immer zu überwinden strebten und sie auch
immer überwinden konnten (Zustimmung), und ich halte es für
meine Pflicht, daß wir heute den tschechischen Genossen in diesem
Bezirk unsere Anerkennung und unseren Dank dafür aussprechen,
daß sie, obwohl sie eine sehr berechtigte Empfindung gehabt
haben, daß sie einen Vertreter ihrer eigenen Nation in das Parla-
ment entsenden wollten, sich trotzdem der politischen Notwendig-
keit der Gesamtpartei untergeordnet haben und heute in brüder-
licher Solidarität mit uns den Wahlkampf führen. (Lebhafter Bei-
fall und Händeklatschen.) Wir haben nie daran gezweifelt, daß
unsere tschechischen Genossen, wenn es zur Entscheidung kommt,
wahrhaft internationale, wahrhaft proletarische Gesinnung zeigen
Der Wüli I k.i inpf beginnt. 48f>
werden, und je schwerer es ihnen geworden Ist, um so größer ist
das Verdienst, daß sie es trotzdem getan haben.
Wir werden, wenn alle ihre Pflicht tun, in diesem Wahlkuiupi
es zu einer sozialdemokratischen Fraktion bringen, die sieh mit
Ehren sehen lassen kann. Aber für uns sind Wahlen nieht nur eine
Fabrikation von Abgeordneten, sondern sie sind uns ein Mittel,
unsere Überzeugungen zu verbreiten und unsere Organisation zu
verstärken. Man wirft uns vor, daß wir
Utopisten
sind: wir wollen ganz ferne Dinge, die Abschaffung des Privat-
eigentums, den Umsturz des Staates. Gewiß, wenn wir den Staat
heute umstürzen könnten — er verdient wirklich nicht mehr — ,
wenn wir das Privateigentum, an dem Blut klebt, wenn wir den
heutigen Kapitalismus, der eine Geißel der Menschheit ist, be-
seitigen könnten, und wäre es auch durch den größten terrori-
stischen Akt, an uns soll es nicht fehlen. (Lebhafter Beifall.) Wenn
ich könnte — und wäre es mit dem Opfer meines Lebens und des
Lebens anderer — , ich würde mich für einen Verbrecher halten,
wenn ich es nicht täte. Aber wir wissen, daß der Weg, der dahin
führt, ein langer Weg ist und wir nicht mit einem Sprunge ans
Ziel kommen können. Sie mögen sich nicht fürchten, sie können
noch leben, und sie werden nicht auf einmal ins sozialistische Jen-
seits befördert werden (Heiterkeit), sondern ganz langsam, so
schnell, als es eben geht — aber es geht leider nicht so rasch. Man
wirft uns dann vor, daß wir gegen die Religion seien. Daß wir
gegen den Klerikalismus und seine Volksverdummungsgelüste
kämpfen, haben wir nie geleugnet. Aber die Religion hat von uns
nie etwas zu fürchten gehabt, die religiöse Überzeugung niemands
haben wir je angetastet. Die Christlichsozialen fürchten auch nicht
für die Religion, die ist ihnen nur ein Mittel der Agitation und vor
allem der Organisation. Aber wir, die man die Feinde der Religion
nennt, wir haben Hochachtung auch vor der religiösen Über-
zeugung; aber wir haben Verachtung für die klerikale Streberei,
für die Ausnützung der echten religiösen Überzeugung der breiten
Schichten, für die Herrschaftsgelüste einer kleinen Clique von
Leuten. Wir werden im Parlament gegen diese neue Reichspartei
zu kämpfen haben, die sich in eine große klerikale Partei um-
wandeln will. Es wird Arbeit genug im Parlament geben, aber
darum dürfen wir nicht die Arbeit außerhalb des Parlaments ver-
gessen. Sie gehen in die Wahlen mit dem Bewußtsein, daß Sie die
Träger einer großen Idee sind; mit dem Bewußtsein, daß von der
sozialdemokratischen Arbeiterschaft die Zukunft aller Völker in
Österreich abhängt. Wir dürfen nicht zufrieden sein mit dem, was
wir schon erkämpft haben, sondern müssen uns zu neuen Kämpfen
rüsten. In diesem Sinne, die Augen gerichtet auf das große Ziel
der Sozialdemokratie, gehen wir in die Wahlen mit dem Rufe: Es
lebe die internationale Sozialdemokratie! (Stürmische Hochrufe
und andauernder Beifall.)
486 Die ersten Wahlen zum Volkshaus.
Die Wahlen in Osterreich.
Von Dr. Victor Adler.
Halbmonatsschrift „Mär z", München, Juni 190 7*).
Ein neues Österreich ist aus den ersten Wahlen des gleichen
Wahlrechtes erstanden; oder vielmehr: ein bisher unbekanntes
Österreich wurde durch sie enthüllt. Welche Fälschung das alte
Kurienparlament war, erkennt man ganz deutlich erst jetzt, da
die Grundlinien der neuen, der ersten Volksvertretung Österreichs
auftauchen- Noch ist das neue Abgeordnetenhaus keineswegs ein
getreues Abbild der nationalen, wirtschaftlichen und kulturellen
Struktur des Landes, dafür hat die gekünstelte Wahlkreiseinteilung,
dafür hat in den östlichen Provinzen die Wahlpraxis gesorgt.
Auch fehlt noch viel, bis die Interessengegensätze der einzelnen
Schichten zu jenem Grade der Klarheit des Bewußtseins und des
eindeutigen Ausdruckes gelangen, den das allgemeine Wahlrecht
möglich macht. Aber eine ganze Welt von unsäglich albernen und
verlogenen politischen Fiktionen ist gründlich dahin mit jener
Karikatur eines Parlaments, die durch die Wahlreform zerstört
wurde. Die Zeiten, wo sich die österreichische Politik darstellte
als eine Auseinandersetzung zwischen dem verfassungstreuen und
dem feudalen Großgrundbesitz, sind endgültig vorbei; und nicht
minder jene, wo einige deutsche oder tschechische Radaupolitiker
Volk mimen und die politische Bühne beherrschen konnten. Zum
ersten Male sind die Völker selbst auf die Bühne getreten.
Man hatte sich das Ding freilich ein wenig anders vorgestellt.
Die gewaltige Volksbewegung, die, geführt von der sozial-
demokratischen Arbeiterschaft, die Wahlreform auf die Tages-
ordnung gesetzt hatte, konnte die Gunst äußerer Umstände nützen.
Die ungarischen Wirren, die russische Revolution kamen ihr zu-
gute, und der völlige Bankrott des alten Österreich machte mit
zwingender Logik den Kaiser selbst zum Anwalt des Wahlrechtes.
Nur widerstrebend und knurrend fügten sich die bürgerlichen
Parteien der eisernen Notwendigkeit, nicht ohne verzweifelte
Rückzugsgefechte geliefert zu haben, die das Reformwerk mehr
als einmal in ernste Gefahr brachten. Als es aber ans Ziel geführt
*) Adler hat wohl nur wenige Artikel für nichtsozialdemokratische Zeit-
schriften geschrieben. Als sich nach den ersten Wahlen auf Grund des
allgemeinen Wahlrechtes die Redaktion der im Verlag Albert Langen in
München erscheinenden, angesehenen demokratischen Halbmonatsschrift
„März", als deren Herausgeber Ludwig T h o m a, Hermann Hesse,
Albert Langen und Kurt A r a m zeichneten, an ihn wendete, machte
er bereitwillig eine Ausnahme. In demselben zweiten Juniheft ist übrigens
auch ein Artikel von Jaures über „Das Ministerium Clemenceau und die
Sozialisten".
Die Wahlen in Österreich haben bekanntlich am 14. Mai 1907 (die
Stichwahlen am 24. Mai) stattgefunden und haben der Sozialdemokratie
1,040.662 Stimmen und 87 Mandate gebracht. Die deutschen Sozialdemo-
kraten erhielten 511.590 Stimmen und 50 Mandate.
Die Wahlen in Österreich. 487
war, ging man eigentlich recht leichten Herzens in die Wahlen.
Die Regierung des Baron Heck vor allem, der hei der Durch-
setzung der Wahlreform dein Willen des Kaisers ein energischer,
geschickter und unermüdlicher Vollstrecker gewesen, fürchtete von
allen Gefahren, die man dem allgemeinen Wahlrecht angedichtet,
am wenigsten die Aussicht auf eine starke klerikale und agrarische
Majorität. Vielmehr hat die Hoffnung auf ein solches Ergebnis
nicht nur bei dem Reformeifer der Christlichsozialen, sondern auch
bei der rühmlichen Beharrlichkeit der Krone und der Regierung
als wichtiges Motiv mitgewirkt. Die Christlichsozialen spielten sich
als die künftige „Reichspartei", als Retter des Staates auf, und man
gab ihnen gerne Kredit, begünstigte sie auch bei den Wahlen in jeder
Beziehung, wie ja schon die Wahlbezirkseinteilung in Wien und
Niederösterreich ausschließlich in ihrem Interesse gemacht war.
Daß die Schönerianer und die radikalen Tschechen durch die
Wahlen geschwächt würden, war sicher, und damit war eine wich-
tige Sorge beschwichtigt. Dafür glaubte man eine mäßige Ver-
stärkung der sozialdemokratischen Fraktion leicht in Kauf nehmen
zu können. Die Sozialdemokraten hatten im alten Parlament elf
Abgeordnete, und wenn sie jetzt auf fünfunddreißig oder vierzig
wüchsen, müßte und könnte man das schließlich ertragen. Daß die
sozialdemokratischen Bäume nicht in den Himmel wüchsen, dafür
redlich gesorgt zu haben war man sich bewußt. Die Seßhaftigkeits-
klausel hatte das Wahlrecht an den einjährigen Wohnsitz in der
Gemeinde geknüpft, das heißt: eine raffinierte Einteilung der Wahl-
bezirke hatte die Arbeiterwähler hier in große Wahlkreise zu-
sammengeschoben, sie dort in einer agrarischen Majorität ersäuft;
die von den Christlichsozialen aus Belgien importierte Wahlpflicht,
deren Schönheiten durch den Ausgang der letzten Wahlen im
Reiche empfohlen wurden, hatte man in einer Reihe von Kron-
ländern, vor allem in den gefährdeten Niederösterreich, Mähren
und Schlesien eingeführt und hoffte so die politisch denkende
Arbeiterschaft durch den politisch noch unerwxckten, gedanken-
losen Bodensatz der Bevölkerung zu ersticken. In der Tat, man
konnte mit gutem Gewissen in die Wahlen gehen.
Es ist ein wenig anders gekommen. Das wichtigste Ergebnis
der Wahlen ist, daß die christlichsoziale Partei, daß die Klerikalen
aller Sorten lange nicht so große Erfolge hatten, wie sie hofften,
daß hingegen die Sozialdemokratie als die stärkste Partei in das
neue Parlament einzieht. Im ersten Anlauf eroberten die Sozial-
demokraten bei der Hauptwahl achtundfünfzig Wahlbezirke, vier-
unddreißig deutsche, zweiundzwanzig tschechische, je einen pol-
nischen und italienischen, standen in hundertachtzehn Bezirken in
Stichwahl und hatten in einer großen Anzahl von Bezirken die
Entscheidung zwischen den anderen Parteien in der Hand. Die
Christlichsozialen hatten die Landgemeinden in Niederösterreich
gehalten, Tirol den Altklerikalen abgenommen, aber sie hatten
drei Wiener Bezirke, auf die sie gerechnet, an die Sozialdemokraten
verloren, und ihre Eroberungszüge in die Sudetenländer waren
erfolglos und brachten sie nur in einige Stichwahlen, über deren
488 Die ersten Wahlen zum Volkshaus.
Ausgang die Sozialdemokratie zu entscheiden hatte. Die deutsch-
bürgerlichen Parteien kamen aus der Hauptwahl arg reduziert
heraus. Die Alldeutschen waren fast verschwunden, Schönerer
selbst mit einer kläglichen Minorität einem Sozialdemokraten er-
legen, Franko Stein endgültig abgefallen, und nur einige der
harmlosesten Exemplare durften hoffen, in der Stichwahl durchzu-
kommen. Das Schicksal der deutschen Fortschrittspartei, der
Deutschen Volkspartei, der Freialldeutschen hing von den Stich-
wahlen ab, bei denen sie in Wien und in den Alpenländern meist
den Christlichsozialen, in den Sudetenländern meist den Sozial-
demokraten gegenüberstanden. Nicht besser ging es den tschechi-
schen bürgerlichen Parteien. Die Jungtschechen konnten in der
Hauptwahl nur ganz wenige Bezirke behaupten, und den er-
warteten Siegeslauf der Agrarier hemmten die großen Erfolge der
Sozialdemokratie, die auch in den Dörfern in ganz ungeahntem
Maße festen Fuß gefaßt hatte.
Bei den Stichwahlen hatten somit die Sozialdemokraten ein
entscheidendes Wort zu reden. Ihre Parole war einfach und klar:
ein Kompromiß anzustreben, das ihnen manches Mandat bringen
konnte, das wurde von ihnen nicht einen einzigen Augenblick auch
nur erwogen.
Der Beschluß des Parteivorstandes lautete, es sei überall gegen
die Klerikalen und die Christlichsozialen, überall gegen die
Agrarier, auch wo sie als Freialldeutsche verkleidet sind, zu
stimmen, und zwar ohne jede Rücksicht auf Gegenleistung; den
Parteien, die sich als bürgerlich-freisinnig bezeichnen, sei es über-
lassen, welche Haltung sie mit ihrem politischen Gewissen ver-
antworten könnten. So wurde für die bürgerlichen Parteien die
sozialdemokratische Hilfe in wenigstens sechzehn deutschen und
in einigen tschechischen Bezirken ausschlaggebend, die den Kleri-
kalen und Agrariern definitiv entrissen wurden.
Eine besondere Betrachtung würden die Wahlen in Galizien
verdienen, wo zu Nutz und Frommen der Schlachta ein kompli-
ziertes Minoritätswahlsystem konstruiert wurde, das aber so über-
schlau ausfiel, daß seine Erfinder nun selbst wenig Freude daran
erleben. Aber sie haben das Wahlglück nach altbewährter gali-
zischer Tradition korrigiert. Offener Stimmenkauf und Nötigung
unter den Augen, ja unter Protektion der Behörden, unverhüllte
Einschüchterung der Wähler durch die Bezirkshauptleute, Fäl-
schung der Wählerlisten, Fälschung der Wahlresultate, kurz, alle
nach europäischen Begriffen unmöglichen Verbrechen gehören in
Galizien zu den allgemein üblichen Behelfen bei der Wahl. Die
Wiener Zentralregierung ist in Galizien fast völlig machtlos;
zwischen ihr und den Bezirksbehörden steht der Statthalter, jetzt
Graf Potocki, der nichts anderes ist als Führer und Exekutivorgan
der herrschenden Stanczykenpartei, und der dafür sorgt, daß alle
Anordnungen der Wiener Regierung ins Galizische übersetzt
werden, das ist: wirkungslos bleiben. Wenn die Ergebnisse der
galizischen Wahlen von der Wahlprüfungskommission des
I
Die Wahlen in Österreich. ™(>
Deutschen Reichstages untersucht würden, konnte kaum der vierte
Teil von ihnen aufrechterhalten werden. Wie sich das neue öster-
reichische Parlament zu diesen Wahlen stellen wird, wird eine
der ersten und wichtigsten Proben für seinen Ernst und seine
Lebensfähigkeit sein. Unter den Greueln dieser Wahlpraxis haben
alle oppositionellen Parteien schwer gelitten, am schwersten die
Sozialdemokraten, deren Führer Daszynski*), der glänzendste
Redner des alten Hauses, dadurch zu Falle gebracht wurde. Aber
trotz alledem, trotz Bestechung und Gewalttat, ist es den Stanczyken
nicht gelungen, ihre alte Macht zu behaupten; und der Turm des
Polenklubs, der Hort jedweder Reaktion, ist schwer erschüttert
und rissig geworden. Die Wahlen sind in (ializien noch nicht zu
Ende geführt, aber schon ist sichtbar, daß nicht nur die Stärke des
Polenklubs vermindert, sondern auch sein inneres Qefüge wesent-
lich verändert, seine Machtstellung vermindert sein wird.
Die Stichwahlen erhöhten die Zahl der Sozialdemokraten auf
siebenundachtzig — fünfzig Deutsche, vierundzwanzig Tschechen,
fünf Italiener, sechs Polen und zwei Ruthenen — und machten sie
zur stärksten Partei des Hauses. Das ist die Tatsache, die für die
Zukunft des Parlaments, für die Zukunft Österreichs entscheidend
ist. Die Größe des sozialdemokratischen Erfolges wirkte ver-
blüffend und hat insbesondere auch im Ausland zu den sonder-
barsten Urteilen geführt. Es kann ohne weiteres zugegeben werden,
daß die Partei selbst von der Zahl der eroberten Mandate über-
rascht war. Sie kannte ihre Kraft, rechnete auf eine Million
Stimmen, eine Ziffer, die noch um einiges überholt wurde, aber
der Maßstab für die Schätzung der Kräfteverhältnisse, den allein
das gleiche Wahlrecht geben kann, fehlte bisher. Übrigens wird
bei den Vergleichen mit den Wahlresultaten in anderen Ländern,
insbesondere im Deutschen Reiche, übersehen, daß die Ziffern in
Österreich eine völlig andere Bedeutung haben. Der Deutsche
Reichstag hat dreihundertsiebenundneunzig Mitglieder, die von
rund dreizehn Millionen Wahlberechtigten erwählt sind; das öster-
reichische Parlament zählt nicht weniger als fünfhundertsechzehn
Abgeordnete, die Wählerzahl beträgt aber nur rund fünf Millionen.
Dazu kommt, daß trotz aller gegen das Proletariat gerichteten
Wahlgeometrie das Mißverhältnis zunächst lange nicht so arg sein
kann, wie in den Industriezentren Deutschlands und insbesondere
in den Monsterbezirken Berlins und des Rheinlandes. In Österreich
kommen auf einen sozialdemokratischen Abgeordneten rund drei-
zehntausend, im Reiche gegenwärtig mehr als siebzigtausend
sozialdemokratische Stimmen. Diese Ziffern sollen nur schiefe
Vergleiche berichtigen, können aber keineswegs die Bedeutung
des Erfolges der Sozialdemokratie in Österreich herabsetzen. Viel-
mehr gilt für Österreich wie für das Reich, daß jeder sozialdemo-
kratische Abgeordnete ein beträchtlich höheres Stimmengewicht
) Ignaz Daszynski wurde dann später in dem polnisch-schlesischen
Wahlkreis Freistadt, wo Thaddäus Reger zu seinen Gunsten zurücktrat,
gewählt. Fr ist der nachmalige Sejmmarschall in der Republik Polen.
490 Die ersten Wahlen zum Volkshaus.
darstellt als der Abgeordnete irgendeiner bürgerlichen Partei. Die
Sozialdemokraten haben bei diesen Wahlen mehr als ein Fünftel
aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt und mehr als ein
Sechstel der Mandate erobert. Das war eine starke Überraschung
für die Leute, die noch an das längst falsch gewordene Schlagwort
vom agrarischen Österreich glaubten und die auf das Märchen
hineinfielen, die Sozialdemokratie sei in Österreich eine aus dem
Ausland importierte Bewegung, die in der ökonomischen Struktur
des Landes keine Wurzel habe. Die Wahlen haben deutlich gezeigt,
daß Österreich trotz aller Hemmungen in weit höherem Maße
Industrieland geworden ist, als es seine Regierer glauben machen
wollen. Die unwiderlegliche Feststellung dieser Tatsache ist von
der allergrößten Bedeutung für unsere politische Zukunft. Der
Herrschaft der Agrarier, die bisher schrankenlos war, sind damit
feste Grenzen gezogen.
Wie der Erfolg der Sozialdemokratie agrarische Experimente
für die nächste Zukunft ausschließt, so ist er auch die Bürgschaft
dafür, daß der geplante Vorstoß der Klerikalen unmöglich ist. Die
Klerikalen neuer Fasson, die sich Christlichsoziale nennen, haben
es auf siebenundsechzig Mandate gebracht, viel zu viel für die
kulturelle und politische Entwicklung Österreichs, aber viel zu
wenig für ihre hochgespannten Erwartungen und herrschgierigen
Pläne. Ursprünglich eine Wiener Partei, die Partei des rabiat ge-
wordenen Kleinbürgertums, haben die Christlichsozialen in Nieder-
österreich und Tirol agrarische Elemente aufgenommen, haben ver-
meint, die städtischen Interessen, da sie die Wiener Wählerschaft
hypnotisiert glaubten, ungestraft verraten zu dürfen, und haben bei
den Wahlen erleben müssen, daß sie in Wien an Boden eingebüßt
haben, da die Sozialdemokraten ihnen gewachsen sind, ja, daß
sogar das sogenannte freisinnige Bürgertum wieder politisch zu
existieren beginnt. Am Tage nach der Wahl, die ihnen zeigte, daß
sie in Wien künftig nichts mehr zu gewinnen und nur noch zu ver-
lieren haben, schlössen die Christlichsozialen den Pakt mit den
Altklerikalen, die ihnen freilich dreißig Mann zuführen, aus ihnen
damit die stärkste Parteiorganisation des Hauses machen, sie aber
zugleich in eine klerikale Bauernpartei wandeln, in der die Wiener
Wählerschaft künftig nur die Rolle der Betrogenen und Miß-
brauchten zu spielen haben wird. Die städtischen Elemente gehen
ihnen durch, Arbeitermassen haben sie nie gehabt; und somit ist
der ebenso ehrgeizige wie absurde Traum, in Österreich ein katho-
lisches Zentrum zu etablieren, für immer ausgeträumt. Der Erfolg
der Sozialdemokratie hat einen dicken Strich durch die klerikale
Rechnung gemacht. Jede Regierung wird damit zu rechnen haben,
daß jede Schwenkung zum Klerikalismus insbesondere auf dem
Gebiet der Schulverwaltung für die sozialdemokratische Arbeiter-
schaft ein Kriegsfall ist; und sie weiß, daß die österreichische
Arbeiterschaft zu kämpfen versteht.
Der Erfolg der Sozialdemokratie hat auch die vor kurzem
ernstlich drohende Gefahr sozialpolitischer Reaktion, einer Be-
drohung des Koalitionsrechtes, eines Angriffes der Scharfmacher
Die Wahlen in Osterreich. 491
ausgeschlossen. Das Unternehmertum, das industrielle wie das
agrarische1, das kleine fast noch mehr als das große, hatte große
Lust zu einem Experiment in dieser Richtung. Damit ist es nun
zunächst vorbei; die Arbeiterschaft und mit ihr die Industrie ist
vor der ernsten Gefährdung bewahrt, die sehwere und untrueht-
bare Kämpfe zur Folge gehabt hätte. Vielleicht wird nunmehr den
Industrieherren Zeit gegönnt, zu der primitiven Erkenntnis zu
kommen, daß Österreich und vor allem seiner Industrie nichts
mehr not tut, als eine ausgiebige Hebung der Lebenshaltung der
Arbeiterschaft.
Die Bedeutung der Tatsache, daß die Sozialdemokratie zu einer
gewissen Machtstellung in Österreich gelangt ist, erschöpft sich
aber keineswegs darin, daß die Partei des Proletariats eine wirk-
same Schutzwehr der politischen und kulturellen Freiheit, ein Hebel
des sozialpolitischen Fortschrittes, ein Wall gegen jede reaktionäre
Bestrebung geworden ist. Die Stärke der Sozialdemokratie ist eine
der wichtigsten Bürgschaften für die Zukunft des Parlaments, für
die Entwicklung des Staates. Die Sozialdemokratie ist in Österreich
nicht minder die Partei des proletarischen Klassenkampfes — und
in diesem Sinne revolutionär — als in Deutschland oder in jedem
anderen Staate. Aber sie hat in Österreich eine ganz besondere
Funktion, eine besondere Aufgabe, die ihr aus den Besonderheiten
dieses Staates erwächst. Überall hat die Sozialdemokratie zu be-
sorgen, was das Bürgertum zu tun unterlassen hat; der Kampf für
politische Freiheit liegt überall fast ausschließlich auf ihren
Schultern. In Österreich aber fehlt dem Proletariat die wichtigste
Bedingung, der Boden für seine Entwicklung, fehlt ihm der Staat.
Die Bürokratie und die herrschenden Klassen waren bisher unfähig,
diesen Staat zu konstituieren. Der einzige Versuch, Österreich die
Gestalt zu geben, die ihm einzig Existenz und Entwicklung ver-
bürgen kann, aus ihm einen demokratischen Völkerstaat zu machen,
wurde 1848 gemacht und von der Militärdiktatur brutal nieder-
geschlagen. Zwischen dem Kremsierer Reichstag und dem heutigen
Parlament des gleichen Wahlrechtes liegt eine Welt politischen
Elends, verbrecherischer Dummheit und feiger Verzweiflung an der
Zukunft des Landes. Wenn aber die bürgerlichen Klassen sich
dabei bescheiden, zu verzweifeln, wenn sie schwanken zwischen
fatalistischer Lethargie und hysterischer Tobsucht — die Prole-
tarier aller Nationen, die in Österreich leben, haben nicht die ge-
ringste Lust, zu verzweifeln, sind vielmehr erfüllt von einem
starken Willen zum Leben und sind entschlossen, diesen Staat, in
dem die acht Völker oder Völkersplitter miteinander zu leben be-
rufen oder verurteilt sind, zum Instrument ihrer Entwicklung zu
gestalten. Für die Sozialdemokratie ist das Parlament des gleichen
Wahlrechtes der erste Schritt einer Umwälzung, die zur völligen
Neugestaltung dieses Staates führen muß. Österreich muß die staat-
liche Selbständigkeit erringen und kann das nur, indem es Ungarn
gewährt, was es selbst verlangt. Nicht mehr darf unsere Staatlich-
keit, dürfen unsere wirtschaftlichen Interessen den Interessen der
Dynastie und dem Phantom des (iesamtstaates geopfert werden,
492 Die ersten Wahlen zum Volkshaus.
wie es die selbstmörderische Tradition der österreichischen Politik,
bis heute geübt. Das ist der Gesichtspunkt, unter dem die Fragen
zu behandeln sein werden, die dem Parlament unter dem Titel des
Ausgleiches mit Ungarn zur Lösung vorliegen werden.
Durch die definitive Auseinandersetzung mit Ungarn muß der
Staat Selbständigkeit und Freiheit gewinnen, durch die Lösung des
nationalen Problems muß er die Lebensmöglichkeit erringen. Haben
sich die Völker Österreichs mit der Tatsache abgefunden, daß es
für sie auf absehbare Zeit keine Aussicht auf ein Leben außerhalb
dieses Staates gibt, dann müssen sie sich entschließen, ihr Leben
nebeneinander in diesem Staate so zu ordnen, daß ihre ungehemmte
nationale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung verbürgt ist.
Mag es schmerzlich sein, irredentistische Utopien aufzugeben, das
Leben darf noch so verlockenden Träumen nicht geopfert werden.
Das Zusammenleben der Nationen in Österreich ist aber nur
möglich, wenn jedem Volke volle Autonomie, volle Selbständigkeit
gewährleistet, wenn jede nationale Herrschaftsbestrebung endgültig
aufgegeben wird. Die Deutschen werden nichts dabei verlieren,
wenn sie aufhören, die Büttel Altösterreichs zu sein, wenn sie ihre
nationale Zukunft als erstes unter den gleichberechtigten Völkern
aus eigener Kraft gestalten. Das alte Österreich hat die Deutschen
zu Zwecken mißbraucht, denen es nicht gewachsen war, hat ihnen
mehr genommen als gegeben. An Stelle des altösterreichischen,
leer und dekrepid gewordenen Staatsgedankens muß die Solidarität
national freier und selbständiger Völker treten, deren Kraft ent-
fesselt, deren Entwicklung verbürgt ist durch Autonomie und
Demokratie. Österreich wird ein demokratischer
Nationalitätenstaat sein, oder es wird nicht sein.
Der Gedanke der nationalen Autonomie ist von der Sozialdemo-
kratie vor zehn Jahren programmatisch festgelegt worden. Seit-
dem hat er einen großen Weg gemacht, ist zum Schlagwort
deutscher wie tschechischer nationaler Bestrebungen geworden;
den entscheidenden Schritt aber hat er noch zu tun, den Schritt,
der die Kronlandsgrenzen endgültig durchbricht und an Stelle der
historischen Gebilde des feudalen Staatsrechtes moderne nationale
Organisationen setzt. Heute werden die bürgerlichen nationalen
Parteien, Deutsche wie Slawen, noch stutzig bei dem Gedanken
der Landeszerreißung, während sie die Zerreißung der Nation in
Kronlandsfetzen geduldig ertragen. Aber die Zusammenfassung der
Nationen liegt in der Vernunft der Dinge; die Notwendigkeit der
Völker wird sich durchsetzen. Mit dem Parlament des gleichen
Rechtes ist die Möglichkeit gegeben, diese Umwälzung und Neu-
gestaltung Österreichs zu vollziehen. Die Sozialdemokraten aller
Nationen in Österreich haben diese Neugestaltung als die Lebens-
bedingung des Proletariats erkannt, sie steht an der Spitze ihres
Programms, wie die Einheit und Freiheit Deutschlands an der
Spitze des Programms der jungen deutschen Sozialdemokratie
stehen mußte. Genau in demselben Sinne wie ihre Brüder im Reiche
sind die Sozialdemokraten Österreichs eine Staatspartei. In der
internationalen Solidarität der Proletarier aller Zungen in Öster-
Nach der Eroberung des Wahlrechtes. 4'**
reich verkörpert sich, und vorläufig in Ihr allein, jene Solidarität
der Interessen, die Österreichs freie Völker in ein lebensfähiges,
lebensmutiges Staatsgebilde zusammenfassen wird.
Noch sind wir von diesem Ziele weit entfernt, und wenn man
•den kläglichen Zustand der bürgerlichen Politik aller Nationen vor,
in und nach den Wahlen betrachtet, könnte man zaghaft werden.
Aber jeder Schritt nach vorwärts, den Österreich in den letzten
Jahren politisch, wirtschaftlich oder kulturell gemacht hat, ist mit
dem Namen der Sozialdemokratie verknüpft, und sie fühlt sich stark
zu jeder Aufgabe, die ihr die Lebensnotwendigkeiten des Prole-
tariats stellen.
Freilich, zunächst sieht das neue Abgeordnetenhaus nicht da-
nach aus, als könnte man ihm außerordentliche Leistungen zu-
muten, und ängstliche Leute zweifeln daran, ob es in Gang zu
bringen sein wird. Eine Versammlung von nicht weniger als fünf-
hundertsechzehn Abgeordneten, die, wenn sie wollen oder nicht
anders können, in acht verschiedenen Sprachen reden dürfen, eine
Volksvertretung, deren Klassenscheidung durchkreuzt ist durch die
nationale Gliederung, wodurch ihre Zersprengung in einige Dutzend
Parteien erzeugt wird — das ist von vornherein kein leicht
arbeitender Organismus. Erwägt man, daß das einzige Erbe, das
das neue Parlament vom alten übernommen hat, die Tradition der
schlimmsten Sitten, der unerhörtesten Zuchtlosigkeit und eine
schwerfällige, veraltete Geschäftsordnung ist, an die zu rühren
trotzdem vorläufig fast unmöglich ist, so begreift man die schwere
Sorge. Es wird viel Ausdauer, Klugheit und Mut notwendig sein,
um die eben aufmontierte Maschine in Gang zu bringen- Der Ver-
band der sozialdemokratischen Abgeordneten, der mit seinen fünf
nationalen Gruppen eine kleine Internationale und zugleich ein
Miniaturbild des künftigen Österreichs, gegründet auf Demokratie
und nationale Autonomie, darstellt, wird alles tun und nichts
unterlassen, um das Haus funktionsfähig zu machen. Denn die
Sozialdemokratie betrachtet dieses erste Parlament des gleichen
Rechtes als die Werkstätte, in der die Zukunft der Völker Öster-
reichs, die Zukunft vor allem der Arbeiterklasse geschaffen werden
muß.
Nach der Eroberung des Wahlrechtes.
Parteibericht — Parteitag 190 7*).
Die Diskussion, die wir jetzt durchzuführen haben, erstreckt
sich über einen Zeitraum von nicht weniger als drei Jahren. Die
deutsche Sozialdemokratie in Österreich war zum letztenmal vor
*) Der Parteita« fand vom 30. September bis 4. Oktober 1907 im
Ottakringer Arbeiterheim in Wien statt. Die Beratungen drehten sich selbst-
verständlich vornehmlich um das eben errungene allgemeine Wahlrecht
und um den großen Wahlsieg, der der Partei nicht weniger als 87, darunter
50 Mandate der deutschen Sozialdemokraten gebracht hatte, wozu übrigens
spater von Innsbruck und Freiwaldau noch zwei weitere kamen. Zu den
494 Die ersten Wahlen zum Volkshaus.
drei Jahren in Salzburg zusammengekommen und es ist eigentlich
verwunderlich, daß niemand hier heraufgekommen ist und der
Parteivertretung darüber Vorwürfe gemacht hat, daß der deutsche
Parteitag nicht jetzt vor einem Jahre schon stattgefunden hat;
denn nach unserem Organisationsstatut mußten wir jetzt vor einem
Jahre zum Parteitag zusammenkommen. Die Parteivertretung, die
in Salzburg gewählt wurde, hat ihr Mandat um ein volles Jahr
überschritten und nach unserer Konstitution waren wir absolut
nicht mehr berechtigt, die Geschäfte zu führen. Wir haben unsere
Befugnisse direkt überschritten. Wir hätten uns bereits heute vor
einem Jahre der Neuwahl unterziehen müssen. Es ist aus der Mitte
der Partei, weder in der Presse, noch hier auf dem Parteitag, noch
sonst irgendwo auch nur ein Wort darüber gesprochen worden.
Die gesamte Partei hat begriffen, daß im vorigen Jahr keine Zeit
dazu war und keine Möglichkeit, sich zusammenzusetzen und Er-
örterungen über Parteitaktik zu pflegen, daß wir nicht in der Lage
waren, Parteigesetze zu machen, sondern daß wir Parteipolitik,
und zwar Parteipolitik in konzentriertester Weise machen müssen.
Ich erwähne das auch nur deshalb, um den Genossen in Erinnerung
zurückzurufen, daß diese drei Jahre zu den Erlebnissen gehören,
die Leuten, die in der Bewegung stehen, wohl nur einmal im Leben
passieren; daß diese drei Jahre eine Zeit waren, die uns nicht nur
unvergessen bleiben wird, sondern die den vollen Ausdruck der ge-
samten Fähigkeit und Leistung, die die österreichische Arbeiter-
schaft aufzubringen vermag, gebracht hat. Wir hätten einen parla-
mentarischen Bericht zu bringen über die Arbeit, die unsere
Fraktion im alten Parlament geleistet hat, und einen zweiter Be-
richt über die Leistung der Fraktion im neuen Parlament. Unser
Referent hat in kurzen Zügen insbesondere von diesem neuen
Parlament gesprochen. Ich halte es jedoch für unsere Pflicht, daß
wir der Fraktion, die unter den allerschwierigsten Umständen, eine
ganz kleine Gruppe von Leuten, im alten Parlament ihren Mann ge-
stellt hat, und wie der Erfolg beweist, mit Glück und mit Umsicht
operiert hatten, unsere Anerkennung ausdrücken. Ich kann das tun,
da ich zwar selbst, wie ich mich gerade erinnere, auch Mitglied
dieser alten Reichsratsfraktion war, aber es so spät geworden bin,
daß niemand vermuten wird, daß ich nicht in dieser Beziehung
objektiv wäre.
Die gesamte Arbeit, die vor uns liegt und die wir zu beurteilen
haben, teilt sich in zwei Gruppen: Wahlrechtskampf und Wahl-
kampf. Wir dürfen nicht einen Moment darüber im unklaren sein:
alles, was die alte Fraktion und die gesamte Partei bis zum vorigen
Jahre gemacht, war ausschließlich zu beurteilen von dem Stand-
punkt, inwiefern sie die Wahlreform gefördert hat. Wir haben nie-
Berichten, die für die Parteivertretung S k a r e t und Ellenbogen, für
die Parlamentsfraktion R i e g e r erstattete, sprach auch Adler, der einen
Rückblick über die letzten Phasen des Wahlrechtskampfes gab. Adler
referierte dann, noch über die „nächsten Aufgaben im Parlament", worüber
im achten Band „Österreichische Politik" (Seite 283) berichtet ist.
Nach der Eroberung des Wahlrechtes. 495
mals alle unsere andern Aufgaben Übersehen, aber unsere Partei-
taktik im Parlament und außerhalb des Parlaments ist ausschließ-
lich diesem Gesichtspunkt untergeordnet gewesen, und wenn Ge-
nosse Rieger sagtj wir haben zwei Gesichtspunkte zu beobachten:
erstens parlamentarische Politik zu machen, jeden Vorteil zu er-
greifen, der für das Proletariat zu haben ist, und zweitens ängstlich
darauf zu seilen, daß die prinzipielle Haltung der Partei durch
diesen Opportunismus nicht etwa Schaden leide, so sage ich und
Sie sagen es gewiß mit mir alle, wir haben niemals Grund zur
Angst gehabt, wir haben niemals zu fürchten gehabt, daß, indem
wir dem Proletariat kleine oder große Vorteile erobern, indem wir
ihm Schritt für Schritt den Weg bereiten, daß wir dadurch uns von
unserem Endziel irgendwie entfernten. Die österreichische Sozial-
demokratie hat schon schwierigere Zeiten gehabt als heute. Wir
haben das in Stuttgart, ich möchte sagen, mit Händen greifen oder,
sagen wir, mit eigenen Ohren hören können, die österreichische
Sozialdemokratie genießt heute im Ausland durch den Erfolg, den
wir davongetragen, ein vermehrtes Ansehen, und ich bin der letzte,
der daran mäkeln wollte, daß dieses Ansehen ein verdientes ist.
Aber ich möchte Sie davor warnen — und jeder von uns hat der-
artige Anwandlungen — , daß wir diesen Erfolg, den uns eine Reihe
von günstigen Umständen, die wir allerdings gut zu benützen ge-
wußt haben, gebracht hat, und unseren eigenen Anteil daran allzu
hoch in dem Sinne anschlagen, daß wir eben meinten, mit unserer
Klugheit sei es so weit her und unsere kluge Taktik und unser Elan
sei ein so großer, daß auch die vor uns liegenden Aufgaben immer
mit demselben Glück und demselben Erfolg und ebenso schnell be-
wältigt sein könnten. Ich gestehe, es ist mir etwas ängstlich ge-
worden mitunter, wenn ich draußen, insbesondere bei den
deutschen Genossen, gehört habe, daß sie finden, daß wir so be-
sonders gescheit sind, und als der Genosse Fischer uns heute früh
gesagt hat: „Bis jetzt haben die Österreicher immer gesagt, daß
sie von deutschen Sozialdemokraten lernen, nun wollen die Deut-
schen anfangen, von den österreichischen Genossen zu lernen" —
da ist es mir ein bißchen ängstlich geworden. Ich finde, daß wir
uns viel besser ausnehmen als die Schüler denn als Lehrmeister,
und ich finde, daß wir gar nichts lehren können und daß eine
Leistung für uns im gegebenen Moment unter bestimmten Verhält-
nissen in Österreich möglich ist, daß es aber eine Torheit ist, der-
artige Dinge auf andere Länder und andere Lagen zu übertragen.
Im Gegenteil! Wenn ich auf unsere Organisation sehe, wenn ich —
bei allem Respekt vor ihren Leistungen — auf unsere Presse sehe,
wenn ich auf den Stand unserer geistigen Parteientwicklung sehe,
da sage ich mir: Wir haben in dem Wahlrechtskampf nicht nur
Opfer gebracht an Mut, an Ausdauer und Hingebung, sondern wir
haben auch einen guten Teil Kraft in diesem Kampfe verbraucht,
der uns für unsere innere Entwicklung, unser inneres Wachstum
schmerzlich abgeht. „Von uns kann man viel lernen!" — mag sein;
«I her wir h a b e n sehr viel zu lernen. (Sehr richtig!) Hier
496 Die ersten Wahlen zum Volkshaus.
ist ein Parteibericht gebracht worden. Ich bin vollständig einver-
standen; aber Sie werden sich selber sagen, wie ungeheuer viel
uns fehlt.
Im Wahlkampf haben wir gesehen, daß es Schichten im Prole-
tariat gibt in weitem Umfang, die empfänglich sind für unsere
Agitationstätigkeit und denen wir bisher gar nicht nahekommen
konnten mit intensiver sozialdemokratischer Erziehung. Wir
müssen sagen, es ist nicht nur in den letzten drei Jahren allein,
sondern schon viel länger ist die Kraft der Partei nach außen auf-
gebraucht worden mit Hintansetzung der intensiven Arbeit nach
innen. Ich glaube, es ist gut, wenn wir uns das selbst sagen, daß
nicht den einzelnen die Schuld trifft und daß wir erkennen, daß
heute die erste Ruhe, die kommt, die erste Möglichkeit, die wir
haben, Hand anzulegen an die Reform der Partei im Innern, auch
dazu benützt werden muß. (Beifall.)
Wir haben Fortschritte gemacht, gewiß. Es sitzt hier eine An-
zahl Frauen als Delegierte, wir haben jugendliche Organisationen
und wir wünschen diese Fortschritte, die Einbeziehung dieser
neuen Elemente. Aber, Parteigenossen, alles, was wir uns an-
gegliedert haben als Genossen, was wir den Gewerkschaften in
dieser riesigen Entwicklung an proletarischer Organisation an-
gegliedert haben, sind heute im alten Sinne der Partei durchaus
nicht durchgebildete Parteigenossen, wie wir sie haben müssen.
(Der Vorsitzende gibt das Glockenzeichen, daß die Redezeit ab-
gelaufen ist.)
Ich höre schon; ich möchte in etwas unvermitteltem Anschluß
noch etwas anregen, was ich für sehr notwendig halte. Es wurde
beim Bericht über die parlamentarische Tätigkeit die Herausgabe
eines Handbuches für die Agitation angeregt. Mir liegt etwas am
Herzen, was die Partei braucht und immer mehr brauchen wird
und was wir, wenn wir es nicht bald in Angriff nehmen, überhaupt
nicht mehr machen können. Wir werden älter und sind keine junge
Partei mehr. Wir kommen alle schon mehr und mehr ins Mittel-
alter und die Partei hat eine Parteigeschichte hinter sich, für die
es keine Geschichtsschreibung gibt, und wenn wir paar alten Leute
hin sein werden, wird euch niemand mehr sagen können, wie es
einmal war — ■ ich meine nicht eine Geschichtsschreibung zur Er-
höhung und Erbauung, sondern die wirkliche Feststellung der Tat-
sachen. Ich habe daher den Antrag eingebracht: Die Partei-
vertretung wird beauftragt, die Dokumente zu sammeln und die
Vorkehrungen und Vorbereitungen zu treffen, urn eine Geschichte
der österreichischen Sozialdemokratie in einer dieser Geschichte
würdigen Weise herzustellen*). (Beifall.)
*) Der Antrag lautete wörtlich folgendermaßen:
Die Parteivertretung wird beauftragt, alle Vorbedingungen zu
schaffen, um die Verfassung einer Geschichte der österreichischen
Sozialdemokratie zu ermöglichen, indem sie das Material sammelt und
eine geeignete Kraft mit dieser Arbeit beauftragt.
Der Antrag wurde der Parteivertretung zugewiesen.
I
Bericht an die Internationale. 497
Bericht an die Internationale.
Internationaler Kongreß, Stuttgart, 18. August
1 9 0 7*).
Wenn wir Österreicher zu euch kommen, fühlen wir uns immer so
zu Hause — wie zu Hause. r:s geht uns Sozialdemokraten zwar überall
so. Aber drüben im Kongreßsaal ist mir doch ganz merkwürdig zu-
mute geworden. Napoleon I. hat sich einmal in Erfurt ein Theater
eingerichtet mit einem ganzen Parterre von Königen. Gebändigte,
unterdrückte Königlein, die vor dem mächtigen Eroberer auf dem
Bauche lagen. Wir zeigen der Welt ein viel größeres Schauspiel,
ein Schauspiel, wie es die Welt noch nicht gesehen: ein Parterre
von Kämpfern, von denen jeder ein Leben voll Aufopferung, voll
Begeisterung, voll Hingebung darstellt. Österreich ist ein armes
Land und wenn Ihr von Österreich redet, pfleget Ihr die Achseln zu
zucken: ach, das wilde Land! (Heiterkeit.) Aber ich kann euch be-
richten, so schlimm, wie es einmal war, ist es heute nicht mehr.
Was durch Jahrhunderte von einem verrotteten Regime an den
Völkern Österreichs verbrochen wurde, von einem beutegierigen
Adel und dann vom modernen Geldsack, das ist zum Teil durch
das moderne Proletariat gutgemacht worden; ein Proletariat, das
einen schweren Kampf führt, aber ihn als einen Kampf um sein
Leben führen muß! Wir haben zugleich mit euch Württembergern
das Wahlrecht errungen; allerdings war es ein bißchen schwerer
bei uns. Wie groß der Widerstand bei euch gewesen sein mag, von
der Gewalt der alten reaktionären Mächte in Österreich habt Ihr
doch keinen Begriff. Endlich nach langem Kampf kam für uns der
Augenblick, wo die Vernunft siegen mußte. Man hat uns das Wahl-
recht nicht bloß deshalb gegeben, weil wir so stark waren, sondern
weil der Staat am Verrecken war (Heiterkeit). Überall, wo Wahn-
sinn herrscht, da stellt die Sozialdemokratie allein die Logik, die
Vernunft, die Notwendigkeit dar. Die Worte, wegen deren wir jahre-
lang verfolgt, auf Monate und Jahre in Kerker geworfen worden
waren, haben wir uns nun auf einmal von den Herren Ministern als
neueste Weisheit sagen lassen dürfen (Beifall), und schließlich hat
auch der alte Kaiser eingesehen, daß die Demokraten, auf die er
*) Auf dem Internationalen Sozialistenkongreß, der vom 18. bis
24. August 1907 in Stuttgart stattfand, also bald nach den österreichischen
Wahlen, wurden die österreichischen Sozialdemokraten als Sieger begrüßt.
August B e b e 1 leierte unter stürmischem Beifall den Sieg. „Unsere öster-
reichischen Genossen, die jahrelang mit Heroismus und Begeisterung den
Kampf um das Stimmrecht geführt hatten, sie zogen mit 87 Genossen als
stärkste sozialistische Fraktion der Welt in das österreichische Parlament
ein." Die Eröffnung des Kongresses war am Sonntag den 18. August vor-
mittags. Am Nachmittag um halb 5 Uhr fand auf dem Cannstätter Wasen
ein Riesenmeeting statt, auf dem die Redner der Internationale von sechs
Tribünen aus in allen Sprachen sprachen. Auf der vierten Tribüne sprach
auch Adler, der einen Rückblick auf die Wahlrechtsbewegung gab. Seine
Rede wurde mit stürmischem Beifall aufgenommen.
Adler, Briefe. X. Bd. 32
496 Die ersten Wahlen zum Volkshaus.
sonst nicht zu hören gewohnt war, recht haben (Heiterkeit) — , und
zusammen haben wir die Sache fertiggebracht. (Lebhafte Heiter-
keit.) Dann mußten wir allerdings noch ein volles Jahr Gewehr bei
Fuß stehen, in jedem Moment bereit, loszuschlagen. Das Wahlrecht
in Österreich wurde nicht im Parlamente erkämpft, sondern auf den
Straßen der Städte Österreichs. (Lebhafter Beifall.) Wir danken der
deutschen Sozialdemokratie die Erziehung, den Rat bei den erster;
Schritten, wir haben von ihr auch gelernt besonnen zu sein und klar
über das Ziel weiter zu marschieren. Der Sieg bei den letzten
Wahlen ist die Frucht von jahrelanger prinzipieller Erziehung der
Massen. Vormals hieß es bei uns ikeineRuheinÖsterreich,
bis das allgemeine Wahlrecht errungen ist! Jetzt
haben wir das Wahlrecht — und nun erst recht keine
Ruhe! (Stürmischer Beifall.)
Die erste Wahlrechtsresolution. 499
Anhang.
Die erste Wahlrechtsresolution*).
In Erwägung, daß das heutige Wahlsystem für alle Vertretungs-
körper die politischen Rechte zu einem ausschließlichen Monopol
der besitzenden Klassen macht,
daß so die Arbeiterklasse Österreichs nicht nur der wirtschaft-
lichen Ausbeutung, sondern ebenso der politischen Unterdrückung
wehrlos preisgegeben ist,
daß weiter die Interessen der großen Majorität des Volkes in
Parlament, Landtag und Gemeinderat keinerlei Vertretung noch
Berücksichtigung finden,
daß aber auch durch diese Beschränkung der politischen Be-
tätigung auf die privilegierten Volksklassen das ganze politische
Leben Österreichs versumpft und verkleinlicht wird und die großen
weltbewegenden wirtschaftlichen Fragen nicht zum Ausdruck
kommen können,
erklärt die heutige Versammlung:
das bestehende Wahlsystem mit den Privilegien des Groß-
grundbesitzes, der Handelskammern, mit seiner ungleichen Ver-
teilung des Wahlrechtes und seiner Entziehung desselben für die
gesamte Arbeiterklasse legt alle politische Macht in die Hand
kleiner egoistischer Interessengruppen und ist deshalb volksfeind-
lich und verwerflich;
das einzige, der heutigen politischen Entwicklung angemessene
Wahlsystem ist das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht in
alle Vertretungskörper in Staat, Land, Bezirk und Gemeinde für alle
Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechtes vom 21. Jahre an.
*) Die erste Resolution für das allgemeine Wahlrecht, die Victor Adler
verfaßt haben dürfte, war für die Versammlung, die am Sonntag den
16. November 1890 in Schwenders Kolosseum stattfand, bestimmt. Über
diese Versammlung ist ausführlich im 8. Heft dieser Ausgabe, Seite 361
bis 366, berichtet. Sie war vom „Demokratischen Zentralverein", dessen
Obmann Dr. Kronawetter war, einberufen, und die Redaktion der
„Arbeiter-Zeitung" fügte der Ankündigung in der Nummer 46 vom
14. November 1890 folgende Bemerkung hinzu: „Zu dieser Versammlung
sind uns eine Anzahl Einladungskarten zur Verfügung gestellt worden.
Wir sind der Ansicht, dali wenn eine Versammlung mit der Tagesordnung
Allgemeines Wahlrecht« stattfindet — von wem immer sie ein-
berufen sein mag , die Arbeiter Wiens dabei nicht fehlen dürfen, sondern
M2*
500 Anhang.
Der erste Wahlaufruf in der fünften
Kurie*).
Parteigenossen!
Zum erstenmal tritt die Sozialdemokratie Österreichs in den
Wahlkampf. Dem Opfermut und der Zähigkeit des klassenbewußten
Proletariats haben es die bisher rechtlosen Massen zu danken, daß
ihnen ein Stück Recht geworden, daß sie zum erstenmal mit dem
Stimmzettel in der Hand das wichtigste politische Recht ausüben
können. Nun gilt es die erkämpfte Waffe zu gebrauchen, gilt es
dafür zu sorgen, daß im neuen Parlament das Recht des
Volkes, das Interesse der Arbeiterklasse eine Ver-
tretung finde. Die einzige Tribüne in Österreich, die frei ist von
Polizeiaufsicht, muß von der Sozialdemokratie erobert werden, um
rücksichtslos die reine und die ganze Wahrheit zu sagen, um dort,
wo man bisher ohne die Arbeiter gegen die Arbeiter Gesetze
machte, auszusprechen, was das arbeitende Volk leidet, was es
braucht und was es will.
ihre Stimme vernehmen lassen müssen. Deshalb ist zahlreiches und pünkt-
liches Erscheinen erwünscht und notwendig." Aus dieser „Plenarversamm-
lung", die unter anderen Umständen eine Tischgesellschaft gewesen wäre,
wurde eine Massenversammlung. Selbstverständlich war das Arrangement
in allen Einzelheiten mit Dr. Kronawetter vereinbart, um so nach der Auf-
lösung des Vereines „Wahrheit" den Arbeitern eine Möglichkeit zu geben,
sich zu versammeln. Auch die Resolution, die Dr. Kronawetter vor-
legte, ging aus einem Entwurf hervor, den Victor Adler ausarbeitete.
Dieser Entwurf hat sich in seinem Nachlaß gefunden und wir sehen, welche
Änderungen Dr. Kronawetter vorgenommen, wenn wir den schließlich von
diesem vorgelegten Text, der in der „Arbeiter-Zeitung" vom 21. November
1890 abgedruckt ist, mit Adlers Entwurf vergleichen. Die Umarbeitung
Kronawetters ging darauf aus, an Stelle der Betonung der Klasseninter-
essen der Arbeiter allgemein-demokratische Gesichtspunkte zu setzen.
Da der Entwurf Adlers wohl der erste ist, in dem positiv von ihm die
Forderung des allgemeinen Wahlrechtes in einer Resolution vertreten
wurde, geben wir diesen Resolutionsentwurf aus dem Manuskript wieder.
*) Dieser Wahlaufruf, der von der Gesamtvertretung der öster-
reichischen Sozialdemokratie zu den ersten Wahlen der fünften Kurie
erlassen wurde und der auch die Namen aller Kandidaten in ganz Öster-
reich enthält, ist in der „Arbeiter-Zeitung" vom 26. Jänner 1897 veröffent-
licht. Er konnte bisher als ein gemeinsames Werk des Parteivorstandes
angesehen werden, an dem Victor Adler nur die wichtigste Arbeit ge-
leistet hätte. Nun hat sich während des Druckes in der reichhaltigen
Manuskriptsammlung des Genossen Karl Keller, des ehemaligen
Metteurs der „Arbeiter-Zeitung", das Manuskript dieses Aufrufes gefunden,
das ganz von der Hand Adlers herrührt, so daß also die Autorschaft
Adlers feststeht. Der Aufruf wird also wenigstens im Anhang zu diesem
Band abgedruckt.
Über den Ausgang der Wahlen siehe den Artikel Adlers „Die Nieder-
lage vom 9. März 1897" und seine Rede auf dem Parteitag 1897 (Band VIII,
Seite 367 f. und 3701).
Der erste Wahlaufruf in der fünften Kurie. '>oi
Der Kampf wird heiß werden. Wir haben gegen uns eine Regie-
rung, die nur gezwungen und widerwillig kaum noch die gesetz-
lichen Formen respektiert und die alles daransetzen wird, von der
Gesetzgebung die Sozialdemokraten fernzuhalten, von denen sie
weiß, daß sie weder einzuschüchtern noch zu ködern sind, Gegen
uns steht das bunte Gewimmel der reaktionären Parteien, die, so
vielfältig auch ihre Namen und ihre Phrasen seien, gemeinsam
gegen die Sozialdemokratie vorgehen werden. Hinter der volks-
freundlichen Maske wird allmählich das wahre Gesicht, die Fratze
der allmächtigen Dreiheit: Grundadel, Geld sack und
P f a f f e r e i sichtbar. Der Wahlkampf wird ein Kampf der ver-
einigten Ausbeuter gegen das unter der roten Fahne geeinigte aus-
gebeutete Volk sein. Unsere Feinde haben der Arbeiterklasse das
Wahlrecht erst verweigert, dann verfälscht und jetzt suchen sie es
unwirksam zu machen.
Aber die Arbeiterklasse Österreichs ist erwacht, sie durchschaut
die „liberale" Lüge, die „nationale" Phrase wie die „christlich-
soziale" Heuchelei und sie wird am Tage der Wahl zeigen, daß sie
mündig ist.
Die Sozialdemokratie ist sich bewußt, daß sie nicht nur die
Klasseninteressen des Proletariats zu vertreten hat*), sondern daß
sie die berufene Wortführerin alier Unterdrückten und Bedrängten,
der einzige unbeugsame Vorkämpfer der Kultur und Gesittung ist.
Im Augenblick, wo der Erbfeind des Fortschrittes und der Freiheit
sich zu einem frechen Attentat auf die Schule rüstet**) findet er beim
Bürgertum nur matten und feigen Widerstand. Durch kleinlichen
nationalen Zwist geschwächt und zerrissen geben die bürgerlichen
Parteien die gemeinsamen Interessen aller Nationen preis. Die
internationale Sozialdemokratie aber weiß, daß der Kampf gegen
das international verbundene Kapital, gegen den gemeinsamen
Feind aller Völker nur geführt werden kann in brüderlicher Soli-
darität der Unterdrückten aller Nationen und daß die Selbständig-
keit und Entwicklung des eigenen Volkes durch nichts mehr be-
droht ist als durch die Unterdrückung des Brudervolkes.
In geschlossenen Reihen wird das Proletariat aller Zungen
darum in den Kampf treten um sein heiliges Recht, um die Be-
freiung vom Sklavenjoch des Kapitalismus, um die Zukunft seiner
Kinder.
Parteigenossen! Von den wenigen Wochen, die uns vom Wahl-
tag trennen, gilt es jede Stunde auszunützen, mit verdreifachtem
Eifer, mit unerschütterlichem Mut und mit eiserner Pflichttreue zu
arbeiten. Wir haben die schmähliche Ungerechtigkeit des Gesetzes
wettzumachen und die Dürftigkeit ihrer Mittel durch opferwillige
Anspannung zu ersetzen. Jeder Genosse und jede Genossin muß
*) In dem veröffentlichten Aufruf, wie er auch bei Brügel abgedruckt
ist, heißt es hier: „Die Sozialdemokratie ist sich bewußt, daß ihre Auf-
Kabe nicht nur ist, die Klasseninteressen des Proletariats zu vertreten, . . ."
**) Im niederösterreichischen Landtag war eben ein christlichsozialer
Antrag auf Verschlechterung des Schulgesetzes eingebracht worden.
502 Anhang.
unermüdlich werben für unsere große Sache, muß pünktlich und
gewissenhaft die notwendige Arbeit verrichten, deren Gelingen
allein uns Erfolg bringen kann. Von eurem verständnisvollen,
mutigen und tatkräftigen Eingreifen allein hängt es ab, ob die Ge-
lüste der Ausbeuterschaft, die Pläne der Finsterlinge Widerstand
finden werden. An euch ist es, Genossen, dafür zu sorgen, daß
zum erstenmal in Österreich wirkliche Volksvertreter
ins Parlament einziehen.
Die österreichische Arbeiterschaft wird zeigen, daß sie den
ehrenvollen Platz, den sie sich in der Schlachtreihe des kämpfenden
Proletariats aller Länder, dessen Augen heute auf uns gerichtet
sind, erworben, auch zu behaupten weiß, daß sie würdig ist des
internationalen Bundes zur Befreiung der Menschheit.
Parteigenossen! Die Männer, die von den Organisationen als
Kandidaten aufgestellt sind und für deren Wahl zu wirken wir euch
auffordern, sind euch als erprobte und unerschrockene Kampf-
genossen bekannt. An euch liegt es, sie in den Stand zu setzen, mit
doppeltem Erfolg der großen heiligen Sache zu dienen, der wir alle
unsere ganze Kraft, unser Leben geweiht haben.
Und nun ans Werk! Jede einzelne sozialdemokratische Stimme
bedeutet einen Protest gegen die elenden Zustände unseres Landes,
in die die Habgier und die Feigheit der Besitzenden es gestürzt
haben, sie bedeutet aber auch einen Schritt weiter auf dem Wege
zur Befreiung.
Wir wollen dem roten Banner Ehre machen und dem Feldruf:
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!
Es lebe die internationale Sozialdemokratie!
Victor Adlers erste \\ alilieclitsiesoliilion. (Siehe Seite 499.)
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Der erste Wahlaufruf.
Erste und letzte Seite des Manuskriptes des Wahlaufrufes ZU den ersten
Wahlen in die fünfte Kurie (siehe Seite 500 f.) stark verkleinert.
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Inhaltsverzeichnis.
Seite
Vorwort 5
Von Taufte bis B a d e n i.
Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht und das Wahl-
unrecht in Österreich (Wiener Politische Volksbibliothek, Heft 4) 9
Die Frage der Arbeiterkammern in Hainfeld (Parteitag Hainfeld
1888/89) 65
Die Liberalen und das allgemeine Wahlrecht („A.-Z.", 31. Oktober
1890) 76
Berichte an die Internationale (Brüssel 1891) 80
— (Zürich 1893) 90
Taaffes Sturz und die Koalition (Parteibericht, Parteitag 1894) . . 97
Das allgemeine Wahlrecht und die Liberalen („A.-Z.", 2. Juni 1893) 106
Eine Frage an die Rechtlosen („A.-Z.", 9. Juni 1893) 112
Das erste Wahlrechtsmeeting (Versammlung, 9. Juli 1893) . . . .114
Taaffes Wahlreform (Versammlung, Sophiensaal, 16. Oktober 1893) . 117
Vor dem Sturz Taaffes (Versammlung, 30. Oktober 1893) 128
Regierung, Parlament und Wahlreform (Versammlung, 5. November
1893) 133
Der Berliner „Vorwärts" über Österreich („A.-Z.", 14. November
1893) . 134
Massenstreik und Organisation (Metallarbeiterversammlung, 9. De-
zember 1893) 141
Gewerkschaft und Wahlrecht (Gewerkschaftskongreß 1893) . . . 144
Die Erklärung der Koalitionsregierung (Versammlung, Sophien-
saal, 3. Dezember 1894) 146
Der gegenwärtige Stand der Wahlreform (Versammlung, Schwen-
der, 14. Dezember 1894) 147
Vier Vorschläge (Versammlung, 10. Februar 1895) 149
Die Koalitionssoiree (Versammlung, 19. Februar 1895) 151
Die Bilanz der Koalition (Versammlung, 24. Juni 1895) 152
Die starke Faust Badenis (Versammlung, 15. September 1895 ver-
schoben) 154
Begrüßung Badenis (Versammlung, Feuerwerkswiese, 22. Sep-
tember 1895) 155
Die Antwort des Grafen Badeni (Versammlung, 14. Dezember 1895) 157
Badenis Schlagwort von der Gerechtigkeit (Versammlung, 21. Fe-
bruar 1896) 160
Die Badenische Wahlreform (Parteitag, Prag 1896) 162
Die Wahlreformdebatte im Parlament (Versammlung, 22. April 1896) 183
Die eine Waffe (Versammlung, 11. Mai 1896) 185
Bericht an die Internationale (London 1896) 186
Die Eröffnung des Parlaments und die Reichsratswahl (Versamm-
lung, 13. September 1896) 192
Seite
Der Kampf um das Gemeinde- und Landtagswahlrecht.
Die Sozialdemokratie und die Gemcinderatswahlen (Versammlung,
8. September 1895) 195
Weder Lueger noch Badeni (Versammlung, 26. Dezember 1895) . 199
Die Rechtlosigkeit in der Gemeinde (Versammlung, 20. Jänner 1896) 202
Die Gemeinderatswahlen (Versammlung, 4. Februar 1896) .... 203
Kandidat im privilegierten Wahlkörper (Versammlung, 24. Februar
1896) .......... 204
Die Landtagswahlreform der Christlichsozialen (Versammlung,
2. März 1899) 206
Das arbeitende Volk gegen die Luegerei (Versammlung, 5. März
1899) 209
Luegers Wahlrechtsraub.... .214
Der Sieg des gleichen Wahlrechtes.
Ein Jubiläum (Massenmeeting auf der Praterrennbahn, 26. Juli 1903) 217
Massenpsychologische Bedingungen (Parteitag 1903) ........ 220
Die Arbeiter und das Privilegiertenparlament (Versammlung,
Ronacher, 20. Dezember 1903) 222
Der Wahlrechtskampf beginnt (Böhmische Landeskonferenz,
23. Juli 1905) . . 226
Gautsch und die ungarische Wahlreform (Versammlung, 11. Sep-
tember 1905) 230
Im Zeichen des ersten Sieges (Sophiensaal, 24. Oktober 1905) . . . 235
Der Parteitag des Wahlrechtskampfes (Parteitag 1905) 240
Taktik im Wahlrechtskampf (Parteitag 1905) . . . . . 245
Wahlrechtssonntag (Aufmarsch vor dem Parlament, 5. November
1905) 246
Kampf bis ans Ende (Versammlung, 6. November 1905) ...... 247
Das sterbende Privilegienparlament (Versammlung der Gehilfen-
vertreter, 12. November 1905) . 249
Lueger als Erfinder (Versammlung, 26. November 1901) 254
Die Erklärung des Ministerpräsidenten Gautsch (Parlament, 30. No-
vember 1901) .256
Die Verschwörung der Geheimräte (Versammlung, 5. Dezember
1905) . . . 273
Die Antwort an die Wahlrechtsfeinde (Versammlung, 10. Dezember
1905) . 278
Gedenktag der russischen Revolution (Versammlung, 21. Jänner
1906) 282
Der Schacher um die Mandate (Versammlung, 28. Jänner 1906) . . 289
' Die Wahlreform vorgelegt (Versammlung, 25. Februar 1906) . . .291
Die Schicksalsstunde Österreichs (Erste Lesung, 9. März 1906) . . 295
Die Wahlreformfeinde und die Arbeiterschaft (Versammlung,
2. April 1906) .322
Antwort an Grabmayr (Wahlreformausschuß, 26. April 1906) . . . 329
Kein Subkomitee (Ausschuß, 25. Mai 1906) 335
Die ungarische Intrige (Parlament, 30. Mai 1906) , 336
Die neue Regierung Beck (Versammlung, 6. Juni 1906) 344
Bienerths und Becks Erklärungen (Ausschuß, 7. und 8. Juni 1906) . 347
Die letzte Warnung (Versammlung, 11. Juni 1906) .349
Wahlkreiseinteilung in Wien (Ausschuß, 13. Juni 1906) ..... ..355
Das Signal zum Kampf (Versammlung, Rathaus, 17. Juni 1906) . . . 357
Seite
Sozialdemokratischer „Terrorismus" (Ausschuß, 19. Juni 1906) . . 361
Deutschböhmische Ränke (Versammlung, Reichenberg, l. Juli 1906) 364
„Sozialistische Durchseuchung" (Ausschuß, 4. Juli 1906) $68
Das Mandat von (iottschee (Ausschuß, 6. und 12. Juli 1906) .... 370
Triest (Ausschuß, 13. Juli 1906) 373
Die Mandate von Böhmen (Ausschuß, 19. Juli 1900) 374
Das neueste Attentat auf die Wahlreform (Versammlung, 20. Juli
1906) J78
Das Prinzip des allgemeinen Wahlrechts (Ausschuß, 13. September) 386
Der polnische Verschleppungsantrag (Ausschuß, 14. September) . . 390
Nach den Sommerferien (Versammlung, 17. September) 392
Jeder Ort Wahlort (Ausschuß, 17. September) 394
Alle Wahlen an einem Tag (Ausschuß, 19. September) 396
Das Pluralitätsattentat noch verschoben (Ausschuß, 19. September) 397
Zwei Wohnsitze (Ausschuß, 19. September) . 398
Armenunterstützung und Wahlrecht (Ausschuß, 19. September) . . 399
Der Schwindel mit den Wählerlisten (Ausschuß, 20. September) . . 400
Nochmals Wählerlisten und Legitimationen (Ausschuß, 21. Sep-
tember) 405
Öffentlichkeit des Wahlakts (Ausschuß, 25. und 26. September) . . 408
Wahlprüfung (Ausschuß, 27. September) 410
Die Wahlpflicht (Ausschuß, 1. Oktober) 412
Die Pluralität (Ausschuß, 3. Oktober) 415
Wahlkreiseinteilung in Mähren (Ausschuß, 9. Oktober) 425
Nordbahnverstaatlichung und Wahlreform (Obmännerkonferenz,
19. Oktober) 427
Prestigefragen (Ausschuß, 23. Oktober) 428
Schutz der Wahlfreiheit (Ausschuß, 5. November) 434
Immer neue Ränke (Zweite Lesung, 8. November) 436
Die Seßhaftigkeit (Minoritätsbericht, 14. November) 444
Billige Demagogie (Spezialdebatte, 16. November) 446
Die Pluralität (Spezialdebatte, 21. November) 447
Die Wählerlisten (Spezialdebatte, 22. November) 450
Wahlbestechung (Ausschuß, 29. November) 452
Der Kanzelparagraph (Ausschuß, 30. November) 454
Der Sieg der Wahlreform (Versammlung, 2. Dezember) 455
Die Grundlagen der neuen Politik (Budgetdebatte, 19. Dezember) . 458
Das Wahlschutzgesetz (Parlament, 11. Jänner 1907) 460
Der Wahlterror der Antiterroristen (Parlament, 12. Jänner 1907) . . 469
Die ersten Wahlen zum Volkshaus.
Vorbereitungen zum Wahlkampf (Reichskonferenz, 27. Jänner 1907) 473
Das Wahlrechtsfest (Arbeiterheim, 28. Jänner) 477
Der Wahlkampf beginnt (Erste Kandidatenrede, 19. März) .... 478
Die Wahlen in Österreich („März", München, Juni 1907) 486
Die Eroberung des Wahlrechts (Parteitag 1907)
Bericht an die Internationale (Internationaler Kongreß, Stuttgart
1907) 497
Anhang.
Die erste Wahlrechtsresolution 499
Der erste Wahlaufruf in der fünften Kurie 500
Druckfehler.
Es sei gestattet, am Ende des X. Bandes eine Anzahl von Druckfehlern
der Reihe „Victor Adler, der Parteimann", die mir namentlich in den
Noten der früheren Bände nachträglich aufgefallen sind, richtigzustellen:
Bd. VI, Seite 249, Note, letzte Zeile, im Zitat, statt Seite 384 richtig
VII, 32.
Seite 43, Note, Hödel am 16. August (nicht April) 1878 hingerichtet
(bereits richtiggestellt in Bd. IX).
Bd. VII, Seite 67, Note, letzte Zeile, statt Seite 432 richtig Seite 7***).
Bd. VII, Seite 71, Note, letzte Zeile, richtig Seite 7***).
Bd. VII, Seite 191, Inhaltsverzeichnis, statt Seite 61 richtig Seite 69.
Bd. VIII, Seite 389, Fußnote, letzte Zeile, soll es richtig heißen, daß
die Versammlung im Musikvereinssaal am 6. Juli 1896 stattfand.
Bd. IX, Seite 274 (Index), beim Schlagwort „christliche Sozialisten"
ist noch hinzuzufügen VIII, 408*).
Seite 280, beim Schlagwort „nationales Freiheitsinteresse" soll es statt
VIII, 337, richtig heißen 137, bei „Omladinaprozeß" ist anzufügen VII, 95*).
Seite 282, bei „Reaktionäre Masse" statt VIII, 391, richtig 392 f.
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PARTEIGESCHICHTE
UND PARTEIPOLITIK
Nachträge und Ergänzungen
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Zur Parteigeschichte
Kampf gegen den Klerikalismus
Christlichsozialer Terror
Christlichsoziale Wahlargumente
Opfer des Gewissenszwangs
Von Badeni bis Thun
Adler im Landtag
Das System Bienerth
Der Kampf um die Preßfreiheit -
Beiträge zur Biographie Adlers
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Herausgegeben vom Parteivorstand der Sozial-
demokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs
Parteigeschichte und Parteipolitik
Nachträge und Ergänzungen
XL Heft
der Reden und Aufsätze von
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gesammelt und zusammengestellt von Dr. Gustav Pollatschek
Wien 1929
Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien VI
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DER PARTEIMANN
Reden und Aufsätze von
Victor Adler
gesammelt und zusammengestellt von
Dr. Gustav Pollatschek
6. Parteigeschichte und Parteipolitik
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Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1929 by Wiener Volksbuchhandlung
F. Skaret-Dr. R. Danneberg
Wien VI, Gumpendorferstraße 18
Druck- und Verlagsanstalt „Vorwärts", Wien V, Rechte Wienzeile 97
Vorwoi i des Herausgebers.
Vorwort.
Dieser Band soll die Nachträge und Ergänzungen zu den früheren
Bänden bringen. Er ist insofern mehr als nur der sechste Band der
Reihe, in der vor uns Victor Adler der Parteimann auf-
getreten ist. Aber immerhin hat die Hast, mit der die letzten Bände
zum zehnten Jahrestag des Todes fertiggestellt werden mußten, die
Wirkung gehabt, daß sich diese Nachträge vornehmlich auf Victor
Adler den Parteimann beziehen. Das hängt aber auch damit zu-
sammen, daß der Stoff hier am umfangreichsten ist und bei jedem
neuerlichen Suchen gerade alles, was die Parteigeschichte
und die Parteipolitik betrifft, sich von neuem aufdrängt.
Wenn die Anlage des Buches als einer Sammlung von Nachträgen
leicht dazu verleiten konnte, die Gliederung der alten Bände zu
übernehmen, so hat es sich doch im Verlaufe der Arbeit als zweck-
mäßiger erwiesen, die frühere Gruppierung fallen zu lassen, da ja
die Ergänzungen nicht für alle Kapitel in gleichem Maße erforder-
lich waren. Jedenfalls hat eine Reihe neuer Gruppen hier ihren Platz
finden müssen, die früher gar nicht oder nur wenig in Betracht
kamen, aber zur Erkenntnis von Victor Adlers Wirken von Wichtig-
keit sind. Hieher gehört vor allem Adlers Tätigkeit im nieder-
österreichischen Landtag, wenn er diesem auch nicht
länger als ein Jahr angehört hat, und im Zusammenhang damit
mußten auch seine Reden gegen den Klerikalismus und gegen
den christlichsozialen Terror sowie gegen das ver-
brecherische System Bienerth einen breiteren Raum ein-
nehmen. Es war aber gewiß auch notwendig, die Broschüre über
den § 23 des Preßgesetzes aus dem Jahre 1891 abzudrucken, die
seinerzeit ein sehr wichtiges Thema der Preßknebelung — nämlich
das Verbot der Kolportage — behandelte, und im Zu-
sammenhang damit auch mehrere Reden zur Preßreform.
Mit diesem Bande ist das Adler-Werk, soweit es uns Adler als
Parteimann und als Politiker näherbringen wollte, am Ende an-
gelangt und damit auch wohl der größte Teil des Programms, das
schon im ersten Hefte dieser Sammlung aufgestellt wurde, durch-
Vorwort des Herausgebers.
geführt. Ein Rückblick auf das, was bisher erschienen ist, zeigt
uns die Fülle dessen, was wir bisher der jungen Generation, die
Adler nicht selbst gekannt hat, von seinem Bilde vorführen
konnten. Die ersten Bände zeigten uns zunächst in fünf Heften
Adler in seinem Verhältnis zu Marxens großem Freunde Friedrich
Engels, dann fortschreitend Adler vor Gericht, Adler als Sozial-
hygieniker, Adler als Sozialpolitiker — seine Aufsätze und Reden
über Arbeiterschutz und Sozialreform, über Fabrikinspektion,
Sozialversicherung und Arbeiterkammern; dann folgte die zweite
Serie von sechs rieften, die den Gesamttitel führten „Victor
Adler der Parteimann" und die seine entscheidende Mit-
arbeit enthielten am Aufbau der Sozialdemokratie, ferner seine
Äußerungen über internationale Taktik und über österreichische
Politik, dann in dem Bande „Um Krieg und Frieden" seine Reden
und Aufsätze über Militarismus und Krieg und vor allem seine
Reden und Artikel im Weltkrieg; schließlich hat uns der Band über
den Kampf um das Wahlrecht Adlers Mitwirkung in diesem histo-
rischen Kampfe gezeigt — und nun dieser Band, der als letzter
Band der Serie „Adler der Parteimann" Nachträge und Ergänzungen
enthält und durch Veröffentlichung mancher Rede, die verschollen
schien, zur Erkenntnis von Adlers Wirken wertvolles Material
beibringt.
Dr. Gustav Pollatsche k.
Gedenktag des Ausnahmszustandes.
Zur Parteigeschichte.
Gedenktag des Ausnahmszustandes.
Festversammlung 2 9. Jänner 190 4*).
Es ist jetzt eine junge Generation aufgewachsen, die nichts von
jenen Zeiten weiß. Aber wenn wir das Verhältnis der österreichi-
schen Arbeiterschaft zum österreichischen Staat und zur öster-
reichischen Bürokratie richtig beurteilen wollen, so dürfen wir
diese Gesellschaft nicht danach beurteilen, wie sie sich uns heute
darstellt, und wir dürfen nie vergessen, wessen sie fähig ist. Wenn
sich die österreichische Arbeiterschaft Anfang der achtziger Jahre
den Vorstellungen hingab, daß sie mit Gewalt durch plötzliches
terroristisches Eingreifen ihre Lage ändern könne, so hat das viele
Gründe; einer dieser Gründe ist aber der, daß diese terroristischen
Lehren bei der Polizei solche Unterstützung fanden, nicht nur, in-
dem man ihnen Reklame machte, sondern auch, indem man der
besonnenen Organisation auf Schritt und Tritt Schwierigkeiten be-
reitete. Das war aber die Vorstellung des Polizeischädels: die Ar-
beiterbewegung ist eine Krankheit und je schneller sie heraus-
kommt, um so besser. Wenn da Exzesse, Morde, Attentate kommen,
dann packt man die Häupter, sperrt sie ein, schlägt sie tot und
damit ist die ganze Bewegung hin. Hat man etwa nur die Leute
ausgewiesen und verfolgt, die konspiriert haben? Nein, sondern
man hat einfach aus der Liste der Ausschußmitglieder unserer
Organisation die Zuständigen herausgenommen und hat die anderen
dann abgeschoben. Mit einem Schlage war die Frucht jahrelanger
Tätigkeit vernichtet und es war ganz logisch, daß die Genossen
auch die Organisationen, die nicht aufgelöst wurden, aufgaben. Den
Arbeitern war eben jeder verdächtig, der von der Polizei nicht
verfolgt wurde, und die Folge war, daß die Gemäßigten zurück-
gingen. So hat alles, was von der Regierung nicht gemordet wurde,
schließlich durch Selbstmord geendet.
Das waren die politischen Wirkungen dieser Verfolgungen. Die
persönliche Wirkung aber, das war ein Meer von Elend, das in
gewissenlosester Weise erzeugt wurde. Wie viele Familien
*) Am 29. Jänner 1904 fand im Arbeiterheim in Favoriten eine Fest-
versammlung statt, die dem - Andenken an die Verhängung des Ausnahms-
zustandes vor zwanzig Jahren gewidmet war. In der Versammlung sprach
zunächst Reumann und dann Adler.
8 Zur Parteigeschichte.
waren damals zerstört, wie viele Leute wortwört-
lich ermordet!
Und noch ein Moment hat da mitgespielt: das ist, daß der Mann,
der damals großen Einfluß hatte, Josef P e u k e r t, eine zwei-
deutige Rolle gespielt hat. Er hat zu Demonstrationen und zu
Aktionen aufgefordert, an denen er persönlich keinen Anteil nahm,
und er ist am Tage, bevor der Ausnahmszustand verhängt wurde,
mit dem Qelde der Polizei in das Ausland gefahren, und ein Beweis
gegen ihn ist auch, daß er zwar ein unwissender Mensch war, aber
doch zu klug, als daß er alles Zeug, das er erzählt hat, auch selbst
geglaubt hätte. Aber der Polizei war das halt recht. Ich habe es,
seitdem ich 1885 aktiv in die Partei eintrat, den Polizisten, auch
den obersten, dutzendmal ins Gesicht gesagt, daß alle diese
Attentate, die später gemacht wurden, von dem
größten Schurken, der in Österreich lebt, vom
Polizeirat Frank 1, eingefädelt worden sind. Es
wurde diesem Mann in einem Prozeß nachgewiesen, daß unter
seiner Oberleitung Münzverfälschung betrieben wurde, daß er die
gefälschten Münzen monatelang in seiner Schublade hatte und die
Leute weiter arbeiten ließ. Und ein junger, tuberkulöser Mann
namens E m m e r 1 i n g ist ihm damals zum Opfer gefallen: Obwohl
nachgewiesen wurde, daß der Polizeirat Frankl seine Finger dabei
hatte, wurde dieser 21jährige junge Mann, der glaubte, Revolution
zu machen, aber dabei nur die Geschäfte des Frankl besorgte, zu
zweieinhalb Jahren verurteilt. Er ist nach einem Jahre in Stein an
Tuberkulose gestorben.
Ich kenne keine gutmütigeren Menschen als alle diese Terroristen.
Denn der Terrorist unterscheidet sich vom wirklichen Politiker
besonders dadurch, daß er ein zu gutes Herz und ein zu schwaches
Hirn hat, daß er in seinem Grimm über das Elend, das er um sich
sieht, es nicht aushält; seine erste Empfindung ist: Und wenn ich
zugrunde gehe, so muß es sofort anders werden! Aber dies ent-
schuldigt nicht die Bürokraten, die die Leute systematisch hinein-
gebracht haben, die Leute vom kleinsten Spitzel, der sich unter die
Arbeiter mischte, bis zum Frankl und zum H o 1 z i n g e r, die mit
kaltem Blute Dutzende von Menschen gemordet, die sich mit
Schmach und Verachtung beladen haben. Man hat jedes Leben er-
drosselt und man hat den Ausnahmszustand nicht nur gegen die
terroristische Bewegung benützt, sondern auch gegen die Sozial-
demokraten. Ich erinnere Sie nur daran, daß im Jahre 1889 sogar
die „Gleichheit", die ich herausgegeben habe, als ein anarchistisches
Blatt unterdrückt wurde, und daß ich, der ich vielleicht am meisten
dazu beigetragen habe, um dem Anarchismus den Boden abzugraben,
als Anarchist vor dem Ausnahmsgericht gestanden habe. Eine kleine
Episode ist da bezeichnend. Wir hatten in den Jahren 1887 und
1888 ein Fünfzehnerkomitee, in dem Radikale und Gemäßigte bei-
sammen saßen. Eines Tages bekamen wir alle eine Vorladung zum
Untersuchungsrichter: wir waren der Geheimbündelei beschuldigt.
Der Adjunkt Bürger, der die Untersuchung führte, hatte einige Briefe
Vor zwanzig Jähren.
in der Hand es gab schon damals Parteigenossen, die sich poli-
tische Briefe als Reliquien aufhoben, wenn nicht anderswo, so im
Stiefel, denn dort waren sie am sichersten. (Heiterkeit.) Ich erinnere
mich genau, wie mir der Untersuchungsrichter mit feierlicher Miene
sagte: Sie sind beschuldigt, an die Stelle der anarchistischen Ketten-
orgauisation die sozialdemokratische Massenorganisation nach deut-
schem Muster setzen zu wollen. Natürlich sagte ich dem Herrn:
„Das ist schon wahr!" Das war bezeichnend für die Hirnkasten der
Herren, daß sie in einem Qeheimbundsprozeß anklagten, man wolle
die Öffentliche Massenorganisation einführen und die geheime
Kettenorganisation vernichten.
Vor zwanzig Jahren.
Landesparteitag in Hainfeld am 3 1. Jänner 190 4*).
Eine eigentümliche Stimmung erfaßt mich, wenn ich hier den
Parteitag begrüße. Wir waren ja schon einmal hier. Es war ein
Parteitag, wie er in der Geschichte einer Partei nur einmal vor-
kommen kann. Es war das Resultat einer jahrelangen Arbeit eines
schwierigen Aufbaues. Wir sind damals zusammengekommen, jeder
einzelne mußte sich erst losreißen von alter Liebe und altem Haß
und mußte das Mißtrauen, das alle erfüllte, erst aufgeben; der alte
Haß mußte begraben und ein neues Leben begonnen werden. Aber
niemand wußte, ob das auch gelingen werde. Nur eines war uns
gewiß: daß wir unser Äußerstes tun wollen, damit es gelinge. Wir
wußten, daß es nicht möglich sei, obwohl die ganze österreichische
Brutalität gegen die Arbeiterschaft aufgeboten war, daß das Prole-
tariat der ebenso bornierten wie brutalen Gewalt unter den Füßen
bleibe. Man erzählt uns von den terroristischen Exzessen, die den
Ausnahmszustand nötig machten. Ich bin der letzte, der diese
Einzelakte in Schutz nähme. Aber was auch damals geschehen ist
und welche Akte der Gewalt damals auch begangen wurden: es
steht in gar keinem Verhältnis zu dem Meer von Niedertracht, das
an der Arbeiterschaft begangen wurde. Nicht allein darin, daß man
Lockspitzel unter die Arbeiter schickte und diese verleitete, sich
der Polizei ans Messer zu liefern, liegt das Verbrechen der Regieren-
den, sondern die ganze Politik der Regierung war es, die die Arbeiter
direkt zur Verzweiflung trieb. Man denke: eine Arbeiterschaft, die
intelligent und tatkräftig ist, in deren Blut es pulsiert und die sich der
Unmöglichkeit jeder Bewegung gegenübersieht, jedem ersten besten
*) Am 31. Jänner 1904 trat in Hainfeld der zwölfte Landesparteitag der
niederösterreichischen Sozialdemokratie zusammen und es ist begreiflich,
daß dabei nicht nur des Parteitages von Hainfeld gedacht wurde, sondern
auch des Ausnahmszustandes, der am 31. Jänner 1884, also vor genau
zwanzig Jahren, über Wien und Umgebung verhängt wurde. (Siehe dar-
über auch Adlers Artikel „Der Weg nach Hainfeld", Bd. VI, Seite 2, und
„Der Ausnahmszustand", Bd. VI, Seite 34, sowie auch den Artikel „Zehn
Jahre nach Hainfeld" vom 25. Dezember 1898 in diesem Band.) Adler
begrüßte den Landesparteitag im Namen des Parteivorstandes.
10 Zur Parteigeschichte.
Polizeibüttel preisgegeben! In ganz Österreich mußten wir herum-
suchen, bis wir einen Bezirkshauptmann fanden, der so viel Intelli-
genz besaß, um uns eine solche Versammlung zu ermöglichen. Und
unsere Berichte lauteten dahin, daß es in ganz Österreich nur einen
einzigen Bezirkshauptmann gebe, der so vernünftig sei: den Be-
zirkshauptmann Auersperg in Lilienfeld. Das ist dem bezeich-
nenderweise sehr übel genommen worden, sogar das, daß er beim
Lied der Arbeit aufgestanden ist. Dabei waren wir hier alle unter
einer Aufsicht, die geradezu komisch wirkte. Die ersten Einladungen
zum Kongreß sind mir bei einer Hausdurchsuchung konfisziert
worden und das Vorspiel war eine Reihe von Geheimbunds-
prozessen, die allerdings nicht den gewünschten Erfolg hatten.
Wir brauchen uns nicht zu schämen. Auf so schlechtem Boden
wie wir hat kein Proletariat der Welt zu arbeiten. Es gibt Länder,
wo es noch kein Proletariat gibt; aber so viel gesündigt wurde am
Proletariat in keinem Lande wie bei uns. Wir haben das alles über-
wunden und wir werden unseren Weg auch in Zukunft machen,
wenn wir uns selber treu bleiben, treu dem Geiste von Hainfeld!
Das „Anarchistengesetz" verlängert.
„Gleichheit", 14. April 1888*).
v. a. Soeben hat die Regierung einen Gesetzentwurf eingebracht,
der bestimmt ist, „die Strafsachen, welchen anarchistische
Bestrebungen zugrunde liegen", auf weitere drei Jahre den
Geschwornengerichten zu entziehen und den Ausnahmsgerichten
zu überweisen.
Die Ära Frankl-Holzinger soll also um drei Jahre verlängert
werden — !
Genau genommen ist der Grund dieser Maßregel schwer einzu-
sehen. Das „Volksgericht", die Geschwornen, haben, um ein einziges
Beispiel zu nehmen, Franz Richter zu 12 Jahren schweren Kerkers
verurteilt, wegen Hochverrats usw., begangen durch Verbreitung
von Druckschriften; anders hätte auch Herr von Holzinger kaum
entscheiden können. Daß man den Geschwornen mißtraut, ist also
eine entschiedene Ungerechtigkeit.
*) Am 25. Juni 1886 war das Gesetz sanktioniert worden, womit „Be-
stimmungen über die Gerichtsbarkeit in Strafsachen, welchen anarchistische
Bestrebungen zugrunde liegen", festgelegt wurden und statt der Ge-
schwornen richteten nun die Ausnahmssenate der L a m e z a n und Hol-
zinger über die Arbeiter. Das Gesetz war auf zwei Jahre befristet. Des-
halb brachte die Regierung am 10. April 1888 wieder eine Vorlage ein, die das
Gesetz auf weitere drei Jahre verlängern sollte. Aber im Parlament stieß
das Gesetz auf Widerstand und wurde nicht mehr verhandelt. Statt dessen
erließ die Regierung während einer Parlamentspause am 1. August 1888
eine Verordnung, die die Geschwornengerichte in fünfzehn Kreisgerichts-
sprengeln für alle strafbaren Handlungen einstellte, denen „anarchistische,
auf gewaltsamen Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung gerichtete
Bestrebungen" zugrunde liegen.
Das „Anarchistengesetz" verlängert. 11
Die Regierung hat ihrem Antrag „Erläuternde Hemer-
k u u g e n" beigefügt, welche einen „Motivenberic h V* zu
nennen Sie seihst nicht den Mut findet, da man doch einmal ge-
wohnt ist, in dem üblichen Motivenbericht nach den Gründen für
eine Gesetzesvorlage zu suchen. Gründe aber, obwohl sie ja be-
kanntlich so billig wie Brombeeren sind, waren absolut nicht aufzu-
treiben. Darum die bescheidenen „Bemerkungen", welche unsere
Leser weiter unten in wörtlichem Abdruck finden.
Eür die Verlängerung von Ausnahmsgesetzen gibt es eine er-
probte Schablone, die auf alle Fälle paßt und die nie ihre Wirkung
auf die Parlamente verfehlt. Entweder: die bezüglichen „Ver-
brechen", die „Agitationen", bestehen noch immer, das (iesetz hat
noch nicht gewirkt, muß also erneuert werden; oder: die „Ver-
brechen", die „Agitationen", haben aufgehört, das Gesetz hat seine
günstige Wirkung bewiesen, muß also erneuert werden. Man sieht
diese Logik ist so zwingend, daß man derlei Gesetze füglich nie
aufheben kann.
„Die ruhige, durch äußere Einflüsse nicht beirrte Recht-
sprechung", wie das Ausnahmegericht genannt wird, hat i n
18 Monaten 36 Angeklagte zu zusammen 218 Jahren,
6 Monaten und 3 Tagen schweren Kerkers ver-
urteilt. Eine Statistik der früheren Jahre ist uns nicht zur Hand.
Dem Kundigen ist es aber unzweifelhaft, daß, so schrecklich diese
angeführten Ziffern sind, die Geschwornengerichte weit mehr Ver-
urteilungen zu leisten hatten, daß also von einem abschreckenden
Einfluß der Verurteilungen durch die Geschwornengerichte weit
eher gesprochen werden könnte, als von einem solchen der Aus-
nahmsgerichte. Aber das eine ist natürlich so wenig der Fall wie
das andere. Die terroristische Richtung des Anarchismus braucht
harte und schwere Verurteilungen; ja sie rechnet geradezu auf die
Rachegefühle, welche derlei Urteile erwecken. Die „Autonomie"
widersetzte sich zum Beispiel ganz konsequent jeder Bewegung,
welche bezweckte, den Opfern von Chicago das Leben zu retten.
Wenn diese Richtung an Boden verloren hat, so ist das trotz
jener Verurteilungen geschehen. Der Terrorismus ist verschwunden,
weil die Erkenntnis durchgedrungen ist, daß er unter unseren
heutigen Verhältnissen wertlos und schädlich ist. Soweit man derlei
überhaupt beurteilen kann, darf ruhig gesagt werden, daß terro-
ristische Taten, wir meinen damit nicht Akte der Verzweiflung ein-
zelner Personen, sondern Taten, welche im vermeintlichen Partei-
interesse der Anarchisten ausgeführt werden, in absehbarer Zeit
nicht vorkommen werden, außer es legt sich wieder irgendein
S c h r e g e r*) ins Mittel. Das Verdienst dafür gebührt aber nicht
') Anton Schreger war der im großen „anarchistischen" Münzver-
talschungsprozeß als Lockspitzel des Polizeirates Frankl entlarvte Mit-
angeklagte. (Siehe den Bericht der „Gleichheit" vom 17. Dezember 1887,
abgedruckt im zweiten Band dieser Sammlung „Victor Adler vor Gericht",
Seite 13.)
12 Zur Parteikreschichtc.
der Einschüchterung durch die Ausnahmsgerichte, sondern der Auf-
klärung durch die sozialistische Agitation.
Die Regierung hat die Schwäche ihrer „Bemerkungen" ganz
wohl erkannt und in der Not nach einem ganz sonderbaren Aus-
kunftsmittel gegriffen. Sie hat sich nämlich vom Obersten
Gerichtshof ein „Gutachten*)" anfertigen lassen, welches
die Verlängerung des Gesetzes als „zulässig und angezeigt" erklärt.
Was das Parlament beschließt ist nach bürgerlichen Begriffen
immer zulässig"; was aber „angezeigt" ist, davon — mit allem Re-
spekt, den wir einem k. k. Obersten Gerichtshof selbstverständlich
schulden, sei es gesagt — davon versteht der Oberste Gerichtshof
nichts und es geht ihn auch gar nichts an. Was das Gutachten da
anführt, ist ganz einfach — wahrscheinlich wörtlich — einem
Polizeibericht entnommen. Weiß der Oberste Gerichtshof etwa aus
eigener Erfahrung etwas von der „lebhaften Agitation zur
Verbreitung anarchistischer Bestrebungen"? Man hätte also lieber
gleich ein Gutachten des Herrn kaiserlichen Rates F r a n k 1 vorlegen
sollen, das wäre — deutlicher gewesen**).
Die ersten vier Absätze der „Bemerkungen" sollen das Verhalten
der sozialistischen Arbeiterpartei in den Jahren „erläutern". Wenn
einer der Abgeordneten aus dieser unverständlichen Aneinander-
reihung von verrenkten Sätzen klug wird, soll es uns wundern. Daß
die Tatsachen sämtlich schief aufgefaßt und auf den Kopf gestellt
sind, wissen unsere Leser am besten und wir haben gar kein Inter-
esse daran, diesen Weichselzopf von Unrichtigkeiten zu entwirren.
Eines aber möchten wir fragen: Was hat denn diese ganze Dar-
legung in den „Bemerkungen" zu einem „Anarchistengesetz" zu
tun?
Was hat die „radikale Fraktion", was hat die „gemäßigte Partei"
mit den „Strafsachen, welchen anarchistische Bestrebungen
zugrunde liegen", zu schaffen? Soll wieder einmal das alte Spiel
aufgeführt werden, daß Handlungen einzelner, die sie auf eigene
Verantwortung unternommen, einer großen Partei, die nach vielen
Tausenden zählt, an die Rockschöße gehängt werden? Die Ver-
legenheit, in welcher sich die Regierung befindet, mit ihren „Be-
merkungen" eine Druckseite des freilich ziemlich großen Formats
der Protokolle des Parlaments zu füllen, gibt ihr noch kein Recht
den Schein zu erwecken, als glaube sie selber an eine Solidarität
irgendeiner Fraktion der sozialistischen Arbeiterpartei mit Dingen,
wie Brandlegung oder Münzverfälschung, eine Solidarität, von der
sie sehr wohl weiß, daß sie nicht vorhanden ist. Daß endlich die
„Bemerkungen" in einem stilistisch ganz unentwirrbaren Satze be-
*) Das berühmte ungesetzliche Gutachten, das der Oberste Gerichtshof
über die „Dispensehe n" abgegeben hat, hat hier also einen würdigen
Vorgänger.
**) Wohltuend an dem „Gutachten" ist nur das eine Moment, daß es die
einzige Stelle der „Bemerkungen" ist, welche in einem halbwegs erträg-
lichen Deutsch geschrieben ist; fast alle anderen Sätze sind in dem schlech-
testen Hofratsjargon abgefaßt. (Anmerkung von Adler.)
Zehn Jahre nach Hainfeld. 13
lumpten, das Ausnahmsgesetz diene dazu, um zu hindern, daß die
„radikale Fraktion sich das Übergewicht über die sich ihrer Herr-
schaft erwehrende Partei der Gemäßigten verschaffe", ist der
Gipfel. Nun treibt die Regierung Kar noch Fraktionspolitik J I)ie
Polizeiorgane, die ihr solchen Unsinn berichten, sind reif für die
Entlassung, das mag sie uns glauben. Der Umstand, ob die .36 An-
geklagten ihre 218 Jahre von üeschwornen oder von Herrn v. Hol-
zinger und seinen Kollegen zugesprochen erhalten, ist für die Partei-
entwicklung ganz gleichgültig. Wir können uns sogar gestatten, der
hohen Regierung — kostenfrei — ein Parteigeheimnis zu verraten:
Die „Gemäßigten" sind im Aussterben begriffen und ebenso die
„Radikalen"; was aber besteht, blüht und wächst, ist eine einzige,
große, sozialdemokratische Arbeiterpartei, die sich durch alle Aus-
nahmsgesetze der Welt nicht einschüchtern läßt und ihre Pflicht tut
und tun wird!
Will aber eine hohe Regierung wirklich und ernstlich etwas dazu
tun, daß jene terroristische Richtung, welche sie in diesem Gesetz
zu bekämpfen angibt, an Boden verliert, so verraten wir ihr ein un-
fehlbares Mittel: sie hebe alle bisherigen Ausnahmsgesetze auf, sie
erlasse im Verordnungswege „Ausnahmsverfügungen" an die
Polizeibehörden, daß diese sich probeweise auf drei Jahre
aller Eingriffe politischer Natur enthalten; sie schicke den ver-
schiedenen Frankls und Breitenfelds den blauen Bogen und gebe
dem Staatsanwalt andere Aufträge als bisher.
Aber wozu uns mühen! Es ist umsonst; die herrschende Klasse
will durchaus mit verbundenen Augen ihrem Ende entgegenstürzen.
Tatsächlich unfähig dazu, ernstliche ökonomische Reformen durch-
zuführen, verbittert sie den unausweichlichen Kampf durch grau-
same und doch ganz fruchtlose Versuche, ihn hinauszuschieben. Nun
wohl, alle Schuld auf ihr Haupt*)!
Zehn Jahre nach Hainfeld.
„Arbeiter-Zeitung", 2 5. Dezember 18 98**).
Am Silvestertag wird es zehn Jahre sein, daß die österreichische
Sozialdemokratie zu neuem Leben erstand. Der Hainfelder
Parteitag bedeutet nicht etwa den Geburtstag unserer Partei,
vielmehr hatte sie bereits eine zwanzigjährige und bewegte Ge-
schichte hinter sich; aber von Hainfeld datiert ihre Wieder-
geburt.
*) Diesem Artikel waren gleich die „erläuternden Bemerkungen" der
Regierung angefügt, in denen darauf verwiesen wurde, daß die Wirksam-
keit des Anarchistengesetzes vom 25. Juni 1886 am 10. August 1888 zu
Ende gehe und daß die Regierung die Verlängerung bis 31. August 1891
für geboten halte . . .
'*) Siehe dazu im sechsten Band dieser Schriften den Abschnitt von dei
Einigung der Partei, namentlich den Artikel aus dem „Kampf" „Der Weg
nach Hainfeld". (Bd. VI, Seite 1 ff.)
14 Zur Parteixeschichte.
Wir leben schnell und der kurze Zeitraum eines Jahrzehnts
genügt, um uns fast vergessen zu machen, was war. Sozialdemo-
kraten haben gewöhnlich auch nicht Zeit, sich zu erinnern, ihr Blick
haftet nicht an dem Werke, das getan ist, sondern wird der Auf-
gabe zugewendet, die sie noch zu bewältigen haben. Trotzdem
sollen wir zuzeiten der Erinnerung ihr Recht lassen. Die Erkennt-
nis der Vergangenheit lehrt uns die Gegenwart verstehen, das gilt
auch für die Parteigeschichte, und aus dem Verständnis läßt sich
manche Hoffnung, vielleicht manche Warnung gewinnen.
Die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung läßt sich
im großen in drei Perioden teilen, deren jede ungefähr ein Jahr-
zehnt umfaßt. Von ihrem ersten Erwachen Ende der sechziger Jahre
an stand sie zunächst wesentlich unter dem Zeichen Lassallescher
Ideen und Taktik. Langsam entwand sie sich unter fortwährenden
Kämpfen nach außen und heftigem Streite im Innern den Einflüssen
der damals herrschenden liberalen und kleinbürgerlich-demokra-
tischen Vorstellungen. Immer klarer tritt das herbe Klassenbewußt-
sein, das Erfassen der sozialdemokratischen Bewegung als Klassen-
kampf hervor, die Partei wächst rapid, sie vertieft sich durch die
bewußte Aneignung der Gedanken von Marx und Engels, des Kom-
munistischen Manifests. Ihre Taktik lehnt sich eng an die deutsche
Bruderpartei, und ihre Hauptarbeit gilt der Erringung der poli-
tischen Kampfmittel, die der deutschen Sozialdemokratie längst zur
Verfügung stehen, vor allem des allgemeinen Wahlrechtes. Die
Organisation vollzog sich wesentlich in Arbeiterbildungsvereinen,
doch zeigten sich sehr bedeutsame Ansätze zur gewerkschaftlichen
Organisation. Die Presse wuchs trotz den fortwährenden Drang-
salierungen von Woche zu Woche. Den Untergrund dieser auf-
steigenden Bewegung bildete die rapide Entwicklung der Industrie,
die nach 1866 ihren Anfang nahm, eine Welle, die im Krachjahr 1873
ihren Höhepunkt, aber keineswegs ihr Ende fand. Die Krise in
ihren ökonomischen Folgen wird der Arbeiterschaft erst in den
darauffolgenden Jahren fühlbar und bereitet langsam den Boden
für den politischen Umschwung vor.
Dieses Moment der ökonomischen Entwicklung genügt aber
keineswegs, um die nun folgende, etwa mit den achtziger Jahren
beginnende zweite Periode der österreichischen Arbeiterbewegung,
die Zeit der Spaltung und des Eindringens anarchistischer Gedanken-
gänge, zu verstehen. Gewiß hatte die überhandnehmende Arbeits-
losigkeit und bittere Not ihren Teil daran, daß eine Taktik aufkam,
in der zwei anscheinend widersprechende Elemente, Verzweiflung
und Optimismus, merkwürdig gemischt waren. Wenn es ein Land
gibt, wo es verständlich ist, daß das Proletariat auf seinem Dornen-
weg von Verzweiflung erfaßt wird, ist es Österreich. Die Schwierig-
keit, in dem rückständigen Lande mit seiner Vieisprachigkeit und
seinen bunt durcheinandergewürfelten Kulturzuständen vorwärts-
zukommen, ist an sich eine enorme, aber die Empfindung davon
wurde zur Verzweiflung gesteigert durch die Arbeiterpolitik der
Zehn Jahre nach Hainfeld. ir>
einstigen Regierungen und ihrer Bürokratie: dafür ist die Bezeich-
nung Wahnwitz ein unverdientes Kompliment und boshafte Dumm-
heit ein zu schwacher Ausdruck. Daß die Regierungen und die bür-
gerlichen Parteien der Arbeiterschaft abwechselnd heuchlerische
Schmeichelei und feigen Mohn boten, sie einmal in den Staub traten
und gleich darauf wieder für die eigenen Zwecke ausspielen wollten,
war nur eines der Kiemente dieser famosen Politik. Aber man über-
lege, daß in der ganzen Zeit der Scheinliberalen Herrschaft, seitdem
sich die Arbeiter das Stück Koalitionsrecht im Dezember 1869 im
Sturm erobert hatten, bis in die achtziger Jahre hinein die Gesetz-
gebung absolut keinen, aber auch nicht den kleinsten Schritt machte,
um ihren Forderungen entgegenzukommen, und zwar weder auf
politischem noch auf ökonomischem Gebiet! Die Verwaltung war
damals allerdings rastlos tätig; sie tötete systematisch jedes Ver-
trauen zu der Wirksamkeit von (iesetzen, sie rottete mit Stumpf
und Stiel die Rechtssicherheit der Arbeiter aus, sie brachte ihnen
täglich zum Bewußtsein, daß alle schon bestehenden staatsgrund-
gesetzlichen Garantien für sie wertlos und nichtig gemacht worden,
und sie impfte ihnen die Überzeugung ein, daß in Österreich Parla-
ment und Gesetzgebung im besten Falle ja auch nur Gesetze
schaffen können, deren Geltung in der Praxis für das Proletariat
ebenso vernichtet werden würde wie die Geltung des längst be-
stehenden Vereins- und Versammlungsrechtes, der Preßfreiheit, des
Koalitionsrechtes. Niemals hat es eine Arbeiterbewegung gegeben,
die kindlicheres und naiveres Vertrauen in den Segen, ja die All-
macht der Gesetze hatte, als die österreichische im Beginn der
siebziger Jahre. Die Bürokratie und die Polizei haben verstanden,
ihr diesen frommen Kinderglauben gründlich auszuprügeln und die
politisch Rechtlosen zu überzeugen, daß in diesem Lande auch das
politische Recht ihnen nichts helfen würde. So wurde der Boden
geschaffen, auf dem die „radikale" Lehre von der Wertlosigkeit
aller politischen Rechte, vor allem des Wahlrechtes, wuchern
konnte. Nicht nur im einzelnen und im Lockspitzel-Detailverkehr
hatte die anarchistische und terroristische Strömung in Österreich
eine offizielle Quelle, ihre Erzeuger waren nicht nur die Polizisten
Frankl und Steyskal und die Ausnahmsgesetze von Wien und Prag,
sondern nicht minder und erst recht alle Staatsmänner von Giskra
bis Taaffe.
Dazu kam im Jahre 1878 das Sozialistengesetz in Deutschland.
Die österreichischen Arbeiter sahen, daß das allgemeine Wahlrecht
vor brutalster Vergewaltigung nicht schützt, aber sie konnten noch
nicht sehen, was sie die Folge lehrte, daß es die Vergewaltigung
überwinden hilft. Die vorgeschrittene Entwicklung der deutschen
Sozialdemokratie, vor allem aber auch der Besitz des Wahlrechtes
ließ die deutsche Arbeiterschaft die Gefahr des Abschwenkens vom
richtigen Wege vermeiden. Die anarchistische Strömung, die natur-
notwendig auch drüben entstand, verrann sehr bakJ im Sande, die
Absplitterung der Mostschen Sekte blieb in Deutschland völlig be-
deutungslos, aber sie fand in Osterreich einen günstigen Boden.
16 Zur Parteigeschichte.
In einem Lande, wo die gesetzlich garantierte öffentliche Organi-
sation als Geheimbündelei verfolgt, wo die Verbreitung der vom
Staatsanwalt zensurierten Schriften bestraft wurde, mußte der Ge-
danke aufkommen: wenn schon — denn schon, also geheime Organi-
sation, „ein Blick, ein Händedruck genügt", schrieb ein radikales
Blatt, also Verbreitung von Flugblättern, die wenigstens deutlich
sind, wenn wir uns schon auf alle Fälle in Gefahr bringen müssen.
Und nun steigert sich die Zahl der Opfer ins Maßlose, die Ver-
urteilungen werden immer grausamer, und jede einzelne zeugt neue
Märtyrer.
Dazu kam, was wir oben das optimistische Element nannten:
maßlose Überschätzung der eigenen Kraft sowie der revolutionären
Bereitschaft und Explosivkraft der Massen. Die Lage war un-
erträglich geworden, darum mußte das Ende nahe sein. Von diesem
Standpunkt wurde nicht nur der politische Kampf, sondern auch
jedes Arbeiterschutzgesetz verworfen, dafür sei es „zu spät". Mit
dem alten Parteiprogramm fand man sich leicht ab; es sei „zur
hindernden Fessel geworden", schreibt Peukert im Juli 1882; „zur
Wahrung und Vertretung unseres gemeinsamen Prinzips haben wir
das Programm verletzt", und wenige Wochen später rühmt er als
seine Tat den Beschluß einer Versammlung (am 31. Juli beim Zobel),
der ausspricht, „daß jede Reformbestrebung in der bestehenden
Gesellschaftsorganisation nur eine Verlängerung der materiellen und
geistigen Knechtschaft des arbeitenden Volkes bedingt". Die Er-
lösung wird nur von der Katastrophe erwartet, an deren unmittel-
bares Bevorstehen man glaubte oder glauben machen wollte. Wie
der anarchistische Demagoge Peukert sich zum Polizeianarchisten
entwickelte, gehört nicht hieher. Jedenfalls aber hatten einflußreiche
Kreise an diesem Verlauf der Arbeiterbewegung, deren Behandlung
man den Kerkermeistern überlassen konnte, so lebhafte Genug-
tuung, daß der Staatsanwalt Lamezan die Sozialdemokraten, die
man die Gemäßigten nannte, öffentlich im Gerichtssaal als „Sozia-
listen im Schlafrock" und „Wassersuppensozialisten*)" frotzelte. Aber
auch solche Dinge öffneten niemand die Augen. Der Zwang zur
geheimen Organisation, zur Verschwörertaktik und das Fehlen des
Wahlrechtes waren jedes allein schon genügend, um jede Möglich-
keit einer Abschätzung der eigenen Kraft und des wirklichen Zu-
standes der Massen zu vernichten. Jeden Tag, meinte man, müsse
der Funke ins Pulverfaß fliegen; der Funken kamen genug, sie
fanden nur nasses Stroh.
Das war die Zeit der Spaltung. Denn die Sozialdemokraten
ergaben sich der neuen, sich radikal nennenden, mäßig anschwel-
lenden Strömung nicht ohne hartnäckigen Widerstand. Aber bald
waren die „Gemäßigten" die Minorität, die sich verzweifelt gegen
die neue Lehre von der Nutzlosigkeit des politischen Kampfes
*) Das war im sogenannten Merstallinger-Prozeß vom 8. bis 21. März
1883, worüber Näheres in der Fußnote zu Adlers Artikel „Der Weg nach
Hainfeld" (Bd. VI, Seite 3) zu finden ist.
Zehn Jähre nach ll.iinfekl. 17
wehrte, aber sich dabei In ein doktrinäres Extrem verrannte. In
der Wut des Kampfes wurden die Radikalen in ihrer Gesamtheit
verantwortlich gemacht für die unnützen und grausamen Gewalt-
taten, die von Merstallinger bis Fisert ihnen als Partei gewiß nicht
zuzurechnen sind. Gehässigkeit und Verdächtigung machte die Kluft
zwischen den Fraktionen unüberbrückbar, Spitzelei und Spitzel-
riecherei vergifteten jeden Verkehr. Das Wahlrecht wurde zum
Schibboleth der Spaltung; um seinen Wert wogte der Kampf, wäh-
rend kein Mensch daran dachte, es den Arbeitern zu gewähren.
Die Radikalen verstiegen sich, von der Wertlosigkeit des Wahl-
rechtes ausgehend, dazu, es als schädlich zu erklären. Die Ge-
mäßigten waren nahe daran, nicht programmatisch als Partei, aber
in der Hitze des Gefechtes, das Wahlrecht und den parlamentari-
schen Kampf als Panazee zu erklären, jedenfalls es maßlos zu
überschätzen. Immer mehr wurde der Blick der Arbeiterschaft vom
Kampfe mit den Gegnern abgelenkt und ihre Kraft im Bruderzwist
konsumiert. Die Verschwendung an Kraft, an Hingebung und Opfer-
mut überstieg alle Begriffe. Oft wanderten Dutzende von Genossen
damals auf Jahre in den Kerker wegen irgendeiner wertlosen Flug-
schrift, die in kaum viel mehr Exemplaren verbreitet wurde, als
sie Menschen kostete. Die löbliche Justiz aber schlug blind drein
unter Radikale und Gemäßigte, sie peitschte noch die Wellen . . .
Da kam am 30. Jänner 1884 der Ausnahmszustand in Wien, und
•das Schreckensregiment in Böhmen wurde auch verschärft. Mit
einem Schlage sollte alles zertreten werden, meinte die erleuchtete
Regierung. Jetzt wäre die Stunde der Explosion gekommen ge-
wesen; Peukert glaubte so fest an sie, daß er — nächtlicherweile
über die Grenze ging. Die Organisationen wurden zerrissen, die
Presse erdrosselt, die Vereine aufgelöst, die Vertrauensmänner
ausgewiesen, die Kerker füllten sich massenhaft. Was aber von
Vereinen übrigblieb, löste sich freiwillig auf, auf Kommando der
Londoner Freunde Peukerts. Das Blatt der Radikalen, die „Zu-
kunft", wurde verboten, die „Wahrheit", das Organ der Gemäßigten,
wurde freiwillig eingestellt, es war für ein Wiener Arbeiterblatt
damals zur Schande geworden, leben zu dürfen.
Grabesstille folgte statt der Explosion. Die Stille wurde hie und
da unterbrochen durch das, was man ein „Lebenszeichen" nannte,
eine Flugblattverbreitung oder irgendeinen mit kindischen Mitteln
unternommenen Attentatsversuch, in jedem Fall als einzige Folge
ein mit weittönender Polizeireklame aufgebauschter Prozeß und
drakonische Verurteilungen. Der Staat wurde wiederholt gerettet;
der Weizen der Frankl und Konsorten, der Herren der Ausnahms-
gerichte, blühte. Während der Schreckensherrschaft glomm aber
die grimmige Fehde der feindlichen Fraktionen in den Personen
weiter, und bis in die Gefängnisse hinein wurde der Bruderhaß
mitgeschleppt.
Aber die österreichische Arbeiterbewegung war nicht umzu-
bringen, weder durch Mord noch durch Selbstmord. Jahre brauchte
Adler, Briefe. XI. Bd. 2
18 Zur Parteigeschichte.
es, bis sie zur Besinnung kam, aber als beide Fraktionen am Boden
lagen, als viele der prominentesten Personen vom Schauplatz ver-
schwunden waren, gewann ein gewisser Grad von Nüchternheit
Raum, und kühlere Überlegung wurde möglich. Im Frühjahr 1886
kam Graf Taaffe auf die geniale Idee, ein Anarchistengesetz ein-
zubringen. Einer Anzahl von Abgeordneten unter der Führung von
Pernerstorfer und Kronawetter gelang es, die Genehmigung zu
einer Volksversammlung zu erlangen, ein damals ganz unerhörtes
Ereignis, und in dem Büro dieser Versammlung, die am 9. Mai im
Amorsaal tagte, saßen zum erstenmal nach Jahren Gemäßigte und
Radikale an einem Tische. Es war ein Riesenmeeting, und der
Protest gegen den Plan der Regierung trat zurück gegen das Ge-
fühl, das alle Anwesenden beherrschte: noch lebt die Wiener Ar-
beiterschaft. Diesem ersten Schritt folgte der zweite, die Gründung
der „Gleichheit" zu Weihnachten desselben Jahres. Ihr Aufruf wen-
dete sich an die Arbeiterschaft ohne Rücksicht auf Fraktionsunter-
schiede, bekannte als ihr Programm: Erkenntnis der Solidarität der
Arbeiterklassen aller Nationen; Verbreitung und Vertiefung des
Klassenbewußtseins, offene Organisation als politische Partei,
Kampf für politische Freiheit, für Arbeiterschutzgesetze. Als Taktik
wurde proklamiert „offene", das wollte sagen öffentliche Propa-
ganda, und das war der entscheidende Schritt. Links und rechts,
bei Gemäßigten wie bei Radikalen, stieß der neue Versuch auf das
begreifliche Hindernis des stärksten Mißtrauens, ja, die Massen,
soweit sie zugänglich wurden, waren bereitwilliger, als was von
Vertrauensmännern der alten Organisationen noch übrig war. Aber
der Boden gemeinsamer Diskussion war gefunden, und in harten
Kämpfen, aber endlich doch, setzte sich die Einsicht in die Not-
wendigkeit der Einigung durch. Was sich in Wien vollzog, fand in
den Provinzen sein Echo, langsam knüpften sich die Fäden wieder
an, und neues Leben erwachte. Von der ganzen Arbeiterpresse
hatte ein einziges Blatt den Sturm überdauert: der „Volksfreund"
in Brunn, nun ergänzte ihn die „Arbeiterstimme" zu einem Wochen-
blatt; „Rovnost" in Brunn und „Hlas Lidu" in Proßnitz wurden ge-
gründet und bildeten neue Mittelpunkte der tschechischen Organi-
sation; in Böhmen konnte man erst ein Jahr später an die Möglich-
keit einer Arbeiterpresse denken. Die Presse war damals mehr als
ein Mittel der Propaganda, die Redaktionen waren zugleich Mittel-
punkte der Organisation, sie waren die einzigen Vereinigungen, die
nicht aufgelöst werden konnten, deren Bestand trotz allen Ver-
folgungen eine Kontinuität der Tätigkeit möglich machte, nach außen
waren sie somit die naturgemäßen Träger jeder Initiative und jeder
Organisation.
Es war trotz allen Verfolgungen und Schwierigkeiten doch eine
schöne Zeit, und wer sie mitlebte, wird sich mit Freude ihrer er-
innern, als wir in Wien wie in der Provinz in langen Nächten, in
bitterernsten Diskussionen den Grund legten zur neuen gemeinsamen
Tätigkeit. „Programm" durfte es nicht heißen, das Wort hatte noch
von den Zeiten des Haders her den Beigeschmack einer Fessel der
Zehn .lalirc nach Hainfeld, 19
„Bewegungsfreiheit des einzelnen", aber daß gemeinsame „Prin-
zipien" für gemeinsame Arbeit nötig seien, leuchtete selbst den
Genossen ein, die sich schwer von liebgewordenen Scnlagworten
losmachen konnten. Man einigte sich in dem Grundgedanken, daß
politischer Kampf wie soziale Reform notwendige Mittel seien, um
das Proletariat auf die Höhe seiner geschichtlichen Aufgabe zu
bringen oder, wie es später in Hainfeld gefaßt wurde, „das Prole-
tariat politisch zu organisieren, es mit dem Bewußtsein seiner Lage
und seiner Aufgabe zu erfüllen, es geistig und physisch kampffähig
zu machen und zu erhalten, ist das eigentliche Programm der sozial-
demokratischen Arbeiterpartei in Österreich."
Damit war der bedingte Wert der politischen Rechte und
des Arbeiterschutzes für die Bewegung festgelegt, das war die
Zusammenfassung des „radikalen" und des „gemäßigten" Gedanken-
ganges, die sozialdemokratische Synthese der demokratischen und
der anarchistischen Utopie. Das, was in anderen Ländern Minimal-
programm heißt, die Forderungen an den heutigen Staat, das Wahl-
recht eingeschlossen, ließ sich zwanglos in diesen Rahmen bringen,
und als Spur der alten Kämpfe blieb nur noch die Eigentümlichkeit
unseres Programms, daß es bei jeder seiner Forderungen vor deren
Überschätzung ausdrücklich warnt und daran erinnert, daß sie nur
Mittel zum Zwecke sind.
Länger als zwei Jahre dauerte diese Diskussion und die Vor-
bereitung der formellen Einigung. Die Vertrauensmänner in Wien
wie in den wichtigsten Provinzorten deutscher wie tschechischer
Zunge kannten und billigten alle Vorbereitungen. Es ging auch
äußerlich nicht leicht; zwei Geheimbundprozesse, einer von Wien,
einer von Reichenberg ausgehend, wurden versucht, blieben aber
Fehlgeburten. Endlich war die Einigung eine Tatsache, die reif war,
ausgesprochen zu werden.
Dem § 2 des Versammlungsgesetzes werden wir einmal ein
schönes Monument errichten. Er war unsere Zuflucht, er gab uns
den Rahmen für unsere Organisationsarbeit. Öffentlich durften wir
nicht, geheim wollten wir nicht arbeiten, so war es die Ironie der
Geschichte, daß von der ganzen liberalen Gesetzgebung uns das
zum Schutze wurde, was nicht darin stand, jene dreimal gebene-
deite Lücke im Versammlungsgesetz, die seine Anwendung ver-
bietet auf „geladene Gäste". Die Redaktionen luden ein, Privat-
leute, selbstverständlich ohne gewählt zu sein, ohne Mandat, wurden
geladen. Wir suchten eine Bezirkshauptmannschaft, an deren Spitze
kein absoluter Analphabet stand, und fanden in dem Grafen
Auersperg, jetzt Sektionsrat im Handelsministerium, einen Mann,
der möglicherweise Verstand und Gesetzeskenntnis genug haben
konnte, um zu begreifen, daß, was wir wollten, völlig gesetzmäßig
und unmöglich zu verbieten sei. Darum wurde das kleine Hain-
feld in der Bezirkshauptmannschaft Lilienfeld als Ort des Partei-
tages gewählt. Am 30. Dezember 1888 kamen dort 110 Cienossen
20 Zur Parteigeschichte.
zusammen, davon 7ü stimmberechtigte. Wir wiederholen, sie hatten
kein Mandat, und doch lag in ihrer Hand die nächste Zukunft der
Arbeiterschaft Österreichs, auf sie blickten damals vertrauensvoll
Hunderte und sollten bald Zehntausende von Proletariern blicken.
Die Einigung wurde nicht in Hainfeld errungen, der Parteitag hat
sie nur besiegelt. Das kurze Gefecht mit dem einzigen*), der nicht
wollte, war kein Mißton, sondern weckte alle guten Geister der
gesunden Vernunft, der nüchternen Einsicht in die Tatsachen, der
Entschlossenheit, das Notwendige zu tun, mag es die hergebrachte
Schablone bezeichnen wie sie will.
Der Neujahrstag 1889 fand uns als geeinigte Partei. Es ist un-
möglich, die Empfindungen zu schildern, die uns bewegten; die
Schlacken der traurigen Geschichte der letzten Jahre waren abge-
fallen, ein reines Banner trugen wir in Händen, die Brust voll Mut,
voll Hoffnung, voll Siegeszuversicht.
Wir österreichischen Sozialdemokraten dürfen uns heute, nach
zehn Jahren, in aller Bescheidenheit sagen, wir haben gehalten,
was wir uns in Hainfeld zugeschworen haben. „Seines Fleißes darf
sich jeder rühmen", und wir haben fleißig gearbeitet. Als zer-
sprengte Glieder zweier hadernder Fraktionen haben wir begonnen,
und in zehn Jahren hat sich das österreichische Proletariat eine
große Partei aufgebaut, hat es ein Stück politische Macht errungen,
hat es den umfassenden Rahmen einer wirksamen Gewerkschafts-
organisation geschaffen. Wir sind mit der Regierung und ihrer
Polizei fertig geworden und haben die Gegner gezwungen, knur-
rend und widerwillig die Tatsache des kräftigen Lebens und
Wachsens der Sozialdemokratie anzuerkennen. Wir haben, was in
Hainfeld erst keimte, zur vielgestaltigen Entfaltung gebracht, haben
durch eine reichgegliederte Organisation die nationale Schwierig-
keit überwunden, ja, wir haben das Schwerste geleistet und, zum
Teil wenigstens, die österreichische Schlamperei besiegt, in uns
und bei den anderen. Dabei darf man nicht vergessen, daß wir arm
waren und sind an Menschen, an Kräften; eine ganze Generation
von fähigen Proletariern, von begabten, aufopferungsfähigen Men-
schen hat uns der Zwist gelähmt, hat uns die feige Gewalt er-
schlagen. Sie sind verdorben, gestorben, die Verzweiflung im
Herzen. Ihrer wollen wir heute gedenken, die die neue Hoffnung,
den neuen Kampf nicht erlebten, die die neue Hoffnung nicht fassen
konnten und deren Erben und Rächer wir sein wrollen.
Und nun genug der Erinnerungen. Zehn Jahre sind lang für die.
die Tag um Tag, Stunde für Stunde im Kampfe stehen; ein Jahr-
zehnt ist ein Augenblick im Verlauf der Geschichte. Wir wissen,
daß wir am Anfang stehen, aber wir wollen uns einen Augenblick
daran freuen, daß dieser Anfang gut ist. v. a.
*) Der Schneider Rißmann aus Graz, der, nachdem die Prinzipien-
erklärung mit 69 gegen 3 Stimmen abgelehnt worden war, an den weiteren
Verhandlungen nicht mehr teilnahm. (Bd. VI, Seite 54 und 151.)
Das Jubiläum des Arbeiterbildungsvereines. ^l
Das Jubiläum des Arbeiterbildungs-
vereines.
Pestversammlung am 6. De /cm her 1902*).
Wenn wir diesen Verein ehren, ehren wir unsere Ge-
schichte, mit der er verknüpft ist wie keine andere Organisation.
Mit der Bildung, der dieser Verein dient, hat es eine ganz eigene
Bewandtnis. Bildung ist ein Wort und hat genau so viel Inhalt, wie
der zu denken imstande ist, der dieses Wort ausspricht. Das, was
man gewöhnlich darunter verstellt, das, was die bürgerliche Gesell-
schaft als Bildung anerkennt, das ist vor allem die Fähigkeit, ortho-
graphisch zu schreiben, orthographisch zu reden, orthographisch zu
essen und orthographisch sich anzuziehen. (Heiterkeit.) Dazu muß
man noch ein gewisses Quantum von Dichtern, Komponisten und
Philosophen dem Namen nach kennen und muß beiläufig wissen,
wann man im Theater Bravo zu rufen hat. Das ist die Bildung der
bürgerlichen Gesellschaft. Man ist auch gebildet, wenn man für
Aufklärung und Fortschritt ist, dagegen ist man schon sehr un-
gebildet, wenn man sich vornimmt, darunter etwas Klares zu ver-
stehen. Mit einem Worte: zwischen landläufiger Bildung und prole-
tarischer Bildung ist ein himmelweiter Unterschied. Wir verlangen
von euch keinerlei Art von Orthographie (Heiterkeit), wir verlangen
von euch nichts als Selbsterkenntnis. Darüber nachzu-
*) Der Arbeiterbiidungsverein in der Gumpendorferstraße im Bezirk
Mariahilf — deshalb gewöhnlich Gumpendorfer Arbeiterbildungsverein ge-
nannt — war im Dezember 1867 gegründet worden. Die Statuten waren,
allerdings vergeblich, zum erstenmal am 18. Dezember 1866 eingereicht
worden. Im Juli 1867 wendete sich deshalb eine Arbeiterabordnung mit
einer Denkschrift an den Minister des Innern, den Grafen Taaffe, worin
sie in sehr patriotischen Worten um die Bewilligung eines Arbeitervereines
ersuchte. Der Abordnung gehörten sowohl Anhänger von Schultze-Delitzsch
wie von Lassalle an. Taaffe verlangte die Empfehlung durch einige Indu-
strielle, und erst als eine Anzahl von Gewerbetreibenden als unterstützende
Mitglieder beitraten, die von der Polizei als vertrauenswürdig erklärt
wurden, wurden die Statuten am 18. November 1867 genehmigt. Die Regie-
rung, das sogenannte „Bürgerministerium" Auersperg, von dessen Innen-
minister Dr. Giskra das Wort stammt, daß die soziale Frage bei Boden-
bach aufhöre, ließ den Verein streng überwachen, weil mittlerweile die
Lassalleaner die Herrschaft im Verein erobert hatten. Schon am 13. März
1868 forderte Taaffe die Ministerkoiiferenz auf, „dem in seineu Konse-
quenzen unabsehbaren Treiben des Vereines ein Ende zu bereiten".
Am 1. Dezember 1887 wurde beim Schwender das zwanzigste
Gründungsfest des Vereines abgehalten, das in der Geschichte der Einigung
seine wichtige Rolle spielte. (Siehe Adlers Artikel „Der Weg nach Hain-
feld", Bd. VI, Seite 16.) - Siehe auch das Vierzigjahrjubiläum und Adlers
Rede am 8. Dezember 1907.
Arn 6. Dezember 1902 fand beim Wirhberger das Fest des 35jähngen
Bestandes statt. Die Festrede hielt Adler, der sich vornehmlich mit den
Bildüngsbestrebungen der Arbeiterschaft beschäftigte.
22 Zur Parteigeschichte.
denken, wie Sie geworden sind und was aus Ihnen werden soll, Ihr
Verhältnis zur Gesellschaft geistig zu erfassen, das nenne ich Bil-
dung. Und auf eine noch höhere Stufe der Bildung gelangen Sie,
wenn einmal die Erkenntnis den Willen geweckt hat, wenn aus
dem Bewußtsein, Produkte der Gesellschaft zu sein, das bewußte
Streben erwächst, ihre Herren, ihre Former und Lenker zu werden.
Die Bildung der Arbeiterklasse besteht darin, daß sie sich mit Be-
wußtsein eine große Aufgabe gestellt hat und von ihr erfüllt ist,
daß sie in klarer Einsicht den Aufbau einer Gesellschaftsordnung
betreibt, die den Proletariern eine ganz andere Bildungsmöglichkeit
bringen wird, als es unser armer Bildungsverein mit seinen
schwachen Mitteln vermocht hat.
In diesem Streben kann uns nichts hindern, selbst aus Nieder-
lagen schöpfen wir neue Kräfte und neue Waffen. Die Gegner der
Bildung, wie wir sie meinen — von Lueger bis Wilhelm — , was
können sie mehr tun, als in blinder Verkennung ihres Wesens in
ohnmächtiger Wut wilde Schreie auszustoßen, die uns nur nützen,
weil sie ihre absolute Unwissenheit enthüllen. Es ist vielleicht
polizeiwidrig, zu sagen, daß dies bei Kaiser Wilhelm zutrifft; aber
das können wir ohne weiteres feststellen, daß unser Lueger mit
einer wahrhaft kaiserlichen Unwissenheit ausgerüstet
ist. (Schallende Heiterkeit und Beifall.)
Daran ist nicht zu rütteln: Der Arbeiter, der zum Bewußtsein
seiner Würde und seiner Stellung in der Gesellschaft gelangt ist
— der gebildete Arbeiter — , steht in unserem Lager. Wer
Knecht sein will und Werkzeug anderer Klassen, der mag hingehen
und anderen Parteien dienen. Wer sich aber selber achtet, der steht
in unseren Reihen und hält zu uns, was da auch kommen mag. Er
mag da manchmal mit uns irren, er mag auch manchmal mit uns
geschlagen werden, er wird aber auch mit uns siegen und
triumphieren. (Stürmischer Beifall.)
Vierzig Jahre Arbeiterbildungsverein.
Festversammlung am 8. Dezember 190 7*).
Werte Genossen und Genossinnen! Geehrte Festgäste! Erlauben
Sie, daß ich vor allem mich einer Pflicht entledige. Ich bin beauf-
tragt, den Arbeiterbildungsverein zu seinem Feste im Namen der
sozialdemokratischen Abgeordneten zu begrüßen. Es würden unsere
Abgeordneten hier viel zahlreicher erschienen sein, wenn sie nicht
schon gestern zum allergrößten Teil von Wien abgereist wären,
um in großen Volksversammlungen die letzten politischen Ereig-
nisse zu besprechen. Sie dürfen aber überzeugt sein, daß in unseren
Abgeordneten das Gefühl dafür ein lebendiges ist, daß es sich hier
*) Wie beim 35. Gründungsfest des Wiener Arbeiterbildungsvereines
am 6. Dezember 1902, so hielt Adler auch bei der Festversammlung zum
Jubiläum des vierzigjährigen Bestandes die Festrede. Über die Geschichte
des Vereines siehe die näheren Angaben bei der Rede am 6. Dezember 1902.
Vierzig Jahre Arbeiterblldungsverein, 23
um ein Fest handelt, das anknüpft an die ältesten und besten Tradi-
tionen unserer Partei.
Vierzig Jahre!
Man merkt, daß man alt wird! Wir Alten stehen vor Ihnen, vor
der großen Zahl von Ihnen, die das Glück haben, noch jung zu sein;
wir kommen zu Ihnen mit unseren Erinnerungen und um Ihnen zu
erzählen die Geschichte dieses Vereines, die zugleich eine Ge-
schichte der Proletarierbewegung in Österreich ist, und wir kom-
men zu Ihnen, um Ihnen zu sagen, daß Sie aus dieser Geschichte
lernen sollen und den Mut fassen sollen zum Kampfe. Ich könnte
eigentlich als Vertreter der paar alten, grauen Leute hier sprechen,
wenn Sie mich wohl auch nicht gelten lassen würden, weil ich nicht
unter den Gründern Ihres Vereines war. Aber dabei war ich schon
und meine Legitimation dafür ist meine Mitgliedskarte vom Jahre
1869 und meine erste politische Erinnerung ist die, daß man mir im
Jahre 1870 einen Vortrag über die Französische Revolution dadurch
störte, daß man die Versammlung auflöste. Auch unser Genosse
Pernerstorfer war damals schon Vortragender, und wir beide
erinnern uns mit großer Freude daran, daß wir als junge Studenten
dabei waren beim ersten Kampfe. Diese persönliche Erinnerung ist
etwas Unauslöschliches. Es ist etwas ganz eigenes um dieses erste
Erwachen der Arbeiterbewegung in Österreich mit ihrer naiven
Begeisterung, der jugendlichen Frische, dem überschäumenden
Idealismus des Proletariats, dem auf der anderen Seite gegenüber-
standen die Borniertheit, die Brutalität und Ignoranz der Herrschen-
den. Sie, die Jungen, können sich nicht gut hineindenken in den
Zustand von damals. Heute wird die Arbeiterschaft, man möchte
sagen, umschmeichelt; damals wollte man sie nur brutalisieren und
zertreten. Dabei, müssen Sie denken, waren die Herren sich ihrer
Brutalitäten gar nicht bewußt und haben bei ihren Verfolgungen
geglaubt, daß sie im Interesse der Freiheit des Bürgertums, des
menschlichen Fortschrittes handelten. Sie wollten ihre Götzenbilder
freihalten von Berührungen durch das kommune, ordinäre Volk
mit seinen, wie sie meinten, wahnsinnigen Übertreibungen.
Meine lieben, jungen Genossen! Wenn Sie heute sich erfreuen
einer Bewegungsfreiheit, die zwar durch die Existenz von Poli-
zisten auch bei solchen Gelegenheiten verschönert, wenn auch nicht
gestört wird, wenn Sie sich heute erfreuen der Möglichkeit, sich
nach Wunsch zu organisieren, der Möglichkeit, aus Bildungsquellen
zu schöpfen, die Privilegien waren der Besitzenden, so möchte
ich Sie doch davor warnen, zu glauben, daß Sie
dieser Bürgschaften für die weitere Entwick-
lung auch für immer sicher sein werden.
Der Verein ist wiederholt aufgelöst und neu gegründet worden.
Die Polizei hat ihn begraben; aber er ist lebendig geblieben, er
ist ein nichtpolitischer Verein noch heute, trotzdem auf dem Boden
dieses nichtpolitischen Vereines das wichtigste politische Faktum
erstanden ist, das die neue Geschichte Österreichs kennt: die
sozialdemokratische Bewegung! Aber diese Hemm-
24 Zur ParteiKeschichtu.
nisse, die kleinlichen, heute lächerlich abgeschmackten Quälereien,
waren trotzdem keine schlechte Schule für uns, und ich möchte
wünschen, daß auch die jüngeren, die unter einem besseren Himmel
aufwachsen, sich ebenso kräftig entwickeln wie unsere alten Ge-
nossen sich entwickelt haben unter so schlechten Bedingungen.
Es geht ja ganz gut vorwärts, aber ich halte die Gefahr eines
Rückschlages für durchaus nicht endgültig überwunden. Partei-
genossen, wir stehen Mächten gegenüber, deren Kraft ich nicht
überschätzen will, deren rücksichtsloser Brutalität ich aber alles
zutraue; diese Mächte werden zu allem entschlossen sein, wenn es
ihnen an den Hals geht — und es wird ihnen hoffentlich an den Hals
gehen — , sie werden zu allen Mitteln greifen, zu den perfidesten
und zu den dümmsten!
Wir erinnern uns heute der Schicksale, in die den Verein der
Ausnahmszustand sowie die Spaltung der Partei versetzten. Das
Gründungsfest vor zwanzig Jahren brachte die Versöhnung s-
und Einigungsfeier. Ich sehe, sagte der Redner, noch die
rote Fahne der Bäcker vor mir. Unter dem Schwenken der roten
Fahne und dem Gesang der Marseillaise haben wir wieder be-
gründet die neue sozialdemokratische Arbeiterbewegimg. Ich habe
damals alte Männer weinen gesehen, die mitgemacht haben die
Qual, den Schmerz und den Kummer, den die Spaltung über die
Partei gebracht hatte.
Genosse Nemec, der die Fahne geschwungen hatte, und ich
wurden damals zu Geldstrafen verurteilt, und derjenige, der die
Strafen verhängte, ist der jüngst verstorbene Bernhard F r a n k 1.
Der Mann ist tot; aber wir können von der Geschichte der öster-
reichischen Arbeiterbewegung nicht sprechen, ohne zu sagen, wie
dieser Mann über so viele von Proletarierfamilien bitteres Leid
gebracht hat.
Parteigenossen! Heute ist der Arbeiterbildungsverein lange
nicht mehr das, was er einst für die Partei war, er kann es nicht
sein. Heute haben wir für die vielfachen Bedürfnisse des Proleta-
riats ebensoviel wirksame Organe, wir haben die politischen und
auch gewerkschaftlichen Organisationen. Mit allen diesen Organi-
sationen ist verbunden eine weitverzweigte Bildungsorganisation.
Vom ersten Schritt an, den das Proletariat gemacht hat, war ja
der Heißhunger nach Wissen immer sein Begleiter. Aber
wie spärlich waren die Quellen, aus denen der Arbeiter schöpfen
konnte! Das Bildungsstreben der Arbeiterschaft war ausschließlich
auf die Arbeiterschaft selbst gestellt. Genossen, wenn wir heute
sehen, daß Gelehrte, Forscher, Lehrer der Hochschule sich eine
Pflicht und Ehre daraus machen, der Arbeiterklasse Bildung nahe-
zulegen, und wrenn wir ihnen dafür danken und sie dafür ehren,
so dürfen wir doch nicht vergessen, daß der Umstand, daß solche
Bestrebungen möglich sind, herbeigeführt wurde durch die Arbeiter-
schaft selbst. (Stürmischer Beifall.) Das ist so geworden trotz aller
Knebelung, trotz aller Unterdrückung der Arbeiterschaft, und es
ist geworden durch die Kraft der Arbeiterschaft. Der Bildungsverein,
h.i^ Lied dei Arbeit ^r>
dessen Fest wir heute feiern, ist ein waekerer Pionier in diesem
Kampfe gewesen. Wenn die Alten beute zurückblicken auf den vier-
zigjährigen Kampf, so möge es ihnen eine Genugtuung sein, daß das,
was sie geschaffen haben, dato dieser Bildungsvercin, fast möchte
ich sagen, kleiner geworden ist, je älter er geworden ist. Klein,
denn er war einmal alles, heute ist er wenig im Vergleich zu der
mächtigen Entwicklung der Proletarierbewegung. Der Verein ist
der Keim gewesen; aber was aus diesem gewachsen ist, das ist
unsere mächtigste Freude.
Zum Schluß noch ein Wort an die Jungen! Im Namen der Alten
sage ich Ihnen, vergessen Sie nicht, daß Sie ernste Pflichten haben,
ernste Pflichten gegen sich und gegen die Klasse, der Sie an-
gehören! Sie arbeiten heute unter viel leichteren Bedingungen und
Sie haben darum die doppelte Verpflichtung zur Arbeit! Gestatten
Sie, daß ich Ihnen, wenn es auch in eine Festrede nicht gut paßt,
sage, daß wir Alten den Eindruck haben, als hätten wir
mehr gelernt, als wären wir fleißiger gewesen,
als hätten wir es ernster mit der Bildung unserer
Überzeugung genommen. Man ist nur im Ernst Sozial-
demokrat und man verdient diesen Namen nur, wenn man weiß,
warum man einer ist. Unsere Kraft stammt nicht allein aus dem
Herzen, nicht allein aus den Bedürfnissen des Proletariats, sie
stammt vor allem aus den arbeitenden Gehirnen. Daß sich die Ar-
beiterschaft überall Bildungsvereine gegründet hat, ist der deut-
liche Beweis, daß instinktiv jeder einzelne es empfindet, wodurch
wir allein vorwärtskommen können. Wo wären wir, wenn nicht
die Leute, die die Träger unserer Bewegung waren, neben der Be-
geisterung auch noch das Wissen gehabt hätten, wenn sie nicht
die dem Arbeiter eigentümliche Erkenntnis besessen hätten?
Die jungen Leute sind unsere Hoffnung! Dem Bildungsverein,
in dessen Zeichen wir heute den festlichen Tag begehen, wünschen
wir, daß er noch viele Tage des Erfolges feiern möge, daß er er-
leben möge den Sieg der Ideen der Sozialdemokratie. In diesem
Sinne begrüßen wir den Verein zu seinem Geburtstag! Und Ihnen
rufen wir zu: Bleibt treu den Grundsätzen der Sozial-
demokratie, bleibt treu der Pflicht, zu lernen,
bleibt treu der Pflicht, zu kämpfen!
Das Lied der Arbeit.
Festversammlung am 3 0. Oktober 189 8*).
Wir feiern heute ein Fest persönlicher Art, ein Fest, das einem
Manne gilt, der an der Wiege der österreichischen Arbeiterbewe-
gung stand und ihr das Wiegenlied gesungen hat. Die Arbeiter-
) Arn 30. Oktober fand in den Sofiensälen der Gedenktag der ersten
Aufführung des „Liedes der Arbeit" vor dreißig Jahren statt; an der Feier
nahmen utieh der Verfasser des Liedes .1. .1. Zapf und sein Komponist Josef
Seheu teil. Die Festrede hielt Ad'er. Auf die Ovation, die die Versamm-
26 Zur Parteigeschichte.
klasse hatte sich eben selbständig zu betätigen begonnen, da ent-
stand gleich das Bedürfnis nach einem Lied. Es wurden Lieder von
auswärts importiert und mit Begeisterung gesungen, aber keines
war so recht den Eigentümlichkeiten der österreichischen Bewegung
angepaßt. Da singt der junge Scheu das Lied, das der junge Ar-
beiter Zapf gedichtet hat, und obwohl es anfangs fast gar nicht
beachtet wird, ist es wenige Wochen nach seinem Entstehen auch
außerhalb Wiens schon populär. Die Geschichte des Liedes der
Arbeit ist die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung.
Welche Veränderung hat sie durchgemacht! Auf dem Programm
eines Gründungsfestes des Badener Arbeitervereines steht neben
dem Lied der Arbeit die „Wacht am Rhein". Heute finden sich diese
Lieder nicht mehr beisammen. (Heiterkeit.) Das war aber auch
damals kein nationaler Verein, sondern ein Verein, dessen erste
Handlung der Beschluß war, der sozialdemokratischen Partei bei-
zutreten. Aber alles, was damals das Bürgertum bewegte, fand noch
im Proletariat einen Widerhall, und es hat der Arbeit vieler Jahre
bedurft, bis eine klare Scheidung der Prinzipien erfolgte. Das Lied
der Arbeit hat seine Verbreitung, abgesehen von der hinreißenden
Vertonung, dadurch erlangt, daß es ein instinktiver Ausdruck des
proletarischen Klassenbewußtseins ist. Das Kulturbedürf-
nis, das daraus spricht, war damals den herrschenden Klassen noch
ganz unbekannt, ein Arbeiterlied, das die Würde der Arbeit preist,
lung dem Komponisten bereitete, ergriff dieser das Wort und sagte unter
anderem:
Börne schrieb einmal: „Wenn wir nicht »sechs« sagen dürfen, sagen
wir »zweimal drei«." So ging es auch uns. Weil wir nicht von der inter-
nationalen revolutionären Sozialdemokratie sprechen durften, sangen wir
„Hoch die Arbeit". Daß es kein musikalisches Meisterwerk ist, dessen
bin ich mir wohl bewußt. (Heftiger Widerspruch der Versammlung.)
Bitte, das muß ich besser verstehen. (Heiterkeit.) Es mußte aber kom-
poniert werden, so wie all die anderen Freiheitsgesänge, deren Vertonung
mein Lebenswerk war, ihren Komponisten finden mußten. Und da sich
eben kein größerer fand (abermals Widerspruch), bin ich in die Bresche
getreten und habe nach meinen bescheidenen Kräften das geleistet, was
ich konnte und was getan werden mußte. (Stürmischer Beifall.)
Über die Entstehung des „Liedes der Arbeit" hat Rudolf H a n s e r in der
„Illustrierten Familienbibliothek" vom 12. März 1891 nähere Angaben ge-
macht (die auch in Brügels „Geschichte der österreichischen Sozialdemo-
kratie", Bd. I, Seite 98, abgedruckt sind). Danach hat man im Frühjahr 1868
einmal im Briefkasten des damals neugegründeten sogenannten Gumpen-
dorfer Arbeiterbildungsvereines ein Gedicht vorgefunden, dessen Titel „Das
Lied der Arbeit" lautete. Der Verfasser war nicht genannt. Der bekannte
Arbeiterdichter Andreas Scheu übergab das Lied seinem Bruder Josef,
daß er es komponiere. Erst als das Lied schon allgemein gesungen wurde,
wurde als der Dichter der Graveur J. J. Zapf festgestellt, der im Jahre
1847 geboren wurde. Die Gründung des Arbeitergesangvereines als Sektion
des Arbeiterbildungsvereines begrüßte er mit der Widmung des Liedes. Er
ist sonst in der Partei wenig hervorgetreten. Josef Scheu wurde am
15. September 1841 geboren und ist am 12. Oktober 1904 gestorben. (Siehe
Adlers Rede an seinem Sarg.)
Am Sarge Jose! Scheus. '^
sie als das Heiligste und Erhabenste darstellt, war damals, als man
den Arbeiter noch als ein minderwertiges Geschöpf ansah, ein
neues Evangelium. Es ist auch heute noch gar nicht SO alt; die
Idioten, welche glauben, daß die Arbeiter eine Rotte von Leuten
sind, die nichts arbeiten wollen, sind noch nicht ausgestorben, sie
sind im Gegenteil recht zahlreich geworden. Es gibt keine bessere
Widerlegung dieser Anschauung, als wenn man ihr das Lied der
Arbeit gegentiberhält. Es bewies dem Bürgertum schon vor dreißig
Jahren, daß die Sozialdemokratie keine Erhebung gegen die Arbeit.
sondern eine Erhebung gegen die Arbeitslosen, gegen die
Müßiggänger ist.
Der Redner erinnert an die Geschicke der jungen Arbeiterbewe-
gung in den sechziger und siebziger Jahren. Es kamen dann traurige
Zeiten für die Partei, sie war gespalten und zerfahren. In nichts
verstanden sich die hadernden proletarischen Brüder, in einem
waren sie sich einig, imLiedderArbeit, das hüben und drüben
ertönte.
Es ist auch die Gewalt der Musik, daß es so unmittelbar packt,
der Musik, die uns auf den höchsten Gipfel der Empfindung führt,
wo alle Einzelheiten schwinden und nur das Große, Erhabene vor
unseren Blicken steht. Das Höchste unserer Solidarität, die Be-
geisterung für die heilige Sache, um die sich die Masse brüderlich
schart, um vereint zu leben und, wenn es sein muß, vereint zu
sterben — davon kann man nicht sagen, das muß man singen.
Darum sind wir vor allem unserem Scheu dankbar, denn er hat
uns das in Tönen ausgesprochen, was wir nur empfinden und nicht
sagen können*).
Am Sarge Josef Scheus.
Leichenbegängnis am 14. Oktober 1904**).
Verehrte Leidtragende! Genossen und Genossinnen! Wir sollen
von unserem Josef Scheu Abschied nehmen, von dem Manne, mit
dem unser Bestes verknüpft ist, verknüpft ist unser bester Wille
und unsere beste Begeisterung. Alles, was es Heiliges und Edles,
alles, was es Bleibendes und Menschliches in uns gibt, ist engst
verbunden mit dem Manne, der alles das in Töne zu bannen, in
*) Der Redner schloß mit einem Hoch auf die Urheber des Liedes der
Arbeit und einem Hoch auf die internationale Sozialdemokratie, das in
der Versammlung brausenden Widerhall fand, der in begeisterten .lubel
umschlug, als die Sänger das Lied der Arbeit anstimmten.
**) Am 14. Oktober 1904 wurde der Sänger des Proletariats, der Kom-
ponist des „Liedes der Arbeit", Josef Scheu, zu Qrabe getragen. Im
Namen der Parteivertretung und der Redaktion der „Arbeiter-Zeitung",
der Scheu seit Begründung des Tagblattes, also seit 1895, als Musikreferent
angehörte, sprach Adler, als der Sarg am Grabe niedergestellt wurde.
(Siehe auch Adlers Rede beim Jubiläum des „Liedes der Arbeit" am
30. Oktober 1898, sowie seine Rede bei der Enthüllung des Grabdenkmals
am 1. April 1907. Über Scheus Verhaftung beim Merstallinger-Prozeß siehe
Hd. VI, Seite 3.)
28 Zur Parteigeschichte.
Tönen lebendig zu machen wußte. Genossen! Der Mann, der da
liegt, hat vierzig Jahre lang dem Proletariat gedient; nicht wie
einer, der einem anderen dient, sondern er hat sein Herzblut, sein
Innerstes zum Ausdruck gebracht, seine Seele, die verbunden war
mit der Seele des Proletariats. Scheu war ein Sänger und ein Held,
ein Held, wie es alle proletarischen Helden sind, ohne Glanz,
schlicht, aber treu und mutig und tapfer. Er, der zu lieben wußte,
er wußte auch zu hassen, wie nur die lieben können, die des Hasses
mächtig sind. Er wußte zu hassen, was uns knechtet, was uns an
den Boden zwingt und was dem Proletariat und der Menschheit
in ihrem Aufstreben entgegensteht. Aber sein Haß entsprang seiner
großen Liebe, entsprang dem, daß der Kampf für unser Höchstes
seines Lebens Inhalt war. Auch für die „Arbeiter-Zeitung'k muß ich
Abschied nehmen von unserem lieben, beweinten Kollegen. Er hat
auch da schlicht und treu seine Pflicht getan, weit mehr als seine
Pflicht und wir werden ihn nie vergessen.
Wenn wir nun Abschied nehmen und ihm nun ins ürab hinab
sehr bald sein Lied, unser Lied singen werden, das Lied der Arbeit,
so schwindet er damit nicht. Er, der kein Gläubiger war im Sinne
der offiziellen Bekenntnisse, er glaubte, er wußte, was wir wissen,
daß unsterblich ist die Leistung, daß unvergänglich ist, was einmal
gewirkt wurde; und die Bewegung, die der Mann in die Gemüter
und in die Herzen gepflanzt hat, die schwindet nicht, die zeugt fort,
die wirkt ewig weiter. Wir haben keine prangenden Denkmäler zu
vergeben, aber er braucht kein Denkmal, er wird in den Herzen
der Arbeiter Österreichs leben, leben in den Herzen der Proletarier
der Welt, solange sie singen werden, solange man den Schwung
und die Größe der proletarischen Bewegung empfinden wird; so-
lange die Revolution kämpft, wird man an ihn denken und wird
ihn lieben, ihn, der ein Revolutionär war durch und durch und in
jedem Blutstropfen.
Wir aber, wir sagen ihm Lebewohl. Einen um den anderen sehen
wir gehen, einer um den anderen müssen wir gehen. Aber alles,
was wir hoffen, alles, was wir ersehnen, ist, daß — nicht aus den
Gebeinen — aber aus unserem Blut, aus unserem Leben, aus dem
Besten, was in uns ist, Rächer entstehen für das, was wir gelitten.
Fortsetzer unserer Arbeit, und daß die nächste Generation
empfinde in demselben Geiste des Kampfes für Wahrheit und des
Kampfes für Recht, in dem Geiste, in dem dieser Josef Scheu gelebt
hat, von dem wir nun in bitterer Trauer gehen.
Das Grabdenkmal für Josef Scheu.
Am 1. April 190 7*).
Heute wie vor zweieinhalb Jahren, als uns einer unserer liebsten
Freunde wegstarb; einer, der der Arbeiterschaft Österreichs, allen
*) Am 1. April 1907 wurde auf dem Zentraifriedhof das Grabdenkmal
des Komponisten des „Liedes der Arbeit" und so vieler anderer
|)as Grabdenkmal für Josei Scheu. ^
und .jedem einzelnen, ans Herz gewachsen war, zu dem wir alle
hinaufgesehen haben wie zu einem Vater und den wir alle geliebt
haben wie einen Bruder, brennt bitterer Schmerz in uns um den
schweren Verlust. Genosse Scheu, Meister Scheu, Vater Scheu! So
haben wir ihn genannt und jeden dieser Namen hat er sich reichlich
verdient, verdient mit seinem Herzblut, mit dem, was das Beste,
Edelste, Tüchtigste in ihm war, der mit der Arbeiterschaft, mit dem
leidenden, aber vor allem mit dem kämpfenden Proletariat gelebt
hat von der ersten Stunde an, da er zu politischem Bewußtsein ge-
kommen, bis zu dem Moment, da er hinweggerafft wurde.
Josef Scheu hat mehr getan als jeder von uns, die wir nur mit
schwachen Mitteln ausdrücken können, was uns erfüllt. Er hat dem
Proletariat die Sprache der Kunst gegeben, er hat aus unseren
Herzen hervorgeholt, was wir sonst nicht hätten sagen können. So
ist er der Sänger des Proletariats geworden. So hat er die
Brücke geschlagen von den Höhen der Kunst zu den Niederungen,
in denen das Proletariat leben muß. Er hat die Proletarier gelehrt,
Kunst zu empfinden, er hat sie hören gelehrt und er hat ihre neue
Sangessprache in den Dienst zu stellen gewußt des gewaltigen
Kampfes, in dem wir alle Soldaten sind. Er hat aus den einzelnen
vor sich Hinsingenden, aus philiströsen Gesangübungen etwas ganz
anderes gemacht: die heilige Kunst im Dienste der heiligen Sache
der Befreiung.
Genossen! Als wir Meister Scheu begraben mußten, sagten wir:
Die Stätte, wo er liegt, soll von mehr zeugen als von einem ge-
fallenen Kämpfer! Nicht ihm allein war das Denkmal zu setzen, das
aufgerichtet wurde von der Liebe derer, die ihm am nächsten
standen. Es stellt nicht ihn allein dar, sondern auch die große Sache,
der er gedient und für die er gewirkt hat. Die Sänger, Männer und
Frauen des Proletariats, die wir hier dargestellt sehen, die der
Künstler so lebendig vor Sie hingestellt hat als eine Gruppe Singen-
der und zugleich Kämpfender, soll ein Zeugnis geben vom Wirken
Scheus, davon, daß er die Brücke geschlagen vom Proletariat zur
Kunst.
Die lieben Züge unseres alten Freundes, die wir hier wieder
sehen, werden uns unvergeßlich sein. Aber was tiefer greift als die
persönliche Erinnerung, was unsterblich ist, ist seine Arbeit und die
Wirkung dessen, was er geleistet.
Das Lied der Arbeit, das er uns gegeben, das Kämpfer-
lied, das Trutzlied, das Hoffnungslied, das in allen Sprachen unseres
Staates gesungen wird und das ein Band ist für die Internationale,
die wir in Österreich darstellen, ist das Denkmal, das er sich
proletarischer Lieder, Josef Scheu, enthüllt. Tiefe Stille war, als Adler
vor den Soekel trat, um das Grabmal im Namen des Denkmalkomitees der
Obhut der Wiener Arbeitersänger zu übergeben. Das Denkmal ist das
Werk des jungen Künstlers Richard LuksCh, der bald nachher einem
Rufe naeh Hamburg Folge leistete. - Siehe auch Adlers Rede bei dem
Jubiläum des „Liedes der Arbeit" am 30. Oktober 18vN, sowie
am Sarge von Josei Scheu am 24. Oktober 1904.
30 Zur Parteigeschichte.
selbst gesetzt. Doch dieser schlichte Stein, der aber so aus-
drucksvoll, so greifbar darstellt, was uns vor diesem Grabe bewegt,
soll ein Zeichen sein unserer Liebe und unserer Verehrung,
wie er Zeugnis gibt von dem großen Kampfe, in dem Meister Scheu
ein Führer war.
Ich spreche hier im Namen des Denkmalkomitees, ich spreche
aber auch im Namen der klassenbewußten Arbeiterschaft Wiens,
und ich darf wohl sagen, ganz Österreichs. Da geziemt es sich,
denen Dank zu sagen, die ermöglicht haben, das Monument zu
setzen, und vor allem dem Künstler Dank zu sagen, der es ge-
schaffen hat.
So übergeben wir dieses Denkmal dem Verband der Arbeiter-
sänger Österreichs, ihrem Reichsverband, den mit an erster Stelle
Scheu geschaffen hat. Aber wenn der Verband in erster Linie der
Hüter des Monuments ist, sein Hüter im großen Sinne
ist die gesamte k 1 a s s e n b e w u ß t e A r b e i t e r s ch af t
Österreichs.
Zu Ehren Andreas Scheus.
Festversammlung am 22. Juni 190 1*).
Wir haben heute einen weit leichteren Kampf, als die ersten Vor-
kämpfer des Proletariats ihn Ende der sechziger Jahre hatten.
Heute fühlen — was damals nur einzelne Auserlesene empfanden —
schon alle, daß die Zukunft der Sozialdemokratie gehört. Die Vor-
kämpfer von 1869 wurden als Wahnwitzige, Narren, Schwärmer,
wenn nicht als bezahlte Halunken von aller Welt angesehen. Die
Regierung umschmeichelte zuerst die Wortführer und versuchte es
dann mit dem Einsperren. Mit Urteil vom 15. Juli 1870 wurde
Andreas Scheu als Hochverräter zu fünf Jahren schweren Kerkers
verurteilt. (Zwischenruf: Zu sechs Jahren.) Zu fünf Jahren! — alles
was recht ist, in Österreich wissen die Richter ganz genau die ge-
rechte Strafe (Heiterkeit) — Q e h r k e und S c h ö n f e 1 d e r, die
auch heute hier anwesend sind, wurden auch verurteilt. Ich glaube,
der Gehrke zu zwei Monaten — na, die hat er aber reichlich ver-
dient. (Große Heiterkeit.) Damit Sie aber einen Begriff bekommen,
welches Individuum Sie heute feiern (erneute Heiterkeit), will ich
Ihnen ein paar Zeilen aus der Urteilsbegründung vorlesen: Die An-
geklagten bekennen sich zu einem Programm, in dem es heißt: Die
*) Am 23. Juni 1901 begrüßten die Wiener Vertrauensmänner einen
ihrer Vorkämpfer, Andreas Scheu, der in den Anfängen der Arbeiter-
bewegung unter ihnen gewirkt hatte und nachdem er in dem großen
Hochverratsprozeß 1870 zu fünf Jahren Kerker verurteilt worden war,
nach seiner Amnestierung nach England ausgewandert war. Nun kam er
zum Besuch nach Wien und wurde hier gefeiert. Er erschien mit seinem
Bruder Josef Scheu bei dem zu seinen Ehren im Gasthaus Weigl ver-
anstalteten Abend. Adler hielt die Begrüßungsansprache, in der er nach
einer Schilderung der Anfänge der Partei auch von den heutigen Zeiten
sprach.
Am Sarge Julius Popps. 31
heutigen politischen und sozialen Zustände sind im höchsten Grade
ungerecht und müssen dalier mit größter Energie bekämpft werden.
Im Punkt vier wird gesagt, daß in die sozialen und politischen Ver-
hältnisse nur im demokratischen Staate Ordnung zu bringen wäre.
dadurch wird Haß und Verachtung gegen das Bestellende eingeflößt.
Ein solches Programm muß, sobald es Gegenstand der Verbreitung
wird, den Tatbestand des Hochverrats involvieren. Während der
Verhandlung erkühnte sich Genosse Scheu, bei einem geistreichen
Ausspruch des Richters zu lachen. „Kommt Ihnen das erheiternd
vor, Herr Scheu?" fragte der Vorsitzende. „Ich habe das Recht,
Sie abführen zu lassen." — Scheu: „Wenn ich mit dem Kopf
schüttle, stört das niemand." In der Urteilsbegründung wird Ge-
nossen Scheu auch als Verbrechen angerechnet, daß er als sozial-
demokratischer Agitator eine hervorragende Tätigkeit entfaltet
habe. (Bravorufe.) Adler: Sie rufen Bravo, aber die Richter haben
auf fünf Jahre erkannt. Damit haben Sie auch das Wichtigste von
seinen Schandtaten erfahren.
Aber nicht nur als politischen Vorkämpfer haben wir Scheu zu
feiern, sondern auch als den Dichter des Proletarierliedes. Wir
haben heute einige Lieder gehört, die so aus der Seele des Prole-
tariats geschöpft sind, und namentlich des österreichischen Prole-
tariats, daß man sagen kann: Keiner so wie er hat es verstanden,
die soziale und politische Lage des Proletariats in Liedern so zum
Ausdruck zu bringen. (Großer Beifall.)
Genosse Adler schloß: Wir heißen ihn willkommen in seiner
Heimat, wir sagen ihm, wir lieben ihn als den Unsrigen, als Vor-
kämpfer, und wir rufen ihm zu:
Hoch Andreas Scheu!
Hoch die internationale Sozialdemokratie!
Am Sarge Julius Popps.
Am 21. Dezember 19 02*).
Parteigenossen und -genossinnen! Ich soll hier aussprechen,
was ich nicht aussprechen kann. Ich soll hier sprechen im Namen
der Zehntausende, die den Mann da gekannt haben, die ihm ver-
*) Am 18. Dezember 1902 ist Julius Popp, 53 Jahre alt, gestorben. Einer
der eifrigsten von denen, die mit Adler an der Einigung der Partei ge-
arbeitet hatten, war der Schuhmacher Julius Popp, der dann auch der
Vorsitzende des Hainfelder Parteitages wurde und, solange er lebte, auf
allen Parteitagen den Vorsitz führte.
Popp gehörte der radikalen Gruppe an. Schon im Anfang der sechziger
Jahre — nicht viel über zwanzig Jahre alt — war er in den vordersten
Reihen der Wiener Bewegung gestanden. Die Schuhmacher waren damals
die Radikalsten unter den Radikalen, und als ihr Obmann und seit 1887
auch als ihr Gehilfenobmann war Popp in alle Einzelheiten der Geheim-
organisatiou eingeweiht. Als Soldat hatte er sich bei einer Übung eine
Entzündung der Wirbelsäule zugezogen, die eine leichte Verkrümmung
nach sich zog, so daß er den Körper gebückt halten mußte. Obwohl er ein
Radikaler war, war es doch einer seiner ersten Schritte in der Gewerk-
32 Zur Parteigesehichte.
traut, die ihn geliebt haben und für die er sein Leben gelassen hat.
Dieser unser Julius Fopp, den wir hier in die Erde legen, er war
ein Arbeiter, ein Arbeiter in des Wortes herrlichster und größter
Bedeutung. Er hat sich hingegeben den größeren Zwecken, nicht
weinend, nicht resigniert, sondern mutig und tapfer, als er jung war,
mit jenem Mut, der vor nichts zurückschreckt, auch nicht vor den
größten Gefahren, und als wir alle älter, besonnener und reifer
wuiden, mit jenem Mut, der sein Blut nicht auf einmal hingibt,
sondern tropfenweise, Tag für Tag es hingibt für das, was uns
heilig, für das, was für die Menschheit bedeutend ist. Unsere alten
Parteiblätter trugen ein Motto, das mir vor diesem Grabe in den
Sinn kommt : Wir schulden unser Leben jenen
Zwecken, in deren Werkstatt die Geschlechter
nur Arbeiter, nur Hingegebene sind! Julius Popp hat
diese Schuld abgetragen . . .
Genossen! Wir haben mehr an ihm verloren, als wir vielleicht
heute noch wissen. Wenn ich hier sprechen kann im Namen der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs, im Namen der
Sozialdemokratie aller Nationen, die durch Delegierte vertreten
sind, im Namen der sozialdemokratischen Abgeordneten, im Namen
der „Arbeiter-Zeitung", wenn heute in Österreich eine gewaltige
Organisation der Arbeiter aufgerichtet ist, so ist der Mann, der da
liegt, einer der ersten Baumeister am Werke gewesen.
Was soll ich nun denen sagen, die ihm am nächsten gestanden
sind, unserer lieben Genossin Popp vor allem? Wir können ihr
heute nur das eine sagen: so wie wir ihm die Treue halten, so wie
sie ihm die Treue gehalten hat, so werden wir ihr und ihren
Kindern die Treue halten. Wir können ihm nicht vollen Dank ab-
statten, wir können auch nicht völlig sein Verdienst würdigen, wir
können nur sagen: unsterblich ist er durch das Werk, in dem
Werke, dem yölkerbefreienden Werk, an dem er mitgeschaffen hat.
Als er in die Arbeiterbewegung eintrat, da war der Arbeiter in
Österreich ein geknechteter Mann, der es nicht wagte, aufzublicken,
und es hat mehr Kraft und Mut bedurft, als ihr Jungen alle wißt,
um damals mitzutun.
Das Andenken an unseren Freund und an sein Wirken wird uns
stärken; es wird uns erheben, wird uns tapfer machen in allen ent-
scheidenden Momenten. So nehmen wir für die Proletarier Öster-
reichs Abschied von Julius Popp, von unserem Popp, der für sie
geleistet hat, was ein Mensch leisten kann.
schaft, die zersplitterte Organisation der Schuhmacher zu einigen. So war
er der geeignete Mann, den Adler für die Einigung im Lager der Radikalen
gewann. Als im Juli 1889 die kurz vorher eingestellte „Gleichheit" durch
die „Arbeiter-Zeitung" ersetzt wurde, war Popp schon Mitherausgeber;
dann wurde er Parteikassier und Administrator des Blattes. Seit Hainfeld
war er auch Vorsitzender des Parteivorstandes. Am 18. Dezember 1902
ist er gestorben. Am 21. Dezember wurde er begraben. In ernster Be-
wegung, gegen die er nur mühsam ankämpfte, sprach Adler zu den Tausen-
den, die ihm das Geleite gaben. (Siehe auch Adlers Rede bei der Enthüllung
des Grabdenkmals am 10. November 1903.)
Mein erster Mai.
Am Grabdenkmal für Julius Popp.
Am I 0. Nov ein her 1 903*).
Die Gesamtvertretung der Sozialdemokratie Österreichs hat
ihre Arbeit unterbrochen, um den toten Freund ZU besuchen, um des
Mannes zu gedenken, der nun schon fast ein Jahr liier unter der
Erde schlummert. Julius Fopp gehörte uns seit den Anfängen der
Bewegung und er bleibt uns auch nach seinem Tode als eine teure
Erinnerung. Der Proletarier, der die Kette bricht, so wie ihn der
Künstler uns hier dargestellt hat, ist das Symbol unseres Kampfes
und das Symbol der Lebensarbeit Popps. Und so wie dieser (ie-
danke der Inhalt seines Lebens war, so ist er auch das Vermächtnis,
das er uns hinterließ. Wir, die wir eine Internationale des öster-
reichischen Proletariats repräsentieren, wir, die wir den Lebens-
kern, die Vernunft, die Zuknnftshoffnung dieses Reiches repräsen-
tieren, wir richten uns auf an diesem Denkmal und gedenken
unseres Werkes und unserer Aufgaben, indem wir unseres Freundes
Julius Popp gedenken.
Daß dieser Stein unsere Stimmung so deutlich ausdrückt, danken
wir den Künstlern, die ihre Liebe und ihr Können daran gewendet
haben, dem Architekten Q e ß n e r, dem Bildhauer Klug und dem
Steinmetz Kolbenschlag, den es als Parteigenossen mit Stolz
erfüllt, an der Herstellung gerade dieses Monuments mitgewirkt
zu haben. So übergebe ich es denn in die Hut der Genossen Wiens
und die werden es würdig zu hüten und zu bewahren wissen.
Mein erster MaL
Maifest schritt 1909**).
Die erste Maifeier habe ich nicht im Prater miterlebt, sondern
im Wiener Landesgericht, Zelle 32, im ersten Stock. Es war ein
einsamer Tag, einsamer als jeder andere in den vier Monaten, die
ich damals abzusitzen hatte, aber ein Tag der tiefsten Aufregung,
die ich auch heute noch in mir zittern fühle, wenn ich an ihn denke.
Natürlich war es mir recht unlieb, gerade am 1. Mai nicht
) Am 10. November 1903, während in Wien der Gesamtparteitag statt-
fand, wurde auf dem Zentralfriedhof das Grabmal für Julius Popp ent-
hüllt. In zwei Extrazügen fuhren die Mitglieder des Parteitages zum
Zentraliriedhof. Nachdem die Kränze niedergelegt waren, hielt Adler
folgende Ansprache. Dann sprach noch Nemec tschechisch.
) In der Maifestschrift des Jahres 1909, also zur zwanzigsten Maifeier,
schrieb Adler diese interessante Erinnerung, die auch wieder in der Mai-
restschriit zwanzig Jahre später abgedruckt wurde. Zum näheren Ver-
ständnis siehe Adlers Reden und Aufsätze zum „Streit um die Mai-
feier (Bd. VI, Seite 176 bis 198), dann aber auch Adlers Artikel über die
Gründung der neuen Internationale für die Festschrift zum
internationalen Kongreß, der im Jahre 1914 in Wien hätte stattfinden
sollen, aber infolge des Kriegsausbruches nnterhlieh (Bd. VII,' Seite 58).
Adler, Briefe. XI. Bd. 3
34 Zur Parteigeschichte.
draußen sein zu können, und es war recht sonderbar, daß es so
kam. Denn Herrn Holzingers Ausnahmegericht hatte Bretschneider
und mich schon am 21. Juni wegen anarchistischer Bestrebungen
abgeurteilt. Der Oberste Gerichtshof ließ sich allerdings bis zum
7. Dezember Zeit, um das Urteil zu bestätigen, aber noch immer
hatte ich die Hoffnung, rechtzeitig die Strafe antreten zu können,
um in der zweiten Hälfte April wieder auf freien Fuß zu kommen.
Ich urgierte die Zustellung des Urteils, aber je mehr ich drängte,
desto länger dauerte es, und erst am 24. Jänner kam ich in den
Besitz des Schriftstückes. Wir waren damals überzeugt, daß die
Trägheit des Amtsschimmels im Dienste höherer politischer Ab-
sichten stehe. Aber ich konnte nun nichts anderes tun, als ein paar
Wochen Strafaufschub zu fordern, um wenigstens an den Vor-
bereitungen zur Maifeier meinen Anteil nehmen zu können, und
Ende Februar mußte ich ins Loch.
Es war meine erste Haft und sie fiel mir nach den ersten Tagen
der Anpassung wahrhaftig nicht schwer. Ich hatte mir, was ich
übrigens auch später bei allen Rückfällen prinzipiell tat, die Einzel-
haft als Begünstigung erbeten und durchgesetzt, und da ich Bücher
hatte und als „Politischer" überdies täglich für einen Gulden und
fünf Kreuzer ausspeisen durfte, war meine Lage nicht schlecht.
Wie ich überhaupt diese kurzen Arreststrafen niemals als Mar-
tyrium empfunden habe. Trotz mancher physischer Unbequemlich-
keit habe ich damals und später im Arrest Stunden der Ruhe, der
Sammlung, ja Erhebung erlebt, die ich zu meinen besten Erinne-
rungen zähle. Aber je näher der 1. Mai heranrückte, desto unruhiger
wurde ich, bis sich die Erregung zu einer fast unerträglichen
Spannung steigerte. Das kann nur der ganz verstehen, der mit-
erlebt hat, was für uns jene Maifeier war, was sie für das Prole-
tariat Österreichs bedeutete . . .
Seit dem Hainfelder Parteitag war die Organisation der Partei
rasch gewachsen, unsere Presse gewann an Verbreitung und Ein-
fluß, die Absurdität des Ausnahmszustandes und seiner dumm-
dreisten Praktizierung wurde täglich augenfälliger. Da holte die
Staatsweisheit zu einem entscheidenden Schlag aus. Dem
„Anarchistenprozeß", den sie uns anhängte, folgte die Einstellung
der „Gleichheit" auf dem Fuße. Aber vier Wochen später hatten
wir für ein neues Blatt, die „Arbeiter-Zeitung", gesorgt und standen
als Delegierte der österreichischen Sozialdemokratie im Saale der
Rue Rochechouart in Paris beim Ersten Internationalen Sozialisten-
kongreß. Als wir unsere Hände erhoben, um für den Antrag des
Genossen Lavigne zu stimmen, für die Veranstaltung einer „großen,
einheitlichen Manifestation der Arbeiter aller Länder", die am
1. Mai stattfinden und der Forderung des Achtstundentages ge-
widmet sein sollte, da sahen wir einander ins Auge — ich sehe
noch Popp und Hybes, neben denen ich stand — fragenden
Blickes, was wir in unserem armen Österreich mit diesem Beschluß
würden machen können. Der Kongreßbeschluß besagte: „In jedem
Lande sollen die Arbeiter die Manifestation in der Weise ver-
Mein erster M.n.
anstaltcn, welche die (ieset/e und Verhältnisse daselbst bedingen,
beziehungsweise ermöglichen." Was war in Österreich möglich?
Wir hatten keine Vertreter im Parlament, unsere Presse stand
unter der Guillotine der Konfiskation und der ausnahmsgesetzlicheri
Sistierung; unsere Vereine wurden unter unsäglichen Schwierig-
keiten ganz langsam und allmählich erst wieder aufgebaut, unsere
Versammlungen waren dem Belieben jedes Polizeipräsidenten
preisgegeben; jede Art von Manifestation, wie sie in gesitteten
Ländern möglich und üblich ist, konnte in Österreich durch den
Ukas jedes Bürokraten vereitelt werden. Und doch waren gerade
damals alle Vorbedingungen für eine gewaltige Manifestation ge-
geben, für eine Manifestation nicht allein der Partei, sondern dar-
über hinaus: des Proletariats. Es war eine Zeit des Erwachens, des
Dranges. Der lange brachgelegene Boden nahm hungrig die Saat
auf, die von der Sozialdemokratie ausgestreut wurde. Wir waren
alle über diese dummen und boshaften Quälereien der Staatsgewalt,
über alle diese unsäglichen Borniertheiten der bürgerlichen Presse
hinausgewachsen. Die Arbeiterschaft war im Begriff, zu erwachen:
es bedurfte nur des Anrufes, des Appells, daß sie sich erhebe, sich
als Ganzes, als kämpfender Körper, als eine Einheit, als Klasse
gegen andere Klassen fühle und den lähmenden Traum ihrer Ohn-
macht abstreife.
Dieser Weckruf mußte für uns in Österreich die Maifeier sein.
Wir haben, wie so oft, aus der furchtbaren Not eine fruchtbare
Tugend gemacht, und weil wir nicht simpel manifestieren konnten,
gerade darum haben wir dem Tag die Höhe einer Weihe gegeben,
die unerreichbar war für alle Verbote und Schikanen. Am 29. No-
vember verkündete die „Arbeiter-Zeitung" die Parole:
Der 1. Mai 1890 soll der internationale Arbeiterfeiertag werden.
An diesem Tage soll die Arbeit überall ruhen, in Werkstatt und
Fabrik, im Bergwerk, wie in der dumpfen Kammer des Hauswebers.
Der Tag soll heilig sein, und heilig wirklich wird er dadurch, daß
er den höchsten Interessen der Menschheit gewidmet ist. Die
Menschheit hat heute kein höheres Interesse als die proletarische
Bewegung, als insbesondere die Abkürzung der Arbeitszeit.
Dann wurde als Programm vorgeschlagen: Vormittags Ver-
sammlungen, nachmittags Erholen im Freien, und weiter hieß es:
„Die Genossen sehen, unsere Vorschläge sind einfach, durchführbar
und gewiß sehr harmlos, kein Streik! Donnerstag am 1. Mai ist
Arbeiterfeiertag, aber Freitag am 2. Mai ist jeder wieder in seiner
Schwitzbude, früher gewiß als der Herr Chef an diesem Tage, der
müde ist von der — Erholung. Also ganz friedlich. Aber, warum
sollen die Arbeiter nicht ihren Feiertag haben?" Und von der
Stunde an, da dieser Aufruf erschien, ging eine große, von Tag
zu Tag wachsende Bewegung durch das ganze Reich. Hunderte
von Versammlungen mit der Tagesordnung: „Achtstundentag und
1. Mai" wurden einberufen und wirkten, wenn sie verboten wurden,
fast noch mehr, als wenn sie stattfinden konnten. Ein Flugblatt über
den Achtstundentag fand massenhafte Verbreitung. Täglich erhielten
3*
36 Zur Parteigeschichte.
wir Nachrichten aus Orten, wo es sich nie gerührt hatte, daß Vor-
bereitungen für die Maifeier im Gange seien. Wahrhaft rührende
Briefe von ganz naiven, von der Bewegung bisher unberührt ge-
bliebenen Arbeitern aus den entferntesten Winkeln des Reiches
zeigten, wie unser Weckruf in die Weite gewirkt, wie er das rechte
Wort in der rechten Stunde gewesen . . .
Und mitten in dieser fieberhaften Agitationsarbeit mußte ich ins
Loch! Zwar war ich von der Welt nicht völlig abgeschnitten. Ich
durfte außer der „Wiener Zeitung" die alte „Presse" lesen, ein
seither verschwundenes, sehr solides, hochoffiziöses Blatt, und bei
gelegentlichen Besuchen meiner Frau und meiner Freunde erfuhr
ich manches, was in der Welt vorging, erfuhr, wie mit dem
Wachsen der Maibewegung im bürgerlichen Publikum, in der
bürgerlichen Presse, ja offenbar auch in den „maßgebenden"
Regierungskreisen, die Furcht aufkam, daß dieser 1. Mai eine Art
von jüngstem Tage sein werde, zumindest ein Tag der Schreckens-
herrschaft und Plünderung. Daß in dieser wahnsinnigen Angst eine
Gefahr lag, war klar. Alle Zusammenstöße, alle Krawalle, alles
Blutvergießen ist noch viel öfter durch die dumme Furcht der Be-
hörden als durch ihre Brutalität herbeigeführt worden. Daß die
Maifeier im Polizeisinn „harmlos" sein werde, glaubte man uns
von Tag zu Tag weniger. Der Schrecken war dem Bürgertum in
die Glieder gefahren und nahm im April ganz unglaubliche Formen
an. Um ein Beispiel anzuführen: Der Wiener Wissenschaftliche
Klub, eine Körperschaft, in der so ziemlich die obersten Schichten
der Intelligenz vereinigt waren, beschloß, seine gewohnte Früh-
jahrsreise abzusagen, weil man doch am 1. Mai nicht Weib und
Kind im Stich lassen konnte. Andere wieder entschlossen sich, vor
dem gefürchteten Tage mit ihren Familien aus Wien zu flüchten.
Dabei hetzte die bürgerliche Presse in allen Tonarten, und als es
Anfang April in einigen Ottakringer Branntweinstuben zufällig zu
ein paar Exzessen des Lumpenproletariats kam, woran die Ar-
beiterschaft, wie offiziell zugegeben wurde, ganz unbeteiligt war,
stieg die Angst zu einer grotesken Höhe. Man erörterte in Regie-
rungskreisen die Einberufung der Reservisten, jedenfalls sollte das
Militär konsigniert und alle Läden gesperrt werden. Am Morgen
des 1. Mai noch war in der „Neuen Freien Presse" zu lesen: „Die
Soldaten sind in Bereitschaft, die Tore der Häuser werden ge-
schlossen, in den Häusern wird Proviant vorbereitet, wie vor einer
Belagerung, die Geschäfte sind verödet, die Kinder wagen sich nicht
auf die Gasse, auf allen Gemütern lastet der Druck einer schweren
Sorge ..."
Aber so blödsinnig diese gefürchteten Angstexzesse waren, es
war nichts zu befürchten, wenn die Feier gelang. Die Glücklichen,
die draußen waren und mitarbeiten konnten, die zweifelten nicht
einen Augenblick. Aber für mich gab's manche bange Momente.
Die Haft bringt wohl für jeden hie und da Stunden der Depression,
wie man sie ja auch draußen hat, die aber in der Einsamkeit
schwerer überwunden werden. Da rannte ich wohl stundenlang
Mein erster Mar. 31
auf und ab und erwog alle Möglichkeiten. Allerdings, jede Woche
ging die Bewegung höher, und alle Zumutungen der Behörde, nach-
zugeben, das Programm einzuschränken, wurden höflich, aber ent-
schieden abgelehnt Die Arbeitsruhe würde umfassend sein, das
war ja klar; und als die Zeitungssetzer beschlossen, dal* sie feiern
werden, war entschieden, dal.» auch der Eindruck nach außen auf
das große Publikum ein bedeutender sein werde; daß es keine
Zeitungen gibt, ist ein Hauptmerkmal des Feiertages. Aber wird
die Polizei nicht provozieren? Werden unsere Genossen kaltes Blut
bewahren? Und wenn die Versammlungen verboten werden, muß
es dann nicht zu Zusammensteißen kommen? Und wie wird's
draußen in der Provinz werden, auf dem heißen Boden der Kohlen-
reviere? Und dann wollen die Unternehmer uns einreden, die Mai-
feier sei „Kontraktbruch"! Es ist ja Unsinn, aber wird das nicht
doch da und dort die Arbeiter einschüchtern . . .? Da setzte ich mich
denn hin und schrieb und schrieb . . ., polemisierte und argumen-
tierte; so lange Artikel habe ich weder vorher noch nachher ge-
schrieben! Und dann schrieb ich Aufrufe und verfaßte Instruktionen.
Heute kann ich's ja gestehen, daß es mir gelang, manches Produkt
meiner Gefängnisarbeit ins Freie zu schmuggeln, so daß ich doch
auch etwas beitragen konnte zu dem großen Werke.
In der letzten Aprilwoche hatte ich fast täglich Besuche. Es war
entschieden: unser harter Schädel hatte gesiegt; die Versamm-
lungen waren nicht verboten, die Polizei hatte sich entschlossen,
einigermaßen vernünftig zu sein und uns gewähren zu lassen. Als
mir Popp und Bretschneider*) berichteten, unsere tausend Ordner
seien parat, mußten sie mir aber auch erzählen, daß im Prater die
Drähte, die die Rasenplätze umsäumten, entfernt wurden, damit
die Kavalleriepferde bei der eventuellen Attacke nicht stürzen. Und
ich selbst, so oft ich am 1. Mai in die Kanzlei geführt wurde, hörte
draußen den Schritt der Soldaten und erfuhr, daß alle Tore des
Landesgerichtsgebäudes selbst geschlossen gehalten, daß die ganze
Justizwache und alle Aufseher konsigniert seien. Ich lachte über
die Dummheit, aber das Lachen kam mir nicht vom Herzen, denn
ich wußte, wie gefährlich solche Dummheit werden konnte . . . Mit-
tags kam Bretschneider auf eine Minute, beruhigte mich über den
Verlauf der Versammlungen und steckte mir eine Marschorder und
ein Maiabzeichen zu — das ich dann oben in der Zelle ansteckte,
wenn der „Wastl"**) weit vom Guckloch war. Das war ein langer,
langer Nachmittag — und spätabends hörte ich endlich Signale, die
mir sagten, daß das Militär in die Alserkaserne einrücke... und
sregen 10 Uhr noch kam mein Aufseher und berichtete, er habe es
ganz sicher erfahren: es ist alles ruhig abgelaufen und großartig
soll's gewesen sein!
) Wer Julius Popp und Ludwig August Bretschneider sind, ist
aus früheren Bänden bekannt. Bretschneider war überdies der Organi-
sator aller Demonstrationen bis zum Krieg.
i Der Spottname des Gefängnisaufsehers. Das Wort ist eine mundart-
liche Abkürzung von Sebastian.
38 Zur Parteigeschichte.
Früh konnte ich's dann in der Zeitung lesen — denn bei jener
ersten Maifeier haben unsere braven Setzer zwar kein Abendblatt
gemacht, aber um 9 Uhr abends gingen sie das Morgenblatt setzen,
das die frohe Botschaft brachte . . . auch mir in meine Zelle . . .
Dann aber wußte ich: eine Entscheidungsschlacht ist gewonnen,
nun ist der Ausnahmszustand tot! Noch mehr: Nun ist das Prole-
tariat Österreichs erwacht, es ist zum Bewußtsein seiner Kraft ge-
kommen und steht am Beginn seiner Bahn, die zu gehen es keine
Gewalt mehr hindern wird . . . Und der 2. Mai war mein frühester
Tag während jener ganzen Haft! Victor Adler.
Zu Kronawetters sechzigstem Geburtstag.
Fest Versammlung am 2 7. Februar 189 8*).
Es wird nicht häufig vorkommen, daß ein Politiker von einer
anderen Partei begrüßt wird von einer Partei, die mit der seinen
häufig im Kampfe war und sein wird. Aber wenn wir auch mit den
hier versammelten Parteigenossen Kronawetters und seinen engeren
Freunden nichts zu tun haben, so sind mit gutem Qrund in diesem
Saal auch Vertreter der großen Masse der österreichi-
schen Arbeiterschaft anwesend, gegen deren Unter-
drückung und Vergewaltigung Dr. Kronawetter als ein einzelner
Mann durch lange Jahre gekämpft hat. (Beifall.) Er allein hatte
damals den Mut, die Rechte der Arbeiterschaft zu verteidigen und
die Worte, die er in jener Zeit gesprochen, waren damals fast die
einzige inländische Agitationsliteratur der österreichischen Arbeiter-
schaft; zugleich aber bilden sie eine flammende Brandmarkung
jenes traurigen Stückes österreichischer Geschichte. Das politische
Leben Kronawetters ist reich an schmerzlichen Enttäuschungen.
Die Prinzipien der bürgerlichen Demokratie, denen er gedient, sind
vom Großbürgertum nie vertreten, vom Kleinbürgertum verraten
worden. Was Kronawetter heute um sich hat, sind nur mehr ein-
zelne Männer. Aber er möge getrost sein, wenn auch die Fahne
der bürgerlichen Demokratie nicht siegen kann, die Sache der
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wird siegen, und ihr Träger
ist das Proletariat. Wenn auch, schloß Dr. Adler unter stür-
mischem Beifall, sich noch häufig unsere Wege kreuzen werden,
wird trotz allem Gegensatz der Parteistellung die österreichische
Arbeiterschaft niemals vergessen, daß Dr. Kronawetter ihr ein
Freund in der Not gewesen.
*) Am 26. Februar war die Feier des sechzigsten Geburtstages Krona-
wetters mit einem Festbankett eingeleitet worden und am nächsten Tage
fand im Sofiensaal eine Festversammlung statt, in der außer seinen engeren
Parteifreunden auch Pernerstoner und Adler sprachen. Über Kronawetter
siehe den. Artikel Adlers in der „Gleichheit" vom 12. Februar 1887 (Bd. VIU.
Seite 336) und die Bemerkungen beim Artikel „Das allgemeine Wahlrecht
und die Liberalen" vom 2. Juni 1893 im zehnten Band der Adler-Schriften
..Der K a m p f um das W a li 1 r e c h t" (Bd. X, Seite 107, Note).
Abschied von Friedrich Engels.
Abschied von Friedrich Engels.
Q e d e nkfeieram I (>. A. u z u s i l s () 5 ' ),
Werte Parteigenossen und -genossinnen! Wir haben Sie einge-
laden, sich zu versammeln, um Friedrieh Engels' ZU gedenken. Nicht
um zu Wagen, nicht um zu weinen, sondern weil wir gewußt haben,
daß es ihnen ein Bedürfnis ist, gemeinsam zu sagen: Wir haben
einen unserer besten Mitkämpfer verloren, wir haben einen Freund
verloren, der die Fahne vorangetragen fünfzig Jahre lang, der uns
den Weg gezeigt hat, der die Fahne hochgehalten hat und unbefleckt
bis an sein Ende. Es ist uns ein Bedürfnis, einander in die Augen
zu sehen und uns zu sagen: Wir wissen, wen wir verloren, wir
gedenken des Mannes, und in der rechten Weise. Wenn Friedrich
Engels bei einer solchen Gelegenheit unter uns sein könnte, er wäre
der letzte, der klagte, der Klage guthieße. Er war ein Kämpfer sein
Leben lang, er war ein Kämpfer, ein Denker. Denn das, was wir
Engels verdanken, ist mehr und ist ein anderes, als was jeder von
uns leisten kann. Gewiß, was die großen Männer finden, muß erst
vorhanden sein, die Gedanken bilden sich aus dem Unterbewußten
der Masse, aus den Verhältnissen heraus. Aber sie zu finden, klar
hinzustellen, das ist nicht jedermanns Sache, sondern die Sache der-
jenigen, die selbst ein Produkt ihrer Zeit, ihrer Generation sind,
aber ihr bestes und schönstes Produkt, die den Gedanken aus-
sprechen, der in Tausenden und Millionen von Herzen und Ge-
hirnen sich findet.
Friedrich Engels war ein Kämpfer. Das erstemal, wo er hinaus-
trat in die Öffentlichkeit mit einer kleinen Arbeit, in den „Deutsch-
französischen Jahrbüchern", konnte man sehen, wie der junge
Bursche, 23 Jahre alt, rechts und links Hiebe austeilte, die alte, ver-
zopfte Nationalökonomie, die Manchesterlehre zerfetzte, daß rechts
und links die Funken stoben und die Stücke flogen. Damals schon
war Friedrich Engels Sozialist, damals schon, um das Jahr 1843 und
1S44, war ihm klar, was dem Sozialismus notwendig sei, um aus
einem frommen Wunsch eine weltbewegende Macht zu werden.
Das Erste, was der junge Mann tat, als er sich besann, war, daß er
*) Was über Engeis und sein Verhältnis zu Adler zu sagen ist, ist in
dem ersten Band dieser Schriften „Victor Adler und Friedrich
R n g e 1 s" gesagt. Dort sind auch nicht nur die Briefe Adlers an Engels,
sondern auch die meisten Reden und Artikel Adlers über Engels abge-
druekt. Die Rede, die Adler bei der Gedächtnisfeier der Wiener Arbeiter
hielt, ist dort nicht abgedruekt. Schon am 19. August 1895, also genau
zwei Wochen nach dem am 5. August erfolgten Tode von Engels, einem
Montag abends, versammelten sich dreitausend Arbeiter im Meidlinger
Katharinensaal, wohin sie von der sozialdemokratischen Parteivertretung
geladen worden waren, um an der Trauerfeier teilzunehmen. Nach der Auf-
führung des Trauermarsches auf den Tod eines Helden aus Beethovens
„Eroica" und nach dem Vortrag des von Andreas Scheu gedichteten und
von Josef Scheu in Musik gesetzten Eestgesanges hielt Adler die Ge-
dächtnisrede, die in der ,. Arheiter-Zeitu rtvc" im Wortlaut abgedruckt wurde.
40 Zur Parteigeschichte.
nach Manchester ging und dort das Leben der englischen Arbeiter
studierte. Kr lebte mit ihnen jahrelang und brachte zum ersten-
mal zu Tage, was heute nicht nur die zünftige Wissenschaft nach-
tut, sondern was wir alle tun und tun müssen, was unser wichtigstes
Mittel der Agitation und Befreiung ist, daß wir wissen, wie die
Arbeiter leben, daß wir die Dinge sehen, wie sie sind, die Lüge der
falschen Propheten, die Verbrämungen, Bemäntelungen und Ver-
himmelungen zerreißen, die Tatsachen studieren und sie hinstellen.
Und da ergab sich fürwahr ein anderes Bild, als die damalige
offizielle Wissenschaft von der Lage der Arbeiter gab. Es zeigte
sich, allerdings nur in den wichtigsten Dingen, nur im ersten Ent-
stehen die Entwicklung der Industrie und mit ihr das Elend, die
Degeneration und Demoralisierung, die sie über die englische
Arbeiterschaft brachte. Engels war der erste, der diese Art der
Forschung geübt hat, er war der erste, der sie auch zu benützen
wußte.
Sein zweites Wort in der Öffentlichkeit ist das von ihm und
Marx gemeinsam veröffentlichte „Kommunistische Manifest", worin
es als Ergebnis seiner Forschungen und seiner Kenntnis der eng-
lischen Arbeiterklasse, ihrer Lage, ihrer Forderungen, aber auch der
Kenntnis ihrer Gegner und Unterdrücker heißt: „Die Befreiung der
Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein."
Wie soll aber die Arbeiterklasse dazu gelangen, dieses Werk, das
sie nur vollenden kann, zu tun? Wenn die Befreiung der Mensch-
heit vom Joche der Sklaverei, der feigen Unterdrückung durch die
Gewalt, vom Joche der Verknechtung und Verblödung, nur ein
Wunsch wäre, der gerechteste fürwahr, der Wunsch, in den sich
alles, was Menschliches in uns ist, hineinpreßt, und wäre dieser
Wunsch noch so warm und tief empfunden, er könnte keinen Stein
vom anderen rücken. Nicht daß eine Sache gut ist, nicht daß sie
wünschenswert ist, nicht daß sie gerecht ist, entscheidet in der
Welt, sondern in der Welt entscheidet, daß die Sache n o t w e n d i g
ist, daß sie eine notwendige Entwicklung der Menschheit bedeutet.
Das ist das Stück Arbeit, das Engels und Marx geleistet haben; sie
haben uns anstatt des bloßen revolutionären Feuers, anstatt des
bloßen Dranges der Menschenliebe die Waffe gegeben, um durch-
zusetzen, was die Menschenwürde erfordert. Keinen unter Ihnen,
die Sie Mitkämpfer sind, wird es geben, der nicht in jahrelangem
Kampf mitunter Stunden gehabt hätte, wo er mutlos ward. Jeder
von uns war in der Lage, wo die Hindernisse, die sich in den Weg
legen, schier nicht überwältigt werden zu können schienen von der
Arbeiterschaft, einer armen, unterdrückten Klasse, von armen Men-
schen, jeder einzelne ohnmächtig, sich seiner Haut zu wehren,
wehrlos preisgegeben jedem Ausbeuter, jeder TjTannei, jedem
Büttel. Als einzelne und als Klasse verachtet, sinkt sie nach An
strengungen in allen Ländern, wo sie sich zusammenrafft und zu-
sammenballt, um für den Moment zu einer Macht zu werden, wieder
zurück. Wo wäre der, der da nicht mutlos würde in einem solchen
Moment? Da gibt es für jeden von uns nicht einen Trost, aber eine
abschied von Fri< di k ii l lusels. 41
Erkenntnis. Was wir wollen, das müssen wir, das Proletariat ist
nicht der Träger der revolutionären Entwicklung nur weil es will,
sondern weil es muß. Und wenn wir noch hunderte um uns und
Millionen weit von uns wissen, die noch in stumpfer Ergebung leben,
und wenn wir wissen, daß Millionen die Binde noch nicht von den
Augen genommen ist, und wir verzweifeln an der Riesenarbeit, sie
wegzunehmen, wir wissen, was wir als einzelne nicht können, die
Weltgeschichte kann es; die Weltgeschichte ist es, welche in ihrem
Lauf sie dazu zwingt, Marx und Engels, und ihr Verdienst ist von-
einander nicht zu trennen, haben uns die Binde von den Augen ge-
nommen, haben uns gezeigt, daß der Kapitalismus in seinem Lauf
unaufhaltsam vorwärts zu immer höherer Macht der einzelnen
Kapitalisten und der Kapitalistenklasse führt, aber daß im selben
Maße nicht nur das Heer der Proletarier größer, zahlloser wird,
und gezwungen, sich zu organisieren, um sich zu wehren, sondern
daß auch in der kapitalistischen Produktionsweise selbst die Mächte
und Kräfte liegen, die ihr ein Ende machen. Die kapitalistische Pro-
duktion, je weiter sie vorwärtsgeht, je größer ihre Wunder werden,
je mehr sie Schätze häufen lernt, um so weniger wird sie in der
Lage sein und ist sie schon heute in der Lage, ihre Schätze zu be-
herrschen. Sie sitzt wie weiland König Midas mitten im Gold und
weiß nicht, was sie mit den Schätzen tun soll, sie schafft die
Schätze, aber entzieht zugleich den Leuten, welche die Schätze ver-
zehren könnten, die Möglichkeit, sie zu verzehren, auf der einen
Seite. Auf der anderen Seite schafft sie Produktionsbedingungen,
die nicht mehr von einzelnen zu bewältigen sind, sie schafft das
Privateigentum ab, sie untergräbt es, indem sie die private Pro-
duktion zu einer Unmöglichkeit macht. Wo wird denn heute noch
privat produziert? Wo ist noch Einzelproduktion vorhanden? In
rückständigen Betriebsformen, die zum Aussterben, zum Untergang
verurteilt sind, mögen sich sämtliche Quacksalber darin üben, sie
zurechtzuflicken. Immer mehr wird die Produktion organisiert,
immer mächtiger die Produktionsorganismen, die heute geleitet
werden von Menschen, die sie nicht übersehen können, weder das
Bedürfnis noch die Produktion selbst, die immer ins Blinde, immer
ins Blaue hineinproduzieren, die aber zuletzt daran scheitern müssen,
daß sie zwar die Nutznießer und Pfründner der genossenschaft-
lichen Produktion sein können, aber nur ein Hindernis, nur Schäd-
linge für diese Produktion selbst sind. Die Kapitalistenklasse for-
miert also selbst die Genossenschaft der Produzenten, sie macht
sich selbst überflüssig, wie sie sich selbst schon längst schädlich
gemacht hat. Und an dem Tage, wo das Proletariat reif, wissend
und entschlossen sein wird, diese überflüssigen Funktionäre, die
nicht mehr funktionieren können, ihrer Funktion zu entheben, wird
sich nichts anderes erfüllen als die geschichtliche Notwendigkeit,
als die konsequente Folge der wirtschaftlichen Entwicklung. Und
nun, wenn die Befreiung ein Gebot der Menschenliebe, wenn sie
das persönliche Bedürfnis ist, und wenn solche Menschen außer-
dem noch wissen, daß diese Befreiung das Ziel der Geschichte ist.
42 Zur Parteigeschichte.
daß die Kauze Entwicklung darauf hindrängt, daß. was sich ihnen
entgegenstellt, mag es noch so prunken und prassen, nichts anderes
ist als die Vertretung dessen, was dem Moder und dem Absterben
geweiht ist, wenn Menschen diese Gewißheit des Sieges haben,
dann sind sie nicht nur Vertreter einer unüberwindlichen Sache,
sondern sie sind selbst unüberwindlich, weil ihnen der Glaube und
das Wissen, daß sie siegen werden, niemals genommen werden
kann. Diese Siegessicherheit aber verdanken wir Engels und Marx.
Es ist sehr viel über das Verhältnis zwischen beiden Männern
gesprochen worden, und vielleicht wäre Engels nicht zufrieden
damit, wenn er es hören könnte. Aber das eine will ich sagen:
Engels hat geradezu geflissentlich immer seinen Anteil an dem
Werke von Marx verkleinert, bis in die allerletzte Zeit. Nehmen
Sie den dritten Band des „Kapital" zur Hand, Sie werden in jedem
Kapitel die Spuren der selbständigen Arbeit von Engels bemerken:
und gehen Sie zurück auf die „Deutsch-französischen Jahrbücher",
die er geschrieben, bevor er noch Marx gekannt hat*), und Sie
werden finden, jugendlich und unbeholfen, mehr enthusiastisch als
klar überlegend, aber im Kern doch dasselbe, den geschichtlichen
Materialismus, die sozialistische Ökonomie. Engels selbst sprach
sich in seiner Schrift „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der
klassischen Philosophie" über sein Verhältnis zu Marx aus: „Was
Marx gemacht hat und was ich, ist vielfach schwer auseinander-
zuhalten. Ich habe ja Anteil an allem gehabt, aber was ich konnte
und die anderen, das hätte Marx alles selbst auch gekonnt, aber
was Marx gemacht hat, war uns anderen unmöglich." So schildert
er das Verhältnis, und bis in die letzten Tage seines Lebens war
ihm nichts so sehr am Herzen, als die Gedankenarbeit von Marx
klar und daß nichts verloren gehe, vollständig ans Licht zu stellen.
Bevor der dritte Band erschienen war, wurde er einmal sehr schwer
krank, er war in Gefahr: da saß er lange und oft bei seinem Schreib-
tisch und versuchte zu arbeiten. Es war unmöglich, und er wieder-
holte immer vor sich hin : „Es muß fertig werden, ich habe
es ihm versprochen, es muß fertig werde n." Damals
war er ein Mann von 73 Jahren! Von der menschlichen Liebe, die
Engels nicht nur zu Marx, sondern auch zu allen seinen Freunden
beherrschte, davon zu sprechen, wäre hier schwer, aber eines
möchte ich doch hervorheben. Dieser berüchtigte Marx, den Sie in
der gegnerischen Presse als einen Mann geschildert finden, der
Kinder verzehrt, als einen giftigen, boshaften Menschen, und dieser
Engels, nicht um ein Haar weniger boshaft als dieser Marx, diese
beiden Ausgeburten der Hölle, für sie zeugt eines: Nichts war ihnen
lieber, mit nichts konnten sie länger und ausdauernder sich be-
*) Engels hatte schon Ende 1842 auf der Durchreise nach England, als
er in Köln die Redaktion der „Rheinischen Zeitung" aufsuchte, Marx zum
erstenmal gesehen, aber sie waren einander sehr kühl gegenüber ge-
standen. Erst im September 1844 kamen beide in Paris, wo Marx bereits
lebte, während Engels nur auf der Durchreise von Manchester nach
Härmen wenige Tage dort war, einander näher.
abschied von Friedri( h Engels.
schäftigen, als mit kleinen Kindern zu spielen, und dieselben giftigen
Leute waren durch die zartesten Freundschaftsbande verbunden. Icli
habe nachgedacht in diesen Wochen, wo etwas Ähnliches in der
Geschichte zu finden wäre.
Wir finden wiederholt, daß große und bedeutende Männer mit-
einander eine Zeitlang gearbeitet haben, wie Schiller und Goethe,
die jahrelang in den engsten Beziehungen zueinander gestanden und
sich über ihre Arbeiten auf dem Laufenden gehalten haben. Aber
von jener regen Verbindung, wie sie zwischen Marx und Engels
bestanden, bleibt diese weit entfernt, und wenn Sie eine Erklärung
hiefür suchen, so ist es die: Marx und Engels waren nicht nur
tiefe, gute, edle Menschen, sondern sie waren verbunden durch
Blutgenossenschaft, durch Blutbruderschaft zu einem gemein-
samen, großen heiligen Werke, dem sie sich bis auf den letzten
Blutstropfen, bis auf den letzten Gedanken gewidmet hatten und
gewidmet blieben bis an ihr Ende. Das verbindet ganz anders als
bloße gemeinsame Arbeit und gemeinsame Gelehrtheit.
Verzeihen Sie die Abschweifung vom Vorkämpfer zum Men-
schen. Es wird aber schwer, die Dinge zu trennen bei einem Mann,
der so eins war aus einem Stück wie Friedrich Engels. Aber nicht
nur in dem Sinne, daß sie die Wissenschaft des Sozialismus ge-
schaffen, daß sie uns gelehrt hatten, was die Notwendigkeit der wirt-
schaftlichen Entwicklung sei, waren Marx und Engels unsere Lehrer,
sie haben nicht nur das Ziel, sondern auch den Weg gezeigt, und
hier beginnt die Selbständigkeit und eigentümliche Bedeutung von
Friedrich Engels. Er hat die Kunst der Auffassung der politischen
Dinge und nicht nur der Auffassung, sondern vor allem ihrer Ent-
wirrung und Klarstellung und der Schlußziehung aus ihnen besessen.
Es ist da seine letzte kleine Schrift, eine unvollendete, sie lag auf
seinem Schreibtisch, als ich ihn verließ. Es ist ein Vorwort zu einer
neuen Auflage einer Marxschen Schrift: „Die Klassenkämpfe in
Frankreich", ein Vorwort von nur wenigen Druckseiten, so klein,
daß es unser Blatt zum größten Teil abgedruckt hat. Lesen Sie es
einmal mit Besonnenheit und Ruhe nochmals, und Sie werden zu-
geben, ein klareres Bild der politischen Entwicklung der Sozialdemo-
kratie in den letzten 50 Jahren zu geben, als Sie es hier finden, ist
unmöglich. Es zeigt Ihnen mit der größten Klarheit und mit jener Ein-
fachheit des Stils, wie sie nur der Meister besitzt, wie das Proletariat
zu kämpfen hat; wie es anders kämpfen mußte und konnte zur Zeit
seiner Schwäche als heute, wo es anfängt, an Macht zu gewinnen.
Er zeigt zugleich, daß, so wie die besitzenden Klassen wirtschaftlich
zugrunde gehen an ihrer Herrschaft, wie der Kapitalismus um-
schlägt in sein Gegenteil in dem Moment, wo er auf der Spitze ist.
auch die politische Herrschaft der besitzenden Klasse eine Unmög-
lichkeit wird und in ihr Gegenteil umschlägt im Verlauf derselben
Entwicklung, wie die Besitzenden und die ihren Staat verwalten,
früher die Gesetzlosigkeit der Arbeiter gefürchtet hatten, heute aber
noch mehr zittern vor der Gesetzlichkeit der Arbeiter. Er zeigt, wie
das Proletariat nichts anderes zu tun braucht, als die Waffen zu
44 Zur Parteigeschichte.
benutzen, die die Besitzenden und derselbe Staat ihm in die Hand
geben müssen, wenn sie überhaupt leben wollen, und daß diese
Waffen genügen, wenn sie das Proletariat einmal zu gebrauchen
versteht; er zeigt, daß die Zeit vorbei ist, wo die Arbeiterschaft es
notwendig hatte, sich auf Abenteuer einzulassen, die heute niemand
lieber sehen möchte als unsere Gegner, und daß die Zeit gekommen
ist, wo wir nichts zu tun brauchen, als unsere Brüder zu lehren,
die Waffen in die Hand zu nehmen und zu gebrauchen, die vor
ihnen liegen. Das freilich, Genossen, ist nichts Leichtes. Auch diese
Art des Kampfes braucht für jedes Land ihre eigene Methode, ihre
eigenen Mittel und für jede Periode in jedem Land eine eigene
Arbeit.
Und noch eines haben wir von Engels gelernt. Pläne auf lange
Zeit hinaus, noch so fein erdacht, auf dem Schreibtisch oder in
hitziger Debatte, haben niemals Wert. Ein Grundsatz gilt: Klares
Wissen, unser Programm, prinzipielles Feststehen auf der Selb-
ständigkeit der Arbeiterklasse nach allen Seiten als politische Partei,
und im übrigen sein Verhalten einrichten, wie es die Sachlage in
jedem einzelnen Moment erfordert. Dazu freilich ist sehr viel
Wissen notwendig, und Engels hatte nicht nur eine lange und reiche
Erfahrung hinter sich, sondern er hatte auch Verbindungen in allen
Ländern und die Möglichkeit, mit Sozialisten aller Länder zu ver-
kehren.
Auf uns Österreicher, Genossen, hat er immer sehr viel gehalten,
und es gereicht mir zur Freude, das hier konstatieren zu können.
Er hat viel von uns gehalten, seitdem er hier in Wien war und uns
persönlich kennengelernt hat. Er war überzeugt und setzte mir aus-
führlich auseinander, wie der politische Beruf der Sozialdemokratie
in Österreich ist, besonders aus einem Grunde früher als in allen
anderen Ländern, zu einer politischen Macht zu gelangen, weil die
Sozialdemokratie die einzige Partei ist, die der schwierigsten Frage
in Österreich gewachsen ist und sie lösen kann, das ist die
Nationalitätenfrage. In Österreich ist die Sozialdemokratie
die einzige Partei, die mit dem Element fertig wird, das sonst alle
Verhältnisse zersetzt, alles verwirrt, aus einer jeden klaren Situation
eine unsinnige macht, aus Freunden Feinden und aus naturgemäßen
Feinden vereinigte Freunde und Bundesgenossen; mit dieser
Nationalitätenfrage, die die österreichischen Verhältnisse geradezu
zu einer Absurdität gestaltet. Bei uns ist diese Frage gelöst.
(Stürmischer Beifall.) Uns fällt nicht ein, uns selbst etwas vorzu-
machen, oder anderen etwas vorzumachen, und heute am aller-
wenigsten wäre ich dazu geneigt. Wir wissen, es gibt noch einen
ansehnlichen Teil des Proletariats, der den nationalen Schlagworten
nachläuft und noch nicht zum politischen Bewußtsein erwacht ist.
Aber in dem Moment, wo der Proletarier in Österreich seine
Klassenlage erkennt, sich auf die eigenen Füße stellt, wo er
anfängt, proletarisch zu denken und zu fühlen, hört er nicht etwa
auf, Deutscher oder Tscheche, Pole oder Ruthene oder Italiener
zu sein, er bleibt Deutscher, Tscheche, Pole, Ruthene oder Italiener,
Abschied von Friedrich Engels. 4f»
weil kein Mensch ans seiner Haut herauskann, aber er zeigt, daß
deutsche, tschechische, rutheiiischc, polnische, slowakische und
Italienische Proletarier gemeinsam Über gemeinsame Dinge reden
können, als Menschen gemeinsam leben können, und selbst wenn
strittige Punkte sind, über alles als Menschen und Brüder sich aus-
einandersetzen können, ohne deshalb wie wilde Bestien übereinander
herzufallen und diesem Interesse zuliebe die höchsten Interessen der
Menschheit und des Volkes mit Füßen zu treten. (Heifall.) Es ist
nicht notwendig, um seine nationale Eigenart zu bewahren, daß
man sein Volk verkaufte an deutsche oder polnische Feudale, an
Pfaffen und Großkapitalisten, die national tun. Es ist nicht not-
wendig, dal.5 man, um sein Volk zu retten, das Volk selbst preis-
gibt, es ist nicht notwendig, daß die Völker Österreichs in den
Wahnsinn hineingetrieben werden von denen, die kein anderes
Interesse haben, als daß sich die Völker zerreißen. (Stürmischer
Beifall.) Und daß dies nicht notwendig, zeigt die österreichische
Sozialdemokratie. Das ist der wichtigste Grund, die geachtete, ja,
in vielen Dingen gefürchtete Stellung, die die Sozialdemokratie in
Österreich heute schon hat, in schnellem Fortschritt zu einer noch
geachteteren und gefürchteteren zu machen. Man fürchtet sich nicht
vor unseren Fäusten, die sind leer; die anderen haben ja die Ge-
wehre; aber man sieht, daß nicht nur die Entwicklung der Zukunft,
sondern daß die politische Vernunft und der gesunde Menschen-
verstand schon heute auf unserer Seite stehen.
Noch eines erlauben Sie mir, Genossen, zu berühren. Friedrich
Engels war ein Mann, der in jeder Art im Kampfe durch 50 Jahre
gestanden. Als junger Mann mit den Waffen in der Hand, später
unermüdlich in der Agitation und Organisation, unermüdlich auch
gegenüber den Angriffen jener, die oft ihm hätten die befreundetsten
sein sollen, und man sagt von ihm mit Recht, daß er einen gesunden
Hieb zu führen wußte. Er hat es verstanden, zu schlagen, und hat
es auch verstanden, wenn hingeschlagen wurde. Er blieb keinen
Hieb schuldig, aber er zog sich nicht in die Ecke zurück, er wurde
nicht sentimental und klagte nicht über die Undankbarkeit der
Menschen, wenn man ihn nicht richtig auffaßte. Mehr als 50 Jahre
in diesem Kampfe zu stehen, das wird derjenige von Ihnen be-
greifen, der auch nur fünf Jahre in solchem Kampfe steht, und der
wird auch begreifen, was es heißt, niemals sich zurückziehen, zu
klagen über die Unsinnigkeit der Menschen, die so gar nicht zur
Vernunft kommen wollen. Das, Genossen, ist unsere größte Gefahr.
Nicht die große ist es, aber die kleine, das Nörgelnde des Lebens,
die Enttäuschung und Bitternis, die in uns entstehen, weil diejenigen,
mit denen wir es am allerbesten meinen, nicht gleich ihr Herz uns
öffnen, ja weil sie anscheinend oft wirklich unvernünftig und
undankbar sind. Lernen wir, Genossen, von Engels auch die Aus-
dauer im Kampf, und lernen wir von ihm auch Niederlagen,
wenn es sein muß, zu ertragen und sie durch neue Siege wett-
zumachen. Denn in diesen 50 Jahren, die die Geschichte der Sozial-
demokratie in Europa umfaßt, war der Lauf der Partei nicht in einer
46 Zur Parteiseschichte.
geraden Linie, Schritt für Schritt immerfort dem Ziele zu, sondern
Schanze um Schanze mußte genommen werden, und manche wurde
mit Leichen gefüllt, nicht nur mit Leichen, die auf dem Schlachtfeld
gefallen, sondern mit solchen, die, ermüdet vom Kampfe, frühzeitig
in ihrem Bette gestorben sind, und das waren nicht die schlechtesten
der Soldaten, die auf dem Schlachtfeld der Revolution gefallen sind.
Engels freilich — das war sein Glück — an seinem Lebensende
noch sah er genau so wie der Jüngling in die Zukunft, er sah das
Ziel klarer denn als junger Mann, er wußte viel, nicht nur welche
Schwierigkeiten unser noch warten, er hoffte sogar, noch Siege
erleben zu können.
Als er mir, da ich Abschied von ihm nahm, auf seine Schiefer-
tafel schrieb: Grüße mir die österreichischen Genossen! und mir
die Hand gab, da wußte ich, daß er es tat in dem Sinne und in der
Hoffnung, daß wir unermüdlich und unerschütterlich, und mag
kommen, was will, vorwärtsgehen. (Stürmischer Beifall.) Genossen!
Nicht zu klagen sind wir zusammengekommen, nicht zu jammern,
sondern um eines Mannes zu gedenken, der mit uns und vor uns
gekämpft hat, und möge jeder von uns an seines Lebens Ende,
möge er zu Großem oder zu Kleinem berufen und geeignet sein,
wie Friedrich Engels sagen können: „Ich habe der Sache der
Menschheit gedient mit meinem besten Können, mit meinen besten
Gedanken, mit meinem besten Blut; ich habe getan, was ich ver-
mochte." Unsere Sache, Genossen, ist eine hohe, ist eine herrliche
Sache, sie verdient große Männer, wie Marx und Engels, sie ver-
dient, daß wir das hingeben, was in uns das Beste und Edelste und
Größte ist. In diesem Moment, wo wir des Dahingeschiedenen und
aller seiner Vorgänger, deren er würdig war, und die für die Sache
der Revolution gefochten, gedenken, lasset uns geloben, getreu zu
sein, mag kommen, was will und mag kommen, wer will. In diesem
Moment lasset uns geloben, getreu zu sein der Fahne der inter-
nationalen Sozialdemokratie!
Liebknecht und Osterreich.
„Vorwärts", 12. August 1900*).
Wie ein Blitz traf uns die Nachricht von unseres Liebknechts
jähem Tod, und nicht weniger schmerzlich wie ihr Deutschen
draußen beweinen die Arbeiter Österreichs, daß sie ihn verloren.
*) Der Berliner „Vorwärts" hatte in der Gedenknummer, die er dem
am selben Tage stattfindenden Leichenbegängnis Wilhelm Liebknechts wid-
mete, außer diesem Artikel Adlers noch solche von Hermann Greulich
(Schweiz), H. M. Hyndman (England), Paul L a f a r g u e (Frankreich)
und Enrico F e r r i (Italien), die alle mit beredten Worten sagten, was
Liebknecht ihren Proletariaten war.
Über Liebknecht siehe noch die Artikel Adlers bei Liebknechts Tod in
der „Arbeiter-Zeitung" vom 8. August 1900 (VI. Bd. dieser Sammlung,
Seite 291) und am ersten Todestag Liebknechts im „Wahren Jakob" im
August 1903. (Bd. VI, Seite 294.)
I iebknecht mul c >stei reich. 47
Ef war unser wie euer. KtlÜpfetl doch die Österreicher au die
Deutschen noch engere Beziehungen, als was das Band der großen
Internationale ist, die Gemeinsamkeit der proletarischen Interessen
und die Einheit des Zieles: Wir sind eines Blutes und wir haben
eine (ieschiclite. Die Ära Metternicli hat nicht minder auf Deutsch-
land gelastet und die Ära Bismarck hat dein österreichischen Pro-
letariat dieselben Leiden gebracht wie dein deutschen. Wie unsere
äußeren Schicksale bis vor kurzem noch dieselben waren, so ist
bis heute noch in hohem (irade die innere Entwicklung der Partei
eine parallele. An der sozialdemokratischen Bewegung Deutschlands
hat sich Lude der sechziger Jahre die österreichische entzündet, und
die Person Liebknechts verkörperte diesen Zusammenhang wie
keine andere.
Für Liebknecht ist die Bismarcksche Lösung der deutschen Frage
nie etwas anderes gewesen als die Zerreißung Deutschlands; in
diesem Punkt war er bewußt und entschieden der Gegner des
Lassalleschen Gedankenganges. Und er, dessen Lebensinhalt es vor
dreißig Jahren war, sich gegen das Werdende zu stemmen, hat sich
nicht entschließen können, sich in das Gewordene zu fügen. Er kam
1869 nach Wien, um die österreichischen Arbeiter dafür zu ge-
winnen, sich der „Organisation für die gesamte sozialdemokratische
Partei Deutschlands" anzuschließen und den Eisenacher Kongreß
zu beschicken. Was er in Österreich vorfand, waren allerdings nur
die Anfänge, aber freilich glänzende Anfänge einer sozialistischen
Bewegung. Sie hatte mit einem wunderbaren Schwung eingesetzt,
der gesteigert war durch den Reiz der Neuheit, den die zum ersten-
mal gegebene Möglichkeit öffentlicher politischer Betätigung aus-
übte. Und wie damals alles in Österreich neu, jung und naiv schien,
fand die Bewegung zunächst mehr sympathisches Erstaunen als
Widerstand. Sehr bald freilich änderte sich das Bild, und früher noch
als die deutschen Genossen erlebten die Österreicher ihren ersten
Hochverratsprozeß, und schon als Liebknecht im Juli 1869 in Wien
sprach, hatte das Bürgerministerium die ersten Proben seiner echt
bürgerlichen Brutalität gegen die Arbeiter abgelegt, und die spezi-
fisch österreichische Technik politischer Schikane, die später eine
so raffinierte Ausbildung erfahren sollte, machte eben ihre ersten
Schritte. Minister des Innern war jener Giskra, von dem das er-
leuchtete Wort stammt: Bei Bodenbach hört die soziale Frage auf.
In treffenden Worten führte Liebknecht damals die Anklage gegen
die verblendete Regierung, die den Ast absäge, auf dem sie sitze,
und er sprach das prophetische Wort: „Begreift denn dieses
Über Liebknechts Aufenthalt in Wien sowie über den Eisenacher
Kongreß, der vom 7. bis 9. August 1869 die „sozialdemokratische Arbeiter-
partei" begründete und das „Eisenacher Programm" schuf, siehe das Vor-
wort von Dr. Karl Renner zum „W iener Hochverratsproze ß".
wo namentlich auch das Verhältnis der österreichischen zur deutschen
Sozialdemokratie geschildert ist. Auf Seite 145 ist auch die Rede Lieb-
knechts wiedergegeben, die er am 25. Juli 1869 in Zobels Bierhalle in Wien
hielt.
48 Zur Parteigeschichte.
Ministerium nicht, daß ohne die Arbeiter keine
freiheitliche Bewegung in Österreich denkbar
ist?" Aber Liebknecht überschätzte freilich die liberalen Staats-
männer Österreichs gründlich, wenn er ihre Freiheitsliebe, ihren
Mut und politischen Verstand in Gegensatz brachte zu dem Preußen
Bismarcks, und wenn er dem zum politischen Leben erwachten Wien
Berlin gegenüberstellte, „die Zitadelle der Knechtschaft". Die Lebens-
frage für Österreich aber hatte er schon damals richtig erfaßt und
er ironisierte Herrn v. Beust, der sich vermaß, die Nationalitäten-
frage meistern zu wollen: „Eine monarchische Eidgenossenschaft
will der Kanzler aus Österreich machen, aber ich kenne nur eine
Eidgenossenschaft, und die hat keinen Kaiser. Der Liberalismus hat
kein System, Österreich muß den Weg der Freiheit gehen, jeder
Fehltritt stürzt es in den Abgrund. FreiheitoderTod! istdie
Devise, die diesem schönen Österreich durch die
Notwendigkeit aufgezwungen wir d." Heute, nach
dreißig Jahren, hat sich Österreich noch nicht entschlossen, welche
Alternative es wählen will, und jeder Tag bringt es dem Abgrund
näher.
Die österreichischen Arbeiter konnten Liebknechts Rat, das frei-
sinnige Bürgertum zu unterstützen, nicht befolgen, denn dieses
Bürgertum war nie vorhanden in Österreich. Aber seine eigentliche
wichtige Mission hat Liebknecht damals mit vollem Erfolg durch-
geführt: Er hat die Verbindung zwischen der deutschen und der
österreichischen Sozialdemokratie geknüpft, und sie ist seither stark
und unzerreißbar geworden. Daran änderte die Tatsache gar nichts,
daß neben der Sozialdemokratie deutscher Zunge in Österreich nach-
einander kräftige tschechische, polnische, italienische Organisationen
erstanden und heute ein kräftiges, selbständiges Leben führen. Die
Eigenart der österreichischen Parteiverhältnisse wurde von unseren
Genossen im Reich stets richtig verstanden, vor allem von Lieb-
knecht selbst. Wie er als deutscher Sozialdemokrat nie ver-
schmerzen konnte, was er das Verbrechen Bismarcks nannte, daß
die Deutschen Österreichs ihrem Schicksal überlassen wurden, so
begrüßte er als internationaler Sozialdemokrat das Erwachen des
slawischen Proletariats mit wahrer Begeisterung. Er begriff wie
einer, daß nicht die Unterdrückung, sondern nur die
Befreiung der Slawen die Grundlage einer ver-
nünftigen Entwicklung auch der Deutschen in
Österreich sein könne, und er hat persönlich gerade den
jungen Organisationen stets mit Rat und Tat beigestanden.
Die Popularität, die Liebknecht in der österreichischen Arbeiter-
schaft genoß, die Liebe und Verehrung, die sich an seinen Namen
knüpfen, sind freilich unabhängig von jeder lokalgeschichtlichen Be-
ziehung, von jeder nationalen Färbung. Das österreichische Prole-
tariat aller Zungen trauert an seiner Bahre, weil Liebknecht der
Bannerträger war in dem Befreiungskampf, ja weil er den unbeug-
samen, rücksichtslosen und siegessicheren Kampf der Sozialdemo-
kratie in seiner Person verkörperte. Victor Adler.
Engelbert Pernerstorfers letzte Fahrt. 49
Engelbert Pernerstorfers letzte Fahrt.
I in Arbeit e r li e i m, 9. .1 ä n n e r I 9 1 S ' ).
Es ist eine harte Stunde, da wir von Pernerstorfer Abschied
nehmen, hart für uns alle, die wir ihm persönlich nahegestanden
sind, hart für ungezählte Tausende, die ihn geliebt und verehrt
haben, denen er ein Helfer und ein Freund war. Es ist jetzt
fünfzig Jahre her, und er könnte ein Jubiläum feiern, daß er sich
zum erstenmal in den kleinen Zimmern des Arbeiterbildungsvereines
herumgetrieben und dort das Wort der Zukunft gepredigt hat.
Fünfzig Jahre! Und er ist derselbe geblieben, der er als Knabe war:
tapfer, ein Idealist sagen sie, aber weiß der Himmel, kein
Phantast. Fest stand er auf der Erde, aber er hatte den
eisernen und unerschütterlichen Glauben an die Zu-
kunft, er hatte die Tapferkeit, trotz alledem, diese Zukunft zu
erringen. Trotz alledem! Das war das Wort, das ihn begleitet hat.
und wenn ich hier spreche im Namen der Vertretung der sozial-
demokratischen Partei, im Namen seiner Partei, so spreche ich nicht
nur im Namen der deutschen Arbeiter in Österreich, sondern der
Arbeiter aller Nationen in Österreich, die ihn gekannt und
geliebt haben, durch alle Irrungen und Wirrungen hindurch. Weit
über die Grenzen Österreichs war er bekannt als der Fahnenträger
der großen Idee der Menschheit, und das letzte Wort, das er an uns
gerichtet hat, war ein Wort des Glaubens, der Zukunftssicherheit.
Der da liegt, war ein Kämpfer vom ersten Augenblick seines
Wirkens und er hat zeitlich angefangen, zu wirken. Es gibt keinen
von uns allen, von uns Alten und von den Jungen, denen nicht sein
feuriges Wort, seine Beredsamkeit das Licht in die Seele geworfen
hat. In seiner Seele brannte das ewige Feuer der Begeisterung.
*) Am 6. Jänner 1918 ist Engelbert Pernerstorfer gestorben und am
9. Jänner wurde er auf dem Zentralfriedhof bestattet. Im Arbeiterheim
in Favoriten war sein Sarg aufgebahrt und hier bereiteten ihm Freunde
und Genossen eine Huldigung. Zuerst sprach der Präsident des Abge-
ordnetenhauses Dr. Gustav Groß im Namen des Abgeordnetenhauses,
dem Pernerstorfer mit kurzer Unterbrechung seit mehr als dreißig Jahren
angehört hatte; dann sagte Victor Adler dem Genossen und Jugend-
freund, sichtlich tief ergriffen, Worte des Abschieds. Auf dem Friedhof
sprachen im Namen der Parteivertretung Dr. Ellenbogen, im Namen
der Stadtgemeinde Wiener-Neustadt, die Pernerstorfer im Reichsrat ver-
treten hatte, der damals sozialdemokratische Vizebürgermeister und nach-
malige Bürgermeister O f e n b ö c k, im Namen der tschechischen Sozial-
demokratie Abgeordneter N e m e c, im Namen der Bibliophilen Gesell-
schaft, deren Vorstandsmitglied Pernerstorfer war, deren Obmann Hans
F e i g e 1.
Was Pernerstorfer der Sozialdemokratie in ihren Anfängen war, ist
im VI. Band dieser Schriften im Kapitel vorn Kampf gegen den Terror
erzählt. Eine ausführliche Biographie von Pernerstorfer hat Robert A r x-
haber in der „Neuen österreichischen Biographie'* (Bd. II, Seite 97).
geschrieben. Pernerstorfer hat auch eine große Bibliothek hinterlassen,
die nun der Studienbibliothek der Wiener Arbeiterkammer einverleibt ist.
Adler, Briefe. XI. Bd. 4
50 Zur Parteigeschiehte.
jener Begeisterung, ohne die große Dinge nicht geschehen können.
Sie, die alten Genossen, werden sich erinnern, daß er unser Freund
war, unser Schild und unsere Waffe zu einer Zeit, wo wir keinen
Schild hatten und wo wir kein Sprachrohr hatten, wo wir schwach
und verfolgt waren. Erinnern Sie sich an die Zeit, wo er furchtlos,
rücksichtslos gegen Gemeinheit und Brutalität kämpfte, sicher, daß
dem Sozialismus die Zukunft gehört und daß er der Weg ist. auf
dem die Vervollkommnung der Menschheit, wie er in seinem letzten
Wort sagt, zum Ziel kommen werde.
Es gibt wenig Männer in Österreich, die so auf das Volk zu
wirken verstanden haben. Nichts Menschliches, was aufwärts führt,
war ihm fremd. Selbst die Partei schien ihm noch eine Schranke.
Nicht als ob er sich je an der Disziplin und an der Geschlossenheit
gestoßen hätte, aber in allen Schichten, in allen Gedankengängen
war er zu Hause und alle nahm er in sich auf. Seine ungemeine
Bildung — eine Bildung, deren Ausmaß nur die recht kannten, die
ihm nahestanden — ermöglichte ihm, wie von einem Gipfel alles
zu sehen, und es ist kein Zufall, daß so viele seiner Reden schlössen
mit dem Bilde des nahen Sonnenaufgangs, zu dem er hinblickte,
auf den er hoffte und den er in seinen ersten Strahlen sah. Der Weg
dahin, der mühevolle Weg des Kleinlichen, des Elends, wenn ihm
auch menschliche Sorge nicht fremd gewesen, war ihm bis zu einem
gewissen Grade erspart. Denn er war ein glücklicher
Mensch, der den Ideen der Menschheit gelebt hat; der Mensch-
heit große Gegenstände haben ihn immer beschäftigt. Weit über das
Reich hinaus wußte man das, liebte, schätzte ihn und so bin icli
insbesondere beauftragt, im Namen des Vorstandes der
deutschen Sozialdemokratie, der hier nicht vertreten
sein kann, weil er durch wichtige politische Geschäfte ferngehalten
wird, ihren letzten Gruß auszusprechen. Ich darf hier wohl eine Er-
innerung wachrufen, die mir unvergeßlich bleibt. Wir waren vor
dem Greuel dieses Krieges in Basel bei der Internationalen Konfe-
renz, die die Sturmglocken des Baseler Münsters, die damals noch
Friedensglocken waren, in Bewegung setzte, um vor dem Entsetz-
lichen, das wir und er jetzt durch Jahre ertragen haben, zu warnen,
es zu verhindern. Aber die Glocken können die Gewitter verkünden,
nicht beschwören. Nachher saßen wir in einem kleinen Räume bei-
einander mit unserem armen Jaures, mit dem er so befreundet war,
und den er geliebt hat und mit dem er soviel Ähnliches gehabt hat,
und ich erinnere mich, wie die beiden über die Chartistenbewegung
gesprochen haben und über die christlichen und sozialen Elemente
in dieser Revolution. Da hat er ganze Sätze aus den Predigten der
revolutionären Pfarrer dieser Jahre zitiert, die die Führer des Frei-
heitskampfes waren.
Wir haben keinen besserenFreund gehabt als ihn. Was
er uns als Berater war, als Vorkämpfer und vor allem als Wort-
führer und für Zehntausende als Lehrer, das wird uns unvergeßlich
bleiben. Wir danken ihm, und wir nehmen Abschied von ihm (In
tiefer Bewegung): Ja, wir nehmen Abschied und senden dir, mein
alter, lieber, lieber Storfer, den letzten Gruß.
Die Eröffnung des Arbeiter heims in Favoriten. 51
Liebe Anna (zur Genossin Pernerstorfer gewendet), die du seine
Jugendgespielin warst und die du ihn herleitet hast bis /um letzten
Atemzug, Ohne die er nicht möglieb gewesen wäre, ohne die er
sein Leben so nicht hätte führen können, wie er es geführt hat, dir
icli spreche es aus für alle, die es nicht wissen — , dir danke
ich, daß du uns dieses Leben SO ermöglicht hast. Und nun, lieber
alter Freund, Kamerad! - einen bessern find'st du nit — leb' wohl!
Lebe wohl! sage ich am Grabe, denn er wird leben, nicht nur in uns,
sondern weit über uns hinaus. Gegner hast du gehabt,
Feinde konntest du keine hinterlassen, denn edel warst du, h i 1 f-
reich und gut, und — was dort nicht steht — tapfer warst
du durch und durch. Ein deutscher Mann warst du, doch ein
Mann vor allem bis zu deinem letzten Atemzug. Storfer, leb'
wohl!
Die Eröffnung des Arbeiterheims in
Favoriten.
Am 7. September 1902*).
Geehrte Festversammlung! Werte Festgäste! Genossen und
Genossinnen!
Wir treten vor Sie hin, um Sie willkommen zu heißen in dem
Hause, das dem arbeitenden Volke gehört; wir treten vor Sie hin,
um Ihnen zu sagen: Was hier geschaffen wurde, isteuerWerk.
Finen Fleck Boden habt ihr, von dem aus ihr weiterkämpfen sollt.
Nicht hier zu rasten soll euch beschieden sein, euch soll beschieden
sein, von hier aus erst recht zu erobern. So mancher, der
in diesem Saale ist, wird sich noch erinnern, wie wir begonnen
haben, wird sich der langen Nächte erinnern, der schweren Sorgen,
er wird sich erinnern, wie wir in elendesten Schlupfwinkeln gehaust
haben, wie wir verfolgt, gehetzt, verachtet, verhöhnt
waren in diesem Österreich, in diesem Wien; und er wird daran
denken, welcher Arbeit von Zehntausenden es bedurft hat, um dem
Arbeiter in diesem Reiche und in dieser Stadt Respekt zu
schaffen. Nun sind wir ein Stück weiter: Hier sind wir zu
Hause.
Wir haben ein Heim!
W7ir wissen sehr gut, nicht alle sind erfreut über diesen Bau,
nicht alle haben Genugtuung daran, daß die Arbeiter endlich
*) Die Rede ist der Festschrift „Das erste Arbeiterheim" von Berthold
Alt entnommen, die zum 25jährigen Bestand des Arbeiterheims erschienen
ist und die eine Geschichte des Arbeiterheims gibt. Das „Arbeiterheim" in
Favoriten, das am 7. September 1902 eröffnet wurde, war das erste
Arbeiterheim der Wiener Arbeiter. Einige Jahre später wurde das Ar-
neiterheim in Ottakring gegründet. Von dem Favoritner Arbeiterheim ist
später noch die Rede in der Rede Adlers zur Enthüllung der Gedenktafel
an den Einbruch der Polizei am 7. November 1902 im Kapitel ..Adler im
I. «i n d t a k".
52 . Zur .Parteigeschichte.
zu Hause sein dürfen. Rings um uns wogt ein Meer von
giftigem Haß, Neid und Scheelsucht, in Grund und
Boden wollen sie uns wünschen. Wir Sozialdemokraten aber
fürchten uns nicht, und unser Haus — ein roter Punkt ist es
in dem schwarzenMeere ringsum, ein Punkt, der leuchtet,
hell ist sein Schein. Das Licht unserer Ideen, das von ihm
ausgeht, wird die Finsternis überwinden!
Parteigenossen! Wenn wir Sozialdemokraten uns ein eigenes
Heim gründen, ein eigenes Haus bauen, so verfallen wir nicht in
die Gewohnheit der Eigentumsbestie und in den Gedankengang der
Hausherren! Gewiß, dieses Haus ist juristisch Privateigentum, auch
wir können zunächst aus der kapitalistischen Welt nicht heraus.
Aber die Paläste der Großen sind dem Volke verschlossen, aus
deren Schweiß sie gebaut sind, hier haben Sie ein Haus, das
Ihr Haus ist, das Haus des gesamten arbeitenden
Volkes von Wien. Wir Sozialdemokraten, die man als Feinde
der Kultur verschrien hat, wir sind stolz darauf, daß wir Sie in
unserem Heim empfangen können, das nicht nur das rote Haus,
sondern auch ein schönes Haus ist. Als Arbeiter, als Werk-
leute, laden wir Sie ein, Besitz zu nehmen von diesem schönen
Hause. Es gehört Ihnen, nicht weil Sie es gekauft haben, es gehört
Ihnen, weil Sie es erarbeitet, geschaffen haben, weil es
Ihr Eigentum geworden durch die Kraft Ihrer Hände,
durch die Arbeit Ihres Hirns! Mit Stolz zählen wir alle
die zu uns, die mit dem Kopfe arbeiten,
wir zählen zu lins, was denkt, was arbeitet.
Dieser Arbeit wollen wir zum Siege verhelfen und diesem
Kampfe soll dieses Haus dienen. Es war nicht leicht, dieses Werk
zu schaffen und es wäre ein Unrecht von uns, wenn wir in diesem
Augenblick nicht auch jener Zahl von Parteigenossen gedenken
möchten, die mit rührender Zähigkeit an dem Plane festgehalten
haben zu einer Zeit, wo kein Mensch ernstlich hoffen konnte, es
würde in absehbarer Zeit möglich sein, den Plan zu verwirklichen.
Dieser Gründer und Anreger gedenken wir dankbar. Was
wir geschaffen haben, gilt nicht für Favoriten allein. Es ist wohl
zunächst ein Bezirkshaus, ein Amtshaus für die politische Organi-
sation des Bezirkes, ein Haus für die gewerkschaftliche Arbeit in
allen ihren Formen: es soll ein Volkshaus sein im vollsten
Maße. So schön die Räume sind, sie sind nicht da, um in ihnen zu
ruhen: Aus dem Kampfe ist das Haus geboren, Kampf soll von
diesem Hause ausgehen! Als wir noch in dumpfen,
schmutzigen Kneipen unsere Arbeit verrichteten, waren unsere
Köpfe von hohen Gedanken erfüllt und unsere Herzen schlugen
heiß, da es an die Arbeit ging. Das wird nicht anders werden. Und
ich kann diesem Hause keinen besseren, keinen größeren Wunscfi
mitgeben, als : Es möge der a 1 1 e, d e r sozialdemo-
kratische, der revolutionäre Geist, der in den kleinen
Kneipen gewaltet, auch in diesem schönen, großen Hause lebendig
und stark bleiben.
, Die Eröffnung des Arbeiterheirra in Favoriten.
Genossen! Wir wollen auch nicht unterlassen, einen Bück nach
rückwärts zu richten und dankbar derer zu gedenken, die gefallen
sind in dem Kampfe, wir gedenken derer, die lebendig b e-
Kraben wurden in den Gefängnissen und derer, die
fern in der Welt im Kampfe stehen, (iestern habe ich hier im Saale
einen alten Parteigenossen wiedergefunden, den ich seit dem Jahre
1886 nicht gesehen habe. Diesen Genossen konnte ich nicht sehen,
weil er fünfzehn Jahre schweren Kerker abzubüßen hatte, als ein
Opfer der Zeit, die nun vorbei ist, vorbei nicht dank der Erleuch-
tung; die über die Herrschenden von oben gekommen ist, nicht dank
der sich entwickelnden Weisheit der Regierenden, sondern dank
der aufklärenden Arbeit der Arbeiter, dank ihrem
entschlossenen Mute, ihr Recht durchzusetzen und den Weg zu
gehen, der ihre geschichtliche Mission ist.
So hart und härter, wie wir hier den Kampf zu führen haben,
so haben die Proletarier der ganzen Welt zu kämpfen, und Sie
werden mit mir fühlen, wenn ich sage: Def erste Gruß aus diesem
Hause möge jenem Proletariat gelten, das heute gerade im
heißesten Kampfe steht und ihn mit bewunderungswürdigem Opfer-
mut führt. Ich sende den ersten Gruß aus diesem Hause dem
russischen Proletariat, den heldenmütigen Kämpfern
gegen den völkermordenden Zarismus! Den zweiten Gruß
senden wir den Arbeitern überall in Österreich, die mit uns kämpfen
und empfinden ohne Unterschied der Nation, den
Deutschen, den Tschechen, den Polen und Ruthenen, den Italienern
und Slowenen, die sich über unsere Erfolge freuen, d i e a 1 1 e d i e s
Haus als ihr eigen betrachten.
Parteigenossen und geehrte Festgäste! Die Arbeiter sind un-
bescheiden geworden und das ist ihr Ruhm. Es hat eine Zeit ge-
geben, wo uns das Recht auf Arbeit bestritten wurde und man hat
darunter verstanden: das Recht des Arbeiters, sich ausbeuten
zu lassen. Heute verlangen wir weit mehr:
Das Recht auf die Frucht der Arbeit, das Recht auf die Schönheit,
auf Gesundheit, auf Wissen!
Schönheit, Gesundheit, Wissen +- das Höchste für
die Menschheit — , denen, die die Träger jedes Fortschrittes sind,
die die Träger der mächtigen Entwicklung sind, die uns der Zu-
kunft zuführt, die eine Menschheit sehen wird, die nicht aus
Herrschenden und Beherrschten, aus Knechten und Ausbeutern,
aus Protzen und unwissenden Sklaven bestehen wird. Und daß die
Arbeiterschaft das Bedürfnis nach Schönheit, nach höchstem
Lebensgenuß hat, auch dafür zeugt dieses Haus. Johann Jakoby
hat einmal gemeint, dem Historiker der Zukunft werde die Grün-
dung des kleinsten Arbeitervereines ein wichtigeres Ereignis sein
als die Schlacht bei Sadowa. In diesem Sinne ist auch unsere heutige
Feier ein kleines Stück Geschichte. Was wir errichten
wollen, ist kein altes Monument, es ist ein H a u s d e s Kampfes,
wir sagen es offen heraus, wir sagen.es unseren Freunden und allen
offenen und verbissenen Gegnern: Dieses Haus wird er-
54 Zur ParteiKcscliichtc.
öffnetim Zeichen der Sozialdemokratie! ich begrüße
Sie mit dem Rufe : Es lebe hoch die internationale,
revolutionäre Sozialdemokratie!
Eröffnung des Ottakringer Arbeiterheims,
Am 16. Juni 190 7*).
Im Auftrag der Parteivertretung komme ich, euch Otta-
kringern Glück zu wünschen zur Vollendung des Werkes. Jeder von
uns weiß, welche Arbeit in diesem Arbeiterheim steckt, wieviel
Sorge und Mühe es kostete. Daß ein solches Arbeiterheim möglich
wurde, das ist nicht die Leistung gewesen der Leute allein, die hier
unmittelbar am Werke waren, von den Proletariern bis zu dem, der
die Pläne gemacht hat; das ist die Arbeit des ganzen Proletariats
Wiens, der Proletarier ganz Österreichs. (Lauter Beifall.) Vor fünf
Jahren haben wir in Wien das erste Arbeiterheim eröffnet, heute
eröffnen wir das zweite und größere. Auf erobertem Grunde bauten
wir unsere Festung, um von hier den Kampf weiterzuführen.
Genossen und Genossinnen! Ihr Fest fällt zusammen mit der
Eröffnung eines anderen Heims, auch eines Heims, das wir uns erst
erobern mußten, des Heims der Volksvertretung
Österreichs. Stolzen Hauptes werden wir morgen einziehen
als Vertretung der Arbeiterschaft Österreichs in dieses neue Heim,
das vorher kein Heim, sondern eine Zwingburg für uns war. D i e-
selbe Kraft, die dieses herrliche Gebäude aufgerichtet hat, war
es, die die Vertretung der Arbeiterschaft im Parlament geschaffen
hat! Eine Frucht des Kampfes ist dieses Ottakringer Heim und der
Ausgangspunkt neuer Kämpfe. Es gebührt uns hier zu sagen: Die
Ottakringer waren, um in der militärischen Sprache weiterzu-
reden, ein besonders tapferes Regiment. Die anderen haben auch
ihr Hausregiment**) — das ist unser Hausregiment. (Leb-
hafte Heiterkeit und starker Beifall.) Genossen! Wir danken Ihnen
heute für die große politische Arbeit, die Sie vollbracht haben. Wir
danken Ihnen dafür, daß Ottakring für unsere Bewegung ein Heim
war, wo es noch nicht so großartig ausgeschaut hat, wo wir in
kleinen, elenden, nicht so gut ventilierten Räumen (Heiterkeit) und
unter sehr strenger Aufsicht und wenig begrüßt von der bürger-
lichen Öffentlichkeit und wenig begönnert von den staatlichen Auto-
ritäten für dieselbe Sache gekämpft haben. Wir sind ein bißchen
gewachsen in den letzten zwanzig Jahren und wir hoffen und sind
entschlossen, weiter zu wachsen. (Laute Bravorufe.)
*) Fünf Jahre nach Favoriten erhielt auch Ottakring sein Arbeiterhcini.
Die Eröffnung erfolgte kurz nach dem herrlichen Wahlsieg vom 14. Mai
1907. Es war also eine Art Siegesfeier. Die eigentlichen Festreden hielten
hier natürlich die Abgeordneten von Ottakring, David und Schuh-
meier. Adler überbrachte die Grüße der Partei.
**) Man nannte die Deutschmeister das Wiener Hausregiment. — Siehe
auch die Rede vom 7. September 1896 zum „De utschmeister-
r u m m e 1". Seite 239.
\m Grabe der Märzgefallenen.
Denn, Genossen, weit über den Moment hinaus, weil hinaus über
den Inhalt des augenblicklichen politischen Kampfes ist der hau von
Arbeiterheimen vorbildlich und ein Symbol für uns. Tan Arbeiter-
heini enthält die Forderung der Arbeiterschaft, teilzuhaben an allein
Großen, Schönen und Edlen, das durch die gesammelte und vereinte
Kraft der Menschheit geschaffen wird; den Anspruch, sich an den
Tisch zu setzen, den die Arbeit des Proletariats mit in erster Linie
deckt, und die Frucht seiner Arbeit zu genießen. Die Gründung jedes
Arbeiterheims ist ein Symbol für die gesamte Arbeit des Prole-
tariats: aus der Welt ein Heim zu machen für die
arbeitende M e n s c h h e i t, ein Heim, wo die Menschheit nicht
mehr tributpflichtig ist anmaßenden Hausherren, die sich als Herren
in dem Hause fühlen, das sie nicht geschaffen haben. Wie wir den
Fleck erobert haben, auf dem wir jetzt stehen, werden wir von hier
aus und überall in diesem weiten Österreich weiterkämpfen, bis der
ganze Staat ein Heim ist für die Arbeiterschaft aller Zungen und bis
über dem Staate weht die rote Fahne des internationalen Prole-
tariats! So begrüßen wir Sie. (Großer Applaus.)
Am Grabe der Märzgefallenen.
1 0. März 190 1*).
Im Namen der Parteivertretung der Sozialdemokratie Österreichs
begrüße ich Sie hier, die Sie seit Jahrzehnten herauskommen, um
diesen Opfern des Absolutismus, diesen Opfern des Kampfes gegen
den Absolutismus, ihre Ehrfurcht zu bezeugen. Wir kommen hiehe-r
in dem Bewußtsein, daß unser Kommen eine Hoffnung für uns ist
und eine Warnung für die anderen. Heute ist es freilich nicht mehr
möglich, in einem kurzen Kampf auf der Straße die Schlachten der
Menschheit zu schlagen, aber die modernen Formen des großen
Weltkampfes, der die Massen in Bewegung setzt, machen es ebenso
notwendig, sein Blut herzugeben, Tropfen für Tropfen, und jeden
Nerv zu opfern für das, was wir wollen: für die Befreiung der
Menschheit.
Wir leben in einem traurigen Lande. Die, deren Befehl damals
diese Toten in den Sand gestreckt hat, dieselbe Klasse, dieselbe
Clique, dieselben Schurken sind es, die noch heute das Volk be-
drängen . . . Aber wir gehen zielbewußt in immer wachsenden
Massen unseres Weges, und wir werden das vollenden, was diese
hier begonnen haben. Die Sozialdemokratie beginnt erst ihr Werk,
und wenn von Jahr zu Jahr die Massen derer, die hieher kommen,
*) Viele Jahre lang ist die Wiener Arbeiterschaft in^ großen Zügen zum
Grab der Märzgefallenen auf den Zentralfriedhof gepilgert: den gewaltigen
Weg von den Bezirken bis an das Rnde von Wien. Erst in den letzten
Jahrzehnten begnügt man sich mit Abordnungen, die Kränze hinterlegen.
Am 10. März .1901 zogen die Massen zum Märzobelisken, Die Gedenk-
reden hielten D a s z y n s k i und Adler. Wir bringen hier Adlers Rede
nach dem kurzen Bericht der „Arbeiter-Zeitung''.
56 Zur Parteigeschichte.
sich vermehren, so ist das nur ein Beweis dafür, wie in ganz Öster-
reich die Massen nach und nach in Bewegung kommen und sich
den alten Mächten der Verdummung und der Verknechtung langsam
zu entwinden anfangen.
Aber es kommt der Tag, und jeder Schritt, den wir tun, das
kleinste Werk, das jeder von Ihnen für die Organisation des Prole-
tariats leistet, ist ein Opfer, aber jeder bringt es gern in dem Bewußt-
sein, daß er an einem großen und gewaltigen Werke mitarbeitet.
Wenn heute im Parlament Erwählte der Arbeiterschaft sitzen, wenn
es heute wenigstens einen Punkt im Reiche gibt, wo Sozialdemo-
kraten die Wahrheit sagen können, Genossen, das ist euer Werk.
Und wir wollen uns heute zuschwören: Wir be-
gnügen uns nicht, den Weg betreten zu haben, wir
sind auch entschlossen, ihn bis an das Ende zu
gehen.
Die Erinnerung an den 13. März 1848.
Versammlung am 12. März 190 2*).
Die Kämpfer, die in den Märztagen von 1848 gefallen sind, sind
gestorben mit dem Worte „Konstitution" auf den Lippen. Eine Kon-
stitution, eine Verfassung, das war das Ziel ihres Kampfes. Nun,
Verfassungen haben wir jetzt die schwere Menge: eine Verfassung
im Staat, eine Verfassung im Lande, eine Verfassung in der Ge-
meinde. Aber alle diese Verfassungen sind nur dazu da, um ge-
brochen zu werden. Das hat schon im Jahre 1848 so angefangen.
Die Revolution hat gesiegt und Österreich bekam eine Verfassung.
Aber schon wenige Tage später folgte der Verfassung der Ver-
fassungsbruch. Schon damals hat man das Wort ge-
geben, schon damals hat man es gebrochen. Und
diese Tradition hat sich bis heute erhalten.
Am 13. März 1848 wurde geschossen, und wenn einer jener
Märzgefallenen jetzt wieder erwachte, so würde er hören, daß noch
immer uniformierte Proletarier auf Kommando gegen wehrlose
Proletarier schießen müssen, daß noch immer wehrlose Arbeiter
im Kampfe für ihr gutes, heiliges Recht fallen. Das ist nicht
anders geworden seit damals, aber das, was anders geworden
ist, das ist, daß heute das Bewußtsein dieser Schmach ein
ganz anderes ist als vor fünfzig Jahren. Vor fünfzig Jahren
*) Am 14. Februar 1902 kam es in Triest bei einem Streik zu Zu-
sammenstößen, bei denen zehn Arbeiter getötet und fünfzehn schwer ver-
letzt wurden. Das war der Anlaß, daß in diesem Jahre der 13. März
viel feierlicher und demonstrativer gefeiert wurde. In Wien fanden am
12. und 13. März zehn Versammlungen statt. In der Versammlung beim
Dreher sprach Adler. Über die Märzrevolution und die Schießereien in
Triest hat Adler auch im nächsten Jahre in einer Jugendversammlung
gesprochen. („Das Jahr 1848 und die Jugend", Bd. VII, Seite 155.) Über
die! Schüsse von. Triest siehe Bd. VIII, Seite 225, aber auch die Ver-
trauensmännerversammlung zu den Landtagswahlen am 31. März 1902.
Die Erinnerung an den 13. März 1848.
folgte auf die Periode der Revolution die Periode einer furcht-
baren Erstarkung der Reaktion, wo man meinte, daß man alles,
was in den Mär/tagen Lebendig geworden ist, mit dem Bahr-
tuch der schwarzen Kulten aui ewig werde verhüllen können. Jene
Zeit ist charakteristisch geworden durch ein merkwürdiges ge-
schichtliches Wort, durch das Wort „Naderer". Das war die Zeit,
wo man dem Freunde, dem Bruder nicht trauen konnte, wo an
jedem Tische ein Verräter saß, wo jeder freiheitliche Gedanke de-
nunziert wurde als ein Verbrechen gegen die Religion und gegen
den Staat. Und so wie die Naderer der fünfziger Jahre wirtschaf-
teten, so möchten die Naderer von heute auch wirtschaften,
und so wie in den fünfziger Jahren die Helden und die Opfer von
1848 beschmutzt und in den Staub gezerrt wurden von den
Knechten der Klerisei, von allen denen, die schmarotzen am leben-
digen Körper des Volkes, genau so wird heute die Bewegung des
arbeitenden Volkes von diesem Gesindel besudelt und verleumdet.
(Lebhafte Zustimmung.) Man sagt, daß die Leute, die in Triest ge-
fallen sind, die Februargefallenen, die Opfer einer inter-
nationalen Verschwörung sind, die natürlich von Juden geleitet
wurde und die gegen die Dynastie, gegen die Religion und gegen
das Vaterland gerichtet ist. Aber das kapitalistische Judentum war
es ja, zu dessen Ehren immer, von Ostrau bis Triest, die
Flinten knallten.
Herr v. Körber, der angekündigt hat, daß er ein moderner euro-
päischer Minister sein wolle, hat wirklich gehandelt, wie europäische
Minister in einem Kampfe zwischen Arbeit und Kapital zu handeln
pflegen. Allerdings in unserem Nachbarstaat, in Italien, hat man in
einem ähnlichen Falle anders gehandelt, da scheint ein Minister-
präsident zu sein, dem die Interessen des Volkes immerhin soviel
wiegen wie das Stirnrunzeln von ein paar feisten Millionären oder
das Augenbrauenzucken seines angestammten Königs. Das ist
natürlich bei uns nie der Fall gewesen. Der Verstand und die
Energie eines Körber zerschmilzt an der Sonne eines Gnadenblicks
von oben. Die Vorfälle von Triest, die Herrn v. Körber in den Augen
jedes vernünftigen Menschen, jedes Volksfreundes gerichtet haben,
die haben ihm einen Tempel aufgerichtet in den
Herzen derer, die in Österreich herrschen. Man muß
es gesehen haben, als Herr Körber im Parlament mit dem Säbel
rasselte, als er die Autorität des Staates gegen die gesetzlosen
Elemente verteidigte, wie diese verhaßten Gesichter unserer größten
Feinde leuchteten, wie die Fratze des Jaworski*) fast aus dem
Leim ging vor Vergnügen, und wie Fürst Liechtenstein wohl-
gefällig grinste. Daß auch der Axmann, ein Vertreter der fünften
Kurie, den Ministerpräsidenten beglückwünschte, ist ein Zeichen,
daß der Geist des Naderertums und der Knechtseligkeit auch heute
noch nicht erstorben ist.
*) Ritter v. Jaworski, der Führer des Polenklubs; Axmann, der
Vertreter der fünften Kurie des vierten Wiener Wahlkreises, Führer der
christlichsozialen Handlungsgehilfen.
58 Zur Parteigeschichte.
Wenn wir uns alljährlich der Märzgefallenen erinnern und zu
ihrem Grabe hinausziehen, so darum, weil die Geschichte der Be-
freiung für uns noch immer nicht geschlossen ist. Einige Kapitel der
Geschichte, die 1848 begonnen hat. sind geschrieben, aber das
Schlußkapitel, das wichtigste Kapitel, ist noch zu schreiben, ist noch
zu machen, und der Autor dieses Buches, der Schöpfer dieses
Schlußkapitels, kann niemand anderer sein als die Erben jener
Revolutionäre vom Jahre 1848. niemand anderer als die sozial-
demokratische Arbeiterschaft. (Stürmischer, andauernder Beifall.)
Enthüllung des Hugo-Schmidt-Denkmals.
Jägerndorf, P f i n g s t s o n n t a g 19 0 9*).
Wir sind hier versammelt, um das Andenken eines Mannes zu
ehren, der hier in Schlesien geboren wurde, auf dem Boden dieses
Landes emporgewachsen, durch 40 Jahre hier gekämpft hat und
hier gestorben ist: ein Kämpfer für Freiheit und Recht, der mitten
im Kampfe für seine Partei gestorben ist. Wir sind hieher
gekommen, eines Mannes zu gedenken, aber nicht um zu
weinen und zu trauern. Der Verlust, den die sozialdemokratische
Partei erlitten hat, als Genosse Schmidt hier an dieser Stelle
zusammenbrach, war ein großer. Als die Kunde von seinem Tode
zu uns drang, da dachten wir mit Tränen in den Augen der
Schlachten, die wir zusammen geliefert, der Nächte, die wir im
Rate zusammengesessen, der bitteren Stunden, die wir zusammen
durchgemacht. Von der Größe dieser Bitternisse können sich die
jungen Leute keine Vorstellung machen. Hugo Schmidt war ein
Arbeiter in des Wortes bester Bedeutung. Dieser Mann hat in den
schwersten Stunden den Kopf oben behalten, niemals den Mut
verloren. Das Bild seines Lebensganges ist das Bild der Ent-
wicklung, der Geschichte der Partei. Als junger Mann arbeitete er
hier als Weber. Von hier ging er nach Brunn, wo der erste
Zusammenstoß erfolgte, der ihm den Gegensatz vor Augen führte
zwischen Ausbeutung und Ausgebeuteten. Es war zum erstenmal,
daß sich die Arbeiter rührten, daß sie des Gegensatzes bewußt
wurden und auch gleich die ganze Brutalität des Gegners zu
fühlen bekamen. Ein Weberstreik brach in Brunn aus. Wer wissen
will, wie niedrig die Löhne im Jahre 1869 in Brunn waren, muß
wissen, wie niedrig sie noch heute sind und vor 15 Jahren waren.
Die erste Tat war eine Kulturtat, um die Arbeiter aus der
schlimmsten Lage, aus dem Hungerdasein herauszubringen, etwas.
*) Hugo Schmidt, von Beruf Tuchmacher, hatte ursprünglich in Nord-
böhmen gewirkt und hat bereits an der großen Kundgebung auf den
Jeschkenberg am 7. August 1870 als Organisator und Einberufer mit-
gewirkt. Später kam er nach Jägerndori und hat an der Aufrüttelung des
schlesischen Arbeiters ein hervorragendes Verdienst. Auf dem Züricher
internationalen Sozialistenkongreß im Jahre 1893 war er als Delegierter
anwesend.
Der Bericht über die Rede ist der „Schlesischen Volkspresse'* entnommen.
Enthüllung des riugo-Schmtdt-Denkmals.
ein weniges, zu erringen. Aber ihnen stellten sich nicht nur die
Fabrikanten entgegen, sie fanden nicht nur die Türen der Fabriken
geschlossen, sondern davor Militär: den Hungernden Blei. Drei
Gewehrsalven wurden auf die Streikenden abgegeben, drei Tote
und an hundert Verwundete blieben auf dem Platze. Das war der
erste Eindruck, die erste Lehre, die Hugo Schmidt vom Klassen-
kampf erhielt. Das war das Bild, das ihn bis an sein Lebensende
begleitete, seine Feuertaufe. Genosse Hugo Schmidt stand nicht
an der Spitze, aber es genügte, daß er dabei war, und er wurde
ausgewiesen. Er ging nach Reichenberg. Ein tüchtiger Arbeiter,
war er nicht zufrieden, für den Unternehmer zu roboten, arbeitete
er als Vertrauensmann der Gewerkschaft für die Befreiung der
Arbeiter. Und wer die Reichenberger Behörden von heute kennt,
dem ist es klar, daß es damals nicht lange dauerte, und er mußte
hinaus. Er kam nach Wien. Aber auch da ging es ihm nicht besser,
auch hier hieß es hinaus. Von Wien ging es nach Deutschland.
Man sagt, der Sozialdemokrat kennt kein Vaterland. Umgekehrt
ist es der Fall, überall hat der Sozialdemokrat sein Vaterland,
wohin er kommt, ist er zu Hause, unter Brüdern. Auch Hugo
Schmidt wurde es klar, daß dieses Vaterland, ihn genau so
behandelt wie sein eigenes, auch hier wurde er ausgewiesen. Wrer
es damals wagte, die Augen und noch mehr den Mund auf-
zumachen, der wurde gejagt von Ort zu Ort, heimatlos gemacht.
Ihre Wut, Hetzer heimatlos zu machen, hat gar nichts genützt, sie
hat eher mitgeholfen, das Feuer von Ort zu Ort zu tragen. Die
Liste der Ausgewiesenen ist eine Ehrenliste der Partei, die Namen
der Besten sind darin verzeichnet. Hugo Schmidt kam nach Hause
und siedelte sich hier an. Täglich mußte er um seine Existenz
ringen, ringen um das Erwachen der Arbeiter. Er wächst mit der
Partei, für deren Wachstum er so viel geleistet. Er stirbt voll
froher Hoffnungen, siegessicher. Hugo Schmidts Leben ist ein
Bild, an dem wir uns alle erheben, ein Beispiel nehmen können.
Aus diesem Bild muß jeder die Verpflichtung ableiten, zu tun in
seinem Kreise, was seine Pflicht. Und seine Pflicht tun ist alles
tun, was er leisten kann. Alte und Junge, Männer und Frauen, alle
haben für die Befreiung der Menschheit die Pflicht, zu leisten, was
in ihren Kräften steht. Wäre denn sonst das Leben zu ertragen,
diese Ausbeutung auszuhalten, ein Leben, wo zehntausende fleißige
Menschen verkümmern, geistig und körperlich nicht zur Ent-
wicklung gelangen und einige Tausende in Reichtum und Überfluß
in Palästen hausen. Könnte man es denn mit ansehen, wie ganze
Generationen Kinder nicht zum Leben gelangen, weil sie im
Mutterleib verhungern, weil die Mutter hungert; wie Kinder in den
ersten Lebensjahren dahinsiechen, weil sie nichts zu essen haben,
daß es keine alten Leute gibt, weil sie zu früh sterben, und Junge
schon alt sind in Jahren, in welchen die Besitzenden erst an-
fangen, zu leben, wenn wir nicht die Überzeugung hätten: so wird
und darf es nicht bleiben. Wir sind nicht allein da, die Opfer dieses
kapitalistischen Staates zu bilden, die Arbeiterschaft ist da, diese
60 Zur Parteigeschichtc.
Zustände zu ändern. Wäre nicht das Bewußtsein in uns, alles zu
tun, um die heutigen Zustände hinwegzuschaffen und an ihrer
Stelle andere Zustände zu schaffen, wir könnten nicht leben, wir
würden verzweifeln, müßten uns verachten und verkommen. Mit
dem Verfluchen der heutigen Zustände allein ist nichts gemacht!
Es gibt viele, die glauben, wenn sie nur unzufrieden sind, nur
fluchen, damit sei schon alles geschehen. Der kapitalistische
Klassenstaat sind nicht die Mauern von Jericho, die die Juden
durch Blasen stürzten, das sind mächtige Burgen, ausgestattet mit
modernen Waffen, die die Arbeiterklasse ihnen lieferte. Diesen
Mächten gegenüber ist mit dem Ballen der Faust in der Tasche
nichts getan. Der Bauer, der Gewerbetreibende wird immer mehr
proletarisiert, trotz den Anwälten, die vorgeben, sein Interesse zu
vertreten. Immer mehr Kleinbauern gehen mit der Kaffee- und
leider oft auch mit der Branntweinflasche in die Fabrik. Ihre
Existenz schmilzt schneller als der Schnee. Aber derselbe kapita-
listische Prozeß, der die Arbeiter in den Fabriken zusammenführt,
kann die Ausbeutung nicht organisieren, ohne gleichzeitig die
Arbeiter zu organisieren. Wir sehen in überlegener Weise, wie
täglich gearbeitet werden muß, man zeigt uns, wie aus kleinen
Gruppen große Armeen werden, wie wir uns zu schulen haben.
Und das hat bewirkt, daß unsere Organisationen etwas sind,
worum uns unsere Gegner beneiden. Wie wäre es erst, wenn wir
alle täten, was wir tun können. Vieles ist geschehen, was man
sich vor 30 Jahren noch nicht vorstellen konnte, aber noch ist viel
zu tun, die Not brennt in allen Hütten. Momentan haben wir in
Österreich verhältnismäßig günstige politische Zeiten. Nicht etwa,
daß die Regierung einen Anfall von Vernunft bekommen hätte, so
etwas gibt es in Österreich nicht, daß die Besitzenden human,
menschlich geworden wären; nein. Wenn es besser geworden ist,
so wegen zweier Faktoren. Bessere ökonomische Existenz-
bedingungen durch eine gewisse Zeit und darin, daß die Sozial-
demokratie geerntet hat, was durch 30 Jahre geackert, gepflügt
und gesät wurde. Manche Saat ist verkommen, noch ehe sie zu
keimen begonnen hat. Viele Samenkörner haben spät, aber doch
zu keimen begonnen. Seit der ersten Maifeier im Jahre 1890 ist es
mit der österreichischen Arbeiterbewegung Schritt für Schritt
vorwärtsgegangen. Wir haben uns das Vereins- und Ver-
sammlungsrecht, so ziemlich die Preßfreiheit und insbesondere das
Koalitionsrecht erobert. Wenn auch die Behörden manchmal
Seitensprünge machen, unter dem Einfluß reicher Fabrikanten sich
hie und da einen Mißbrauch der Amtsgewalt zuschulden kommen
lassen, wer die Zustände mit den siebziger und achtziger Jahren
vergleicht, wird den Unterschied sofort erkennen. Und wir haben
uns das große politische, das allgemeine Wahlrecht erkämpft.
Unsere 89 Abgeordneten können Österreich nicht umkrempeln,
dazu sind sie unter 516 zu wenig. Aber eines können sie tun: Jedes
Attentat auf das Recht der Arbeiter ist heute unmöglich. Wir,, die
Internationale, in der Mitte der Nationalen im Parlament sind die
Enthüllung des HuRO-Schmidt-Denkmals. ()1
Bürgschaft für die Freiheit und das Recht des Arbeiters. Wfcnn
so weit gekommen ist, dürfen wir dennoch nicht stille sein und
ruhen. Wir Alten haben die Verpflichtung, es den Jungen zehn-
und hundertmal zu sagen: Ihr habt die Verpflichtung, zu kämpfen,
denn ihr habt es viel leichter wie wir. Es sind annähernd 2\ Jahre,
daß ich hier war. Viele von denen, die damals mit uns waren, sind
nicht mehr unter den Lebenden; denen möchte ich vergönnen, die
Kinder zu sehen mit ihren roten Schärpen und Krawatten, wie sie
voll Stolz sagen: Mein Vater ist auch Sozialdemokrat, sie, die in
einer Zeit gelebt haben, wo kein rotes Schnupftuch geduldet
wurde, wo die in den Kerker geworfen wurden, die als Menschen
leben und kämpfen wollten. Es geht vorwärts, aber jeder muß alles
einsetzen, er ist es seinen Kindern schuldig, daß sie in ihren Hoff-
nungen nicht betrogen werden. Wir Alten sterben einer nach dem
anderen, der eine da, der andere dort. Beneidenswert, der mitten
im Kampf stirbt, wie unser Hugo Schmidt, dessen Leben erfüllt
war von Arbeit bis zum letzten Atemzuge. Wir haben nicht zu
trauern, zu klagen: Wir wollen uns die Hände reichen und zu-
rufen: Hugo Schmidt, du bist tot, aber dein Gedanke lebt in uns
fort! Wollen wir diesem Gedanken Leben verleihen, dann muß er
in der Brust eines jeden Arbeiters Energie, Klugheit, Offenheit und
Aufrichtigkeit auslösen. Das kämpfende Proletariat braucht viele
Tugenden und Eigenschaften und eine, die notwendigste, wird am
wenigsten geschätzt: Wahrheitsliebe gegenüber dem eigenen
Freunde. Leute, die zum Sturm reden und zum Sturm führen, sind
tapfer. Aber die nicht allein gegen den Feind tapfer sind, die auch
den Mut haben, dem Freunde die Wahrheit zu sagen, das sind die
wertvollsten, die besitzen eine besondere Art der Tugend, die
Tapferkeit. Und Hugo Schmidt besaß nebst seinem Mut, Besonnen-
heit und Kaltblütigkeit diese Eigenschaft in besonders hohem
Maße. Und in diesem Gedanken wird man von ihm immer sagen:
Was Hugo Schmidt war, war er als Sozialist. Der Gedanke des
Sozialismus hat sein ganzes Leben ausgefüllt. So denken wir
seiner am besten, wenn wir ein Hoch auf die Internationale aus-
bringen und uns hier das feierliche Versprechen geben, daß wir alle
in diesem Gedanken kämpfen, leben und sterben wollen.
62 Klerikalismus und Schule.
Klerikalismus und Schule.
Der Liechtensteinsche Schulantrag.
Versammlung am 4. Februar 188 8*).
Wir in dieser Versammlung sind ja ganz klar und einig über
unsere Stellung zu dem Gesetz. Aber, ohne Zweifel, haben gewisse
Kreise des Volkes eine andere Ansicht darüber. In den Bauern-
gemeinden agitieren nicht nur die Pfarrer, sondern auch die
Bürgermeister mit Erfolg f ü r den Entwurf.
Darauf mache ich Sie aufmerksam, und warum ist es so? Dali
das heute so ist, das ist die Schuld jener, welche dieses Gesetz
gemacht haben, unser altes Volksschulgesetz; das ist die Schuld
jener Bourgeoisie, die uns eine derartige liberale Gesetzgebung ge-
schaffen hat. Das will ich Ihnen beweisen. — Es gibt niemand, es
*) Am 25. Jänner 1888 brachte Prinz Alois Liechtenstein, damals noch
Abgeordneter der Bauern von Hartberg in Steiermark, einen Gesetzentwurf
ein, der die interkonfessionelle Schulgesetzgebung beseitigen und die kleri-
kale Schule einführen sollte. Der § 1 erklärte rundheraus: Die Volksschule
hat die Aufgabe, mit den Eltern die Kinder nach den Lehren der Religion
zu erziehen und sie in diesen sowie in den für das Leben nötigen elemen-
taren Kenntnissen und Fertigkeiten zu unterrichten und auszubilden. Die
Schulpflicht wurde von acht auf sechs Jahre, bei fünf Unterrichtstagen in
der Woche, herabgesetzt, der Kirche wurde ein bedeutendes Mitaufsichts-
recht erteilt, die Lehrer sollten das Glaubensbekenntnis der Schüler teilen.
Die gesetzlichen Bestimmungen über die Lehrerbildungsanstalten blieben
den Landtagen vorbehalten. Am 30. Jänner überreichte die Bischofskonferenz
dem Unterrichtsminister ein von allen Bischöfen unterzeichnetes Memo-
randum für die konfessionelle Schule. Zugleich wurde von den Kanzeln die
Agitation für eine Petition zugunsten des Antrages Liechtenstein eingeleitet.
Selbstverständlich erregte dieser klerikale Vorstoß sowohl im Bürgertum
wie besonders in der Arbeiterschaft große Erregung und es wurden überall
Versammlungen veranstaltet. Am 4. Februar fand eine Massenversammlung
beim Schwender statt, die der politische Verein .,Wahrheit" einberufen
hatte. L e i ß n e r eröffnete die Versammlung, Grosse wurde zum Vor-
sitzenden gewählt. F o r t e 1 k a referierte. In der Debatte kam auch
Adler zu Worte, nach ihm Pernerstorfe r. Die Redner wurden vom
Polizeikommissär wiederholt unterbrochen, die Resolution beanstandet.
Der Antrag Liechtenstein beschäftigte die Öffentlichkeit zwei Jahre
lang. Die Regierung hatte auch eine Vorlage ausgearbeitet, die aber von
den Kirchenfürsten als nicht weit genug gehend abgelehnt wurde.
Über die weiteren klerikalen Schulanträge siehe die Bemerkungen in
Bd. VIII, Seite 374 und 436.
Der Liechtensteinsche Schulantr«
gibt nicht einen Vater, der so borniert wäre, daß er sagt: Ich will,
tlaLi meine Kinder weniger wissen; es gibt keine Eitern, welche
sagen: wir wollen unsere Kinder in Blödsinn aufziehen. Aber es
gibt etwas anderes: es gibt Eltern, (iemeüiden, welche unter dem
Druck von ökonomischen Verhältnissen stehen, und deren öko-
nomische Vorteile in Widerspruch gesetzt wurden zu einer wirk-
lichen Volksschule, zu unserer Volksschule hier in Österreich und
in den meisten anderen Stauten, eben darum, weil die Lasten der
Schule auf die Gemeinden übergewälzt wurden. Darum ist es
so weit gekommen, daß die Bauerngemeinden, die allerdings an
sich schon nicht sehr begeistert sind von dem Wert des Wissens,
in dieser mangelnden Begeisterung durch ihre Pfarrer bestärkt,
wenn nun auch der Geldkasten ins Spiel kommt. Feinde unserer
Schule werden.
Und das war die Schuld der Bourgeoisie, das war die Schuld
der liberalen Gesetzgebung.
Eine unentgeltliche Volkschule, eine unentgeltliche Volks-
bildung, wie wir sie hier wollen, bedeutet nicht allein, daß der
einzelne kein Schulgeld zahlt, sondern bedeutet, daß jedem das
Maß von Wissen von Staats wegen ermöglicht und zugeführt wird,
welches unsere Gesellschaft, unsere Kultur zu bieten vermag, daß
das jedem einzelnen zugänglich gemacht wird.
Es ist nicht wahr, daß Wissenschaft und Kultur, daß die
geistigen Errungenschaften, daß sie, wie man von der Anhäufung
ökonomischer Güter sagt, das Arbeitsprodukt von einzelnen Be-
sitzenden sind: sondern es ist klar, die Bedingungen für jede
Kultur, für jede neue Erkenntnis, und wenn sie der einzelne Ge-
lehrte auf seiner Sternwarte macht, sind die Arbeit des gesamten
Volkes. Und das Volk hat daher das gute Recht, auch hier sein
volles Arbeitsprodukt für sich zu verlangen.
Sie sehen also, auf der einen Seite haben die liberalen Parteien
die Bedingungen geschaffen, durch die weite Volkskreise in Wider-
spruch gesetzt wurden zum Fortschritt, sie haben aber noch ein
Weiteres getan, sie haben das wenige, was sie getan haben, nur
halb und schlecht getan.
Man spricht soviel von Glaubenslosigkeit des Bürgertums,
man spricht soviel von dem frechen Mut gegen alle Autorität,
geistige Autorität, von ihrer revolutionären Gesinnung gegenüber
der Kirche. Aber es ist fürwahr nicht viel daran; das ist zu Hause
für die vier Wände; hinaustragen wollen sie es nicht lassen; denn
sie wissen ja, wenn diese „aufrührerischen" Gedanken im Volke
sind, bleiben sie vor der Bourgeoisie nicht stehen.
Aber die anderen. Die Partei, welche diesen Antrag vorgelegt
hat, richtet sich eigentlich von selbst. Eine jede Partei, eine jede
Anschauung — und ich respektiere jede, wenn sie mir noch so
entgegengesetzt ist — , sagt wenigstens: „Du hast nur darum
meine Anschauung nicht, weil du zu wenig gelernt hast." Die
klerikale Partei aber sagt: „Ihr seid nicht unserer Anschauung.
64 Klerikalisinus und Schule.
weil ihr zuviel gelernt habt, ihr müßt weniger lernen!" Eine solche
Partei ist durch sich selbst gerichtet. Aber wollen wir uns dies
ein bißchen ansehen. Es wurde bereits vom Referenten ausgeführt,
daß das neue Schulprogramm sehr viel Religion und Singen und
weniger Geschichte, Geographie, Zeichnen usw. enthält. Es ist
aber noch eines. Es soll das Kind anstatt acht Jahre nur sechs
Jahre in die Schule gehen, der Schulunterricht soll mit dem
zwölften Jahre aufhören und nur in einem Sonntags-Wiederholungs-
unterricht fortgesetzt werden.
Nun könnte man allerdings vom hygienischen, vom medi-
zinischen Standpunkt sagen: Ja, das Alter von sechs Jahren ist
für Kinder, besonders für Kinder von Eltern, die nicht gut genährt
sind, zu zeitlich, um sie in die Schule zu bringen; es könnte für
ihre physische Entwicklung notwendig werden, bei acht Jahren
zu beginnen. So würden wir sagen, wenn wir nicht wüßten, daß,
wenn der Schulstock aufhört, die Hungerpeitsche beginnt; daß
unsere Ordnung es erzwingt, daß die Kinder aus der Schule in
die Fabrik, in die Werkstätte getrieben werden, wenn nicht auf
die Landstraße als Vagabunden.
Man könnte also sagen, wir lassen die Kinder erst mit acht
Jahren beginnen, wo sie dann bis zum 16. oder 18. Jahre, wie es
das sozialistische Programm verlangt, in allen Künsten und Wissen-
schaften unterrichtet werden. Eine solche Beschränkung, ein
solches Wegschneiden nach unten hätte möglicherweise einen Sinn,
darüber ließe sich reden.
Aber diese Partei will oben beschneiden, die letzten zwei Jahre.
Nicht die ersten zwei Jahre, wo man Lesen, Schreiben, Rechnen
lernt, die letzten, wo man die Geschichte und Naturlehre lernt,
das sind die gefährlichen.
Nur werden Sie aber da einen eigentümlichen Widerspruch be-
merken: Fürst Liechtenstein wie seine Genossen sind nicht nur
Klerikale, sie sind auch Sozialreformer; ja, sie lassen sich viel
lieber bei diesem Namen nennen. Nun mache ich Sie aufmerksam,
diese Herren haben mit großem Eifer — allerdings nicht mit so
großem, wie für dieses Gesetz — , aber immerhin mit großem Eifer
eine Gewerbeordnung eingeführt und zur Fabrikgesetzgebung bei-
getragen, wo unter vielem anderen Wichtigen — wenn es auch
noch so lückenhaft — , Ausbeutungen schon weniger leicht sind
und noch viel weniger leicht wären, wenn sie ausgeführt werden
würde — wo unter den wichtigsten Bestimmungen auch die Be-
schränkung der Kinderarbeit, vom 14. Jahre angefangen, vorkommt.
Diese Beschränkung wird durch dieses Gesetz einfach aufgehoben.
Es ist eine geschichtliche Erfahrung in allen Ländern, daß die Be-
schränkung der Kinderarbeit nur durchzuführen ist durch die
Schulpflicht, daß nur der Lehrer imstande ist, die Aufsicht über die
Kinder durchzuführen, daß nur der Schulzwang der Hungerpeitsche
gewachsen ist.
Sie sehen, hier wird Fürst Liechtensein, der Sozialreformer,
von dem Fürsten Liechtenstein, dem Klerikalen, totgeschlagen.
Der Liechtenstei tische Schulantrag. 65
Und nun, meine Herren, es ist schon betont worden, wir
Sprechen niemand ZU Dank und niemand zu Nutzen.
Es ist Ja sehr wahrscheinlich, daß die eine wie die andere
Partei aus unserer Versammlung wird Kapital schlagen wollen.
Die Arbeiter, werden die Klerikalen sagen, haben die Bourgeoisie
beschimpft, und die Bourgeoisie wird sagen, sie haben dem An-
trag des Fürsten Liechtenstein kräftig opponiert, und beide, wenn
sie das sagen, werden recht haben und wir werden damit zu-
frieden sein.
Wir sind nicht in der Lage, unsere Stimmen in gründlicher
Weise geltend zu machen. Einen Einfluß auf die Gesetzgebung
haben wir nicht; wenn jemand im Parlament für die Arbeiterschaft,
für das Proletariat spricht, so tut er es, nicht weil ihn seine
Wähler hineingeschickt haben, sondern trotzdem ihn seine
Wähler hineingeschickt. Hier habe ich eine Rede des Abgeordneten
Kronawetter in der Hand, worin er selber erzählt, daß er
eine Petition mit 30.000 oder 300.000 Unterschriften, es kommt ja
für den Erfolg auf dasselbe hinaus, für das allgemeine Wahlrecht
in den Papierkorb des Abgeordnetenhauses überreicht hat.
Wir werden die Papierkörbe des Abgeordnetenhauses nicht
mehr füllen. Unsere Sache ist es nur, klarzumachen, was wir
wollen, was wir für richtig halten, um den anderen zu sagen, daß
wir sie für die Folgen verantwortlich machen.
Uns fällt nicht ein, von der Bourgeoisie zu verlangen, sie solle
das sozialdemokratische Programm ausführen. (Wir wissen
übrigens, daß die Sozialdemokratie aus Resolutionen gestrichen
werden kann, aber nicht aus der Weltgeschichte, und wir lassen
uns darum gewisse, harmlose Striche ruhig gefallen . . .) Aber wir
können nicht dulden, daß, wenn die Bourgeoisie schon unser Pro-
gramm nicht ausführt, sie so feige ist, ihr eigenes Programm nicht
auszuführen.
Und sehen Sie, wenn im Krieg der feige Soldat nicht ins Feuer
will, da ist es vorgekommen, daß ein energischer Feldherr hinter
seiner Armee hat Kanonen auffahren lassen, Diese Rolle spielen
wir heute gegenüber der Bourgeoisie.
Das ist das einzige, was wir zu sagen gehabt haben.
Sie sehen, wir fürchten uns nicht, und wir haben es auch nicht
notwendig, zu zeigen und zu sagen, was wir wollen, aus Furcht
vor Ruhestörungen. Es ist eigentümlich, die anderen Parteien
dürfen jede so viel Versammlungen abhalten, als ihr Herz begehrt,
und sie fürchten sich, Versammlungen abzuhalten; und wir fürchten
uns gar nicht, und wir dürfen fast gar keine Versammlungen ab-
halten.
Ich glaube, daß man sie uns darum nicht abhalten läßt, \v e i 1
wir uns nicht fürchten.
Noch ein letztes Wort. Ich bin nicht der Ansicht, daß dieser
Antrag durchgehen wird. Nicht etwa deshalb, weil ich glauben
würde, daß im Abgeordnetenhaus sich nicht für alles eine Ma-
Adlcr, Briefe. XI. Bd. 5
66 Klerikalismus und Schule.
jorität fände, sondern darum, weil eine Macht es nicht wollen wird,
eine Macht, die heute so ziemlich die einzige ist, welche wünscht,
daß das Volk physisch gesund und auch geistig gesund ist. Das ist
das Militär. Wir hätten heute noch keine Fabrikgesetze, trotz allen
Lamentos von rechts, trotz aller Deklamationen von Recht, aller
freiheitlichen Phrasen von links; wir hätten noch keinen Normal-
arbeitstag, wenn nicht die Assentierungsresultate wären, denn,
wenn es so fortgeht, haben sie bald keine Soldaten mehr.
Das ist etwas, was gewirkt hat, und schon hat diesem Gesetz
gegenüber der Kriegsminister Stellung genommen und es wurde
konstatiert, daß beim Soldaten Lesen, Schreiben und Rechnen, ein
gewisses Minimum an Wissen, eine sehr gute Sache sei, deswegen
weil sie Unteroffiziere brauchen. Und das Gesetz wird deswegen
nicht durchgehen. Denn Unteroffiziere brauchen sie! Daß wir
Menschen brauchen, das natürlich ist dabei Nebensache. (Leb-
hafter Beifall)
Die Los-von-Rom-Bewegung.
Versammlung, 11. April 18 99*).
Ein bedeutender englischer Publizist hat sich heute bei mir über
die politische Lage in Österreich informieren wollen. Trotz aller
Mühe gelang es mir nicht, ihn über unsere Verhältnisse aufzuklären.
Wie soll man auch einen Ausländer in einem Vortrag über die öster-
reichischen Verhältnisse informieren, da sie kaum uns selbst begreif-
lich sind! Gestern hat in Wien die Vertrauensmännerversammlung
der Deutschen getagt, von der man eine Klärung hoffte, weil man
damit eine Wendung in der Politik erwartet hat. Man hat sich aber
damit begnügt, ein Subkomitee aufzustellen, und was ein Subkomitee
in Österreich bedeutet, ist leider allzusehr bekannt. (Heiterkeit.) Die
bürgerlichen Parteien sind nicht so weit, ein gemeinsames Programm
*) Im Kampfe gegen die Regierung Thun hatten die Alldeutschen die
Parole „Los von Rom" ausgegeben, die zugleich mit der Propaganda für
den Übertritt zum Protestantismus verbunden wurde. Die Abfallbewegung
griff immer weiter um sich und vergebens suchten ihr die Bischöfe durch
Hirtenbriefe und Predigten entgegenzutreten. Im April 1899 wurde ein
Hirtenbrief des Episkopats von allen Kanzeln verlesen und die Regierung
löste eine Reihe deutschnationaler Vereine wegen Förderung der Abfall-
bewegung auf. In einer Kundgebung der halbamtlichen „Wiener Abend-
post" wurde gerade am 11. April die Auflösung mit der Abfallbewegung
begründet. Die Sozialdemokraten standen der Los-von-Rom-Bewegung
neutral gegenüber. Wenn auch an einzelnen Orten, namentlich dort, wo
der Altkatholizismus Fuß gefaßt hatte, auch eine größere Anzahl Arbeiter
zu diesem übertraten, so begnügten sich die Arbeiter meist damit, den
Kampf gegen den Klerikalismus zu führen, oder wie es Schuhmeier
formuliert hatte: Nicht Los von Rom! sondern Los gegen Rom! Übrigens
wurde das Ergebnis der Los-von-Rom-Bewegung allgemein sehr über-
schätzt. Als Ziel hatte Schönerer angegeben, zehntausend Seelen dem
Katholizismus abspenstig zu machen. Bis Ende 1901 sind nach der
Die Los-voji-Rom-Bewegung. '"
aufzustellen, weil man eine solche Frage nicht vom Standpunkt d
llerrsclicns über andere, sondern nur von dem der (ileichberechti ■
gung aufstellen kann. Wie soll denn von Leuten, die vom nationalen
Kämpft leben, die nationale Frage gelöst werden? Seihst die bürger-
lichen Interessen werden infolge des nationalen Kampfes geschädigt.
Um einen Umschwung im demokratischen Sinn herbeizuführen,
müßte sich das deutsche und tschechische Bürgertum vereinigen,
aber die Aussicht hiezu ist sehr gering. Man sucht auf deutschnatio-
naler Seite die sogenannte „L()s-v()n-Rorri"-Bewe(i:un£ ins Leben zu
rufen, und von vielen Seiten wurde erwartet, dal.» diese von den
Sozialdemokraten mit Enthusiasmus begrüßt werden wird. Diese
stehen aber der Sache sehr kühl gegenüber. Die Herrschaft des
Klerikalismus wird dadurch nicht beseitigt, daß einige tausend Leute,
die längst nicht mehr katholisch waren, Protestanten werden. Der
Klerikal ismus und seine Gefahr für Österreich steckt tief in den
Knochen, und der Charakter des Volkes wird durch eine Änderung
des Bekenntnisses, selbst wenn sie sehr umfangreich wäre, nicht ge-
ändert. Die Deutschnationalen streben die Herrschaft der Deutschen
an. wie sie vor dreißig Jahren bestand, vergessen aber, daß damals
nicht die Deutschen, sondern die deutschsprechende Bürokratie ge-
herrscht hat, und daß die Tschechen heute nicht mehr unterzukriegen
sind. Es muß eine Form gefunden werden, daß alle Nationen Öster-
reichs friedlich nebeneinander leben können, und da könnte Graf
Thun es von den Sozialdemokraten lernen, wie man alle Nationen
zu gemeinsamer Arbeit und zum Gefühl der Solidarität erzieht. Aber
unser Rezept kann er nicht anwenden, weil die erste Bedingung
ernsthaft demokratische Einrichtungen sind. Auf die Herrschaft der
Christlichsozialen in Wien übergehend, meint der Redner, daß es
damit bereits einigermaßen nach abwärts gehe. Selbst die Freunde
Dr. Luegers, der von den Sozialdemokraten immer als ein Komö-
diant angesehen wurde, müssen ihm nach seinem kommunalen Wahl-
schwindel sagen: „Diese Komödie hättest du dir ersparen können."
(Lebhafter Beifall.) Aber die Arbeiterschaft dürfe nicht warten, bis
..Evangelischen Kirchenzeitung" zur evangelischen Kirche 19.000, zur alt-
katholischen 8000 übergetreten. Wenn man diese Zahlen mit der Abfall-
bewegung infolge der Hetzreden des Bundeskanzlers Seipel nach dem
15. Juli 1927 vergleicht, gewiß nicht sehr viel. Aber sie regten doch die
Bischöfe sehr auf. Bekanntlich ist Körber Ende 1904 vom Hof zum Rück-
tritt gezwungen worden, weil er sich weigerte, gegen die Los-von-Rom-
Bewegung mit Gewalt vorzugehen.
In der Versammlung, in der am 11. April 1899 Adler im Weilandhof in
uer Brigittenau über innere Politik sprach, kam er — offenbar
gerade infolge der Kundgebung der „Wiener Abendpost" — auch auf die
Los-von-Rom-Bewegung zu sprechen.
Um jene Zeit machten die bürgerlichen Deutschen den Versuch, zu einer
gemeinsamen Politik zu kommen. Aber erst am 19. Mai 1899 gelang es
den Parteien der „deutschen (i e m e i n b ü r g s c h a f t" — Deutsche
Volkspartei, Deutsche Fortschrittspartei, verfassungstreuer Großgrund-
itz. Christlichsoziale - , zu einem einheitlichen nationalen Programm,
dem Dringst Programm, zu kommen, das auf der Idee der Vor-
Herrschaft der Deutschen beruhte.
68 Klerikalismus und Schule.
die Christlichsoziale!] durch die eigene Dummheit umgebracht wer-
den, sondern müsse durch energische Agitation den Untergang der
christlichsozialen Herrschaft soviel als möglich beschleunigen. Im
Staate wie in der Gemeinde ruht alle Hoffnung auf der eigenen Kraft
der klassenbewußten Arbeiterschaft. (Lebhafter allgemeiner Beifall.)
Die Maßregelung der Gewerbeschul-
lehrer.
Lehrerversammlung am 12. Oktober 190 2*).
Es ist eine der erfreulichsten Erscheinungen, daß die Lehrer des
Volkes anfangen zu wissen, was ihre Pflicht und Aufgabe
i s t. Ich stehe hier als Vertreter der sozialdemokrati-
schen Partei, als Vertreter der Arbeiterklasse. Ich brauche
Ihnen nicht zu versichern, daß das, was die Lehrer bedürfen, um
ihrer Aufgabe als Lehrer der Kinder des Volkes vollauf zu genügen,
von uns als eine notwendige Bedingung der politischen Entwick-
lung unseres Landes angesehen wird. Wir kommen nicht zu Ihnen,
um Sie für unsere Partei zu gewinnen, wir versprechen Ihnen
nichts, um von Ihnen politische Unterstützung zu erlangen. Was
wir tun — wir sprechen es offen aus — , tun wir durchaus nicht
ihnen zuliebe, wir tun es uns zuliebe, wir tun es zu-
liebe den Kindern der Arbeiterklasse. (Beifall.) Wir
erwarten von Ihnen weder politische Hilfe, noch rechnen wir darauf,
daß auch nur ein einziger von Ihnen zuliebe der Unterstützung der
Sozialdemokraten irgendeine politische Konzession
macht. Im Gegenteil. Wir kämpfen dafür, daß Ihnen die Möglichkeit
geboten werde, unabhängige, freie Männer zu sein. Ich
war Landtagsabgeordneter nur sehr kurze Zeit; aber die kurze
Zeit hat genügt, um mir die Gesellschaft ein bißchen aus der Nähe
anzusehen (Heiterkeit), mit der wir es zu tun haben. Aber so wenig
schmeichelhaft die Meinung war, die ich von vornherein gehabt
*) Sämtliche freisinnigen Lehrervereine Wiens hatten für Sonntag den
12. Oktober in Wimbergers Saal eine Lehrerversammlung einberufen mit
der Tagesordnung: „Die Schule und der Landtag. — Die Maß-
regelung der Gewerbeschullehre r." Der Vorsitzende, Ge-
meinderat H o h e n s i n n e r, Präsident des Reichsbürgerschuilehrerbundes.
verwies darauf, daß zu Beginn des Schuljahres fünfzig Lehrer von
der Gewerbeschulkommission Knall und Fall ent-
lassen wurden: Noch nie ist in den Kreisen der Lehrerschaft die Welle
des Unwillens gegen die Christlichsozialen so hoch gegangen: die Lehrer
sind auf das tiefste empört über den neuen Gewaltakt der Christlich-
sozialen. Auf dem flachen Lande ist eine offene Empörung gegen die
Christlichsozialen ausgebrochen; sollen wir uns von den Bewohnern des
flachen Landes beschämen lassen? (Beifall.) Unsere Parole muß lauten:
„Hoch die freie Schule!" (Lebhafter Beifall.)
Nachdem der Lehrer Hellmann über den Punkt „Schule und
Landtag" referiert und Kronawetter dazu gesprochen hatte, kam
Dr. Adler zu Worte.
Die Maßregelung der Gowerbeschullehrer, ,,(*
habe, sie ist weit üb ertroffen worden. Ich habe es nicht
für möglich gehalten, daß es einen solchen brutale n Z y n i S-
in n s gibt. Es hat ein Beispiel segeben, das allein schon die ganze
Partei charakterisiert und sie brandmarkt. Ich erinnere Sie an den
von Dr. Of ner eingebrachten Antrag! der für die Unterlehrer eine
Kündigungsfrist bestimmen sollte, eine Sache, von der man an-
nehmen mußte, daß sie ohne Debatte als g a n z sei b s t-
verständlich erledigt werde, und ich gestehe Ihnen, ich war
so naiv, es anzunehmen, und habe dem Geßmann gesagt: „Schreien
Sie nicht, Sie werden den Antrag schließlich docli annehmen
müssen", und ich habe mich bitter blamiert. (Heiterkeit.) Die Leute
haben die Schamlosigkeit gehabt, den Antrag, den jeder Volks-
vertreter, der das Interesse der Lehrer und Kinder wahrt, annehmen
müßte, brüsk abzulehnen. (Pfuirufe.)
Fast jede Partei von bürgerlichem Aussehen hat ihre Macht bis
zu einem gewissen Grade mißbraucht. Dieser schamlose, rück-
sichtslose Mißbrauch, dieser Cäsarenwahnsinn, der
aber in dieser Partei lebt, ist ein Punkt, der uns bestimmt, sie
mit dem Aufwand aller Kraft zu bekämpfen und auf diesem Wege
mitzunehmen, wer sich uns anschließen will. Der andere Punkt i s t
noch viel schlimmer. Von dieser Partei geht aus eine Ver-
giftung und Korrumpierung des öffentlichen
Geistes, es geht aus eine Verlogenheit, eine Erziehung zur Lüge,
eine Mißachtung alles dessen, was jedem Menschen, gehöre er
welcher Partei immer an, hoch und heilig ist. Es gibt in Wien bald
keinen städtischen Beamten mehr, der das Bewußtsein seiner
Pflicht hätte. Sie haben die Gesamtheit der Beamten dahin gebracht,
daß sie, die Verwaltungsbeamte der Gesamtheit sind, um das
Butterbrot eines Avancements für die Willkür jeder Partei zu haben
sind. Wer die inneren Vorgänge des Magistrats kennt und auch nur
weiß, was jetzt bei den Wahlen wieder geschehen ist, der weiß, daß
das nicht geschehen könnte ohne die gänzliche Verwahr-
losung der Gewissen dieser Leute. Diese Korrumpie-
rung des öffentlichen Geistes ist ein systematisches Komplott der
klerikalen Partei im Bunde mit der Plutokratie. Ausgezogen sind
sie gegen die jüdische Plutokratie, und geführt haben sie uns i n
die Knechtschaft der klerikalen Plutokratie*).
(Lebhafter Beifall.)
Ich bin nicht hieher gekommen, um lange Reden zu halten. Ich
weiß, was Sie wollen, und Sie wissen ungefähr, was ich will. Sie
können versichert sein, daß jeder Sozialdemokrat, der in einem
Vertretungskörper sitzt, für Ihre Forderungen eintritt, ja Ihr
Programm als ein Minimalprogramm ansehen wird. Die
Forderungen der Sozialdemokraten gehen viel weiter. Wir
erschrecken nicht davor, Utopisten genannt zu werden, wir meinen
in der Tat, daß es notwendig ist, daß das Recht der Kinder
auf Ernährung und Erziehung gewahrt wird, und zum
*) Seither haben sie sich auch mit der kapitalistischen Plutokratie ver-
söhnt.
70 Klerikalismus und Schule.
Rechte des Kindes gehört in volle m Umfang das Recht
der Lehrer. (Stürmischer Beifall.)
Der Landtag und die Wissenschaft.
Versammlung am 4. November 190 3*).
Professor Ebner hat seinen Vortrag mit der Hoffnung auf die
kommende Wahrheit geschlossen. Die Wahrheit ist eine große
Sache, aber sie siegt nur, wenn man ihr siegen hilft! Wir leiden
in diesem Lande nicht nur unter der konservierten Dummheit
träger Massen, die von gewissenlosen Demagogen benützt wird ;
noch viel mehr an dem Mangel an Mut in allen anderen Schichten.
Nicht nur die christlichsozialen Demagogen sind in diesem Falle
die Schuldigen, mitschuldig sind andere, vor denen viele sonst den
Hut sehr tief . ziehen. Schuldig der Feigheit ist der Statt-
halter K i e Im a n s egg, s ch u 1 di g ist der Unterrichtsminister
Harte 1, -schuldig ist der Ministerpräsident K ö r b e r! Die
Herren wissen ganz gut, wie verlogen diese Agitation ist. Wrir leiden
unter der Pflichtvergessenheit unserer hohen Be-
amten! Diese Versammlung ist erfreulich, weil sie vielen wieder
neuen Mut gibt. Ich habe seit acht Tagen die fürchterliche Pflicht,
*) Ende Oktober 1903 begannen die Christlichsozialen im niederöster-
reichischen Landtag wieder einmal einen Feldzug gegen die Universität.
Bielohlawek, Gregor ig und Schneider fingen mit einer Debatte
über die V i v i s e k" t i O'ti an und beschimpften die Professoren und die „jüdi-
schen Ärzte". Als das medizinische Professorenkollegium und die Ärztekammer
sich dagegen verwahrten, daß eine dazu nicht berufene Körperschaft über
die Frage der Tierversuche beschließe, brachte Abgeordneter Steiner
einen Antrag auf gesetzliche Überwachung des Obduktionswesens ein.
wobei in der Debatte wieder vom Statthalter Grafen Kielmansegg ruhig
hingenommene Beschimpfungen der Professoren erfolgten. L u e g e r
brachte einen Antrag ein, die „anmaßende Erklärung der Professoren
zurückzuweisen..." und begründete den Antrag mit Schimpfereien über
die „Tier- und Menschenschinder". Weiskirchner, Schneider und
P a 1 1 a i gingen gegen die Kliniken los, worauf Lueger den Vogel abschoß
•mit dem geflügelten Worte, solange ein Gelehrter nicht einmal einen
Grashalm konstruieren könne, sei er ein Pfuscher und Pfründner . . .
In einem Schreiben an den Landmarschall Abt Schmolk vom 3. November
erklärte der Rektor Escherich, daß er als Virilist im Landtag nicht mehr
sprechen werde, solange nicht der Wissenschaft und der Universität die
gebührende Achtung entgegengebracht werde. Zugleich legten die Mit-
glieder der Ärztekammer als Protest dagegen, daß der Statthalter die Be-
schimpfungen der Ärzte nicht zurückgewiesen hatte, ihre Stellen nieder.
Aber am schändlichsten war dann die schmähliche Hetze, die die
Christlichsozialen gegen den Professor Politzer einleiteten. Professor
Politzer, ein bahnbrechender Forscher auf dem Gebiet der Ohrenheilkunde,
dabei Ohrenarmenarzt in den Gemeindeanstalten, hatte, da ihm die Unter-
richtsverwaltung kein Universitätslaboratorium einrichtete, sich schon bald
nach seiner Habilitierung als Privatdozent ein privates Laboratorium für
Anatomie und Pathologie der Gehörorgane in seiner Wohnung eingerichtet
und schon im Jahre 1862 hatte ihm der Wiener Magistrat die Erlaubnis
Der Landtag und die Wissenschaft 71
diese Debatten im Landtag, diesen Weichsel zopf von Lügen, liii-
wissenlieit und I lalhwahrlieiten ZU lesen und mir zu entwirren.
(Zwischenruf: Ekelhafte Arbeit!) Das ist ekelhaft. Aber an den
Ekel niuü man sich in Österreich gewöhnen, sonst könnte man
liier Überhaupt nicht arbeiten. (Zustimmung.) Nehmen Sie den
heutigen Fall: Professor Politzer hat Hunderte von Ohren
• zum Heile der Menschheit! untersucht. Im Ländtag wird er
heute mit Angriffen und Beleidigungen überschüttet. Und was bleibt
als einziges Argument von der heutigen Debatte gegen Professor
Politzer übrig? Daß er einem Diener zu wenig Trinkgeld
g i b t. (Heiterkeit.) Von dem Vorgehen des Lueger und Konsorten
will ich gar nicht reden. Schließlich kann man vom Ochsen nur
Rindfleisch verlangen. (Heiterkeit.) Aber Herr Kielmansegg ich
verlange von ihm nicht zuviel (Heiterkeit) könnte anders auf-
treten, er bekommt sein Material vom Referenten fix und fertig
zugestellt. Die Lügen der Herren von der Majorität sind populär,
die Herren sind ja ganz schlau, wenn sie gegen die Spitäler hetzen.
Es gehört Mut dazu, dem auf Schritt und Tritt entgegenzutreten,
denn esfehlt ja sehr viel in unserem heutigen
Sanitätswesen. Wenn wir den Arbeitern fortwährend sagen
müssen: „Unsere Spitalzustände sind schlecht, die Ernährungsver-
hältnisse in unseren Spitälern sind mangelhaft", da wird es uns
gegeben, die in den Versorgungshäusern der Gemeinde befindlichen Ohren-
kranken zu untersuchen und nach ihrem Tode ihre Gehörorgane einer
wissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen. Jahrzehntelang übte er
diese Praxis. Im Jahre 1894 hatte aber ein Diener, der damit betraut war,
ihm diese Leichenteile zu bringen, in seiner Wut, daß ihm das Trinkgeld,
das er dafür bekam, zu gering erschien, eine Anzeige erstattet, aber nach
kurzen Schwierigkeiten war dem Professor wieder die alte Erlaubnis ge-
geben worden. Jetzt auf einmal, in ihrer Hetze gegen die Universität — An-
fang November 1903 — , brachten die Christlichsozialen diesen Fall entstellt
zur Sprache und Abgeordneter Leopold Steiner beschuldigte den Gelehrten,
er habe „gestorbenen Pfründnern diu Ohren ausgeschnitten und zu diesem
Zwecke die Leichenwärter bestochen". Darüber gab es, da Steiner auf die
öffentliche Erwiderung des Professors einen Dringlichkeitsantrag auf gesetz-
liche Regelung des Obduktionswesens einbrachte, am 4. November eine aus-
führliche Politzer-Debatte, in der der Abgeordnete S e i t z, der sich der Uni-
versität annahm, von Bielohlawek, Geßmann, Steiner und
Lueger beschimpft wurde.
Am 4. November fand aber auch eine öffentliche Versammlung mit der
Tagesordnung „Die Universität und der Landtag" statt, in der
zahlreiche Universitätsprofessoren anwesend waren. Den Vorsitz führte
Dozent Dr. Ludo Hartmann, das Referat erstattete Professor
v. F b n e r. In der Debatte sprach auch Adler.
Außerdem sprachen noch Dozent Dr. Fröhlich und Professor T o 1 d t,
worauf folgende von Dr. Lostorfer beantragte Resolution einstimmig
beschlossen wurde:
Die Versammlung, entrüstet über die gehässigen und wahnwitzigen
Angriffe der Landtagsmehrheit gegen die medizinische Fakultät und die
Ärzteschaft, sieht in dem Versuch der Zerstörung des Vertrauens auf
die klinischen Krankenanstalten und die Ärzte eine schwere Schädigung
höchster Kulturinteressen und der armen Bevölkerung Wiens.
72 Klerikalismus und Schule.
schwer fallen, den Arbeitern «leichzeitig klarzumachen: Die An-
griffe wider die Wissenschaft sind Verleumdungen! Es ist schwer,
den Leuten klarzumachen: nicht die Ärzte sind an den Mängeln
schuld, sondern eine knauserige Verwaltung! Ich bin heute im
Landtag mit Schmähungen überhäuft worden — Bestialität war das
wenigste (Heiterkeit), weil ich in der „Arbeiter-Zeitung" geschrieben
habe, jeder hat im gewissen Sinne die Pflicht, der Wissenschaft
seinen Körper zur Verfügung zu stellen! Jeder oder keiner! Das
bedeutet, daß das heutige System, in dem nur der Arme benützt
wird, verurteilt werden muß! Eines ist sicher: Den Kampf gegen
die Christlichsozialen kann man gar nicht führen oder — gründlich!
Wir müssen sie nicht nur bekämpfen, wenn sie offen lügen, sondern
auch, wenn sie Wahrheiten entstellen. S e i t z, der auf seinem
Platze steht, es ist der schlechteste Platz in ganz Österreich
(Heiterkeit), hält der ganzen Horde stand, trotzdem auch er — wie
der Herr Rektor Escherich — ein genügendes Maß von
Selbstachtung besitzt. Wenn man einen Posten auszufüllen hat, so
darf man sich eben die Pflichten nicht aussuchen. Hier,
wo ein Stück europäischer Schande ruchbar wurde,
hätten die Professoren sich auch öffentlich vor Europa
über den Herrn Unterrichtsminister äußern sollen.
Diese offene Stellungnahme hätte reinigender gewirkt als alles
Vornehmtun. (Stürmischer Beifall.) Heute war im Landtag nur von
Leichenschändung die Rede. Ich kann Ihnen sagen, was eine
Leichenschändung ist. Da ist kürzlich einem Arbeiter in einer Buch-
binderei die Hand von der Kreissäge abgeschnitten worden. Der
Chef gab den Auftrag: „Werfen Sie die Hand auf den Misthaufen!"
Dort haben sie später Arbeiter gefunden; die Arbeiter waren
empört, mit Recht! Aber glauben Sie mir, wenn sich ein Arzt diese
Hand geholt hätte, um sie zu untersuchen, die Arbeiter wären nicht
empört gewesen. (Zustimmung.) Ich schließe mit dem Wunsche,
daß Sie für die gute Sache auch dann eintreten mögen, wenn es sich
nicht allein um ein Gebiet Ihrer persönlichsten Interessen handelt.
(Stürmischer Beifall.)
Gegen die klerikalen Schulverderber.
Versammlung, 7. November 190 4*).
Wir sind zusammengekommen, um einer schweren Gefahr, die
uns alle bedroht, entgegenzutreten. Wir sind hier versammelt, nicht
allein um einer Partei, deren Führer durch Unwissenheit und Bru-
*) Als im Jahre 1904 der christlichsoziale Landesausschuß von Nieder-
österreich ein Defizit von drei Millionen Kronen feststellte und auch der
Wiener Gemeinderat vor einem Defizit stand, beschlossen die Christlich-
sozialen eine Landesbiersteuer von 1 K 70 h für den Hektoliter. Als Vor-
wand dafür wurde die Notwendigkeit der Gehaltsregulierung der Lehrer
genommen, die die Christlichsozialen schon seit Jahren hinausgeschoben
hatten. Die Gehaltsregulierung wurde auch beschlossen, aber während die
Biersteiier schon am 1. Jänner 1905 in Kraft trat, sollte der höhere Gehalt
Gegen die klerikalen Schulverderber. 7*
taiität, durch Gewissenlosigkeit und Stumpfsinn, durch syste-
matische VcrdinnmuiiK und Verrohung des Volkes das Äußerste
leisten, unsere Meinung zu sagen, nicht allein um die niederträch-
tigen Beschimpfungen abzuwehren, die diese Menschen gegen die
Arbeiterschaft und gegen ihren Vertreter im Landtag begangen
haben, sondern um einer ernsten Gefahr entgegenzutreten, Seit-
dem das Volksschulgesetz besteht, hat es einen Feind, die Kleri-
kalen. Seitdem man anfingt die Kinder des arbeitenden Volkes not-
dürftig auszustatten für den Kampf ums Leben, haben diese Kinder
einen Feind: die klerikale Partei, die sich heute die christlichsoziale
Partei nennt. Unermüdlich hat diese Partei, mit offener Agitation
und mit Intrige, gesucht, das bißchen Volksschule zu verderben,
zu untergraben, untauglich zu machen für ihren Zweck. Und als der
offene Einbruch in die Volksschule abgeschlagen wurde, da sagte
Lueger: Wir brauchen kein Gesetz, wir brauchen das Parlament
nicht; das machen wir uns schon selber. Und indem sie es sich
selber machen, statten sie den Tribut ab an die Klerikalen, die
ihnen geholfen haben, daß sie heute Wien und Niederösterreich be-
herrschen. Mit dem Gehirn der Arbeiter bezahlt
Dr. Lueger die Erlaubnis, die Taschen der
Arbeiter zu plündern. Das ist der Pakt und jetzt soll ein
Stück seiner Erfüllung kommen. Das ist die Gefahr, die uns Er-
wachsene angeht. Die Sozialdemokraten in allen Ländern sind mit
erst am 1. Juli ausbezahlt werden. Das Erträgnis der Biersteuer des ersten
halben Jahres mußte zur Sanierung der Landesfinanzen verwendet werden.
Aber nicht genug daran, wollte Geßmann die Gehaltsregulierung der Lehrer
wieder zum Anlaß einer Änderung der Schulgesetze nehmen. In der Land-
tagssession, die am 20. September 1904 begann, legte der Landesausschuß
ein neues Schulaufsichtsgesetz, ein Gesetz über die Rechtsverhältnisse der
Lehrer und ein neues Gesetz über die Schulerrichtung und die Schul-
erhaltung vor und ließ die Vorlagen trotz dem Protest der Lehrer und der
Öffentlichkeit am 18. Oktober im Schulausschuß und am 25. Oktober im
Landtag beschließen. Dadurch wurden nicht nur die Gemeinden und die
Schulräte entrechtet und alle Macht dem Landesausschuß gegeben, sondern
es wurde auch auf Grund des Gesetzes in Hunderten von Volksschulen
der Halbtags Unterricht eingeführt. Gegen diese Anschläge auf die
Schule kämpfte im Landtag allein mit Energie der einzige Sozialdemokrat
Abgeordneter S e i t z. Deshalb wurde er auch immer wieder von der
christlichsozialen Meute angepöbelt, ja der Abgeordnete Ernst Schnei-
der stürzte sich einmal mit erhobener Faust gegen Seitz und wurde von
einem wirklichen Angriff nur dadurch abgehalten, daß er im letzten
Augenblick doch Angst bekam, als Seitz in seine Tasche griff und drohte,
zu schießen, wenn er ihn anrühre.
Als Protest gegen diese Schulgesetze fand am 7. November eine
Massenversammlung im Hotel Savoy auf der Mariahilferstraße statt, in der
Adler referierte. Nach ihm sprachen Seitz und Schuhmeier. Nach
der Versammlung fand eine Demonstration vor der Wohnung des „Landes-
alkoholikers" Schneider statt.
K ö r 1) e r vermochte übrigens seine Nachgiebigkeit gegenüber den
Christlichsozialen nicht zu retten. Arn 30. Dezember mußte er zurück-
treten, weil die Thronfolgerchque empört war, daß er sich weigerte, gegen
die Los-VOn-Rom-Bewegung die Gerichte zu mobilisieren.
74 Klerikalisnuis und Schule.
mächtigeren Feinden fertig geworden, als die Leute sind, die heute
für eine Weile in Niederösterreich herrschen. Wir können uns
wehren. Wer aber wehrlos ist, wen wir nicht schützen können, das
sind die Massen der Kinder des Volkes, die preisgegeben sind ihren
Feinden. Ich habe vor kurzem den Brief eines Arbeiters erhalten.
Der Arbeiter schrieb: Was haben wir Arbeiter anderes als unsere
Arbeitskraft? Aber der Wert unserer Arbeitskraft hängt ab von
der Hand wie vom Hirn, und so greift man an unser einziges
Vermögen, indem man auf unser Hirn schlagen
will. Man greift auf das, was einzig den Fortschritt der Arbeiter-
schaft in der Zukunft ermöglicht.
Darum ist dieses Attentat auf die Schule um so gefährlicher, als
es zuletzt darauf hinausläuft, daß die ganze Verwaltung der Schule
in die Willkür, in die Diktatur einer kleinen Clique, die heute im
Lande und in der Gemeinde herrscht, gegeben wird. Darin liegt die
Perfidie und die Gefahr dieses Planes der Pfaffenherrschaft, daß
sie die Verwaltung der Schule in die Hände einer rücksichtslosen
Gesellschaft legt, die gewöhnt ist, mit den gemeinsten Mitteln des
Gesinnungsdruckes und der Inquisition zu herrschen, die ihre
Beamten und ihre Lehrer mißbraucht und sie zu elenden, ge-
drückten Werkzeugen ihrer Macht herabwürdigt, daß die Ver-
waltung der Schule Leuten überlassen wird, die vor jeder Gewalt
kriechen, die aber keinen Respekt haben vor dem einzigen, was
Achtung einflößt, vor dem freien Willen des Mannes, vor der
Persönlichkeit des Menschen. Leuten, die in bewußter, niederträch-
tiger Absicht Mann für Mann und Seele für Seele korrumpieren und
erniedrigen, bis nichts mehr da ist. als wehrlos gebrochene Leute
(lebhafter Beifall, Pfuirufe), bis diejenigen, die zum wichtig-
sten und höchsten Amte berufen sind, zu dem Amte,
die Kinder, das ist die Zukunft der Menschen, zu bilden, erbärm-
lich am Boden kriechen, bis ihnen das Rückgrat
gebrochen ist und ihnen alles weggenommen ist.
was den Wert des Menschen ausmacht, wie sie ja
heute schon daran sind, die Lehrer und Beamten zu drangsalieren,
bis hinunter zu den Massen der Arbeiter, die im Dienste der Kom-
mune und des Landes stehen, niederträchtigsten Gesinnungsterro-
rismus zu treiben.
Aber vergessen wir über den Schuldigen die Mit-
schuldigen nicht, mitschuldig in dem Grade, daß man sie
fürwahr die Hauptschuldigen nennen möchte. Solche Gesetze
können nicht gemacht werden, wenn die Regierung nicht will, eine
Regierung, die stark genug ist, in Innsbruck den Bürgermord*) nicht
nur geschehen zu lassen, sondern ihn geradezu anzustiften: eine
Regierung, die stark genug ist, um dort ihren frevelhaften und
*) Am 3. November 1904 wurde die italienische Rechtsfakultät in dem
Innsbrucker Vorort W i 1 1 e n eröffnet, abends kam es zu einem Kampfe
zwischen deutschnationalen und italienischen Studenten, es wurde ge-
schossen, die Fakultät gestürmt, Militär schritt ein und tötete einen
Demonstranten.
Gegen die klerikalen Scmilvefderber, T8
törichten Willen um den Preis von Menschenleben durchzusetzen,
obwohl dort in Innsbruck der einzige Punkt ist, über den die Natio-
nen des Landes des Sprachenstrcites einig sind, liberal! streiten
in Osterreich die Nationen um die Schule. Aber in Österreich sind
Deutsche und Italiener einige darüber, daß sie beide in Innsbruck
die italienische Universität nicht wollen. Und eine vernünftige
Regierung wäre glücklich, daß sie einig sind. Aber nein, (ierade
als ob dieser Körber von einem boshaften Teufel besessen wäre.
mußte mit frevelhafter Hand dieses Streitobjekt hingesetzt werden.
Und so ist das de wissen dieser Regierung mit dem
15 1 utc, das in Innsbruck geflossen ist, belastet.
Aber diese starke Regierung, die alles vermag, die es sogar ver-
mag, sich dem gesunden Menschenverstand und dem ausgesproche-
nen Willen des Volkes entgegenzusetzen, diese Regierung läßt in
Niederösterreich, ohne daß sie den Mund aufmachen würde, ein
Gesetz zustande kommen, von dem sie überzeugt sein muß. daß
es dem Interesse der Bevölkerung und der Kultur nicht nur, son-
dern auch dem Interesse des Staates entgegengesetzt ist. Diese
Regierung, die in Innsbruck soviel Courage hat, ist
in Wien so feig, und die an der Spitze stehen, die Herren
Körber und Hartel*), sie haben kein Wort des Einspruches gegen
diese Maßregel gehabt. Ja, sie haben nicht einmal den Mut der
Zustimmung. Denn ob das Gesetz sanktioniert wird, das soll nach
dem Willen des Herrn v. Körber das Schacherobjekt für
Monate hinaus bilden.
Von Seiner Exzellenz dem Statthalter**) von Niederöster-
reich (Gelächter) spreche ich nicht. Wozu soll man von dem armen
Herrn sprechen, der eine so traurige Rolle spielt. Aber für uns
steht die Sache so: Wenn es eine Tatsache ist, daß sich die Regie-
rung der Macht des Pfaffentums in Österreich, der Macht der reak-
tionärsten Elemente, die heute schon besteht und von der man sich
für die Zukunft noch mehr verspricht, wenn nämlich der Patron
des Katholischen Schulvereines***) der Patron von ganz Österreich
geworden sein wird, blind unterwirft, so ist es die Aufgabe der
Bevölkerung, die einsieht, daß hier eine Gefahr vorliegt, dieser
Macht, diesem Willen den Ausdruck des anderen Willens entgegen-
zusetzen. Obwohl das Bürgertum in weitem Umfang weiß, daß das
eine Gefahr ist — ich spreche nicht von denen, die so im Banne
der christlichsozialen Lügen sind, daß sie das Denken überhaupt
verlernt haben -—, so können wir auf eine Machtentfaltung dieser
bürgerlichen Elemente nicht rechnen, weil diese Leute sich mit der
christlichsozialen Partei, mit der sie Geschäfte machen, von der
sie Ämter kriegen, vertragen, und weil sie schließlich auch ihre
Ruhe haben wollen. Denn das Bürgertum kann alles, nur kämpfen
kann es nicht. Dazu ist es längst schon zu bequem geworden. Wenn
*) Der Unterrichtsminister Professor Ritter v. Hartel.
(*) Das war der nachmalige Ministerpräsident B i e n e r t h.
*) Der Thronfolger Franz Fe r di n a n d, der im April 1901 das Pro-
tektorat über den Katholischen S c h u 1 v e r e i n übernommen hatte.
76 Klerikalismus und Schule.
es jemand gibt, der ihnen Widerstand entgegensetzen kann, so ist
es ganz allein die Arbeiterklasse. Und sie ist auch die
nächste dazu, weil sie am schwersten dadurch betroffen wird
und weil sie am wenigsten der Verwüstung entrinnen kann, ob der
Angriff nun auf das Gehirn der Arbeiter oder auf ihre Taschen geht.
Symbolisch und in einem plastischen Bilde drückt sich das Ver-
hältnis heute schon im niederösterreichischen Landtag aus. Es zeigt
sich, daß die Minorität wohl ab und zu mit leiser Stimme versucht,
einige Einwendungen geltend zu machen, daß aber einen mächtigen,
entscheidenden, wirksamen und unbeugsamen Protest dort nur der
einzige Sozialdemokrat vorzubringen weiß, der in diesem Landtag
sitzt. (Hoch Seitz!) Und wir sind es dem Genossen Seitz schuldig,
der dort eine Aufgabe zu verrichten hat, von deren Schwierigkeit
sich viele von Ihnen vielleicht noch immer nicht den gehörigen
Begriff machen, der es über sicn bringt, nicht nur Arbeit zu leisten,
sondern allein in dieser Gesellschaft zu sein, was an sich schon für
jeden ehrliebenden Menschen ein Opfer ist, der nicht nur sein
Wissen und seine Energie, sondern auch seinen Mut dort einzu-
setzen weiß, wir sind es ihm schuldig, ihm den herzlichsten,
wohlverdienten Dank der arbeitenden Bevölke-
rung Wiens auszusprechen. (Stürmische, sich immer
wiederholende Rufe: Hoch Seitz!) Zu den Dingen, die am
schlimmsten aussehen, die aber nicht das Schlimmste sind,
gehört die rüde und ungebildete gemeine Diskussionsmethode
dieser Leute. Für einen Menschen, der gewohnt ist, mit „un-
gebildeten" Arbeitern zu verkehren, ist es geradezu ein un-
erhörtes Opfer, mit diesem ungebildeten Gesindel
verkehren zu müssen. Wenn dieser Herr Schneider
(laute Pfuirufe) in seinem chronischen Alkoholismus eine Angriffs-
bewegung macht, so hat gerade er die meisten Milderungsgründe
für sich. Denn würde er wegen dieser niederträchtigen Tat vor
Gericht kommen können, so würde er ja mit gutem Rechte auf Un-
zurechnungsfähigkeit plädieren können. Allerdings muß man ge-
stehen, unter diesen Umständen bekommt man wirklich das Be-
dürfnis nach einem alkoholfreien Landtag. Das wäre höchst nütz-
lich. Aber ich fürchte, daß das nur die Folge hätte, daß die Herren
schon angesoffen hinkämen. (Heiterkeit und Beifall.)
An demselben Tage, an dem dieser Schneider gegen Abgeord-
neten Seitz versucht hat, handgreiflich zu werden, ist in der fran-
zösischen Kammer der Kriegsminister von einem Parteigenossen
des Herrn Schneider tätlich überfallen*) und in feigster Weise miß-
handelt worden. Nun kann man meinen, was in der französischen
Kammer geschieht, kann auch im niederösterreichischen Landtag
passieren. Denn der Landtag ist nicht so ehrgeizig, daß er nobler
*) Der Abgeordnete Syveton hatte den 66jährigen Kriegsminister Gene-
ral Andre von hinten überfallen und geohrfeigt, weil er die klerikalen
Machenschaften an der Offiziersschule in Saint Cyr nicht dulden wollte,
weshalb der monarchistisch-klerikale „Figaro" einen Preßfeldzug mit an-
geblichen Enthüllungen eingeleitet hatte.
Gegen die klerikalen Schitlverderber. 77
sein will als die französische Kammer. (Heiterkeit.) Aber es ist
doch ein gewaltiger Unterschied. Vor allem ist der Angriff in Paris
VOI1 einem Mitglied der Minorität gegen ein Mitglied der Regierung
begangen worden, während hier die ganze ungeheure Majorität sich
auf den einen Mann stürzte. (Pfui!) Also schon moralisch ein ge-
waltiger Unterschied. Dann aber wurde die feige Tat des Syvcton
in Paris von der ganzen Kammer verurteilt, während wir hier ge-
sehen haben, daß der Herr Landinarschal 1*) (stürmische Pfui-
rufe), der, mit der doppelten Würde eines Würdenträgers des
Staates und der Kirche betraut, eine doppelte Verantwortung
fühlen sollte, ein feiges Werkzeug dieser Leute ist. Dieser
Mann hat ja zunächst denjenigen attackiert, auf den das Attentat
verübt wurde und Seitz hat erst Inkriminationen erheben müssen,
um zu erzwingen, daß er denjenigen, der sich so rüpelhaft be-
nommen hat, auch diszipliniert. Ich begreife vollständig, daß Ge-
nosse Seitz, der die steigende Unbändigkeit dieser Herren alle
Tage sieht, sich sagen mußte: Diesen Leuten ist alles zuzutrauen,
und ich bin gezwungen, wenn ich in den Landtag gehe, mich zu
rüsten, wie ich mich rüsten muß, wenn ich durch den Bakonyer-
wald gehe, wenn auch der Revolver keine parlamentarische Waffe
sein mag. Aber ich hoffe, daß das Exempel vom Freitag, obwohl
es mit der Ausschließung des Genossen Seitz geendet hat, genügen
wird, um den Herren für immer die Lust zu solchen Künsten zu
vertreiben, und daß der Revolver des Abgeordneten Seitz um so
eher überflüssig wird, je mehr die Arbeiterschaft zeigt, daß Seitz
nicht der Vertreter einen kleinen Gruppe von Leuten ist, sondern
daß er im Landtag steht als Wortführer und Vertrauensmann der
gesamten arbeitenden Bevölkerung. (Stürmischer Beifall.)
Die Versammlung ist die Einleitung eines Kampfes,
sie sei aber zugleich eine Warnung und, sagen wir es nur, eine
Drohung an die Regierung Körber. Unser Protest
richtet sich gegen die Christlichsozialen, aber an denen ist nichts
zu bessern. Sie sind verkauft mit Haut und Haaren, sie sind ver-
raten und sie sind Verräter. Unser Kampf richtet sich nicht gegen
sie in erster Linie, sondern gegen die Regierung, die sehr wohl weiß,
welches Verbrechen an dem Volke verübt werden soll und die die
Verantwortung trifft, wenn das Verbrechen begangen wird. Diese
Regierung, die das ganz unfertige absurde Vereinigungsprojekt ge-
nehmigt, weil der Größenwahn des Lueger es will, diese Regierung,
die duldet, daß Steuer auf Steuer auf die Bevölkerung gewälzt wird,
gerade zu einer Zeit einer ungeheuren Verteuerung der Lebens-
mittel, die jede Schändlichkeit der Christlichsozialen unterstützt
hat, will jetzt gestatten, daß nun auch die Jugend des Volkes an
die erbittertsten Feinde dieser Jugend ausgeliefert werde. Wir
sehen da wieder, wie Körber in seiner kleinlichen Schacherpolitik,
um sich die Gunst von den paar Herren für ein paar Wochen zu
sichern, Stück für Stück die teuersten Güter des
Volkes verkauft. Gegen diese verderbliche Politik der Regie-
') her Prälat Sc h m Ol k.
78 Klerikalismus und Schule.
rung ist unser Protest in allererster Linie gerichtet, gegen sie wird
die Arbeiterschaft den Kampf zu führen haben, und sie wird ihn
führen. (Stürmischer, andauernder Beifall.)
Der Fall Wahrmund.
Aus der Budgetrede vom 3. Juni 190 8*).
Wenn ich nun auf den Fall Wahrmund übergehe und von dem
Sachlichen und Zufälligen dieser Sache absehe, so stellt sich für
mich das Tatsächliche dieses Falles so, daß ein Hochschullehrer
einen Vortrag gehalten hat und daß, weil dieser Vortrag insbeson-
dere den Häuptern der klerikalen Parteien nicht genehm war,
dieser Professor seine Vorlesungen einstellen mußte. Wir haben
doch einen liberalen Unterrichtsminister, nicht wahr? (Heiterkeit.)
Und es ist nicht zu leugnen, daß man Herrn Dr. Marchet für einen
Mann gehalten hat, der mit ehrlicher Überzeugung in das Mini-
sterium eingetreten ist und den redlichen Wunsch hatte, wenn
schon nicht das Gute zu tun, so doch nach altliberalem
Muster wenigstens einiges von dem Schlechten
zu verhüten. Dieser Herr Dr. Marchet ist heute in keiner
beneidenswerten Verfassung. Die Politik der jetzigen Regierung
hat ihn dahin gebracht, daß das einzige, was er besaß, das Ver-
trauen zu seiner Geradheit und Redlichkeit, zu
der Sicherheit, mit der er seiner Überzeugung Ausdruck gibt,
wesentlich vermindert worden ist. Der sozialdemokra-
tischen Partei sind die Universitätsfragen an sich, so wie sie heute
auftreten, durchaus nicht Dinge allerersten Ranges. Der Krieg der
*) Als im Jahre 1907 die Regierung für den unpopulären Ausgleich mit
Ungarn eine Mehrheit brauchte, nahm Beck eine Parlamentarisierung der
Regierung vor. Die Christlichsozialen G e ß m a n n und Ebenhoch, der
deutsche Agrarier P e s c h k a, der tschechische Agrarier Praschek,
der Jungtscheche Fiedler und der polnische Schlachziz Abraham o-
wiez traten in die Regierung ein. Um die Christlichsozialen, die sich
immer als fanatische Feinde jedes Ausgleiches mit Ungarn gebärdet hatten
— Lueger hatte das Wort von den Judäomagyaren erfunden! — , zu
gewinnen, machte Beck dem Bürgermeister Lueger einen Besuch und ließ
ihn sogar durch den kaiserlichen Kabinettsdirektor S c h i e ß 1 bearbeiten.
Außerdem war übrigens der Deutschfreiheitliche Professor Marchet noch
von früher Unterrichtsminister. Als die Christlichsozialen in die Regierung
eintraten, gab Lueger auf dem Katholikentag die Parole aus, nachdem die
Volksschule erobert sei. gelte es neben der Mittelschule auch die
Hochschulen zu erobern, diese „Brutstätten der Reli-
gionslosigkeit und Vaterlandslosigkei t".
Die Wirkung zeigte sich wirklich bald. Am 18. Jänner 1908 hielt
der Professor des Kirchenrechtes an der Innsbrucker Universität, Dr. Lud-
wig Wahrmund, als Antwort auf den vom Papst Pius X. eingeleiteten
Kampf gegen den „M odernismu s", in einer Versammlung des Vereines
..Freie Schule" vor einem zuni größten Teil aus Arbeitern bestehenden
Publikum einen Vortrag über „Katholische Weltanschauung
und freie Wissenschaft". Als der Vortrag in München als Bro-
hn Fall Wahrmund. 7-'
Studenten um Schläger oder Nichtachläger geht uns nicht nahe;
auch die Präge, Qb kanonisches Recht in dieser oder jener Fasson
vorgetragen werde, ist für uns an sich nicht sehr wichtig, wohl
aber ist der Fall für uns ein Paradigma, ein laut sprechen-
des Symptom. Wenn man es schon wagt, im Lichte der
Öffentlichkeit einen Hochschullehrer, dessen Sicherheit unter
Garantie der Vertreter des deutschen Bürgertums gestellt worden
ist, in dieser Weise zu behandeln: wie muß es dann erst in den
Tausenden von Fällen Rehen, in denen nicht auf dem Theater der
Öffentlichkeit, sondern im Zwielicht der Bezirks- und
Lau de sschulräte entschieden wird, wenn es sich nicht
um Hochschullehrer, sondern um die wirklichen Lehrer
des Volkes handelt, wie muß es dann erst mit der Unab-
hängigkeit des Denkens, mit der Freiheit der Lebensführung jener
Zehntausende von Lehrern aussehen, denen die Arbeiterschaft ihre
Kinder anvertraut? Schon aus diesem Grunde allein nimmt die
sozialdemokratische Partei an dem Fall Wahrmund lebhaften An-
teil, trotzdem es ihr wirklich fernliegt, den großen wirtschaftlichen
und politischen Kampf der Arbeiterschaft auf den Kampf gegen
den Klerikalismus abzulenken. Freilich hat das eine andere Be-
deutung, als wenn Dr. Chiari*) namens seiner Partei erklärt, er
wünsche
keinen Kulturkampf
zu führen. Eine solche Erklärung aus dem Munde eines Deutsch-
liberalen weckt die Erinnerung an den Kulturkampf in Deutsch-
land, an den Kampf gegen den Katholizismus mit Hilfe von Aus-
nahmsgesetzen. Aber gegen diese Art von Kulturkampf haben nicht
schüre erschien, setzten die Klerikalen durch, daß diese, offenbar im Auf-
trag des Justizministeriums, wegen Beleidigung einer Religionsgenossen-
schaft konfisziert wurde. Außerdem verlangten sie von der Regierung zum
..Schutz der katholischen Bevölkerung" eine Maßregelung Wahrmunds und
seine Versetzung in den Anklagezustand. Gleichzeitig wurden in allen
Tiroler Kirchen die Bauern gegen Wahrmund gehetzt. Das paßte allerdings
nicht in Becks Plan eines bürgerlichen Blocks, und auch die Deutsch-
freiheitlichen hatten keine rechte Lust, sich des Professors Wahrmund an-
zunehmen. Als aber am 16. Mai 1908 von dem christlichsozialen Abgeord-
neten Hagen hofer geführte klerikale Bauern in die Qrazer Universität
eindrangen und man am 1. Juni Professor Wahrmund an der Wiederauf-
nahme seiner Vorlesungen hindern wollte — die Regierung hatte einfach
alle Vorlesungen an der Innsbrucker Universität eingestellt — , traten die
Studenten aller österreichischen Hochschulen in den Streik. Der
streik endete am 22. Juni damit, daß Wahrmund die Innsbrticker Universi-
tät verlassen mußte, aber dafür zum Professor an der Prager deutschen
Universität ernannt wurde. In der Budgetdebatte kam Adler, nachdem
er von verschiedenen anderen Fragen gesprochen hatte, auch auf den Fall
Wahrmund zu sprechen. Die eigentliche Hochschuldebatte kam allerdings
erst nach Abschluß der Budgetdebatte.
) Dr. Karl Chiari, Fabrikant in Mährisch-Schönbcrg, dort auch zum
Abgeordneten gewählt, Führer der Deutschen Volkspartei. Seiner ganzen
Politik nach war er ein Liberaler.
80 Klerikalismus und Schule.
nur die Sozialdemokraten Deutschlands, sondern auch die öster-
reichischen Sozialdemokraten auf das kräftigste protestiert. (Leb-
hafter Beifall bei den Sozialdemokraten.) Wir wünschen
nicht, daß gegen irgendwelche Meinung mit Aus-
nahmsgesetzen verfahren werde, und möge diese
Meinung noch so sehr mit unserer eigenen Weltanschauung im
Widerspruch stehen. Wenn aber Dr. Chiari erklärt, er wünsche
keinen Kulturkampf, so bedeute das in Wirklichkeit, er wolle
für die durch den klerikalen Vorstoß wirklich
bedrohte Kultur nicht kämpfen. (Lebhafter Beifall und
Händeklatschen bei den Sozialdemokraten.)
Bei der Arbeiterschaft aber steht die Sache wesentlich anders.
Ich glaube Ihnen, Ihre Wähler sind ja sehr brave Leute, aber sie
wollen nicht lange mit solchen Dingen behelligt sein. Das soll ge-
schwind erledigt werden. Ich glaube es Ihnen schon, daß in Ihrer
Wählerschaft alle diese Fragen von Lern- und Lehrfreiheit und von
der Freiheit der Überzeugung vielleicht nicht allzu lange einen
besonderen Widerhall finden. Aber in der Arbeiterschaft liegen die
Verhältnisse anders. Ich lade jeden von Ihnen ein, mit uns in eine
Versammlung zu gehen, in Böhmen wie in den Alpenländern. Wenn
ich in einer Arbeiterversammlung von der politischen Unter-
drückung des Proletariats spreche, werde ich aufmerksam ge-
spannte, verständnisvolle Zuhörer finden. Wenn ich dann weiter
von der wirtschaftlichen Ausbeutung des Proletariats, von dem
großen Elend, das noch auf den breiten Schichten lastet, und von
der Schwierigkeit ihres Kampfes sprechen werde, werden die Zu-
hörer mit mir gehen und mich verstehen. Und wenn ich zum Schluß
von der geistigen Unterdrückung durch die Herr-
schaftsorganisation der Kirche sprechen werde,
dann wird dies bei den Arbeitern — gegen meinen Willen vielleicht
— gerade den größten Widerhall und den begeistert-
sten Zuspruch finden. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozial-
demokraten.) Das ist eine Tatsache, die — ich erkläre es Ihnen
offen — uns in unserer Kampftaktik und Kampfmethode auch bei
der organisatorischen Arbeit durchaus nicht erwünscht, sondern
sehr häufig hinderlich ist. Es kommt vor, daß irgendein sogenannter
freireligiöser oder freidenkerischer Schwätzer nur darum, weil er
sich gegen die kirchliche Autorität, gegen die Herrschsucht der
Kirche wendet, weit leichter das Gehör der Massen findet als
jemand, der vom wirtschaftlichen Standpunkt die Dinge gründlich
untersucht. So sind die Dinge. Und wenn es so ist, so stehen Sie
vor einer ungemein wichtigen Tatsache, die auch Sie erkennen und
politisch werten müßten. Sie können ja in Ihren Schulen die Lehrer
preisgeben oder sich mit zweideutigen Redensarten über alles hin-
weghelfen, aber Sie dürfen nicht glauben, daß das heimlich ge-
schehen kann und daß die Masse dieses Spiel nicht durchschaut.
(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Prinz Alois Liechtenstein hat vorgestern hier eine sehr
hübsche Rede gehalten; er hat sich an die Deutschliberalen in wirk-
Der Fäll Wahrmund. w
lieh rührenden und sehr beweglichen Worten gewendet und d:\
deutsche Volk seines erlauchten Protektorats versichert. (Lebhafte
Heiterkeit und Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Aber wer die
Dinge ZU beobachten versteht, mußte den Lindruck haben, daß
der Fuchs den Gänsen predigt.
(Lebhafte Heiterkeit.) Daß Prinz Liechtenstein ein Luchs ist, das
ist ja sicher (lebhafte Heiterkeit), ob er aber das richtige Publikum
gefunden hat (erneute lebhafte Heiterkeit), das zu entscheiden ist
nicht meine Sache. Sicher ist aber eines, daß die Teilnahme der
deutschfreiheitlichen Parteien — die Erlaubnis, sich so zu nennen,
haben sie ja noch (Heiterkeit) — an der Regierung Beck nichts
anderes bedeutet als die Erlaubnis, für die Regierung das 1 i b e-
rale Feigenblatt beizusteuern, welches Dr. Marchet
heißt. Mehr ist der Minister Marchet für diese in ihrem ganzen
Wesen klerikale Regierung nicht. (Lebhafter Beifall
bei den Sozialdemokraten.) Prinz Liechtenstein, der ein so witziger
Redner ist . . .
Resel: Besonders, wenn er's aufgeschrieben hat!
Schuhmeier: Und wenn er zehn Jahre darüber nachgedacht hat.
(Heiterkeit.)
Bieiohlawek: So gescheit wie in Ottakring können wir nicht
sein!
Adler: Herr Landesausschuß, Sie belieben offenbar darauf an-
zuspielen, daß Prinz Liechtenstein ursprünglich aus Ottakring in
die politische Karriere gekommen ist*). (Lebhafte Heiterkeit und
Sehr gut!)
Prinz Liechtenstein hat gemeint, daß die politischen Differenzen
zwischen seiner und der deutschfreiheitlichen Partei nicht so groß
sind, daß diese Parteien nicht prächtig zusammengehen könnten,
und daß nur die Boshaftigkeit der „Neuen Freien Presse" es ist,
welche fortwährend in die Friedenssuppe hineinspuckt. (Lebhafte
Heiterkeit.) Ich kann mich zu der Höhe einer solchen politischen
Auffassung, aufrichtig gesagt, nicht aufschwingen. Ich habe bis jetzt
immer gemeint, daß zwischen den einzelnen Schichten der Be-
sitzenden je nach den ökonomischen Verhältnissen, unter denen sie
leben, je nach ihrer Geschichte, daß insbesondere aber zwischen
den ländlichen und städtischen Besitzenden wirklich einschneidende
Gegensätze bestehen. Man hat oft das gesamte Bürgertum als eine
reaktionäre Masse**) darzustellen gesucht; aber wir haben doch
immer gesagt, einig in dieser reaktionären Richtung ist das gesamte
Bürgertum nur dann, wenn es gegen die organisierte Arbeiterschaft
geht. Untereinander sind aber die einzelnen Schichten überaus
*) Liechtenstein, der ehemals in Hartberg in der Steiermark klerikaler
Abgeordneter war, wurde 1891 als Christlichsozialer in dem Wiener Wahl-
bezirk Ottakring-fiernals gegen Kronawetter gewählt.
") Siehe auch die Anschauungen Adlers über dieses Schlagwort von der
eineßreaktionärenMasse in den früheren Bänden dieser Schriften,
namentlich Bd. VIII, Seite 337, 348 ff., 392 f., 443.
Adler. Briefe. XI. Md. <>
82 Klerikalismus und Schule.
differenziert und haben vielfach durchaus gegensätzliche Interessen.
Wenn Ihnen daher Prinz Liechtenstein diese Lehre von der
einigen, unterschiedslosen reaktionären Masse
beigebracht hat — um so besser für uns. Denn wir könnten den
Prozeß, daß die deutschfreiheitlichen Parteien bei jenen, die noch
für freiheitliche Dinge ihre Kraft einsetzen wollen, immer mehr an
Respekt einbüßen, den Prozeß, daß die deutschfreiheitlichen Par-
teien bei den wirklich freiheitlichen Schichten des Bürgertums ab-
wirtschaften, gerade sehr ruhig lächelnd, ja mit einem gewissen
Hohn betrachten. Allerdings wird unsere reine Freude dadurch
etwas getrübt, daß wir uns sagen müssen: So stark die Sozial-
demokratie immerhin ist, so ist sie allein doch nicht imstande, in
den entscheidenden Augenblicken die große Masse vor rückschritt-
lichen Einflüssen zu bewahren, und darum lachen wir nicht, sondern
wir trauern über den schmählichen Verrat, als
den sich die ganze Politik der deutschfreiheit-
lichen Parteien der breitesten Öffentlichkeit
darstellt. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen bei den Sozial-
demokraten.) Nicht um Professor Wahrmund handelt es sich. Ein
Wahrmund mehr, ein Wahrmund weniger; dem Wahrmund wird
nichts geschehen; aber Ihre Reputation geht dabei flöten. Dessen
können Sie versichert sein.
Die Subvention des Volksbildungsvereines, 8.i
Terror und Gewissenszwang.
Die Subvention des Volksbildungs-
vereines.
Versammlung im M u s i k v e r e i n s s a a 1, 6. Juli 189 6*).
Es gibt nur zwei Wege: Entweder wir überlassen das Präsidium
den Einberufern, die ehrliche, nichtpolitische Männer sind, nicht
Liberale, oder wir wollen zeigen, wer kommt, wenn man das
Volk von Wien ruft. Ein Kompromiß erscheint nicht möglich.
*) Kaum hatten die Christlichsozialen ihre Herrschaft im Wiener Ge-
meinderat angetreten, kaum war der Platzhalter Luegers, Strobach, am
15. Mai 1896 als Bürgermeister bestätigt worden, als sie schon daran-
gingen, dem Klerus den Dank für seine Hilfe abzustatten und ihre klerikale
Gesinnung öffentlich zu bekunden. Am 26. Juni beschloß der Gemeinderat,
die Subvention für den Volksbildungsverein, die vom früheren Gemeinde-
rat mit dem ohnedies geringen Betrag von 3200 Gulden bewilligt worden
war, auf 500 Gulden herabzusetzen. Dieser Beschluß erregte in der nicht-
klerikalen Öffentlichkeit die größte Empörung und eine Reihe von Pro-
fessoren der Wiener Universität berief für den 6. Juli in den großen Musik-
vereinssaal eine öffentliche Protestversammlung ein. Da geschah nun das
Merkwürdige, daß das sogenannte liberale Bürgertum, das offenbar in der
Sommerfrische war, durch seine Abwesenheit glänzte, die überwiegende
Mehrheit der Versammlung aber die Arbeiter bildeten. Diese verlangten
daher, daß das Präsidium aus Sozialdemokraten zusammengesetzt werde
und wehrten sich gegen den Vorschlag der Einberufer. Arbeiter und Pro-
fessoren in das Präsidium zu berufen. Der Direktor der Sternwarte. Doktor
B r z e z i n a, schlug nun eine Kompromißliste vor: Professor P h i 1 i p p o-
vich für die Einberufer, Jordan für die Lehrer und Popp für die
Arbeiter. Hu eher sprach sich entschieden dagegen aus und beantragte
Reumann, Popp und Winarsky als Büro. Da griff nun Adler ein.
Hier sei noch erwähnt, daß die Gemeinde dem Volksbildungsverein
schließlich doch die unverkürzte Subvention auszahlen mußte, die ja der
Gemeinderat ursprünglich beschlossen hatte. Der Verein klagte nämlich
die Gemeinde und diese wurde vom Landesgericht verurteilt, ihm den Rest
auf die ihm zugesicherte Subvention, das ist den Betrag von 2700 Guide?)
samt Zinsen und 151 Gulden Kosten, zu bezahlen. Der Vertreter der Ge-
meinde hatte zunächst die Berufung angemeldet, aber der Stadtrat hatte
keinen Mut, die Öffentlichkeit noch einmal herauszufordern, und beschloß,
die Berufung nicht auszuführen und so wurde nach Ablauf der Berufungs-
frist, am 26. Oktober 1898, das Urteil rechtskräftig und die Gemeinde mußte
zahlen. Siehe über die Situation in Wien beim Beginn der christlich-
sozialeil Herrschaft auch Bund X, Seite 199, Note.
6*
N4 Terror und Gewissenszwang.
Wenn die Sozialdemokraten in der Minorität sind, werden sie in
Ruhe und Ordnung hier bleiben und das Präsidium der Majorität
überlassen. Die Einberufer sind von uns als hochachtbare, durch
ihre wissenschaftlichen Arbeiten bekannte Männer geschätzt; nicht
aus Mißtrauen gegen sie verlangen wir das Präsidium, sondern
damit auch der leiseste Zweifel ausgeschlossen bleibe, daß unsere
Partei mit einer gegenwärtigen oder künftigen Partei eine Allianz
eingehen könnte. Die Einberufer verdienen unseren Dank, daß sie
als Professoren es gewagt haben, das Streben nach Bildung dort
zu suchen, wo allein es zu finden ist, im Volke selbst; trotzdem be-
harren wir auf unserem Verlangen*).
*
Wir Sozialdemokraten können so ziemlich mit jedem Wort ein-
verstanden sein, das die Referenten ausgesprochen haben. Wir
unterscheiden uns nur darin, daß wir nicht so genügsam sind; wir
wollen nicht leugnen, daß wir auch noch andere Absichten haben.
Wir müssen hervorheben, daß der Volksbildungsverein nicht der
erste Verein ist, der sich mit der Volksbildung beschäftigt. Die
erste Tatsache eines Bewußtseins der Arbeiterschaft in Österreich
fängt an mit den Arbeiterbildungsvereinen. Der Volksbildungsverein
beklagt mit Recht, daß die heutige Majorität des Qemeinderates
noch um 2700 fl. schlechter ist als die frühere liberale Majorität.
Aber wir dürfen nicht vergessen, daß auch unsere Arbeiterbildungs-
vereine eine Leidensgeschichte haben. Sie wurden unterdrückt
durch hochwohlweise Regierungen (wir hatten ja immer weise Re-
gierungen), die ihrer Gründung systematisch Hemmnisse in den
Weg legten, und wenn die Vereine glücklich fertiggebracht waren,
flugs wurden sie von der Regierung unter irgendwelchen nichtigen
Vorwänden aufgelöst. Das geschieht noch heute so und nur
deshalb nicht so zahlreich, weil in den Arbeiterbildungsvereinen
nicht nur die Arbeiter etwas gelernt haben, sondern auch die Herren
Bezirkshauptleute. Was war gegenüber dieser fortwährenden Be-
hinderung des Unterrichtes und der Bildung des Volkes die Stel-
lung der Parteien? Von den Klerikalen, die sich heute zum Teil
Antisemiten heißen, will ich gar nicht reden. Wer kann von ihnen
verlangen, daß sie sich für das Lesen und Schreiben echauffieren?
Und die Liberalen? Als wir den Ausnahmszustand hatten und zu
hunderten Malen vor das Parlament gebracht wurden, wro gegen
Recht und Gesetz die Volksbildung unterdrückt wurde, haben da
die Liberalen jemals nur den Mund aufgemacht? Darum sage ich:
Die Gelehrten, die die wahre Wissenschaft wrollen, haben recht,
daß sie zu uns gekommen sind; sie werden immer mehr zur Ein-
sicht kommen, daß die e i n z i g e n L e u t e, die sich vor der
*) Auf den Vorschlag des Professors Philippovich wurden die von
Hueber Beantragten, außerdem aber noch Professor Mach in das Präsi-
dium gewählt. Dann erstattete der Professor der Geologie Dr. Eduard
R e y e r das Referat. Nach ihm sprach der Dekan der medizinischen Fakul-
tät, Dr. Max G r u b e r, der eine Resolution mit den Forderungen für
Hebung des Volksbildungswesens beantragte. In der Debatte kam dann
Adler zu Wort.
Die Subvention des Volksbildungsvereines. 88
Wissenschaft nicht zu fürchten haben, die Sozialdemokraten sind.
Es muß ausdrücklich konstatiert werden, daß, so schlimm die Anti-
semiten sind und wahrscheinlich sein werden, solange sie die Macht
haben, daß ganz in demselben Maße und nicht um ein Haar besser
die Liberalen gewirtschaftet haben. Professor Q ruber hat ihnen
eine große Reihe von guten Wahrheiten gesagt und eine große Zahl
von Forderungen aufgestellt, die wir alle unterschreiben können.
Aber es kommt uns vor, als sei es nicht präzise zum Ausdruck ge-
kommen, daß dieselben Verhältnisse, dieselbe Mechanik der Gesell-
schaft, die das Volk in wirtschaftlicher Abhängigkeit erhalten, die
es ihm unmöglich machen, für eine vernünftige Wohnung, für ver-
nünftige Kleidung und Nahrung zu sorgen, daß es ganz dieselben
Verhältnisse sind, die auch die Bildung des Volkes verkümmern.
Ich will nicht den alten Streit wieder aufrollen, der in den achtziger
Jahren so heftig unsere Gemüter bewegte, ob durch Freiheit zur
Bildung oder durch Bildung zur Freiheit. Aber das ist sicher, wir
kommen zu einer Bildung auch nicht anders, als wenn wir sie uns
bewußt als organisierte Klasse erkämpfen. Ich fürchte, daß in dem-
selben Moment, wo die Bourgeoisie die Erfahrung macht, daß der
Arbeiter, der etwas gelernt hat, nicht nur Astronomie gelernt hat.
sondern auch die Dinge dieser Erde, daß der Wissende auch wirt-
schaftlich widerstandsfähig ist, daß in demselben Moment es ver-
gebens ist, von den herrschenden Klassen ausgiebige Unterstützung
der Volksbildung zu verlangen. Die besitzenden Klassen wissen es
instinktiv, daß, wenn sie die Volksbildung ernsthaft fördern, sie den
Ast absägen, auf dem sie sitzen. Deshalb wird die Volksbildung
unsere eigene Arbeit sein. Die Verdienste des Volksbildungsvereines
in allen Ehren, aber ich wrette, daß es zahlreiche Arbeiter gibt, die
in die Bibliotheken desselben denn doch mit einem anderen Gefühl
eingetreten sind als in die ihres eigenen Vereines. Es liegt das darin,
daß ihnen da ein Geschenk gemacht wird vielfach von Leuten,
von denen man sich nicht gern etwas möchte schenken lassen. Wir
nehmen die Bildung für das Volk in Anspruch, wie wir überhaupt
das Arbeitsprodukt des Volkes für das ganze Volk in Anspruch
nehmen. Wir stehen auf dem Standpunkt, daß, wie der Forscher
für die Gesamtheit arbeitet, auch die Gesamtheit für ihn arbeitet,
und daß er ohne Gesamtheit ebenso unmöglich ist wie diese ohne
ihn. Wir glauben also,' daß die Gesamtheit des arbeitenden Volkes
nicht zu bitten hat, sondern als ihr gutes Recht in Anspruch nehmen
kann die Früchte der gesamten geistigen und physischen Arbeit
des Volkes. Alle Forderungen, die Professor Gruber in seiner
Resolution aufgestellt hat, finden sich in unserem Kommunalpro-
gramm, nur etwas schärfer zugespitzt. Wir haben nichts gegen die
Annahme der Resolution, aber wir sind verpflichtet, hinzuzufügen,
daß das nicht alles ist, was wir verlangen. — Genosse Dr. Adler
empfiehlt folgenden Zusatz zur Resolution:
Die Versammlung erkennt die Forderungen der von Professor Gruber
vorgesehlae,enen Resolution, so dringend sie sind, lediglich als • erste
Sehritte zur Erreichung des Zieles, das kein anderes sein kann als die
86 Terror und Gewissenszwang.
Beseitigung der Monopolisierung des Wissens durch die Besitzenden,
die nur zu erreichen ist auf dem Wege der Erringung der politischen
Macht durch das arbeitende Volk.
Wenn es der Volksbildung, wenn es der Wissenschaft schlimm
gehen wird und immer schlimmer, je mehr der Rückschritt identisch
ist mit der besitzenden Klasse, je mehr diese gezwungen ist, um
ihr Monopol festzuhalten, die Verdummung und Vertierung der
Arbeiterschaft zu wollen: dann wird es so kommen, wie es mit der
Freiheit gekommen ist. Für die politische Freiheit hat auch einmal
das Bürgertum gekämpft und hat dann an sie vergessen. Darum
geht es aber der Freiheit nicht schlechter. Es hat sich eine andere
Klasse gefunden, die die Freiheit erkämpfen wird, koste es, was es
wolle. Es wird der Volksbildung und der Wissenschaft nicht schlecht
gehen, wenn auch das Bürgertum sie verläßt, es bleibt ihr die Ar-
beiterklasse und deren Vorkämpferin, die klassenbewußte Sozial-
demokratie*). (Großer Beifall.)
Die Maßregelung des Abgeordneten Seitz.
Protestversammlung am 2 7. März 1901**).
Nicht allein die gemeine Rachsucht der Christlichsozialen spricht
aus dieser Maßregelung, sondern die Absicht, die Lehrervertreter
zu entmutigen und die gesamte Lehrerschaft einzuschüchtern.
Lueger will den Lehrern sagen: Da habt ihr einen Mann.
*) Nach einem Schlußwort des Professors Gr u b e r wurden beide Reso-
lutionen angenommen, die des Referenten einstimmig, die Adlers mit über-
wältigender Mehrheit.
Über die Taktik bei der Versammlung wurde auch auf dem Parteitag
des Jahres 1897 gesprochen, wo sich der Obmann des Freidenkervereines.
W u t s c h e 1, über das Verhalten der Partei gegen die Sozialpolitiker be-
schwerte. Adler gab ihm in seinem Schlußwort zur „Parteitaktik" darauf
eine Antwort. (Siehe Adlers Rede über Klerikalismus und Nationalismus.
Bd. VIII, Seite 389.)
**) Der Führer der radikalen Lehrerschaft. Karl Seitz, war bei den
Wahlen im Jänner 1901 im Städtewahlbezirk Korneuburg als sozialdemo-
kratischer Kandidat in das Abgeordnetenhaus gewählt worden. Nun ließ
Lueger seinen verhaßten Gegner wegen seiner Wahlagitation vom Bezirks-
schulrat in Disziplinaruntersuchung ziehen. Da3 war eine offenkundige
Verletzung seiner Immunität und am 11. März 1901 forderte Abgeordneter
Dr. Ofner im Parlament den Präsidenten auf, die Sistierung der Diszi-
plinaruntersuchung zu veranlassen. Mittlerweile war aber Seitz, der von
den Lehrern als ihr Vertreter in den Bezirksschulrat entsendet worden
war, dort mit dem christlichsozialen Schimpfer Gregorig in einen
Konflikt geraten und Lueger ließ ihn nun seiner Stelle als Lehrer entheben.
Die Sache kam noch wiederholt im Parlament zur Sprache. Aber auch die
Lehrer setzten sich zur Wehr und im ganzen Reiche wurden Kundgebungen
der Lehrervereine gegen diesen Gewaltakt beschlossen. Am 27. März
hielten auch die Wiener Arbeiter vier Versammlungen ab, in denen sie
gegen die Maßregelung protestierten. In der Versammlung in Rappels Rosen-
sälen ergriff nach G 1 ö c k e 1 und Daszynski Adler das Wort. Seitz ist
bekanntlich der nachmalige Bürgermeister von Wien.
Die Sozialdemokratie und die arbeitend« fugend. #7
d e 11 s i e s <> g :l r z u m A I) g e o r d n e t e n g e w ä h 1 1 li a b e n.
Das nützt ihm alles nichts, wenn er mein Feind
i s t - • i c h h a l) e i li n ü a v o n g e j a g t. (Stürmische Entrüstung.)
Und wenn das ihn betroffen hat, so könnt ihr euch vorstellen« wie
ich mit euch umspringen kann. Das ist ö^i' Sinn dieser Maßregel
und darin liegt die ungeheure Gefahr. Der Lehrer ist ein armer
Proletarier, aber mit Kroßen Bedürfnissen des Geistes. Statt diese
befriedigen zu können, werden seine Nerven zerrüttet durch den
Kampf um dieses elende Stückchen Brot, und über diese gedrückten
Männer soll nun noch Lneger die Zuchtrute schwingen dürfen. Aber
wir haben ja noch den Unterrichtsminister liartel, dem große Ge-
lehrsamkeit, großer Freisinn und moderne Gesinnung nachgesagt
wird. Von der Gelehrsamkeit will ich schweigen (Heiterkeit), was
aber den Freisinn und die Modernität anlangt, so haben wir davon
noch nichts zu verspüren bekommen. (Heiterkeit.) Es wird von ihm
behauptet, daß er seine guten Eigenschaften vornehmlich den Hoch-
schulen gegenüber betätigt. Aber die Klerikalen lassen
sich eher zehn freisinnige Hoch sc hui Professoren
gefallen als einen freidenkenden, gebildeten
Volksschullehrer. Da heißt es freisinnig und modern sein.
Eine freie, unabhängige Volksschule tut uns not, und solange wir die
nicht haben, sind selbst die sonst löblichen Bestrebungen für die
Bildung der Erwachsenen, die ja bei uns merkwürdigerweise mehr
als anderswo zu finden sind, ganz unersprießlich. Solange die
Grundlage fehlt, sind diese Volkshochschulen, Volkslesehallen usw.
ähnlich jenem Neger aus den „Fliegenden Blättern", der völlig nackt
einhergeht, aber einen Zylinderhut trägt. (Heiterkeit.)
Wenn es nun auch wahr wäre, daß Herr Hartel Gutes für die
Universitäten tut, so habe ich ihn sehr in Verdacht, daß er ein
ebenso liberaler Minister ist wie seine Vorgänger Stremayr und
Gautsc h, wo es gilt, die Volksschule gegen die
Klerikalen zu verteidigen. Und ich fürchte, daß er auch
im Falle Seitz nicht liberaler sein wird. Wir werden ihm aber ein-
dringlich zu sagen verstehen, daß wir dem großen Gelehrten, dem
Schätzer der Wissenschaft genau auf die Finger sehen werden, und
daß es ihm nicht, wie seinen liberalen Vorbildern, gelingen wird,
Stück für Stück der Volksschule an die Klerikalen zu vermogeln
und zu verhandeln. (Stürmischer, anhaltender Beifall.)
Die Sozialdemokratie und die arbeitende
Jugend.
Versammlung am 2 6. März 190 2*).
Ich gestehe, daß ich von den Gegnern aus jahrelanger Erfahrung
gelernt habe, auf alles gefaßt zu sein, und nicht viel von ihrem
Edelmut, ihrer Vernunft und ihrem Anstandsgefühl erwarte; aber
*) Arn 23. März hatte der Verein jugendlicher Arbeiter beim Hamberger
eine Vereinsversammlung abgehalten, in der Dr. Adler einen Vortrag
H8 Terror und Gewissenszwang.
ich muß sagen, daß mich das, was ich Sonntag hier gesehen, einfach
überrascht hat. Ich habe eine solche Roheit nicht für möglich ge-
halten. Wenn Erwachsene untereinander roh, brutal werden, wenn
sie bis zur viehischen Beschimpfung greifen, so ist das ja tieftraurig
und wirkt für jeden, der etwas Ordentliches von den Menschen
haben möchte, bedrückend; aber schließlich: es ist ein Mann
gegen den anderenMann. Aber nun bitte ich, sich vorzustellen :
Ich bin hieher gekommen und finde einen Saal voll junger Bürsch-
chen, und ich wrar wirklich überrascht, daß so viele junge Leute zu
einem Vortrag an einem Sonntagnachmittag zusammenzubringen
sind. Daß ein Bub, der die ganze Woche in einem engen Loch
sich schinden muß, der die ganze Woche unter der Fuchtel
steht, Sonntag nachmittag herkommt, um wieder zu lernen,
das ist eine hocherfreuliche Erscheinung, und ich sage
Ihnen, wenn alle die jungen Bürschchen, die da waren, in der
gegnerischen Richtung gedrillt worden wären, wenn sie
durchaus unter christlichsozialer Erziehung gestanden und im Haß
gegen uns erzogen gewesen wären; ich hätte mich nicht ent-
schließen können, diesen jungen Bürschchen auch nur ein
hartesWort zu sagen. Ich habe die Empfindung gehabt, das
sind junge Leute, denen man ein Wort sagen muß, das ihnen
das Leben erleichtert, das sie besser und tüchtig
macht. Wie kann man zu solchen Kindern anders
sprechen als im Tone des Vaters und Lehrers ! Und
da sah ich erwachsene Menschen, die wie wilde Tiere
auf diese Kinder einhauen! (Allgemeine Bewegung.) Ich
hätte begriffen, wenn ein paar nach mir das Wort ergriffen und
mich dann beschimpft hätten. Gut. Oder wenn sie den jungen
Leuten gesagt hätten, daß sie gar nicht hieher gehören und hier
nichts zu suchen haben ; aber daß man Buberln prügelt,
da hört sich alles auf. So sehr ich die Prügel bedaure, die einzelne
gekriegt, und so sehr es mein menschliches Empfinden anwidert,
ich meine doch, daß für alle jungen Leute, die da anwesend waren,
die Versammlung eine tiefe und wertvolle Lehre sein wird, und daß
es für sie ein unauslöschlicher Eindruck bleiben wird, daß Leute,
die ihnen an Kraft dreifach überlegen, sich auf sie stürzten
und sie bestialisch schlugen. Sie werden es gefühlt
haben und nie vergessen, daß diese Leute einer Partei angehören,
die nicht wünscht, daß man den Lehrlingen Wissen
beibringt. (Lebhafter Beifall.) Aber es gibt für uns Erwachsene
auch eine Lehre: Wir haben unseren jungen Leuten gegenüber
halten sollte. Außer den Jugendlichen! die den Saal füllten, fanden sich aber
auch etwa 120 Christlichsoziale ein, Mitglieder von christlichsozialen
Meistervereinen und mit Stöcken bewaffnete Gasarbeiter (die von den
Werkiührern des städtischen Gaswerkes den Christlichsozialen für ihre
Versammlungen als Ordner- und Prügelgarde zugetrieben wurden). Kaum
hatte Dr. Adler das Wort ergriffen, als sich diese Bande auf die Jugend-
lichen stürzte und auf sie loshieb. Die Führung dabei hatte ein christlich-
sozialer Gemeinderat Urban. Als Antwort auf diesen Überfall war die
Versammlung vom 26. März einberufen.
Die Sozialdemokratie und die arbeitende Jugend. *'*
kein gutes Gewi s s c n. Wir müssen uns ihrer mehr annehmen.
(Ruf: Unsere .1 u n g e n I a S S e n wir nicht in e h r
seil I a g e n!) Ja, das ist der erste Punkt, aber nur der erste (Ruf:
Sehr richtig! Das ist das Wenigste!) der Zwischenrufer gehört
gewiß nicht ZU jenen, die am meisten gepufft wurden und ist daher
nicht k o m p e lent (Heiterkeit) , aber wir haben mehr zu tun.
als sie zu schützen. Die eigentliche Erziehung und der eigentliche
Unterricht unserer jungen Leute in diesen großen Versammlungen
ist nicht das Wesentliche, wir haben auch die Pflicht, ihnen n a c h-
zu gehe n und ihnen zur Verfügung zu stehen mit dem Besten,
was wir wisse n, mit dem Besten, was wir e m p f i n d e n,
haben die Verpflichtung, ihre Lehrer zu sein, so gut wir
können. (Allgemeiner Ruf: I) a s w o 1 1 e n w i r !)
Ich weiß, so ein Wort spricht sich leicht aus. Ihr ruft Bravo!
Ihr empfindet das heute alle und es ist ein ehrliches Empfinden.
Aber da ist mehr notwendig als ehrliches Empfinden: da ist not-
wendig stetige Arbeit, Arbeit von jedem einzelnen,
nicht nur im Verein, auch die Arbeit in der Werkstätte.
Die Propaganda, die im Verein geübt wird, die ist gewiß erwünscht,
aber die Propaganda, die in der Werkstätte geübt wird, das
ist das Notwendigste. Der Lehrling soll es empfinden, daß
ein Unterschied ist zwischen einem sozialdemokratischen
Arbeiter, der ihn als jüngeren Bruder behandelt,
und einem anderen, der ihn hochmütig von oben herab betrachtet
und in ihm nur das Ausbeutungsobjekt sieht. Wir haben zu sorgen,
daß die jugendlichen Arbeiter die Empfindung haben, daß sie
unter dem Schutze der sozialdemokratischen,
das heißt der aufgeklärten Arbeiter stehen. Wir
werden besser werden, bessere Menschen, wenn wir uns dessen
befleißen, gegen unsere Jugend menschlich, väterlich,
brüderlich zu sein.
Ich weiß, Genossen vom Verein der jugendlichen Arbeiter, da 11
Sie eine schwere Sache durchfechten und auch schon auf manche
Erfolge hinweisen können. Sie dürfen auch nicht verzweifeln, wenn
Sie von den Älteren nicht die Unterstützung, das Entgegenkommen
finden, wie Sie sich vielleicht vorgestellt, und Sie dürfen uns nicht
allzu schlecht beurteilen. Wir alten Leute haben so viel für
die Gegenwart zu tun, stehen jeder einzelne in so schwerem
und hartem Kampfe, haben so ungeheure Lasten auferlegt, daß es
jedem eine ganze Summe von Überwindung und großen persönlichen
Opfern kostet, uns auch noch um die Zukunft zu kümmern. Die
Zukunft, die seid ihr, und die ist gewiß sehr wichtig. Aber wir haben
für die (iegenwart soviel zu sorgen. Bei uns ist es so, wie wenn
einer schnell einernten will, was schon reif ist, und ver-
gißt, für die Zukunft zu säen. Das ist unser Fehler und
'Manchmal auch unsere Sünde. Aber, junge Genossen, wir selber
sind nicht so alt wie wir aussehen. Wir sind eine Partei, die in ein
paar Jahren rasch in die Höhe gekommen, die in einigen Jahren
errang, was sonst in zwanzig Jahren gebaut wurde, und es hat
daher jeder ein kiesenstück Arbeit auf sich. Aber das versprechen
90 Terror und Gewissenszwang.
wir euch, soweit unsere Kräfte reichen, wollen wir euch helfen,
soweit wir können, stehen wir euch zur Seite, und was immer ge-
schieht, wo ihr einen unparteiischen, wohlüberlegten Rat braucht,
sollt ihr ihn bei uns finden, wenn auch vielleicht nicht immer den.
der euch am liebsten wäre. Wir müssen vielleicht Wasser in euren
Wein gießen, wo ihr vielleicht schneller vorwärts möchtet, wo ihr
vielleicht schon Erfolge in Händen zu haben glaubt, wo wir noch
keine Erfolge sehen.
Vor allem aber wollen wir euch etwas mitgeben, was euch gut
tun wird für die traurige Erfahrung, die auch euch nicht erspart
bleiben wird, wenn ihr viele, die ihr gewonnen glaubt, später wieder
verlieren werdet. Wenn ihr seht, daß, wenn ihr etwas
aufbaut, es wieder zusammenbricht, dann verzweifelt
u i c h t. Dann werden wir euch an unsere Geschichte erinnern, wo
wir aufbauten und es niederbrach, und wo wir wieder aufbauten
und immer wieder aufbauten, bis der Bau endlich
mächtig und prächtig bestehen blieb.
Ihr sollt von dem sozialdemokratischen Programm aufnehmen,
was ihr aufnehmen könnt. Daß ihr das politische Programm im ein-
zelnen versteht, daß ihr das ökonomische Labyrinth der wirtschaft-
lichen Zustände begreifen und erforschen sollt, das verlangen
wir nicht. Aber daß ihr den menschlichen Gehalt in
der Sozialdemokratie begreift, daß wir euch als Menschen
sehen, als Menschen, deren Zweck ihr selber seid, das
wünschen wir. Wir wollen euch nicht haben, um euch zu be-
nützen, wir wollen euch nicht fangen, um eure Leiber
zu knechten, wir wollen euch nicht vor den Wagen einer Partei
spannen: wir wollen, daß ihr armen verprügelten Buben, die ihr es
oft schlechter als Tiere habt, an denen sich gewissermaßen jeder
den Fuß abwischt, das Gefühl bekommt, daß ihr Men-
schen seid. (Warme Zustimmung.) Ihr seid nicht allein ver-
stoßene, verachtete, gering geschätzte kleine Jungen, ihr seid
Arbeiter, und das bißchen, was ihr Arbeiter seid, ist euer
Adelsbrief als Mensch, was euch berechtigt, in das
Heer einzutreten, das Menschheitheißt. (Stürmischer
Beifall.) Werdet Menschen! Wir wollen euren Stolz, eure
Selbständigkeit, eure Kraft wecken, wir wollen euch nur helfen,
damit ihr euch selber helfen könnt.
Genossen! Ich habe eigentlich fast nichts von den Gegnern ge-
sprochen. Es kostet mich immer eine gewisse Selbstüberwindung,
wenn ich den Mund aufmachen soll, um das Gesindel beim Namen
zu nennen. (Beifall.) Es stört mir die Freude an der Arbeit, lähmt
mich in dem Gedanken, daß es ein so erbärmliches Ge-
zücht gibt. Nachdem aber dieses erbärmliche Gezücht da ist,
muß es zertreten werden. (Allgemeiner Beifall.) Aber dazu
ist ein langer, langsamer Kampf notwendig, sehr viel Fleiß und sehr
viel Geduld; denn die Gemeinheit der Menschen ist auch eine
Weltmacht und ist mehr als in jedem Lande und jeder Stadt
in dieser Stadt eine Macht. Weil wir wollen, daß es unsere Kinder
anders haben, daß ihnen in dieser Stadt eine andere Luft wehe,
Der Qewaltstreioh gegen die Straßenbahner, (<1
darlMTl widmen wir uns auch mit allem Eifer der Kr Ziehung
U n s e r e r .1 u g e n d. (Stürmischer Beifall.)
Der Gewaltstreich gegen die Straßen-
bahner.
Prot e s t v e r s a m in 1 u n g, I 2. März 1 9 I 2 ' ).
Der Gegenstand, der uns beschäftigt, ist nicht neu. Wir kennen
die Christlichsozialen seit vielen Jahren und ich glaube nicht, daß
es viele unter Ihnen gibt, die sich wundern, wenn die christlich-
sozialen Beherrscher der Gemeinde oder des Landes einen Akt der
Feindseligkeit, Brutalität und Borniertheit begehen.
Die Straßenbahner haben oft kämpfen müssen, sie haben ge-
kämpft unter verschiedenen Umständen und mit mangelhaftem Er-
folg. Schließlich haben sie sich auf den einzigen vernünftigen Weg
begeben und eine moderne gewerkschaftliche Organisation ge-
schaffen, die überall die Garantie dafür ist, daß die notwendige
Auseinandersetzung mit den Unternehmen in einer geordneten, ziel-
bewußten Form vor sich gehe. Wir stehen jetzt gegenüber dem
grandiosen Schauspiel in England. Eine Organisation von Hundert-
*) Ende April 1912 sollten in Wien die Gemeinderatswahlen stattfinden
und die Christlichsozialen fürchteten nach der Niederlage, die sie bei den
Reichsratswahlen 1911 erlitten hatten, zumindest auch im vierten Wiener
Wahlkörper einen Verlust, zumal da sich bei den Reichsratswahlen ge-
zeigt hatte, daß die Gemeindearbeiter nicht mehr Agitatoren für die
Christlichsozialen sein wollten. Der der Gewerkschaftskommission ange-
schlossene Reichs verein der städtischen Arbeiter und Bediensteten
zählte in Wien bereits über 2000 Mitglieder, die alle ehemals dem
christlichsozialen Arbeiterverein angehört hatten. Deshalb suchten die
Christlichsozialen diese zweitausend, mit denen die Mehrheit der Ge-
meindeangestellten, namentlich die Straßenbahner, eines Sinnes waren,
einzuschüchtern, und die Direktion der Straßenbahn erließ am 1. März
1912 eine Verfügung, durch die die Mitgliedschaft beim „Reichsverein"
und das Lesen des „W e c k r u f e s", des Organs des Vereines, ver-
boten und als Dienstvergehen erklärt wurde. Drei Straßenbahner,
die in einer Protestversammlung sprachen und dort die Erklärung ab-
gaben, daß sie und ihre Kameraden treu zum Reichsverein stünden, wur-
den entlassen. Bezeichnend für die christlichsoziale Arbeiterbewegung
ist, daß die „Christlichsoziale Arbeiter-Zeitung" des Herrn K u n s c h a k den
Erlaß der Straßenbahndirektion noch verteidigte und erklärte, darin liege
kein Angriff auf das Koalitionsrecht, da ja nur ein einziger Verein ver-
boten sei, die Straßenbahner also den anderen Vereinen angehören
könnten . . .
Gegen diesen „S p ä n g 1 e r - E r 1 a ß" (so genannt nach dem Direktor
der Straßenbahn Spängier) protestierten die Wiener Arbeiter in zahl-
reichen Versammlungen, deren Tagesordnung lautete: „Der Gewalt-
streich gegen die Straßen bahne r." In der Versammlung im
FavOfitner Arbeiterheim am 12. März 1912 sprach Adler.
Ist schon dieser Spängler-Frlaß für die Verlogenheit des christlich-
sozialen Geschreies über den Terrorismus der Sozialdemokraten bezeich-
92 Terror und Gewissenszwang.
lausenden hat sich wie ein Mann erhoben und kämpft in aller Kühe,
trotz der großen Zahl, ohne ein Wort, das ungesetzlich oder hart
wäre, ohne eine Bewegung, die auf Aufregung schließen ließe, und
angesichts dieses unerhörten Schauspiels können Sie, in Zeitungen
von angeblich sehr aufgeklärten Leuten geschrieben, lesen, daß es
das Unglück sei, daß die englische Regierung die Gewerkschaften
hat so groß werden lassen. (Heiterkeit.) Die Leute haben keine Vor-
stellung, wie das Wachsen der Organisation mit dem wirtschaft-
lichen Zustand auf das engste verknüpft ist und man den Fortschritt
der Organisation so wenig aufhalten kann wie die Donau bei Donau-
eschingen. Alle Versuche, die Organisation gewaltsam zu unter-
drücken, müßten scheitern, und man kann nur bewirken, daß die
Entwicklung auf vernünftigem und friedlichem oder auf stürmischem
und gewaltsamem Wege geschieht. Die Arbeiterschaft verlangt
nichts anderes, als daß ihr Koalitionsrecht gewahrt werde; aber
sie verlangt auch, daß man sie nicht durch Gewalttaten, Tücken und
Einschüchterungsversuche auf ihrem Wege hemme. (Lebhafte Zu-
stimmung.) Die Straßenbahner stehen einem Unternehmer gegen-
über, der mächtiger ist als Unternehmer gemeinig-
lich sind. Die Kommunen haben als Unternehmer überall eine
kolossale Macht, die dadurch noch verstärkt wird, daß der klaglose
Betrieb ein allererstes Interesse der ganzen Gemeinde und jedes
Einwohners ist. Aber Unternehmer, denen die Gewerkschaft nicht
riend, so wird sie noch besser beleuchtet durch die Erklärung, die in der
christlichsozialen Ära jeder Gemeindeangestellte unterschreiben mußte
und die wir hier zum ewigen Gedächtnis festhalten wollen :
Erklärung.
Ich bestätige den Empfang eines Exemplars der mit den Gemeinde-
ratsbeschlüssen vom 27. Dezember 1901, Z. 15.124, vom 12. Mai 1903,
Z. 5885, und vom 5. Juni 1903, Z. 7181, genehmigten Dienstordnung für
das Dienstpersonal der städtischen Straßenbahnen, habe deren Inhalt
zur Kenntnis genommen und unterwerfe mich vorbehaltlos den Bestim-
mungen dieser Dienstordnung.
Ich gelobe mit meinem Ehrenwort, Sr. k. u. k. Apostolischen
Majestät Franz Josef I. und Allerhöchsten Nachfolgern aus dem durch-
lauchtigsten Hause Habsburg-Lothringen getreu und gehorsam zu sein,
der Stadt Wien Ehre und Vorteil nach allen meinen Kräften zu fördern
und jeden Nachteil von ihr abzuwenden. Ich erkläre weiter mit meinem
Ehrenwort, daß ich einer Partei, welche republikanische oder sonst
Österreich feindliche Tendenzen verfolgt, weder angehöre, noch ange-
hören werde.
Wien, am
Als Zeugen: Vor- und Zuname:
Diensteigenschaft:
Diese Erklärung haben die Christlichsozialen jedem Gemeinde-
bediensteten abgepreßt, sobald er aufgenommen oder definitiv wurde.
Erst nach dem Umsturz, am 28. März 1919, ist diese Erpressung
auf Einschreiten der Sozialdemokraten, die damals im Wiener Gemeinde-
rat eine starke Minderheit bildeten, eingestellt worden.
Der Gewartstreich Kegen die Straßenbahner. 99
erwünscht Ist, gfrbl es auch sonst. Überall hat die Organisation an-
fangs mit dem Widerstand der Unternehmer zu kämpfen. Was aber
die Wiener Gemeinde Verwaltung von allen Unternehmern unter-
scheidet; ist es, daß die
große Macht in den Händen einer politischen Partei
ist, und daß sie diese ihre Macht in der schmählichsten Weise z n
P a r t e i z vv e c k e n mißbraucht. (So ist es!) Wenn es sich
nur darum handeln würde: wie steht es zwischen der Unternehmung
und den Angestellten? - wenn es sich nur um Fragen des Lohnes
und der Behandlung drehen würde, wäre das, ich möchte sagen,
eine geschäftliche Sache, bei der man immer zu einem Ausgleich
kommt, erst zu einem ungünstigeren, wenn die Organisation schwach
ist, später zu einem günstigeren. Aber das Schlimme ist, daß es sich
der christlichsozialen Partei nicht nur um die Knechtung der Leiber
handelt, sondern daß sie auch gewissermaßen die Seelen
knechtenwollen. Ausbeuten wollen andere Unternehmer auch,
aber die Christlichsozialen wollen ihre Angestellten zu ihren
Parteizwecken mißbrauchen. Man hat von jeher ge-
sucht, diese paar tausend Menschen für die Wahlen gefügig zu
machen, und weil sich nun endlich eine Organisation herausgebildet
hat, die auf rein gewerkschaftlicher Basis steht und die vor allem
gar keinen Anlaß zu Maßregelungen und Drangsalierungen gibt,
sondern sehr gut weiß, daß eine Organisation nur bei Disziplin und
Selbstbeherrschung wachsen kann, und gerade weil die Christlich-
sozialen das sehen, gehen sie auf sie wie Stiere auf das rote Tuch
los, und so ist die Direktionsverfügung entstanden und alles, was
ihr folgte. Der Versuch, Arbeiter einzuschüchtern, auf sie durch eine
Erpressung zu wirken, ist als schmachvoll zu verurteilen, von
wem er auch ausgeht. Dreifach schmachvoll ist es, wenn eine
Gemeindevertretung, wenn diejenigen, die Vertrauensmänner der
Wählerschaft Wiens sein sollten, ein so schändliches Beispiel geben.
(Stürmischer Beifall.)
Und nun will ich den
Lügen, die man in den christlichsozialen Blättern liest,
die Wahrheit entgegenhalten. Es wird erzählt, die Gemeinderäte
Reumann und Winarsky seien zum Statthalter gegangen und haben
die „Autonomie der Gemeinde" einschränken wollen. Es wird weiter
erzählt, daß wir abenteuerliche „Drohungen" ausgestoßen haben,
mit einem Massenstreik gedroht hätten, geprahlt hätten, daß die
Organisation „neunzig Prozent" der Straßenbahner umfasse, und
daß wir damit versucht hätten, einzuschüchtern. Das sind Lügen
v o m Anfang bis zum Ende. Die Wahrheit ist, daß zuerst die
Gewerkschaftskommission mit der Organisation der Straßenbahner
zu Rate ging. Zweitens war aber, auch die Partei engagiert. Wir
mußten uns sagen, wenn es zu einem Kampfe kommt, wenn die
Straßenbahner zu einem Kampfe genötigt werden, so kann das
Folgen haben, von denen sich die Herren oben nichts träumen
hissen. Weil wir von der Einsicht der Behörden keine übertriebene
94 Terror und üewissenszwang.
Meinung haben, und weil zu befürchten war, daß sie nicht wissen,
was auf dem Spiele steht, bin ich — nicht die üemeinderäte —
Sonntag vormittag beim Statthalter gewesen und habe ihm, ohne
Übertreibung und ohne Prahlerei, die reine Wahrheit gesagt: Wir
machen darauf aufmerksam, daß die Gemeindeverwaltung einen
Schritt unternommen hat, der möglicherweise zu einem Kampfe
führt, wenn nicht ein Rückzug eingeschlagen wird. Wenn es aber
zum Kampfe kommt, kann es im Laufe dieses Kampfes - weil es
sich um das Koalitionsrecht handelt — sehr leicht dahinkommen,
daß er nicht beschränkt bleibt auf die Straßenbahner, sondern ganz
andere Dimensionen annimmt. Ich habe mich sehr gehütet, ein Wort
zu sagen, das nicht wahr ist, und noch mehr gehütet, eine Drohung
auszusprechen. Im Gegenteil, ich habe ausdrücklich gesagt, w i r
wünschen diesen Kampf nicht, wir sind nicht so blind
und gewissenlos und so bar jedes Verantwortlichkeitsgefühls wie die
Christlichsozialen. Wir wissen, daß unter Umständen auch wir
kämpfen müssen; aber da muß der Kampf nötig sein und der Preis
auch der Opfer wert. Aber daß wir einen Kampf suchen und die
Arbeiterschaft in einen Kampf, der sich möglicherweise auf der
Straße abspielen würde, hineintreiben, ist nicht unser Wunsch und
damit drohen wir auch nicht. (Sehr gut!) Es ist auch nicht
wahr, daß irgendein sozialdemokratischer Abgeordneter davon
gesprochen habe, daß „neunzig Prozent" der Straßenbahner
in der Organisation stehen. Ich habe auch mit dem Minister
des Innern gesprochen, weil die Sache ihn angeht und weil
es meine Pflicht ist, ihn auf die Tatsachen aufmerksam zu
machen. Ich habe natürlich nicht gesagt, daß die Organisation der
Straßenbahner neunzig Prozent umfaßt. Erstens lüge ich nicht, denn
ich habe mit der Wahrheit in meinem langen politischen Leben zu
gute Erfahrungen gemacht, als daß ich auf die Dummheit des Lügens
verfallen könnte, und zweitens wäre es eine große Dummheit ge-
wesen, wenn ich das gesagt hätte. Denn ein vernünftiger Mensch
müßte mir da ins Gesicht lachen und sagen: „Wenn die Straßen-
bahner zu neunzig Prozent organisiert sind, brauchen Sie nicht zu
mir zu kommen. Dann richten es sich die Straßenbahner schon
selbst!" (Lebhafte Zustimmung.)
Jeder Mensch weiß, daß die
Gefahr eines solchen Kampfes für die Allgemeinheit
eben nicht in der großen ausgebauten Organi-
sation besteht, sondern im Gegenteil in der Schwäche der
Organisation. Bei den Schwierigkeiten, unter denen die Straßen-
bahner kämpfen, haben sie große Fortschritte gemacht und alle
Anerkennung muß man für sie haben. Aber wenn sie auch geleistet
haben, was unter der furchtbaren Pression möglich war, verfügen
sie noch lange nicht über alle. Wir wissen auch, daß es nicht
möglich wäre in Wien, den Betrieb vom Anfang an vollständig ein-
zustellen; wenn dem so wäre, wäre der Streik keine gefährliche
Sache mehr. Es wäre eine große Schwierigkeit für den einzelnen,
der die Straßenbahn benützen will, eine Kalamität für den ganzen
Verkehr und die Bewohner Wiens; aber die anderen G e-
Der Qewaltstreich gegen die Straßenbahner. M
fahren, die mit der Erregung der Massen verknüpft sind, wären
vermindert. Jedoch gerade darum - das habe ieli den Herren
gesagt - -, weil die organisierten Straßenbahner nicht die ganze
Masse hinter sich haben, weil im ersten Moment Konflikte ent-
stehen müssen, wäre es ein Streik von einer Bedeutung, der sich
über die ganze Art eines gewöhnlichen Lohnkampfes weit hinaus
erstreckt. Es scheint mir, daß ich die Verpflichtung hatte, dem Statt-
halter und dem Minister das klar vor Augen zu führen. (Lebhafter
Beifall.)
Welchen Gebrauch die Herren davon gemacht haben, weiß ich
nicht; der Statthalter und der Minister haben mir versprochen, sich
zu informieren und mit den Herren darüber zu sprechen. Die Auto-
nomie der Gemeinde besteht nicht darin, daß die Gemeindeverwal-
tung Brutalität und Gesetzwidrigkeit begehen könne, ohne daß sich
jemand darum kümmert. Nun weiß ich nicht, ob es dieser Einfluß
war, oder ob doch einzelne von den Christlichsozialen die Lage be-
griffen haben: immerhin hat nach der ersten Versammlung der
Straßenbahner der Straßenbahnausschuß wieder eine Sitzung ge-
halten und sie haben zwar den Beschluß gefaßt, die Verfügung auf-
rechtzuerhalten, aber auch ausdrücklich gesagt, daß sie das Koali-
tionsrecht respektieren. Darin liegt nun allerdings ein Widerspruch;
aber unsere Sache ist es nicht, Widersprüche der Herren aufzulösen
und wenn wir den Herren nichts vorzuwerfen hätten als Mangel an
Logik und Konsequenz — das könnte man aushalten. Man konnte
also hoffen, daß sie einsehen, sie seien über die Grenze hinaus-
gegangen, daß sie es aber nicht ausdrücklich zugestehen wollen. So
haben es gewiß auch einzelne von ihnen gemeint. Man darf nicht
vergessen: unsere Christlichsozialen sind eine sehr sonderbare und
eine sehr gemischte Gesellschaft. Sie sind wie eine Armee, die auf
der Flucht ist. Da schaut jeder, daß er seine eigene Haut rettet, und
wenn er glaubt, das zu tun, gibt er dem anderen einen Fußtritt. Da
gibt es nicht klare und einheitliche Politik. Die Möglichkeit des Ein-
lenkens war also gegeben. Wir haben nun den Straßenbahnern ge-
raten, unter diesen Umständen den Streik nicht zu unternehmen.
Wir haben uns gesagt: ein Streik stellt kolossale Anforderungen an
die Opferfähigkeit nicht nur der Straßenbahner selbst, sondern auch
anderer Schichten der Arbeiterschaft. Er legt der ganzen Bewohner-
schaft Wiens kolossale Opfer auf, und wenn man eine solche Sache
irgendwie vermeiden kann, ist es Pflicht, es zu tun.
Es waren viele, die in der Erregung losschlagen wollten; wir
haben aber den Erregten gesagt, daß jede Organisation solche Pe-
rioden hatte, wo sie bedroht war. Jede mußte Schwierigkeiten
überwinden, und daß wir es für klüger halten, sie dadurch zu über-
winden, daß die Straßenbahner zur Fahne halten und den Herren
nicht den Gefallen tun, einen Kampf aufzunehmen, den die Christ-
lichsozialen offenbar wünschen. (Sehr richtig!) Warum sie ihn
wollen, darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf. Die Gewissen-
losigkeit dieser Menschen, ihre Frivolität und Gewalttätigkeit sind
unermeßlich. Ich weiß nicht, was sie sich gedacht haben. Sie können
auch gerneint haben, daß sie damit die Straßenbahner am 23. April
96 Terror und Gewissenszwang.
wieder als Stimmvieh haben werden wie früher. Aber ich bin über-
zeugt, daß diese Spekulation falsch ist. Daß sie die barbarische Ge-
walttätigkeit so weit getrieben haben, nachher noch drei Organi-
sierte zu maßregeln, ist gewiß nicht eine Maßregel, die ihnen hilft.
Ich habe noch nie gehört, daß Gewalttaten beruhigen und daß man
Liebe und Anhang gewinnt, indem man drangsaliert und auf das
Pflaster wirft. (Lebhafte Zustimmung.) Man erinnert sich, daß die
Christlichsozialen, als sie im Aufstieg waren und um die Herrschaft
kämpften, daran gegangen sind, alle möglichen Bediensteten und
kleinen Beamten zu organisieren — das war doch das ganze Ge-
schäft des Herrn Prochazka — , und daß sie gerade groß ge-
worden sind dadurch, daß sie sich des Koalitions-
rechtes der kleinen Angestellten bedient und bei
ihnen in der demagogischesten Weise gehetzt haben. Diese Leute
fangen nun zu maßregeln an. Da muß nun doch jeder begreifen:
Heute dir, morgen mir!
(Lebhafter' Beifall.) Da muß jeder verstehen, daß die Partei in ihrer
Verzweiflung schon nicht mehr weiß, was sie tut. So müssen wir
das, wras wir sehen, nicht nur auffassen als Auswuchs der Brutalität
und der Gesetzesverletzung, sondern auch der besinnungslosen Ver-
zweiflung. (So ist es!) Für uns Sozialdemokraten und für die organi-
sierte Arbeiterschaft steht die Sache so: Wir waren niemals Freunde
der Christlichsozialen, wir haben sie vom Anfang an erkannt und
danach behandelt, aber sicher ist, daß solche Dinge das Verhältnis
zu dieser Partei noch erheblich ändern. Hier handelt es sich nicht
mehr allein um einen politischen Gegner, sondern um den e r-
bittertsten, gehässigsten Arbeiterfeind, den es
gibt. (Brausender Beifall.) Sie kennen* mich zu gut, als daß Sie
meinten, daß ich übertriebene Vorstellungen von den Tugenden des
freiheitlichen Bürgertums hätte. Ich verlange von ihnen
keine ideale Politik und kann ihre politische Zukunft nicht über-
schätzen. Aber das, was wir hier bei den Christlichsozialen sehen,
zeigt, daß die Gewalttat ein Glied in der Kette dieser korrupten
Verwaltung ist, wie das sonst nirgends der Fall ist. Wir sehen leider,
daß an der Spitze der Gemeinde ein Herr Dr. Neumayer steht — wir
müssen „leider" sagen, denn wir sind alle bessere Wiener als diese
Herren — , der der Führung der Geschäfte nicht gewachsen ist, der
absolut die Tragweite von Worten und Handlungen nicht ermessen
kann, und wir sehen weiter, daß er umgeben ist von Leuten, die ihm
nicht trauen und denen er nicht traut; ich weiß nicht, wer mehr
recht hat. (Heiterkeit und Zustimmung.) Wir sehen Leute am Ruder,
die nichts im Kopfe haben als:
Zum Teufel die Gemeinde, wenn ich mich nur an der Oberfläche
halte!
Das müssen wir sagen: die Wahl muß zeigen, daß die Christlich-
sozialen der allergefährlichste Feind der Arbeiten-
den aller Schichten sind, und alles muß darangesetzt
werden, diese Herrschaft zu erschüttern und ihr ein Ende zu
machen. (Stürmischer Applaus.)
Der Qewaltstreich gegen die Straßenbahner. W
Die Straßenbahner werden diese Krise überstehen, wenn sie sich
benehmen wie Männer, welche ihrer Organisation ruhig treu bleiben
und auf die Provokationen der christlichsozialen Lockspitzel nicht
hineinfallen. Schon heute hörte ich, daß die christlichsozialen Werk-
zeuge versuchen, die Organisierten zu zwingen« sich etwas zu-
schulden kommen zu lassen, damit man sie packen kann. Die Straßen-
bahner sollen aber wissen: mit kräftigen Worten wird diese
Schlacht nicht gewonnen! Rache muß kalt genossen
w e rde n. Heute heißt es: ruhig an der Organisation festhalten, um
Wahltag sich nicht knebeln und zum Stimmvieh herabwürdigen
lassen! Dann werden andere Zeiten kommen. (Brausender Beifall.)
Wir wenden uns nicht an die Straßenbahner, weil wir ihre
Stimmen brauchen, der Kampf um das Recht des Arbeiters steht uns
höher als alle Gemeinderatsmandate der Welt. Wir wollen den
Kampf nicht ausnützen für die Wahlen; umgekehrt: die Wahl muß
ein Mittel sein, die Gemeinheit und Niederträchtigkeit, die im Rat-
haus regiert, abzuwehren. Dann wird man das Koalitionsrecht der
Straßenbahner nicht verneinen können. Die Mittel und Ziele der
Herren sind doch aucli gar zu kindisch. Wie kann man erwachsene
Leute, die doch der Bürgermeister und seine Stellvertreter sind,
ernst nehmen, wenn sie sagen: den „Weckruf" halten wir nicht aus!
Daß der „Weckruf" nicht ausschließlich mit Glacehandschuhen ge-
schrieben ist und nicht mit lauter Rosenwasser, das kann man ihm
nicht verübeln. Der Gegner ist ja auch nicht danach. (So ist es!)
Wenn es die Straßenbahner schon verstehen würden, wenn er sehr
höflich wäre, die Christlichsozialen würden es doch nicht verstehen.
(Heiterkeit und Zustimmung.) Hingegen würde ich mich sehr ent-
schieden verwahren, daß ein Blatt in dem H o f t o n geschrieben
wäre wie die Bielohlaweksche „Volkspresse" oder auch nur die
„Reichspost". Diese Leute beklagen sich über Unhöflichkeit. Da muß
wieder gesagt werden: Leute, die Dinge verübt haben wie das
Attentat auf den toten S i 1 b e r e r*) und die sich mit diesen Dingen
solidarisch erklärt haben, weil sie nichts gegen sie unternahmen,
haben ein für allemal das Recht verwirkt, über-
haupt Kritik zu übe n. (Tosender Beifall.)
Ich habe so maßvoll als möglich den Sachverhalt klargelegt. Es
sind zwrei Dinge zu tun: wir haben die Organisation der Straßen-
bahner zu unterstützen, so gut wir können, und ihnen in jeder Be-
ziehung unsere Hilfe angedeihen zu lassen. Für die Straßenbahner
» Der sozialdemokratische Wiener Abgeordnete Franz S i 1 b e r e r,
Obmann der Bäckergewerkschaft, war auf einer Skitour umgekommen
und das christlichsoziale Zentralorgan, die „Reichspost", hatte behauptet,
er sei mit der (iewerkscliaftskasse nach Amerika durchgebrannt; ja, die
Christlichsozialen hatten sich sogar falsche Zeugen in Amerika bestellt,
die ihn dort gesehen haben wollten. Als dann nach der Schneeschmelze,
Anfang April, sein Leichnam aufgefunden wurde, behaupteten die
Christlichsozialen — vor allem die „Reichspost" und der Abgeordnete
ferzabek — , das sei ein untergeschobener „Kadaver". Seither hieß
man die „Reichspost" das „L e i c h e n s c h ä n d e r b 1 a 1 1" und den Ab-
geordneten lerzabek den „Kadaver- Jerzabek".
Kdler, Briefe. XI. Bd. 7
98 Terror und Gewissenszwang.
heißt es aber : sich nicht herauslocken lassen, nicht
den Schein des Unrechts auf ihre Seite zu bringen.
Das Allernächste aber, was wir zu tun haben, ist der Kampf bei den
G e me in de r a t s \va h 1 en*). Diesmal kämpfen wir nicht allein
für das Recht in der Gemeinde, nicht allein für sozialpolitischen Fort-
schritt, sondern in allererster Linie um das ursprünglichste Recht
des Menschen, seiner Meinung freien Ausdruck zu geben und Ver-
einen anzugehören. Die Christlichsozialen werden den frivolen An-
griff auf die Arbeiterschaft noch bitter zu bereuen haben. (Stür-
mischer, anhaltender Beifall.)
*) Bei den Gemeiiuderatswahlen siegten die Christlichsozialen dank
ihrem Wahlkörpersystem, dank ihrem Wahlschwindel und ihrem Terroris-
mus wieder. Immerhin zeigte sich folgendes Kräfteverhältnis: Die Sozial-
demokraten bekamen mit ihren 118.000 Stimmen zehn Mandate im vierten
Wahlkörper, die Christlichsozialen mit 120.000 Stimmen in allen Wahl-
körpern zusammen 135 Mandate! Erst nach dem Umsturz, wo das gleiche
Wahlrecht auch für die Gemeinden eingeführt wurde, ist die christlich-
soziale Herrschaft in Wien schmählich zusammengebrochen.
Qiordano Bruno.
Kämpfer gegen den Geistesdruck.
Giordano Bruno.
„Gleichheit" vom 14. Juni 188 9.
v. a. Am Pfingstsonntag wurde zu Rom das Denkmal Q i o r-
dano Brunos enthüllt. Es steht auf demselben Platz, auf
welchem am 17. Februar 1600 der Scheiterhaufen loderte, welchem
ihn die Inquisition überantwortet hatte. Er war ein „Ketzer". Als
15jähriger Knabe trat er in den Dominikanerorden ein. Nach lang-
jährigen Studien, nach bitteren Kämpfen, in welchen sein mächtiger
Geist mit den Vorurteilen seiner Erziehung rang, nach einer Reihe
von Prozessen, die ihm der Verdacht des Abfalls vom rechten
Glauben eingetragen, floh er aus dem Kloster, legte die Kutte ab
und nahm ein mühseliges Leben voll härtester Entbehrungen und
Verfolgungen auf sich. Rastlos lernend, rastlos lehrend durchzog
er die Schweiz, Frankreich, England, Deutschland, bald die Gast-
freundschaft und den Schutz edler und vorurteilsfreier Männer
genießend; bald vor der Rachsucht der Zeloten auf der Flucht.
Schließlich ließ er sich durch die Sehnsucht nach seinem Vater-
land und das Vertrauen auf den zugesagten Schutz eines hoch-
adeligen Venetianers verleiten, nach Italien zurückzukehren. Sein
hochgeborener Schutzherr überfiel ihn im Schlafe und lieferte ihn
der Inquisition aus. Der Schurke hieß Giovanni Mocenig'o.
Unter den Bleidächern des Dogenpalastes begann im Jahre 1592
sein Prozeß. Der Papst verlangte seine Auslieferung, die im Jahre
darauf erfolgte. Sieben Jahre läng versuchten es seine Kerker-
meister, ihn zu widerlegen und von seinen Irrtümern zu über-
zeugen. Ihre Gründe konnten ihn nicht widerlegen, ihre Folter-
werkzeuge nicht überzeugen. Er hatte schwache Momente, während
er auf der Folter lag, und versprach wiederholt, er werde wider-
rufen. Aber schließlich konnte er sich nicht überwinden, zu lügen,
wie andere sich nicht überwinden können, die Wahrheit zu sagen.
Denn er war ein Held. Und so mußte er „ungebessert" verurteilt
werden. Degradiert und exkommuniziert wurde er der weltlichen
Obrigkeit übergeben mit der Bitte, „ihn so gelinde als möglich
und ohne Blutvergießen (citra sanguinis effusionem) zu bestrafen";
das hieß damals, ihn zu verbrennen. Als sein Urteil ihm, dem
knienden armen Sünder, verkündet wurde, erhob er sich stolz
und sprach : „Mit größerer Furcht sprecht ihr das
Urteil, als ich es vernchm e." Acht Tage ließ man ihm
7*
100 Kämpfer gegen den üeistesdruck.
Frist zum Widerruf; dann wurde ilim die Zunge zerrissen und er
bestieg den Scheiterhaufen. Vom Kruzifix, das man dem Sterben-
den in die Flammen zum Kusse reichte, wandte er sich schweigend
ab. Er vermochte das Zeichen der göttlichen Liebe und Duldung
nicht zu erkennen. Lautlos starb er.
Brun o war ein großer, selbständiger Denker und Dichter.
Die Welt war ihm ein Ganzes, ein einziges Wesen, durch sich
allein da, außer welchem es nichts gibt. Gott als Schöpfer außer-
halb der Welt findet darum nicht Raum in seiner Philosophie. Die
Welt selbst heißt ihm Gott. Durch „Scheidung und Entfaltung'4
bringt die Materie aus sich selbst heraus alle ihre Formen hervor.
Ihr inneres Wesen, die Weltseele, ist einzig und allumfassend.
In der Entwicklung dieser Lehren, die er in zahlreichen
Schriften niederlegte, mußte Bruno mit dem kirchlichen Dogma
in Konflikt kommen. Seine Tapferkeit der Gesinnung führte zum
offenen Bruche mit der Kirche, der verschärft wurde durch den
heiligen Eifer, mit dem er seine Überzeugung verbreitete. Bruno
war aber auch Dichter. Und den Dichter, der in glühender Be-
geisterung seine Weltanschauung poetisch ausmalte, dessen rück-
sichtslos scharfe Satire jeder Heuchelei die Maske abriß, fürchtete
und haßte Rom noch mehr. Das stolze Selbstbewußtsein Brunos
spricht sich in folgenden Versen aus:
Nicht blinder Wahn der Zeit, nicht Schicksals Tücke.
Nicht offne Wut, noch Hasses gift'ges Flüstern,
Nicht Bosheit, roher Sinn und freches Trachten
Vermögen je, den Tag mir zu verdüstern,
Mir zu verschleiern meine hellen Blicke,
Noch meiner Sonne Glanz mir zu umnachten.
Heute, nach 300 Jahren, errichtet Rom dem Ketzer ein Denkmal.
Und neu angefacht umzüngelu die Flammen des Scheiterhaufens
die edle Gestalt des feurigen italienischen Dichters und Denkers.
Neuerdings wird ihm der Prozeß gemacht und nochmals brechen
die klerikalen Zeloten den Stab über ihn*). Der Ketzer ist lebendig
worden, aber die Ketzerrichter auch. Sie zeigen, daß sie die alten
sind. Gemeine Schimpfwrorte gegen ihr Opfer, infame Verdrehungen
seiner Lehren füllen die klerikalen Blätter. Eine ohnmächtige Wut
macht sie rasen.
Woher der Zorn? Wahrlich, nicht der arme tote Bruno,
nicht seine Asche, die sie in alle vier Winde gestreut, nicht seine
Lehre, die heute längst ihr gefährlichster Feind nicht mehr ist,
nicht das Andenken an den Ketzer läßt sie so schäumen und Gift
*) In einer Ansprache an die Kardinäle erklärte Papst Leo XIII. am
30. Juni 1885, als das Denkmal beschlossen wurde, seine Aufstellung für
eine Beleidigung der Kirche, „weil mau einen zwiefach Verpesteten, der
Autorität der Kirche Widerstrebenden, gefeiert habe".
Ludwig Anzetigrüber. Mi
und Qalle speien. Was sie so fürchten, ist eins Andenken an den
Scheiterhaufen. Und da war es denn recht unklug;, daß die Kirche
von heute sich selbst solidarisch erklärte und seihst verantwortlich
inachte für die Kirche des 16. Jahrhunderts. Sie selbst erklärt sich
für dieselbe, die (iiordano Bruno dem Martertode über-
lieferte, sie selbst führt den Beweis, wie sie noch heute über
Duldung von ketzerischen Meinungen denkt.
Merkwürdig aber ist, daß die liberale Bourgeoisie nicht
merkt, daß das Denkmal, welches sie errichtet, ein Schandmal ist
für sie selbst. Sie verdammt den Scheiterhaufen von damals und
sie selbst errichtet zahllose. Galt den Ketzerrichtern von anno 1600
das Verbrennen eine „milde Strafe" für Andersdenkende, so ist
den bürgerlichen Ketzerrichtern von heute die Verbannung, der
Kerker, der langsame Hungertod die „milde Strafe" für die frechen
Ketzer, welche finden, die heutige Gesellschaftsordnung sei nicht
die Krone und das letzte Ziel aller menschlichen Entwicklung. Wer
das bürgerliche Dogma vom kapitalistischen Eigentum angreift,
wer verkündet, die Ausbeutung der Arbeit, die Knechtung der
Masse, die Prostitution des Weibes müsse ein Ende nehmen und
werde ein Ende nehmen, ist der bürgerlichen Inquisition de^
19. Jahrhunderts verfallen.
Aber der Strom schwillt und die Ketzergerichte des Kapita-
lismus werden verschwinden, wie die der Kirche, vor der ge-
schichtlichen Entwicklung. Und die heute Giordano Bruno
feiern, sie fürchten selbst für sich und aus Furcht errichten sie
Scheiterhaufen, genau wie weiland die Kardinäle. Aber auch ihnen
ruft das Proletariat zu, stolz, wie einst Giordano Bruno:
Mit größerer Furcht sprecht ihr das Urteil, als
ich es vernehme.
Ludwig Anzengruber.
„Arbeiter-Zeitung", 13. Dezember 188 9*).
Heute wird in Wien der größte dramatische Dichter unserer
Tage zu Grabe getragen. Nach einem Leben voll Kampf, Elend,
Enttäuschung und Verbitterung starb er in einem der wenigen
Augenblicke, wo die Großen und Mächtigen, halb widerwillig,
gezwungen waren, ihm den Lorbeer zu reichen. Das Volk, dem er
entstammt, das er liebte, das er in dauernden Gestalten schilderte
mit allen seinen Tugenden und Lastern, mit seinen Hoffnungen
und seiner Verzweiflung, sein Volk kannte ihn nicht, kennt ihn
*) Im Jahrgang I, Nummer 16 der „Arbeiter-Zeitung" vom 13. De-
zember 1889 erschien als Leitartikel dieser Aufsatz von Victor Adler
über Ludwig Anzcn gruber, der kurz vorher gestorben
war — in derselben Nummer, die auch die berühmte Einspruchsverhand-
lung vor dem Obersten Gerichtshof wegen der Verurteilung Adlers aus
Anlaß des Tramwaystrciks bringt. Wenige Tage also, bevor Adler in
den Arrest wanderte, fand er die Zeit, fühlte er die Notwendigkeit, sich
mit fragen der Kunst zu befassen. („Kunst und Volk", November 1Q28.)
102 Kämpfer gesell den Oeistesdruck.
heute fast noch nicht. Von allem Empörenden in unserer heutigen
„Ordnung" ist es Vielleicht das Empörendste, daß sie das Volk
nicht nur dem physischen Elend, der quälenden Not überläßt, daß
sie das Volk nicht nur politisch knechtet, sondern auch, daß sie
das Volk von dem Genuß der höchsten geistigen Schätze aus-
schließt. Die großen Gedanken unserer Denker, die mächtigen
Schöpfungen unserer Künstler sind Ware, wie alles Ware geworden,
und sind nur dem zugänglich, der ihren Besitz bezahlen kann. Kunst
und Wissenschaft, bestimmt, das gesamte Volk zu beglücken, zu
begeistern, zu erheben, sind die Opfer der niedrigsten Gewinnsucht
von Leuten, die in Dramen spekulieren, die sie nicht gemacht, wie
andere in Tuch, das sie nicht gewebt, oder in Kohle, die sie nicht
gefördert. So werden die leuchtenden Edelsteine des Gedankens
an die plumpen Protzen verschachert, welche lieblos und ohne
Verständnis sie gerade gut genug dazu finden, mit ihrem Glänze
das Pfauenrad ihrer Eitelkeit zu schmücken. Das Volk, der
Mutterschoß des Genies, genießt nichts von seiner Fruchtbarkeit,
so wenig wie von den Früchten seiner physischen Arbeit.
Wäre das Volk so sehr im Wohlstand als es im Elend ist, wäre
es heute so frei als es versklavt ist — die einzige Tatsache müßte
den heutigen Zustand unerbittlich verdammen, daß der großen
Masse des Volkes jener strahlende Himmel von Gedanken ver-
schlossen ist, ohne welchen dem Wissenden das Leben nicht
lebenswert erscheint. Und mit welcher Begierde lechzt die elende
Masse, .der „Pöbel" in Lumpen. und mit hungrigem Magen, nach
jedem schmalen Lichtstreifen, den der dicke Vorhang durchläßt,
während die Großen und Mächtigen, der Pöbel in Seidenhüten,
auf schwellenden Samtpolstern "lungernd, die größten Gedanken
des menschlichen Gehirns gelangweilt und übersättigt vorführen
sieht.
Das Monopol auf die Frucht der menschlichen Hirnarbeit wird
erst gebrochen werden zugleich mit dem Monopol auf die Frucht
der Handarbeit.
Ludwig Anzengruber war ein Volksdichter, und den Charakter
des österreichischen Volksstammes hat keiner so verstanden und
darzustellen gewußt wie er. Eine Reihe von Volksstücken, zum
größten Teil im österreichischen Dialekt abgefaßt, eine ansehnliche
Zahl von Erzählungen geben * davon Kenntnis. Als dramatischer
Dichter ragt er so nahe an Shakespeare hinan wie kein anderer
der Neueren. Und doch ist er von wenigen geschätzt und hat lange
nicht den Ruhm erlangt wie die Fabrikanten glatter Rührstücke
und philiströser Possen oder, wie die Zotenreißer, welche heute die
Bühne beherrschen. Warum? Der Grund ist klar. Anzengruber war
ernst, und das Publikum will Rührung. Anzengruber hatte Humor,
und das Publikum will Spaß. Und wenn sie ihn anerkennen mußten,
wenn sie die große Dichtergestalt nicht länger ignorieren konnten,
so beugten sie sich nur widerwillig und grollend. Sie fühlten, viel-
leicht ohne es zu wissen, Anzengruber gehöre nicht zu ihnen.
Ludwig Aii/i-uv.i über. 103
Wir sin d \v eil davon e n t f c r n t, i li n als S 0 Z i a-
listen zu i) r o k l a m leren. Da s w Irtschaftlichä Pf o-
b 1 c in I a g i li in I c r n. A h e r c r f ü li I t die s c li n e i d e n d e n
Widers p r ü e li e in unserer ( i e s e I 1 s e li a f t und mit
der naiven Wahrheitsliebe des wirklichen Die h-
ters sprach er aus, was er sali und fühlte. In jedem
seiner Stücke kommt ein Mann vor, der den Widerspruch zum
Ausdruck bringt, der nicht ist wie die anderen, sondern der denkt
und der die Menschen liebt. Der Wurzelsepp im „Pfarrer von
Kirchfeld", der Steinklopferhannes in den „Kreuzelschreibern", der
Einsam in „Stahl und Stein", der Hubermayer in „Fleck auf der
Ehr", sie alle sind zugrunde gegangen in und an der Gesellschaft,
und sie wußten und sahen das. Diese „Lumpen", durch welche die
ganze biedere, ehrenwerte Bürger- und Bauerngesellschaft eigent-
lich und ihre satte Tugend ein verflucht schäbiges Aussehen
bekommt, sie sprechen die Sprache der Wahrheit. Und das macht
den Dichter unbequem.
Anzengruber war eine Rebellennatur wie Beethoven, wie
Richard Wagner, und daher der lange Zeit offene, später noch
immer versteckte Krieg gegen ihn wie gegen jene Großen. Ein
einziges Mal winkte ihm der allgemeine Beifall des Bürgertums.
Er war ein Feind der Pfäfferei, und sein „Pfarrer von Kirch-
feld" fiel in jene Zeit, wo die österreichische Bourgeoisie den
letzten Anfall von Freisinnigkeit hatte- Das machte ihn „populär"
für kurze Zeit. Das Deutsche Volkstheater, in welchem nur jenes
Volk Platz findet, das Zeit und Geld hat, soll Anzengruber zu Ehren
bringen. Aber der zahlungsfähige Geschmack verlangt glatte Ko-
mödie, und den Luxus wirklicher Dichtung kann man sich selten
gönnen.
So ist der Mann, den sie morgen begraben werden, nicht zur
vollen Ruhe gelangt. Er selbst fühlte es, wie die Schwingen seines
Genies gelähmt wurden durch die Stickluft, die Gleichgültigkeit,
Denkfaulheit und die egoistische Beschränktheit derjenigen
Schichten, denen allein er sich vernehmbar machen konnte. Das
Volk aber, zu dem er gehörte, zu dem er sprach, an das Volk
konnte er nicht herankommen. Was aus Anzengruber in einem
freien Lande, unter menschlichen Zuständen geworden wäre, läßt
sich nicht absehen. Das „kunstliebende" Bürgertum ließ ihn ver-
kümmern, wie es Schiller und Feuerbach verhungern ließ, wie es
Wagner zwang, unter die Protektion eines prachtliebenden Fürsten
zu flüchten.
Anzengruber ist in kleinlichen, dürftigen Verhältnissen ge-
storben, aber die Lindau, Moser und wie die dichtenden Lakaien
der Bourgeoisie alle heißen, wohnen in Palästen und speisen mit
den Großen der Erde.
Möge der Prunk nicht irreführen, mit dem sie Anzengruber
morgen begraben werden. Am besten gefällt ihnen an ihm eben
— daß er tot ist.
Aber der Tag wird kommen, wo unsere Künstler werden zum
104 Kämpfer gegen den üeistesdruck.
Volke sprechen können, wo die Scheidewand fällt, welche sie von
denen trennt, aus deren Herzen sie sprechen, wo die Kunst Gemein-
gut sein wird für alle, die Hirn und Herz haben, sie zu fassen.
Die Scheidewand wird fallen, wenn die Ketten
fallen.
Die Hinrichtung in Chikago.
„Gleichheit" v o m 1 2. November 1887.
V. A. Zur selben Stunde, in welcher dies Blatt unter die Presse
geht, werden sieben Männer im fernen Chikago getötet werden,
sieben wirkliche, tapfere Männer*). Was ist ihre Schuld?
*) In Chikago wurden am 11. November 1887 die Anarchisten August
S p i e s, Albert P a r s o n s, Adolf Fischer und Georg Engel mit dem
Strang hingerichtet. Louis L i n g g hatte am Tage vorher in der Zelle
Selbstmord begangen. Die zwei ebenfalls zum Tode verurteilten F i e 1 d e n
und Schwab waren infolge der internationalen Protestbewegung zu
lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt worden. Ein achter, N c e b e, war
gleich zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
Alle acht waren ursprünglich wegen Mordes angeklagt, die Anklage
aber dann auf Verschwörung zur Ermordung von Polizisten umgewandelt
worden. Das Verbrechen sollen sie am 4. Mai 1886 in einer Versammlung
begangen haben, die streikende Arbeiter abhielten. Die amerikanischen
Gewerkschaften hatten beschlossen, eine energische Aktion für die Er-
ringung des Achtstundentages einzuleiten und die Anarchisten hatten die
Parole ausgegeben, am 1. Mai 1886 in den Streik zu treten. Die erschreckte
Bourgeoisie schrie nach Schutz, und als sich der Streik in Chikago .wirklich
ausdehnte, drangen einige hundert Polizisten in eine Versammlung, die am
4. Mai abends auf dem Heumarkt stattfand. Als der Offizier in die friedliche
Menge zu schießen befahl, explodierte eine Bombe, die sieben Polizisten
tötete und sechzig verletzte. Allgemein war man der Überzeugung, daß
die Bombe von einem Agent provocateur geworfen worden war, aber die
Veranstalter der Versammlung wurden angeklagt und, obwohl sie jede
Schuld bestritten, auch keinerlei Beweis gegen sie vorlag, verurteilt. Ob-
wohl nicht nur die amerikanischen Arbeiter, sondern die ganze gesittete
Welt für die Aufhebung des ungerechten Urteils schrie, wurde das Urteil
bestätigt.
Die anarchistische Bewegung war durch die Mordtat gelähmt, aber die
Gewerkschaften setzten mit einem so gewaltigen Kampf für den Acht-
stundentag ein, daß er im Jahre 1890 Gesetz wurde.
Die Opfer des Justizmordes wurden aber sechs Jahre später auch amt-
lich rehabilitiert und der Prozeß als schändliche Klassenjustiz, die Ver-
urteilungen als offenkundiger Mord erklärt.
Am 25. Juni 1893 wurde auf dem Hügel, unter dem die Gebeine der
gemordeten Opfer ruhten, ein Grabdenkmal aufgestellt, das aus Beiträgen
der Proletarier der ganzen Welt geschaffen worden war. Und bald danach
ließ der Gouverneur des Staates Illinois J. P. A 1 1 g e 1 d, der die vielen
tausende Akten des Prozesses durchstudiert hatte, die drei noch am
Leben gebliebenen Opfer Fielden, Schwab und N e e b e aus dem
Zuchthaus in Joliet nach sieben Jahren Kerker frei. In der Amnestie-
botschaft, die er veröffentlichte, stellte er fest, daß der Prozeß gegen alle
acht Angeklagten in parteiischer Weise geführt worden sei.
Der Staatsanwalt G rinn eil habe nicht wie ein Beamter gehandelt, der
Die Hinrichtung in Chikai i(>r>
Die einzige, die wirklich bewiesen worden vor jenen (ie-
schwornen, ihren Richtern, war die einzige, ZU der sie sich frei-
mütig und furchtlos bekannten. Sie haben in Schrift und Rede die
heutige Gesellschaftsordnung bekämpft. Ob sie sich Sozial-
demokraten, ob sie sich Anarchisten nennen, ob wir in allein und
jedem ihre Überzeugung teilen, ob nicht sie haben für die Sache
der Zukunft nach ihrem besten Wissen mit freudigem Mute ge-
kämpft. Und deshalb hängt man sie? Man hängt sie unter einem
Vorwand; man beschuldigt sie, sie hätten jene „Bombe von
Chikago" geworfen. Die Männer, welche erklären, jede „Gnade"
zurückzuweisen, würden sich auch zu dieser Tat bekennen. Jeder-
mann in Amerika aber weiß, daß diese Anschuldigung erlogen,
ein bloßer Deckmantel für einen Akt der Klassenjustiz und nur
durch bestochene Zeugen „erwiesen" ist.
Wir verlangen von unseren Gegnern nicht, daß sie nach unseren
Prinzipien urteilen, wir verlangen noch weniger Schonung. Aber
selbst nach den Prinzipien des bürgerlichen Klassenstaates, nach
den Rechtsgrundsätzen der bürgerlichen Republik von Nordamerika
ist es ein Justizmord, was morgen geschehen wird. Die sieben
Männer verfallen dem Tode einzig und allein wegen ihrer
Meinungen, welche dem Klasseninteresse der richtenden Ge-
schwornen zuwiderlaufen.
Die blutige Maiwoche, welche die Kommune von Paris fallen
sah, kostete Tausende von Proletarierleben. So himmelschreiend
die Großtaten der Schergen Gallifets und Thiers' waren, ein Um-
stand wirkt nicht mildernd, aber erklärend: die Tat geschah im
Kampf, in jenem gräßlichen Rausch, den Kanonendonner und
dampfendes Blut erzeugen. Die sieben Männer morgen werden
kalten Blutes getötet werden.
In der ganzen Welt haben nicht etwa die Proletarier allein,
nein alle, deren Herz und Hirn noch nicht verdorrt ist in brutalstem
Klasseninteresse, gegen die Vollstreckung des Urteils protestiert.
Umsonst!
Wir glauben nicht an die prahlerischen Drohungen von schneller,
blutiger Rache, von der Einäscherung Chikagos, wie man sie wohl
ab und zu hören konnte. Aber wir glauben an die tiefe, anhaltende
Wirkung des Aktes, der sich morgen vollziehen wird. Die sieben
Männer fallen nicht vergebens!
das Recht suchte, sondern wie ein heimtückischer Verfolger, der eine
Anzahl politischer Gegner unschädlich machen wollte. Der Polizeiinspektor
B o n f i e 1 d habe auf dessen Anordnungen hin falsches Beweismatcrial
fabrizieren, Meineide schwören lassen und den Angeklagten Handlungen
und Worte unterschoben, die nur in der Einbildung bestanden, während
die Richter vom Beginn an Entscheidungen fällten, die davon zeugten,
daß es ihnen nicht darum zu tun war, Gerechtigkeit walten zu lassen,
sondern die Angeklagten unter allen Umständen an den Galgen und ins
Gefängnis zu bringen.
Altgeld wurde allerdings für diese Tat, die ihm das Lob der ganzen
zivilisierten Welt eintrug, von der Bourgeoisie gestraft, indem sie ihn nach
Ablauf seiner Mandatsdaucr nicht mehr wählte.
106 Argumente der Christlichsozialen.
Argumente der Christlichsozialen.
Christliche und jüdische Ausbeutung.
Wählerversammlung, 2 8. Februar 189 7*).
Die Antisemiten, die vorgaben, der ehrlichen Arbeit wieder
zu ihrem Rechte verhelfen zu wollen, sind jetzt ganz die Partei
der Besitzenden geworden. Die ärgsten Ausbeuter Wiens sind die
christlichen und jüdischen Hausherren, die eine große Organisation
im Hausherrenverein haben, dessen erster Ehrenpräsident der
Bürgermeister Strobach ist. (Stürmische Pfuirufe.) Rufen Sie
nicht Pfui! Seien wir lieber froh, daß die Antisemiten offen als
Hausherrenpartei auftreten. Worüber man aber Pfui! rufen muß,
ist, daß sie dabei noch immer die Unverschämtheit haben, die
Stimmen der Arbeiter haben zu wollen. Der Dr. Lueger und der
Noske, der Oberantisemit und der Oberjudenbeschützer, sind zu-
sammengegangen, um den Schubwagen zu erhalten**). Mögen ein-
ander diese Herren sonst auch noch so sehr bekämpfen, beim
Schubwagen treffen sie sich. Trotzdem die Antisemiten vor kurzem
erst die reichsten Juden zum Ball der Stadt Wien geladen haben,
behaupten sie, daß die Sozialdemokratie von den Juden geführt
werde. Sie hätten sich ja auch um die Arbeiter kümmern können.
Allerdings, der Liechtenstein hat sich ja beispielsweise um den
Ausnahmezustand gekümmert, aber indem er erklärte, der Aus-
nahmezustand sei notwendig gegen die Anarchisten. Das sagte der-
selbe Liechtenstein, der sehr gut wußte, daß der „Anarchist"
P e u k e r t, mit dem er verkehrte, ein Polizeispitzel war. Solange
die Arbeiter kein Wahlrecht hatten, haben sich die Herren nicht
sehen lassen, jetzt kommen sie und verlangen die Stimmen der
Arbeiter. Der 9. März wird aber zeigen, daß das Volk von Wien
nicht unter der schwarzen Kutte steht, sondern daß es unter der
roten Fahne marschiert.
*) In den letzten Wochen vor der ersten Wahl aus der fünften Kurie
mußte Adler jeden Tag, oft in mehreren Versammlungen, sprechen. So sprach
er am 28. Februar in einer Versammlung auf der Wieden, welcher bürger-
liche Bezirk zu dem Favoritner Wahlkreis hinzugefügt war. Da hier auch
zahlreiche Kleingewerbetreibende anwesend waren, sprach er hier vor-
nehmlich über das Thema, das von den Christlichsozialen in den Vorder-
grund gestellt wurde, über die jüdische Ausbeutung. Seine weiteren
Reden an demselben Tag an anderer Stelle.
**) Beide hatten gegen das Heimatsgesetz gestimmt.
Sozialdemokratische Wahlkosten. 107
Sozialdemokratische Wahlkosten.
W ä h I e r v e r s a rti m 1 u n g, 2 8. F e b r u ar \k()1').
Herr Dr. Lueger konnte diese offene Präge um SO leichter an
inieli richten, weil, wenn der Dr. Adler in das Lokal gekommen
wäre, um die Frage ZU beantworten, er von den Ordnern mit den
Ochsenziemern sofort hinausgeworfen worden wäre. Das hat den
Dr. Lueger aber nicht gehindert, in einer einige Tage später
abgehaltenen Versammlung pathetisch zu erklären: „Herr
Dr. Adler hat meine Anfrage noch immer nicht beantwortet!" Die
Antisemiten glauben, daß es bei uns so zugeht wie bei ihnen, wo
jeder Schritt schwer bezahlt werden muß, wo jeder Ordner von
St. Marx**) unter 4 bis 5 fl. für den Abend nicht zu haben ist. Der
Dr. Lueger sieht nun die ungeheure Arbeit, die wir während der
Wahlen leisten, und da sagt er sich, daß diese Arbeit bei den Anti-
semiten einige Millionen kosten würde. Wenn die Antisemiten an
einem Tage in ganz Österreich 2V-> Millionen Wahlflugblätter ver-
teilen wollten, so würde sie das selbstverständlich sehr viel kosten,
wir haben das umsonst; wir werden am Wahltag in Wien mehr
als fünftausend Genossen brauchen, und wir haben sie schon jetzt
zu unserer Verfügung. Wenn wir da jedem 5 fl. zahlen sollten und
Würstel und Bier, wie die Antisemiten, dann würden wir allerdings
sehr viel Geld brauchen. Wir können auf den Geldsack der Klöster
verzichten, ebenso wie auf den der Juden, weil wir über den
Opfermut unserer Genossen verfügen. Wir haben ein Kapital zur
Verfügung, das die Antisemiten nicht haben, das Kapital der Über-
zeugung jedes Genossen, daß unsere Sache die wahre ist, der
Überzeugung, daß jeder Genosse für sich und seine Familie
arbeitet. Im weiteren Verlauf seiner Rede erörtert Genosse
Dr. Adler die Wichtigkeit des politischen Kampfes neben dem
gewerkschaftlichen und die Stellung, die die verschiedenen parla-
mentarischen Parteien zur Arbeiterschaft einnehmen. Dr. Adler
schließt mit der Aufforderung, am 9. März wieder so vorzugehen
wie am 13. März und am 1. Mai und durch Ruhe zu imponieren.
Jeder solle sich fest vornehmen, sich durch die zu erwartenden
Bubenstücke der Gegner weder provozieren noch einschüchtern
zu lassen. Der Wahlsieg solle durch keine Ausschreitung befleckt
werden.
*) In Rappels Rosensaal antwortete Dr. Adler vor einer massenhaft
besuchten Metallarbeiterversaminlung auf die „offene Anfrage", die
Dr. Lueger an ihn gerichtet, woher die Sozialdemokratie die kolossalen
Summen nehme, die sie zum Wahlrechtskampf benötige.
**) Die Christlichsozialen ließen ihre Versammlungen von städtischen
Arbeitern des Schlachthauses von St. Marx bewachen, die mit Ochsenziemern
jeden, der einen Widerspruch wagte, bearbeiteten.
108 Argumente da Christlichsozialen.
Die „jüdischen Führer44.
Wähler v e rsanimlnng, 2. März 18 9 7*).
Dr. Mayreder haßt das Wort „bürgerlich", den Klassenunter-
schied, aber mit dem bloßen Hasse bringt man den Klassen-
gegensatz nicht aus der Welt. Mag man auch noch so sehr Politik
in das Himmelblaue machen, auf Erden stößt man immer auf den
Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Ausbeutern und
Arbeitern. Es nützt nichts, diesen Gegensatz zu hassen,
wenn man nichts tut, ihn zu beseitigen. Dr. Mayreder
hat gemeint, daß jemand von uns die französische Republik als eine
„sozialistisch vorgeschrittenere" Organisation ansieht; im Gegen-
teil, sie ist eine kapitalistisch vorgeschrittenere Republik, in der die
reine Geldsackwirtschaft herrscht. Diese französische Republik
wird gerade von uns am konsequentesten bekämpft. Auch daß der
Pariser Gemeinderat, der 400.000 Franken für den Zarenempfang
bewilligte, sozialdemokratisch ist, ist unrichtig; unsere Pariser
Genossen haben auf eine so energische Weise dagegen gekämpft,
daß sie in Österreich nicht unter zwanzig Jahre Kerker bekommen
hätten. Natürlich, wenn man seine Kenntnis aus den Entstellungen
der bürgerlichen Blätter schöpft, so kommt man naturgemäß zu
falschen Anschauungen. Dr. Mayreder schlägt die Taktik ein, daß
er erklärt: Die sozialdemokratischen Arbeiter sind ausgezeichnete,
brave Leute, aber die Führer sind verflixte Kerle. Dabei sprechen
die Herren immer nur von den „jüdischen" Führern (nebenbei
bemerkt, gibt es unter den Antisemiten mehr Juden als unter uns),
nie von der großen Masse der führenden arischen Genossen. Ich
brauche nicht zu sagen, was ich geleistet habe, meine Genossen
kennen mich. Seit zwölf Jahren ist meine Person mit der
Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung verknüpft. Daß
ich mir da die Erlaubnis hätte holen sollen bei den Herren Deutsch-
nationalen, habe ich nicht für notwendig gehalten. Dr. Mayreder
wirft mir vor, ich hätte bei den Verkehrsanlagen nicht den
Dr. Lueger unterstützt, er weiß sogar, warum. Nun, weil ich ein
internationaler Mensch bin, mit anderen Sittlichkeitsbegriffen usw.
Ungefähr im Jänner 1892 habe ich einen größeren Artikel in der
„Arbeiter-Zeitung" geschrieben, worauf die Bauarbeiter Wiens und
die anderen Branchen diese Forderungen erörterten**). Dr. Lueger
und Geßmann, die damals in der Opposition waren und sich darum
diesen Luxus erlauben konnten, haben diese Forderungen zum
*) In der Wählerversammlung auf der Wieden trat Dr. Adler der
Deutschnationale Dr. Mayreder gegenüber, der ruhig angehört wurde.
Er wünschte, daß die Arbeiter einen Genossen aus ihrer Mitte wählen und
nicht den Dr. Adler, „der seine ganze Machtstellung der Tätigkeit seiner
Vorfahren verdanke".
**) Der Artikel ist abgedruckt im fünften Heft dieser Schriften. Er heißt
„Die Verkehrsanlagen von Groß-Wien und die Wiener Arbeiter", vom
8. Jänner 1892. (Bd. V, Seite 107.) Anschließend daran noch einige Artikel
über das gleiche Thema.
Die „jüdischen Führer". n»'*
Gegenstand eines Antrages gemacht, einen anderen Teil haben die
abgeordneten Kaizl und Bärnreither vertreten. Diese Forderungen
wurden von den Gegnern heftig bekämpft. Das, was an dem einen
g in der „Arbeiter-Zeitung" in Erwiderung der Angriffe der
Gegner stand, wurde am anderen Tage von (ießmaim und Lueger
im Parlament vorgebracht. Ich, der internationale Sozialdemokrat,
Italic diesen Feldzug damals allein führen müssen. (Dr. M a y r e d e r
ruft: Im nationalen Sinne!?) Was meinen Sie mit dieser Frage?
Wissen Sie, ich kandidiere auch in Reichenberg, wo die nationalsten
uer Nationalen wohnen, und wenn dort jemand den Arbeitern von
deutschnational spricht, dann lachen sie ihn aus, weil dieselben
Herren, die die ganze Nacht die deutsche Fahne hochhalten und
für die deutschen Volksgenossen schwärmen, am nächsten Morgen
den tschechischen Arbeiter aufnehmen, wenn er um fünf Kreuzer
weniger verlangt als der deutsche Arbeiter.
Wir* die wir den Arbeitern eine höhere Lebenshaltung bei-
zubringen suchen, wir sollen Feinde des Deutschtums sein? Wir
wenden uns nicht dagegen, daß der chinesische Kuli bei uns ein-
geführt wird, aber wir verlangen, daß er zu einem höheren Lohne
arbeite. Die deutschen Reeder, die das Deutschtum immer hoch-
halten, sind es, die die chinesischen Kuli einführen, weil sie
billiger arbeiten als die deutschen Arbeiter. Wir wollen unsere
Arbeiter lieben, und wir wissen, daß das nur geschehen kann,
wenn wir auch alle anderen Arbeiter heben. Jeder Fortschritt
der tschechischen Arbeiter ist auch ein Fortschritt für die
deutschen Arbeiter. Aber darum lieben wir unser Volk nicht
weniger als Sie. Um die Bergarbeiter in Ostrau braucht sich ein
Deutscher nicht zu kümmern, denn das sind Tschechen. Aber die
Bergarbeiter von Falkenau sind Deutsche und ihre Ausbeuter
größtenteils Juden, und trotzdem ist die antisemitische Presse,
darunter auch die deutschvolkliche, gegen die Arbeiter auf-
getreten. Wo waren auch die deutschen Volksgenossen, als man
Hunderte von deutschen Arbeitern in ganz Böhmen zusammen-
gefangen hat wie die Hunde und sie in Ketten nach Prag
schleppte? Ich war damals, ich gestehe es, ungesetzlicherweise
in den Bergen von Reichenberg herumgeschlichen und wurde
spgar in Reichenberg als bedenklich verhaftet und von einem
deutschnationalen Polizeisekretär vernommen. Da sagte ich mir:
Ich internationaler Sozialdemokrat bin hundertmal mehr deutsch
als du deutschnationaler Heuchler und Kapitalistenknecht! Herr
Dr. May reder ist kein bösartiger Gegner, aber er läßt sich ein-
reden, daß ich diesem Bezirk von einer Kapitalistengruppe auf-
gedrängt wurde. Aus welcher Welt kommen Sie denn? Wissen
Sie denn nicht, daß es wohl keinen Menschen gibt, den die öster-
reichischen Kapitalisten mehr hassen als mich? Die Herren vom
Wienerberg sagen, wenn von mir die Rede ist: Der „Jud" kostet
uns 300.000 fl.; ähnlich spricht auch der Rothschild und die
anderen großen Ausbeuter. Alle diese Leute hassen mich, wie
man das Böse haßt, und ich bin stolz darauf. Nun kommen die
großen Mittel daran, über die wir verfügen sollen. Da muß ich
110 Argumente der Christlichsozialen.
Ihnen ein Geheimnis anvertrauen, Herr Doktor. Mit unserem
Wahlfonds steht es schlecht. Wenn Sie etwas beisteuern wollten,
wir könnten es sehr gut brauchen. Bei uns wird jeder Kreuzer
veröffentlicht; können Sie das von dem Wahlfonds Ihrer Partei
auch sagen? Wenn Sie wissen wollen, über was für Kapital wir
verfügen, dann will ich Sie in allen Bezirken herumführen und
Ihnen da zeigen, wie da die Arbeiter in unseren Lokalen die ganze
Nacht umsonst für uns arbeiten. Das ist das Kapital, über das wir
verfügen, und das bitte ich, uns nachzumachen! Was meine
Person und meine Mittel betrifft, so kann ich Ihnen sagen, daß ich
früher einmal eine Rente von ein paar tausend Gulden hatte; ich
habe das Kapital nicht versoffen und nicht verspielt. Seit Jahren
schon lebe ich aber bereits vom Ertrag meiner Feder. Wenn Sie
aber im Verhältnis zur Qualität Ihrer Arbeit so schlecht bezahlt
würden wie ich, wären Sie gewiß nicht zufrieden. Ich bin so-
zusagen ein Streikbrecher, ein Schuster, denn ich arbeite weit
unter dem Tarif, der bei meinen Branchenkollegen, den Redak-
teuren, das Drei- bis Vierfache davon beträgt. Wenn Sie aber
wünschen, daß ich mich mit einem Ihrer Genossen vergleiche, so
kann das geschehen. Ich bin Zeitungsherausgeber, und auch der
Herr Vergani*) ist es. Ich habe angefangen, als ich noch ein Haus-
herr war; jetzt bin ich es nicht mehr. Der Vergani hat ohne
Häuser, aber mit Schulden angefangen und ist jetzt mehrfacher
Hausherr. Freilich, zu den Moralbegriffen dieses Ihres Volks-
genossen kann ich, der Jude Adler, mich nicht emporschwingen.
Ich muß gestehen, ich habe vor Ihnen einen gewissen Respekt,
Herr Doktor, denn ich habe Sie nie bei einer der Gemeinheiten
Ihrer Partei gesehen; meinen Respekt hat es erhöht, daß Sie
heute hier erschienen sind. Aber ich begreife nicht, wie ein Mann
wie Sie ruhig von mir sagen kann, ich hätte geringere Moral-
begriffe. Allerdings, in einem kann ich es mit Ihnen nicht auf-
nehmen. Meine Eltern waren Juden; aber meine Eltern waren
darum nicht schlechter als die Ihren, Herr Doktor. Mit einem
Wort, wenn die Arbeiterschaft mich kandidiert, dann tut sie es
wahrscheinlich deshalb, weil sie mich brauchen kann. Das ist der
Stolz meines Lebens. Die Arbeiter meinen, daß ich ihnen nützen
kann**).
*) Ernst Vergani, der Herausgeber des „Deutschen Volksblattes",
von dem Schönerer, als Vergani von ihm abfiel und christlichsozial wurde,
die unangenehmsten Dinge erzählte.
**) Mayreder hat darauf nicht mehr geantwortet.
Kampi Kegea öadeni. ' l '
Von Badeni bis Thun.
Kampf gegen Badeni.
Zwölf V e r s a m in 1 u n g e n am 2 2. September 18 9 7*).
Als üraf Badeni vor einigen Monaten das Parlament schloß, da
war es deshalb, weil er ganz ratlos war. Die vierzehn sozialdemo-
kratischen Abgeordneten, so sehr sie auch den Wunsch haben, ihm
das Leben so sauer und auch so kurz zu machen als möglich, sie
allein hätten das nicht zustande gebracht; die jetzt dem Badeni so
fürchterlich wurden, sind unsere alten guten Bekannten, die unter
*) Am 23. April 1896 hatte das Abgeordnetenhaus Badeni seine Wahlreform
bewilligt, die am 14. Juni 1896 sanktioniert wurde. Vom 4. bis zum 24. März
1897 waren die Wahlen, die aber dem Ministerpräsidenten doch keine feste
Mehrheit gebracht hatten, so daß er namentlich für den Ausgleich mit
Ungarn keine Majorität hatte, obwohl die Christlichsozialen dafür zu
stimmen bereit waren, nachdem er ihnen die Bestätigung des am 8. April
zum fünftenmal zum Bürgermeister gewählten Lueger zugesagt hatte. Um
die Jungtschechen zu gewinnen, versprach er ihnen, ihre wichtigsten
sprachlichen Wünsche durch eine Verordnung zu erfüllen. Statt ein Gesetz
zu schaffen, was mühevolle Verhandlungen erfordert hätte, wollte er diese
wichtigste Frage Österreichs durch eine Verordnung regeln. So wurden
am 5. April 1897 die S p r a c h e n v e r o r d n u n g e n für Böhmen und
Mähren erlassen, die von den Deutschbürgerlicheu als Angriff auf ihre
nationalen Rechte, vor allem auf das geschlossene deutsche Sprachgebiet
angesehen und mit Obstruktion beantwortet wurden. Am 2. Juni
schickte Badeni, nachdem er die Obstruktion e n t z ü n d e t halte,
das Parlament nach Hause. Aber der nationale Streit war dadurch
nur auf die Straße getragen worden. Vergebens bemühten sich die
deutschen und tschechischen Sozialdemokraten Böhmens, den nationalen
Furor einzudämmen. Am 4. September fand eine Konferenz der Ver-
trauensmänner beider Nationen statt, die beschloß, im ganzen Lande Ver-
sammlungen mit dem Programm „Stellung der Arbeiterschaft zur natio-
nalen Hetze" zu veranstalten. An die Arbeiterschaft wurde ein Manifest
für den nationalen Frieden herausgegeben. Am nächsten Tag fand dann
in Prag eine große Demonstration für den Völkerfrieden
statt, an der auch Hunderte von deutschen Vertrauensmännern aus dem
Lande teilnahmen.
Am 23. September trat das Parlament wieder zusammen, ohne daß sich
in diesen dreieinhalb Monaten etwas geändert hätte. Am Tag vorher
beschloß der sozialdemokratische Verband, eine Reihe von sozialpolitischen
Anträgen einzubringen. Am Abend fanden dann zwölf Massenversamm-
lungen statt. In der Versammlung beim I »reher sprach Adler.
112 Von Badeni bis Thun.
früheren Regierungen mitunter aueh Opposition machten, mitunter
auch nicht, je nachdem sie gefüttert wurden, dieselben Leute, die
von jedem, der politisch denkt, als abgetane Schauspieler erkannt
sind. (Bravo!) Nicht die eigene Kraft der bürgerlichen Parteien ist
es, sondern die Fehler und die Unfähigkeit des Grafen Badeni,
die es ermöglichte, daß selbst diese schwächlichen bürgerlichen
Parteien aussehen, als wären sie jemand. Das ist eben der Fluch
aller ungesetzlichen Regierungen, daß selbst das Gute, was sie tun,
zum Schlechten ausschlagen muß. Vor einigen Tagen fragte mich
ein christlichsozialer Abgeordneter, warum wir den Badeni be-
kämpfen, da wir doch wissen, daß sein Nachfolger uns nicht mehr
gewogen sein wird. Das ist bis zu einem gewissen Grade richtig,
aber Graf Badeni ist der gefährlichste Minister, den wir seit Jahr-
zehnten gehabt haben, weil es scheint, daß er so fest sitzt, daß er
Fehler auf Fehler machen darf. Die Herren Funke, Pergelt usw.,
Leute, die von selbst ruhig geworden wären, wenn man sie sich hätte
ausreden lassen, sind durch die Kunst Badenis zu Helden gemacht
worden, und sie kommen durch seine Kunst aus ihrer Heldenrolle
nicht heraus. So kommt es, daß wir auch heute vor einer Situation
stehen, deren Folgen gerade die Arbeiterschaft besonders zu tragen
hat. (Richtig!) Mit dem festen Willen und der Fähigkeit, etwas zu
tun, mit einem festen Programm kamen unsere Abgeordneten in
das Parlament, und nun kommen sie nicht dazu, etwas zu tun, weil
sie sich sagen müssen, mögen alle Dringlichkeitsanträge noch so
dringlich sein, das Allerdringlichste ist: Weg mit Badeni! Unsere
Aufgabe wird also sein, alles zu tun, um unsere Anträge, die wir
vorbereitet haben, zur Beratung zu bringen, andererseits aber auch
alles zu tun, um dieser Regierung das Lebenslicht auszublasen.
(Stürmischer Beifall.) Die Obstruktion ist eine sehr wichtige Waffe,
wenn sie gerichtet wird nicht gegen jene Gesetze, die der Regie-
rung unangenehm sind (wenn ein Arbeiterschutzgesetzentwurf ein-
gebracht wird, Obstruktion zu machen, wäre lächerlich), sondern
gegen jene, die der Regierung von Wichtigkeit sind. Was wird nun
geschehen? Wenn alles vernünftig vor sich ginge, wäre Badeni in
vierzehn Tagen kein Minister mehr, aber Österreich ist das Land
der Unvernünftigkeiten, und darum weiß man nicht, was geschehen
wird. Wir Sozialdemokraten haben in den letzen Jahren gute
Arbeit geleistet und auf unserem letzten Kongreß und der Prager
Friedensmanifestation haben wir gezeigt, wie man die Freiheit und
Selbständigkeit jeder Nation vereinigen kann mit brüderlichem Zu-
sammenwirken aller Nationen. Man wird eine wirkliche Volksver-
tretung schaffen müssen, und dann wird die nationale Frage gelöst
werden, indem man allen Nationen volle Gleichberechtigung gibt.
Der Kampf in der kommenden Session wird hauptsächlich von
unseren Abgeordneten geführt werden müssen. Es wird uns freuen,
wenn die bürgerliche Opposition festhält. Aber mag sie das tun
oder nicht, die Sozialdemokraten werden ihre Pflicht tun, und diese
Pflicht besteht darin : Kampf gegen das Ministerium
Badeni bis ans Ende. (Stürmischer, anhaltender Beifall.)
Badenis Bankrottpolitik. H'*
Badenis Bankrottpolitik.
Versammlung am L8. Oktober 1897*).
Dr. Adler, mit stürmischen Hochrufen empfangen, bezeichnet
die gegenwärtige Lage als verworrener denn je. (iehört es in Öster-
reich schon ZU einer besonderen ( ieseliieklieiikeit, die Geschäfte
nur in Bewegung zu erhalten, so haben wir jetzt noch das Unglück,
eine Regierung zu besitzen, die sieh durch außerordentliche Un-
geschicklichkeit in dieser Richtung auszeichnet. Heute stehen wir
auf dem Punkte, daß wir nicht einmal über die Grundlage des
Reiches, über unser Verhältnis zu Ungarn im klaren sind. Wenn
der Ausgleich mit Ungarn verhandelt werden wird, ist es Pflicht
der Sozialdemokraten, darauf zu sehen, daß Österreich so wenig
als möglich zahlt, denn die, die es bewilligen, zahlen dazu am
wenigsten. Die Ungarn sind gegen uns da immer im Vorteil, weil
sie ein wirkliches parlamentarisches Regime haben. Das ungarische
Parlament, das übrigens nichts weniger ist als eine Volksvertretung,
läßt sich das nicht bieten, was sich das österreichische Parlament
gefallen läßt. Vielleicht wird das auch anders werden. Wird das
Ausgleichsprovisorium nicht parlamentarisch erledigt, dann will
man es als Verordnung oktroyieren. Aber ob das so einfach geht,
darüber werden wir in einigen Monaten noch zu sprechen haben.
Aber es ist klar, daß eine Regierung, die nicht ein-
mal den Ausgleich zustande bringt, einfach Ban-
krott gemacht hat. In dieser Lage ist nun Badeni. Die
Sprachenverordnungen, die den Anlaß zur Obstruktion
gegeben haben, sind, wie wir wiederholt erklärten, zu vier Fünfteln
vernünftig; aber auch das Vernünftige ist dadurch, daß es oktroyiert
wurde, als Verordnung, als Zwang erlassen wurde, schädlich ge-
worden. Jetzt steht es nun so, daß eine große Minorität im Parla-
ment auf gesetzliche Weise die ganze Regierungsmaschinerie still-
zusetzen vermag. Und nun handelt es sich für uns darum, ob wir
die Opposition, die den Grafen Badeni vielleicht über den Haufen
zu werfen vermag, bekämpfen sollen, bloß deshalb, weil die Gründe,
die sie zur Bekämpfung Badenis hat, nicht unsere Gründe und viel-
fach unvernünftig sind. Dazu werden wir uns nicht hergeben. (Bei-
fall.) Die Sozialdemokraten werden alles tun, diese
Regierung zu beseitigen, die durch ihre Existenz
allein jede positive Arbeit im Parlament unmög-
*) Die Stimmung der deutschbürgerlichen Parteien war immer ener-
gischer geworden, die Lage der Regierung immer schwieriger. Anfang
Oktober bildete sich die Regierung noch ein, den Ausgleich ohne
Schwierigkeiten durchsetzen zu können. Aber sie mußte bald sehen, daß
es nicht so einfach ging. Am 13. Oktober begann im Parlament die Ver-
handlung über fünf Dringlichkeitsanträge, die die Erhebung der Minister-
anklage zum Inhalt hatten. Es kam zu Sturmszenen und zu einem förm-
lichen Handgemenge zwischen Deutschen und Tschechen. — Das war die
Situation, als Adler im Simmeringer Brauhaus über die politische Lage
prach.
Adler, Briefe. XI. Bd. «
114 Von Badeni bis Thun.
lieh macht. (Bravo!) Redner bespricht nun die Politik der
Christlichsozialen, die, wie die Ratten das sinkende Schiff, jetzt den
Badeni verlassen. Unsere vierzehn Abgeordneten
haben mehr Gewicht im Parlament als die viel
zahlreicherenChristlich sozialen, weil man weiß, daß,
wenn ein sozialdemokratischer Abgeordneter spricht, er die Über-
zeugung von Hunderttausenden zum Ausdruck bringt und nicht
etwa nur seine persönlichen Einfälle oder vielleicht gar die Ein-
fälle irgendeines „Herrgotts von Wien". (Beifall.) Genosse Doktor
Adler streift noch kurz die Frage des Gemeindewahlrechtes, wo-
bei er auf die früheren Reden Luegers verweist. Ende dieses Monats
wird der Landtag zusammentreten; wenn die Gemeinde bis dahin
nicht einen Entwurf angenommen hat, wird dieser Landtag wieder
nichts tun. Die Arbeiter wissen aber ganz genau, wie wichtig das
Gemeindewahlrecht für sie ist, und darum wird diese Frage nicht
verschwinden, bis wir das Gemeindewahlrecht errungen haben.
(Stürmischer Beifall.)
Nach Badenis Sturz.
Zehn Versammlungen am 2 9. November 189 7*).
Gestern hat auf den Straßen der „Pöbel" gesiegt. Alle anderen
mit ihren Erklärungen haben nichts zustande gebracht. Die Sozial-
demokraten im Parlament wollen nichts anderes sein als die Ver-
tretung des „Pöbels". (Bravo!) Man sagt heute schon, daß die
deutsche Opposition es war, die gesiegt hat. Aber es muß fest-
gestellt werden, daß, wenn die Sozialdemokraten nicht ihren Leib und
ihr Leben gewagt hätten, die Bürgerlichen keinen Hund hinter dem
Ofen hervorgeholt hätten. Der Herr, der jetzt ans Ruder kommt,
den kennen wir schon lange. (Ruf: Schwarzer Bruder!) Gautsch
wird aber durch die gestrigen Ereignisse wissen, wo eine Grenze
ist. Wir wissen, daß es für uns keine Ministerposten gibt, aber wir
haben gekämpft um die Möglichkeit eines weiteren parlamentari-
schen Lebens. Die Sozialdemokratie hat schon Niederlagen in Wien
erlitten, aber wer geglaubt hat, daß sie niedergeschlagen ist, der
hat gestern gesehen, daß sie einen wichtigen politischen Faktor in
Österreich bildet. Sie ist die Vertretung aller politisch anständigen,
rechtlichen Menschen**).
*) Die Ereignisse, die dem Sturz Badenis unmittelbar vorausgegangen
waren, sind wohl bekannt. Sie sind in den Bemerkungen zu Adlers Referat
über Parteitaktik auf dem Parteitag in Linz 1898 ausführlich geschildert.
(Siehe dieses Referat unter dem Titel „Die Obstruktion gegen
Badeni" im 8. Band der Adler-Schritten „Ö sterreichische
Politik" im Kapitel vom „Zerfall Österreich s", Band VIII,
Seite 178 f.) Nachdem am Sonntag Badeni durch die Demonstration auf der
Ringstraße gestürzt worden war, fanden am Montag in Wien zehn Massen-
versammlungen statt. Beim Dreher auf der Landstraße sprach Adler.
''*) Dann sprachen die Abgeordneten Daszynski und .1 a r o s s e-
w y t s c h, worauf Adler sein Schlußwort hielt.
Die Schließung des Parlaments. H5
Wir sind nicht ausgezogen, um das tschechische Volk zu be-
siegen, nicht um die Herrschaft der Detitschen zu befriedigen. Wir
sind ausgezogen nicht gegen die Unterdrücker des deutschen
Volkes, sondern jeden Volkes in Österreich. (Bravo!) Wenn die
deutsche Studentenschaft mutig war, so alle Achtung vor ihr. Sie
können vielleicht noch einmal einen Tag erleben, wo sie zu uns
kommen müssen, und dann wollen wir nicht lauter feige Streber
und feile Halunken haben. Es hat sich jetzt beinahe eine akademische
Legion in Zivil entwickelt. Aber heute geht die Arbeiterschaft nicht
hinter der akademischen Legion her, sondern die Studentenschaft
muß mit Achtung und Respekt sehen, wohin die Sozialdemokratie
geht.
Die Schließung des Parlaments.
Versammlung am 2 8. Juli 1898*).
Es hat sich in Österreich, führte der Redner aus, durch die
Schließung des Reichsrates nur wenig geändert. Der Reichsrat ist
ja schon seit langem nicht mehr auf der Welt. Wenn wir uns fragen,
*) Am 28. November 1897 war Graf Badeni von den demonstrierenden
Massen gestürzt worden und der Kaiser ernannte den Freiherrn Paul
Gautsch v. Frankenthurn zürn Ministerpräsidenten. Aber auch er ver-
mochte den nationalen Frieden nicht herbeizuführen und das Parlament
nicht flottzumachen. Am 7. März 1898 mußte er zurücktreten, weil die
böhmischen Feudalen dem Kaiser einredeten, die Verwirrung sei nur
dadurch entstanden, daß man nicht ihnen die Regierung überließ. So
wurde nun der Ausnahmsstatthalter von Böhmen, Graf Franz T h u n, an
die Spitze der Regierung berufen. Aber auch er vermochte den Staats-
karren nicht vorwärtszubringen. Er brachte das Regieren mit dem § 14
eigentlich erst in ein System. Hatte Gautsch bloß sieben § 14-Verordnungen
erlassen, so erreichte Thun bereits die Zahl von 28 § 14-Verordnungen,
eine Zahl, die nur noch von Körber übertroffen wurde. Aber Thun machte
das keine Sorgen, er vergnügte sich jeden Sommerabend in „Venedig in
Wien", so daß er in Wien den Spitznamen des Corian doli -Grafen
erhielt.
Als Finanzminister hatte Thun den tschechischen Professor Dr. Kaizl,
als Handelsminister den deutschen Großgrundbesitzer Dr. v. Baernreither
genommen, der auch von Sozialpolitik etwas verstand. Aber das Regieren
machte Thun wenig Sorgen. So oft es im Parlament nicht ging,
schickte er es heim und regierte mit dem § 14. Am 13. Juni hatte er
wieder das Parlament vertagt und eine Sprachenkonferenz einberufen.
Diese mußte aber abgesagt werden, worauf dann am 26. Juli die Session
des Reichsrates geschlossen wurde. Im Juni war es in Galizien durch die
Bedrückung der Schlachta zu Bauernun ruhen gekommen und am
28. Juni wurde über Neu-Sandec und Limanowa das Staud-
recht, über 33 Bezirke der Ausnahmszustand verhängt. Bis zum
26. September regierte Thun ohne Parlament. Dann versuchte er es wieder
mit dem Parlament. Aber am 3. Oktober trat Baernreither zurück und au
seine Stelle trat der Tiroler Klerikale Baron D i p a u 1 i.
Als das Parlament am 26. Juli geschlossen wurde, wurde für den
28. Juli zum Wimberger eine Versammlung einberufen, in der Adler
sprach.
8*
116 Von Budeni bis Thun.
warum der Rcichsrat geschlossen wurde, so müssen wir konsta-
tieren, daß kein Mensch und Graf Thun selbst es nicht weiß. Ge-
nosse Dr. A d 1 e r setzt nun den Unterschied zwischen der Ver-
tagung und der Schließung des Reichsrates auseinander. Wenn
durch die Schließung alle Arbeit von neuem beginnen muß, so be-
deutet das höchstens eine Hebung der Papierindustrie (Heiterkeit),
indem alle Vorlagen in der Staatsdruckerei neu gedruckt werden
müssen; sonst nichts, denn dieser Reichsrat hat seit Badeni noch
gar nichts geleistet. (Sehr gut!) Es ist nicht unmöglich, daß sich die
Regierung denkt: „Wenn ich nur den Reichsrat mit seiner ver-
stopften Tagesordnung los bin und einen reinlichen Reichsrat vor
mir habe, dann wird es gehen." Es wäre töricht, so zu denken,
aber das ist kein Grund, daß es unmöglich ist. Die Regierung ver-
kündet, sie hoffe, jetzt freie Hand zu haben; aber mit keinem Worte
wird verraten, wozu sie die freie Hand braucht. Als Graf Thun an
die Regierung kam, glaubte man, er werde sich als Minister anders
aufführen wie als Ausnahmsstatthalter. Aber seitdem diese Regie-
rung den Ausnahmszustand in Galizien verhängt hat, müssen wir
sagen: Diese Regierung ist zu allem fähig. Allerdings, was sich
Graf Pininski in Galizien erlaubt, kann sich Graf Thun bei uns noch
lange nicht erlauben. Aber wenn man zugleich mit der Schließung
des Reichsrates davon hört, daß man auch die Geschwornengerichte
in Galizien aufheben möchte, so wissen wir, was das bedeutet.
Übrigens können die Geschwornengerichte ja nur aufgehoben wer-
den, nachdem ein Gutachten des Obersten Gerichtshofes hier in
Wien eingeholt worden ist. Und wenn die Schwurgerichte auf-
gehoben werden, dann sind unsere Stanczyken hier, ob sie den
Richtertalar oder sonst ein anderes Beamtenkleid tragen, mitver-
antwortlich für alles, was dort geschieht. Mögen sie es tun, unsere
Genossen in Galizien sind stark genug, auch das auszuhalten, be-
sonders wenn sie wissen, daß die ganze österreichische Arbeiter-
schaft hinter ihnen steht. (Stürmischer Beifall.) Was in den nächsten
Wochen geschehen soll, weiß Graf Thun gewiß nicht. Wir sagen,
die Ursachen dieser Unordnung müssen beseitigt werden! Statt der
scheinbaren Volksvertretung eine wirkliche Volksvertretung! Die
läßt sich nicht vernichten und nicht nach Hause schicken. Es ist
nicht wahr, daß die Regierung mit dem § 14 regiert, weil das
Parlament sich so stark zeigt; das gerade Gegenteil ist richtig.
Nur weil die Herren wissen, daß ja alles, was sie brauchen, ohne-
dies geschieht, und zwar mit Hilfe des § 14, nur deshalb haben sie
den Mut, im Parlament sich so zu benehmen. Wenn die Volksver-
tretung wüßte, daß es ohne sie nicht geht, dann würde sie unter
dem Druck ihrer Verantwortlichkeit den nationalen Frieden endlich
schließen, der eine Notwendigkeit für Österreich ist. Die Ohn-
macht des Parlamentarismus ist es, an der Öster-
reich krankt. Dieser Scheinparlamentarismus ist zusammen-
gekracht, und wir weinen ihm keine Träne nach. (Beifall.) Wenn
man Ordnung haben will, berufe man eine wirkliche, ernste Volks-
vertretung ein, die weiß, daß sie dem Volke verantwortlich ist für
Absolutismus mui Parläm&ntei i inus. H7
das, was sie tut. Man spricht heute viel von allerlei Staatsstreichen:
einem Staatsstreich nach rechts, dein Wahlrecht durch die Land-
tage, und einem Staatsstreich nach links, der Taaffeschcn Wahl-
reform. Von dem ersten, der alle feudalen rönnen wieder einführen
soll und nur den Streit in die Landtage trafen würde, lohnt es sich
wirklich nicht zu reden. Was ist's aber mit der Taaffeschcn Wahl-
reform? Wenn mau die (ieschichte Österreichs seit 1893 verfolgt
und sieht, wie die Wurzel aller Kalamität in der alten Koalition
liest, dann muß man sagen: Ob es heute noch Zeit ist, eine Wähl-
ordnung zu geben, die 1893 sehr gut war, das ist fraglich. Gewiß
wäre die Taaffesche Wahlrcform auch heute noch ein Fortschritt
gegenüber dem jetzigen Zustand. Aber ausreichen würde sie heute
nicht mehr; ausreichen kann heute nur mehr das allgemeine,
gleiche Wahlrecht, die volle Umwälzung Österreichs. Man will uns
heute einen „Absolutismus mit SozialreförhY' präsentieren. Ich
wünsche, daß das Gewissen der Regierung wach bleibt, aber wir
müssen sie doch aufmerksam machen, daß wir lahge brauchen, um
überzeugt zu sein, und die Minister werden nicht nur zu1 reden,
sondern auch zu handeln haben. Die Schließung des .Reichsrates
macht uns nicht erzittern; wir bleiben ruhig, aber nicht etwa des-
halb, weil wir diese Regierung für gut, 'sondern weil wir uns für
stark halten. Wir haben keine Angst .vor Gespenstern, aber wenn
es beginnt, finster zu werden, dann beziehen .wir die Wache, sehen
nach, ob unsere Arsenale in Ordnung sind und ob wir bereit sind
zum Kampfe, wenn es sein muß. (Stürmischer, anhaltender Beifall.)
Absolutismus und Parlamentarismus,
Vier Volksversammlunge n, 6. F e b r u a r 1 8 9 9*).
Absolutismus oder Parlamentarismus, eine Frage, die in ganz
Europa nicht mehr diskutiert wird, steht heute in! Österreich nicht
nur auf der Tagesordnung, sondern ist bei uns gelöst, das heißt wir
haben den nackten Absolutismus. Das ist mir möglich, weil wir in
einem Lande leben, in dem sich durch den Nationalitätenhader die
Völker zur gegenseitigen Ohnmacht Verurteilen und' so einer ade-
ligen Clique mit und ohne Adel - - es sind nicht alle Grafen, die wert
wären, es zu sein — das .Vorrecht sichern, Österreichs Schlachten
zu verlieren, Österreichs Finanzen zu zerrütten, mit einem Worte,
Österreich auseinanderzuregieren. Bei uns gilt so etwas wie durch-
dachte, zielbewußte Politik nicht. Wir sind nicht blind gegen die
*) Als Thuii am 1. Februar 1899 das Parlament!! das erst am 17. Jarrnef
zusammengetreten war, wieder vertagte, um mit dem § 14 zu regieren,
hielt die sozialdemokratische Partei in Wien vi,er Volksversammlungen ab
mit der Tagesordnung : „A b s o 1 u t i s m u s u n d P a ,r lta m e n t a r i s m u s
in Ö s t e r r e i c li." In allen Versammlungen würde eine Resolution be-
schlossen, die mit den Worten schloß: „Weg m i t de r reaktionären
Regierung des Grafen T h u n ! W e g mit d e m P r i v i 1 e g i e n-
f) a r 1 a m ent!" !
In der Versammlung beim Proksch in Favoriten referierte A d l e r.
118 Von Badeni bis Thun.
nationalen Schwierigkeiten, aber wir wissen es, daß ein nationaler
Friede möglich ist, und bei uns ist es nicht Phrase, wenn wir das
sagen, denn wir zeigen es durch die Tatsache, daß trotz des natio-
nalen Brandes, trotz der hochgehenden nationalen Wogen die
Sozialdemokraten aller österreichischen Völker einheitlich organi-
siert sind und einheitlich handeln. Die Advokaten, die vom Streite
leben, schließen selten einen Ausgleich, und die bürgerlichen
deutschen und tschechischen Parteiführer leben vom Streite. An
den nationalen Frieden wird erst zu denken sein, wenn die große
Masse selber, die nicht vom Streite lebt, sondern unter dem natio-
nalen Hader leidet, zu Worte kommt und durch ein kräftig Wort
ein entschiedenes Halt! gebietet. Es ist eine unvernünftige Politik.
Rettung für den Staat von außen zu erwarten. Mag man die Auf-
lösung Österreichs wünschen oder nicht wünschen, wir können die
Tatsache nicht ändern, daß sich Deutschland und Rußland heute für
das wirkliche China weit mehr interessieren als für das österreichi-
sche China. Alles spürt es auch, daß hier die Massen auftreten
müssen. Heute, in der Not, ruft alles nach der Sozialdemokratie, von
den dümmsten Christlichsozialen, die sich bei den Staatsdienern
nicht zu helfen wissen*), bis zum Grafen Thun. Man ruft unsere Hilfe
an, aber man verweigert uns die Möglichkeit, zu helfen. Man ver-
weigert uns das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, man
will uns knebeln, und trotzdem sollen wir helfen. Man gebe uns
wenigstens Rede- und Preßfreiheit, man befreie uns vom Kolpor-
tageverbot, man befreie uns vom Stempel, von der Konfiskation,
man lasse uns schreiben wie wir denken, und dann wollen wir
sehen, ob wir dem Grafen Thun nicht — Erleichterung verschaffen
können. (Heiterkeit.) Die Obstruktion hat sich nun auch zum Mit-
schuldigen gemacht. Nachdem wir ihnen schon die Vernunft bei-
gebracht hatten, tauchte bei den Obstruktionisten plötzlich die neue
Theorie auf, daß man den Absolutismus müsse ausleben lassen, um
ihn zu vernichten» Das erinnert an die harte Schule, die wir durch-
machten, da wir in unserer Jugend hörten, das beste Mittel, die
jetzige Gesellschaft aus den Angeln zu heben, sei, das Elend aufs
äußerste steigern zu lassen. Wir haben gelernt, daß das eine falsche
Taktik ist, und daß jeder Fußbreit, jeder Zollbreit Boden, den man
dem arbeitenden Volke gewinnt, mehr wert ist als alle Dummheiten
und Verbrechen der Behörden. Es war auch die Obstruktion ein
entschiedener Fehler, und er wurde gegen das bessere Wissen der
Obstruktionisten**) begangen, die nur Mandatspolitik machten, indem
*) Die Christhchsozialeii hatten sich auf die Demagogie unter den
Staatsdienern verlegt, denen sie alles mögliche versprachen, während
sie immer wieder vor der Regierung zurückwichen. Irn Jänner war es den
Sozialdemokraten gelungen, bei dem Staatsdienergesetz Verbesserungen
durchzusetzen; das Herrenhaus stellte aber die Regierungsvorlage wieder
her. Am 31. Jänner 1899 wurden die von den Sozialdemokraten neuerlich ein-
gebrachten Anträge mit einer Stimme Mehrheit abgelehnt und die
Fassung des Herrenhauses mit dieser Mehrheit beschlossen.
k) Die Liberalen ließen sich immer von den Radikalen in die Obstruk-
tion treiben.
Absolutismus iimi Parlamentarismus, U(J
sie vor den Heulmeiern zurückwichen. Meute leben wir unter der
Lüge, daß es unmöglich sei, auf gesetzliche Weise die Geschäfte
weiterzuführen. Vor allem hat eine Regierung, die nur mit dem Ver-
brechen leben kann, zu sterben. Eine Regierung, die so weit ist wie
die Regierung Thun, die ohne Verfassungsbruch nicht bleiben kann,
muß gehen, das ist das erste. Wenn ein Parlament wirklich ein
Körper ist, der das staatliche Leben zu erhalten unfähig ist, so
setze man an dessen Stelle ein wirkliches Volksparlament. Wir er-
warten nicht etwa die Heilung aller Schäden von einem solchen,
aber das ist gewiß, ein Parlament, das eine wirkliche Volksver-
tretung ist, würde nie die Torheit begangen haben, die dieses be-
gangen hat, und es würde sich nie die Verbrechen gefallen lassen,
die dieses Parlament geschehen ließ. (Stürmischer Beifall.) Wenn
Graf Thun auf den Druck von unten rechnet, so soll er ihn haben,
wenn er verlangt, daß die Sozialdemokraten auf der Bildfläche er-
scheinen, sein Wunsch soll erfüllt werden, und er soll sie so sehen,
daß ihn die Augen beißen. Wir Sozialdemokraten haben in dieser
Lage nur das eine zu sagen: Wir können euch nicht retten, wir
können die Dummheit aller Leute nicht gutmachen, wir können nur
verlangen, daß das ganze arbeitende Volk zu uns komme auf den
rettenden gemeinsamen Boden der internationalen Solidarität, damit
es endlich die entscheidende Macht im Staate werde. Wenn man
uns dann auch fragt, was unser Rat ist, dann wollen wir ihn auch
nicht versagen. Unser Rat lautet: Weg mit diesem Ministerium!
Weg mit diesem Parlament!
120 Adler im Landtag.
Adler im Landtag.
Die Verschleppung der Landtagswahl.
Versammlung am 14. Mai 1901*).
Es ist wohl das erstemal, daß sich die Arbeiter in Wien um eine
Landtagswahl reißen, auf der anderen Seite aber sehen wir wieder
das merkwürdige Schauspiel, daß man diesmal die Wahl nicht aus-
schreiben will. Zwischen die vorigen und die bevorstehenden Land-
tagswahlen fällt aber die Revision des Wiener Gemeindestatuts und
damit auch die Erweiterung des Wahlrechtes für den Landtag. Die
Pflicht, die neuen Wahlen auszuschreiben, ist durch die Landes-
ordnung mit absoluter Klarheit festgestellt. Und wenn diese Pflicht
jemals bestand, so besteht sie besonders jetzt. Aber dieselben
Gründe, die für uns die Wahl notwendig machen, machen sie den
Beherrschern des Landes höchst unangenehm. Es ist nämlich 'in
Niederösterreich und in Wien speziell eine kleine Wendung ein-
getreten. Die Christlichsozialen, die bei früheren Wahlen mit großer
Sicherheit darauf rechnen konnten, ihre Mandate zu behaupten und
sogar noch Eroberungen zu machen, fühlen sich heute schon
weniger sicher, besonders wenn auf Grund eines breiteren Wahl-
*) Bald nach seinem Amtsantritt hatte K ö r b e r, um die Christlich-
sozialen für sich zu gewinnen, das Wiener Gemeindestatut am 18. März
1900 sanktionieren lassen. Bekanntlich hatte Lueger das allgemeine Wahl-
recht, allerdings mit fünfjähriger Seßhaftigkeit, für den Wiener Gemeinde-
rat beschließen lassen, war aber dann nach Rom gefahren, wo er vom
Papst Leo XIII. empfangen wurde, und während dieser Zeit hatte er seine
Mamelucken mit Körber das Kompromiß abschließen lassen, das das all-
gemeine Wahlrecht aufgab, die alten drei Wahlkörper im Wesen unver-
ändert ließ, aber ihnen einen vierten Wahlkörper des allgemeinen Wahl-
rechtes mit dreijähriger Seßhaftigkeit und mit zwanzig Mandaten (neben
den 138 Mandaten der privilegierten Wahlkörper) anfügte. Vergebens
hatten die Arbeiter gegen diesen Wahlrechtsraub durch Straßenumzüg e,
deren größter am 25. Februar 1900 stattfand, protestiert. Da aber doch,
wenn auch mit geringerem Rechte, die Einkommensteuerzahler das Wahl-
recht für den Gemeinderat hatten, hatten sie es auch für den Landtag,
dessen Wahlrecht sich bis zur Landtagswahlreform vom 21. Oktober 1907
auf dem Gemeindewahlrecht aufbaute. Das Nähere darüber ist in der Rede
selbst enthalten. — Siehe auch über L u e g e r s W a h 1 r e c h t s r a u b,
Bd. X, Seite 214, Note.
Nun war am 10. April der Proiessor Schlesinger gestorben, der im
Reichsrat den achten Wiener Bezirk, Josefstadt, und im Landtag den
Die Verschleppung der Landtagswahl. 121
rechtes gewählt wird. Unsere Nachbarn in Siiiiinering sind in einer
ähnlichen Situation. Ihnen ist ein Genieinderat abhanden gekommen
(Heiterkeit), und Herr Lueger trifft keine Vorkehrungen, nni die
Neuwahl anzuordnen. Auch in Simmering fühlen sich die Christlich-
sozialen nicht sicher, das Mandat, das sie durch aufgelegten
Schwindel in die Hände bekommen haben, hei ehrlichen Wahlen
zu behalten*).
Doch ich halte es trotz dieser Erwägungen für ausgeschlossen,
daß die Wahl in Favoriten nicht ausgeschrieben wird, weil, wenn
der Minister des Innern Dr. v. Körber die Nichtausschreibüng
dieser Wahl zuließe, er sich eines groben Vergehens g e g e n
die Verfassung und gegen die Bevölkerung schul-
d i g machen würde. Und da ich ohne Beweis nicht annehmen
werde, daß der Minister ein solches Unrecht begeht, so halte ich
es für ausgeschlossen, daß die Wahl nicht ausgeschrieben wird. Die
politische Ehrenhaftigkeit des Ministerpräsidenten ist nun eine
schöne Sache, mindestens ebenso sicher ist aber für mich, daß
Dr. Körber doch nichts Unvernünftiges machen will. Und es wäre
das die höchst e U n v ernunf t. wenn er ein derartiges poli-
tisches Vergehen, einen derartigen Gewaltstreich beginge, bloß um
der schönen Augen des Dr. Lueger willen. Eine jede Sache hat ja
ihren Preis. Politische Verbrechen sind bei uns in den letzten Jahren
vielfach begangen worden, aber sie mußten sich auszahlen. Warum
sollte also der Dr. v. Körber so etwas tun? Es wird ihm ja unan-
genehm sein, wenn im Landtag wirklich ein Sozialdemokrat sitzt,
aber sie sind nicht mehr auszurotten, die Sozialdemokraten, und er
weiß, er kriegt sie so oder so in den Landtag hinein. (Beifall.) Und
zehnten Bezirk, Favoriten, vertrat. Die Ergänzungswahl für den Reichsrat
wurde sofort anberaumt, da der Bezirk für die Christlichsozialen sicher
war, und es wurde auch bereits am 15. Mai (am Tage nach dieser Ver-
sammlung) der christlichsoziale Magistratsrat Dr. Alois H e i 1 i n g e r mit
großer Mehrheit gewählt. (Nebenbei bemerkt hat Heilinger zehn Jahre
später als Führer der christlichsozialen Fronde, die die Korruption der
Parteiführer enthüllte, indem sie das Schlagwort vom „Gott N i m m" und
von den Aasgeiern erfand, neben Hraba und Silberer am meisten zur
Niederlage der Christlichsozialen bei den Juniwahlen des Jahres 1911 bei-
getragen.) Die Landtagswahl aber wurde nicht ausgeschrieben, weil die
Christlichsozialen in Favoriten eine Niederlage fürchteten. Deshalb wurde
für den 14. Mai in Rappels Rosensäle eine Versammlung einberufen, die
gegen diese Verzögerung protestieren sollte. Diese Verzögerung war um
so frivoler, als der Landtag bereits Mitte Juni zusammentreten sollte. Das
Referat erstattete Dr. Adler.
Die Wahl hat bekanntlich schließlich am 1. Juli 1901 stattgefunden und
mit dem Sieg Adlers geendet. Dieser erhielt 4298, der Christlichsoziale
4125, der tschechischnationale Zählkandidat 41 Stimmen.
) Im elften Wiener Gemeindebezirk, Simmering, wurde die Wahl des
Christlichsozialen wegen unglaublicher Schwindeleien gerade einige Tage
vor dieser Versammlung vom Verwaltungsgerichtshof annulliert; die
neue Oemeinderatswahl fand am 12. März 1902 statt. Sie endete dank
einem unerhörten Wahlschwindel wieder mit dem Sieg des Christlich-
lozialen.
122 Adler im Landtag.
bloß, um die paar Monate zu gewinnen, sollte er dieses Verbrechen
begehen? Nein, so dumm ist Herr v. Körber nicht. Aber selbst
wenn es möglich wäre, daß ein Minister etwas Derartiges täte, so
muß ich gestehen, von meinem agitatorischen Standpunkt
als Sozialdemokrat hätte ich gar nichts dagegen. Es würde dann
einmal alle Welt sehen, daß selbst in einem Fall, wo das Gesetz
ganz klar für uns spricht, das Gesetz mit Füßen getreten werden
kann, nur um zu hindern, daß ein Sozialdemokrat in den Landtag
komme. Das wäre nicht schlecht für unsere Agitation, und ich
glaube nicht, daß die Sozialdemokraten darunter Schaden leiden
würden.
Aber vielleicht tun wir Herrn v. K ö r b e r wie Herrn v. K i e 1-
mansegg überhaupt unrecht, wenn wir nur an die Eventualität
denken, daß so etwas möglich wäre. Wahrscheinlich dürften sie die
paar Wochen darüber nachgedacht haben, wie man den § 12 der
Landtagswahlordnung so auslegen könnte, daß die Arbeiter kein
Wahlrecht haben. Dieser Paragraph sagt, daß in Wien außer den
Fünfguldenmännern jeder das Wahlrecht zum Landtag hat, der das
Wahlrecht für die Gemeinde hat. Das sind also auch die Wähler
des vierten Wahlkörpers. Die Herren haben wahrscheinlich den Para-
graphen um und um gedreht, sie haben ihn gebeutelt, gezogen, ge-
dehnt, und weil natürlich nichts anderes herausfallen will und kann,
was darin steht, deshalb — nun deshalb warten sie, daß vielleicht
doch noch ein Jurist kommt, der ihnen das Blaue vom
Himmel wegbeweist und ihnen beweist, daß 2X2 aus-
nahmsweise 5 ist, weil, wenn es 4 wäre, das für Herrn Lueger un-
angenehm wäre. (Beifall.) Nun kann man ja an Wunder glauben,
aber so gut Herr Lueger und seine Leute auch angeschrieben sein
mögen bei jenen Faktoren, die Wunder verrichten, heutzutage
geschehen eben keine Wunder mehr; und es kann sich
das Gesetz, das wir nun einmal haben, nicht plötzlich in ein anderes
verwandeln. Allerdings wird etwas geschehen, was wie ein Wunder
aussieht : es wird nämlich zum erstenmal aus der
Kurie der Städte auf Grund des allgemeinen Wahl-
rechtes (wenn auch mit dreijähriger Seßhaftigkeit) gewählt
werden.
Wenn das Gesetz nun auch ganz klar ist, so dürfen wir doch
nicht ruhig zusehen. In Österreich werden nur jene Gesetze
durchgeführt, hinter denen auch jemaiid steht.
Würden sich die Wähler nicht rühren, würde im Abgeordnetenhaus
nicht interpelliert worden sein, würden wir in der Presse nicht
zeigen, daß wir aufpassen, so wäre es allerdings nicht unmöglich,
daß man diese Wahl „vergessen" würde.
In der Statthalterei überlegt man offenbar, ob es überhaupt dafür
steht, wegen eines Abgeordneten sich so zu strapazieren. Man muß
sich nun in das Gehirn der Leute versetzen. Sie wissen, daß sie eine
neue Wahlordnung machen werden. Die werden sie nun nicht so
machen wollen, daß alle das gleiche Wahlrecht erhalten, sondern
vielleicht so ein Ding wie die fünfte Kurie, kurz sie werden wieder
das Wahlrecht verschlechtern wollen. Nun denken sie
Die Verschleppung der Landtagswahl. 123
offenbar folgendermaßen: Jetzt sollen wir nach einem Verhältnis*
mäßig guten Wahlrecht wählen lassen und in ein paar Monaten
werden wir denselben Leuten, die schon gewählt haben.
das Wahlrecht wieder wegnehmen wollen. Das ist
doch anmöglich. Ganz richtig. Das ist unmöglich. Aber dafür gibt
es nicht den Ausweg, daß man denjenigen, die heute das Wahl-
recht haben, dieses Recht nimmt, sondern nur den, daß man den
W a h 1 r e c h t s r a u b, den man plant, unterläßt (lebhafter
Beifall), daß man die langen Finger vom Wahlrecht läßt.
Über das alles denkt man oben krampfhaft nach. Aber ich
wiederhole: Sie können sich die Köpfe zerbrechen wie sie wollen,
sie können n i c h t i n das Gesetz hineinlesen, daß die-
jenigen, die das Wahlrecht in den Gemeinderat haben, nicht das
Wahlrecht für den Landtag haben sollen. Und weil sie das nicht
können, sollen sie gefälligst — wenn schon nicht aus Gerechtigkeit,
so doch aus Klugheit — gute Miene zu dem für sie bösen Spiele
machen. Ist denn der arme Dr. Lueger schon so herunter, daß ihm
ein einziger Sozialdemokrat im Landtag so fürchterlich ist, daß er
Himmel und Hölle in Bewegung setzt, daß die Gesetze mit
Füßen getreten und offene Ungerechtigkeiten
verübt werden sollen, bloß damit der eine Sozial-
demokrat nicht hineinkomme? Das ist doch ein Armuts-
zeugnis, das sich die Beherrscher Niederösterreichs selbst geben!
(Beifall.)
Aber es genügt nicht, daß die Wahl überhaupt ausgeschrieben
wird, sie muß auch rechtzeitig ausgeschrieben werden.
In der nächsten Session des Landtages werden sehr wichtige Dinge
auf die Tagesordnung kommen, bei denen Vertreter der Arbeiter-
schaft anwesend sein müssen. Es wird über eine neue Wahlordnung
beraten werden, und wenn die Christlichsozialen nur einen Funken
von politischer Ehre im Leibe hätten, wenn sie nur eine Spur von
Gerechtigkeitssinn und politischem Schamgefühl hätten, müßten sie
selbst es als eine Schmach empfinden, daß man über die politischen
Rechte der ganzen Bevölkerung Niederösterreichs entscheiden will,
ohne daß auch nur ein Vertreter der Rechtlosen
anwesend ist. Und sie müßten es geradezu als eine Erlösung
empfinden, daß der Zufall es ermöglicht, daß bei der Be-
ratung so wichtiger Dinge auch ein Vertreter der Arbeiter
anwesend ist. Sie sagen ja, daß sie die Vertreter der breiten
Massen sind. Nun gut, dann wird einer von ihnen gewählt werden,
aber es wird einer dort sein, der das Volk vertritt, über dessen
Interessen beraten werden soll.
Aber der niederösterreichische Landtag wird auch die Wahl-
ordnung für die Landgemeinden regeln, wobei ich davon absehe,
daß er die Wiener Gemeindewahlordnung wird ändern müssen. Der
Landtag wird sich auch mit der Regelung des Armenwesens
und mit der Frage der Wien er Spitäler zu beschäftigen haben.
Auch das Schulwesen gehört in die Kompetenz des Landtages
und Sie wissen, wie notwendig es ist, den Verderbern und Ver-
124 Adler im Landtag.
pfaffern der Schule, den Bedrückern unserer Lehrer an Ort und
Stelle gründlich den Standpunkt klarzumachen.
Aus allen diesen Gründen erheben wir Protest gegen die Ver-
zögerung und wir erklären, daß wir nicht daran glauben, daß man
dieses Verbrechen begehen will, daß wir aber, wenn wir uns
täuschen sollten, jeden, der das Verbrechen begeht, so be-
handeln werden, wie es Verbrecher verdienen.
(Stürmischer Beifall*).)
Der christlichsoziale Wahlrechtsraub.
Versammlung am 12. Juli 190 1**).
Als wir das letztemal hier zusammenkamen, geschah es, um die
Regierung aufzufordern, daß sie endlich die Wahl ausschreibe. Es
bedurfte energischer Maßnahmen, um die Herren an ihre Pflicht zu
erinnern. Die Herren Christlichsozialen haben ihre Juristen darüber
nachdenken lassen, wie man ein paar tausend Arbeiter um ihr
Wahlrecht bringen könne. Der Redner bespricht dann die neue
Auslegung der Landtagswahlordnung durch den Magistrat und
zeigt, daß bei der Verfassung dieser niemand daran gedacht hat,
Qemeindewähler vom Wahlrecht in den Landtag auszuschließen.
Trotzdem stützt sich der Magistrat und auch die Statthalterei
darauf, daß die meisten Arbeiter zwar Gemeinde g 1 i e d e r, aber
nicht Gemeinde m i t gl ie de r sind (Heiterkeit), und daß ein Ge-
meindemitglied nur derjenige ist, der Steuer zahlt oder zuständig
ist, nicht aber schon jeder, der in dieser Gemeinde rackert und
schuftet und mit seinen indirekten Steuern diese Gemeinde erhält.
Wir haben von vornherein gewußt, daß sich die Christlichsozialen
daran klammern werden, obwohl gerade Dr. L u e g e r persön-
lich vor noch nicht langer Zeit bindende Ver-
sprechungen bezüglich des Lan d tags wa-hl-
rechtesabgegebenhat. Am 14. Februar 1896 hat Dr. Lueger
im Landtag im Namen seiner Partei die feierliche
Erklärung abgegeben : Meine Parteigenossen und ich
. . . sind für die möglichste Erweiterung desWahlr
rechtes, wir sind für das allgemeine, gleiche und
*) Hierauf wurde eine Deputation gewählt, die zum Statthalter Grafen
Kielmansegg gehen und ihn fragen solle, wann er endlich die
Wahl im X. Bezirk auszuschreiben gedenke.
**) Der Magistrat hatte nach langem Nachdenken endlich herausbekommen,
wie er die Arbeiter um ihr Wahlrecht bringen könne. Die Arbeiter seien keine
Gemeindemitglieder, sondern nur Gemeindeglieder und so hätten nur die
von ihnen das Wahlrecht, die entweder Steuer zahlen oder nach Wien
zuständig seien. Und unter dieser Bedingung wurde auch die Wahl aus-
geschrieben. Nun fand am 12. Juni in Rappels Rosensälen wieder eine
Wählerversammlung statt. (Siehe übrigens die Ausführungen Adlers über
die christlichsoziale Wahlmache in Favoriten und ihre Auslegung der
Wahlordnung in seiner Rede vom 11. Juli 1901 über die Marodeure d es
K 1 e r i k a 1 i s m u s. Bd. VIII, Seite 420 bis 427.)
Der christlichsoziale Wahlrechtsraub. 125
direkte Wahlrecht. (Rufe: Das hat er schon vergessen!)
Das hat er allerdings in jenem Moment gesagt, wo es ausgeschlossen
war, daß ihn jemand heim Wort nehme. Und Sic wissen, daß vor
zwei Jahren eine Landtagswahlordnung für Niederösterreich ge-
plant war, die allen diesen Grundsätzen in das Gesicht schlägt. Und
derselbe Dr. Lueger, der jenes Versprechen gegeben hat, hat jetzt
von allen Auslegungen des Gesetzes die unmöglichste heraus-
gesucht, diejenige, die seinem Versprechen am gründlichsten wider-
spricht. Aber der F e 1 d z u g ist noch nicht verloren;
möge jeder reklamieren, wir werden die Frage vor den Ver-
fassungsgerichtshof bringen und diesen darüber entscheiden lassen.
Diese Wahl ist von einer großen Bedeutung, sie ist gewissermaßen
die Generalprobe für die nächsten allgemeinen Landtagswahlen in
Niederösterreich. Sie fechten deshalb durch Ihre Reklamationen
dafür, daß Ihnen bei den nächsten Wahlen Ihr Recht werde. Die
zweite Aufgabe, die Sie bei diesen Wahlen haben, ist die, selbst
unter den ungünstigen Umständen, die die Auffassung der Juristen
Ihnen bietet, zu zeigen, daß wir in den Landtag eindringen können.
(Lebhafter Beifall.)
Was die Christlichsozialen diesmal unternommen haben, ist
kein gewöhnlicher Wahlrechts raub, sondern ein
solcher, der mit juristisch-talmudischen Ver-
drehungen gemacht ist. Und Sie werden zu zeigen haben, ob
es durch dieses juristische Einbrecherstück gelingen
kann, daß der größte Proletarierbezirk Wiens durch einen Abge-
ordneten vertreten werde, den die überwiegende Majorität der Be-
völkerung nicht will. Denn die Majorität der Bevölkerung ist nicht
christlichsozial, und wenn von irgendeinem Bezirk gesagt werden
kann, daß er sozialdemokratisch ist, dann ist es Favoriten. (Stür-
mischer Beifall.) Die Christlichsozialen verlassen sich auch heute
darauf, daß es mit dem Schwindel schon gehen wird. Ich habe ein
kleines Verzeichnis von Wählern gesehen, die zwar Einkommen-
steuer gezahlt haben, auch drei Jahre seßhaft waren, aber nur den
einen Fehler haben, daß sie auf dem Zentralfriedhof
wohnen*). (Hört!) Die Christlichsozialen haben sich mit ihren
Schwindeleien in Simmering eine furchtbare Blamage geholt, aber
das hat sie nicht klug gemacht, höchstens vorsichtiger. Aber das
ist für uns keine Entschuldigung in diesem Bezirk. Es kann un-
möglich so viel geschwindelt werden, um die erdrückende Majo-
rität von Arbeitern, die in diesem Bezirk wohnt, zu überstimmen,
wenn die Arbeiter nur ihre Pflicht tun. (Lebhafter Beifall.)
*) Eines der bewährtesten Mittel des christlichsozialen Wahlschwindels
bestand darin, daß der Magistrat die Wähler, die starben, noch jahrelang
weiter in der Wählerliste mitführte und daß ihre Wahllegitimationen dann
den christlichsozialen Komitees übergeben wurden, die durch verläßliche
Leute, die übrigens den christlichsozialen Mitgliedern des Wahlkomitees
durch besondere Zeichen kenntlich waren, abgegeben wurden. Diese
„toten Wähler" vom „Zcntralfricdhof" entschieden viele Wahlen zu-
gunsten der Christlichsozialen. Siehe im zehnten Band die Bemerkungen bei
den Beratungen über die Wählerlisten, so zum Beispiel Seite 401.
126 Adler im Landtag.
Dr. Adler bespricht dann die Fragen, die den Landtag in der
nächsten Zeit beschäftigen werden. Da ist zunächst die Frage des
Wahlrechtes. Es gibt in Niederösterreich ausgedehnte Gebiete, die
von Industriearbeitern bewohnt sind und wo die Arbeiter ganz
rechtlos sind und nach dem Programm, das die Herren
Scheicher und G e ß m a n n ausgetüftelt haben, es auch bleiben
sollen. In dieser Frage hat der Sozialdemokrat, den Sie in den Land-
tag entsenden, nichts zu tun, als sich an das Programm
des Herrn Dr. Lueger zu halten, natürlich mit dem Unter-
schied, daß, wie Dr. Lueger log und heuchelte, der
Sozialdemokrat ehrlich und rücksichtslos für das
Recht des Volkes kämpfen muß. Eine weitere wichtige Frage betrifft
die Regelung des Wiener Spitalwesens. Die Wiener Spital-
verhältnisse sind ungefähr die elendesten in ganz Mitteleuropa; in
keiner Stadt Mitteleuropas gibt es einen solchen Mangel an
Krankenhäusern wie in Wien (Zwischenrufe: Aber Kirchen!), keine,
wo so gar nicht für Kinderspitäler vorgesorgt ist. An dieser Wirt-
schaft sind Gemeinde, Land und Staat gleich schuldig. Auch da wird
ein juristischer Krieg ausgefochten zwischen diesen drei Faktoren,
und zwar auf den Leibern kranker Kinder und Greise. (Rufe der
Entrüstung.) Wenn die Begriffe des Menschenrechtes und der
Menschenpflicht in der kapitalistischen Gesellschaft noch nicht so
weit entwickelt sind, daß jeder das Rechtzu leben hat, so weit
sind wir doch selbst in dieser kapitalistischen Barbarei schon, daß
der Anspruch des kranken Menschen auf Pflege und Unter-
kunft allgemein anerkannt wird. Und nicht einmal das wird bei uns
erfüllt. Da verstecken sich die christliche Kommune und die nicht
minder christliche Statthalterei und der christliche Landesausschuß
— christlich sind sie ja alle — hinter die Paragraphen, um nur ja
nichts dafür tun zu müssen. Der Redner erörtert sodann eingehend
die geplante Lösung der Wiener Krankenhausfrage, die die Frage
nicht entscheidet, wann denn endlich mit der Arbeit begonnen wird,
und noch weniger eine Gewähr bieten, daß auch nur e i n Spitalbett
mehr sein wird als bisher. Und noch eine Frage ist es, die den Land-
tag beschäftigen wird: die Frage der Schule und der Lehrer.
Im Landtag muß der Hebel angesetzt werden, um da bessere Zu-
stände einzuführen*).
Die Arbeiter gegen die Zeitungsstrolche.
Versammlung am 5. Juli 190 1**).
Aber regen Sie sich doch nicht auf. Heute haben wir keinen Anlaß
dazu. Heute sind wir in der angenehmen Lage, die anderen schimpfen
lassen zu können. (Heiterkeit.) Dr. Lueger hat gerade diese Wahl als
*) Über diese wichtigen Fragen hat Adler im Landtag gesprochen, wie
aus den im folgenden abgedruckten Reden hervorgeht.
r*) In ihrer Wut über Adlers Wahl hatten die Christlichsozialen in der
„Deutschen Zeitung" erzählt, es hätten sich an der Wahlagitation für
Die Arbeiter gegen die Zeitungsstrolche. 127
eine große Entscheidungsschlacht zwischen Christlichsozialen und
Sozialdemokraten oder, wie er sicli ausdrückt, zwischen Christen und
.luden ausposaunt. (Heiterkeit.) Das war sehr unklug von ihm, denn
er mußte wissen, daß dieser Bezirk früher oder später für ihn doch
nicht zu halten sein werde. Nim, da er diese Dummheit begangen
hat, muß er die Folgen davon trafen. Diese Wahl hat aber auch die
Bedeutung, daß sie die Bahn schafft für die Lroberung eines Teiles
des Landtages, und daß sie uns ein Zeichen ist, daß es mit der Herr-
schaft der Christlichsozialen im Lande Niederösterreich sehr bald zu
rinde sein wird. Diese Wahl zerstört den Nimbus des Dr. Lueger,
das Vorurteil, daß er bei den Landtagswahlen unbesiegbar ist. Die
Haltung der bürgerlichen Parteien bei dieser Wahl war bezeichnend.
Es gab naive Leute, die meinten, weil die gemeinsame klerikale Ge-
fahr Arbeiter, Bürger und Bauern bedroht, so würden die „frei-
sinnigen Parteien" rücksichtslos für die Sozialdemokratie eintreten.
Die einzelnen Personen waren vielfach so klug, anders aber die Par-
Adler „Prostituierte aus der Novaragasse" beteiligt. Die
„Arbeiter-Zeitung" hatte diejenigen, die diese Verleumdung brachten,
„Pr eß s tr ol ch e" genannt und hatte dann festgestellt, daß der Artikel
von dem Redakteur Lothar S c h ä f f e r geschrieben wurde. Dieser klagte,
mußte aber die Klage schließlich zurückziehen, nachdem er zugestanden
hatte, daß ihm die Informationen von den christlichsozialen Führern
selbst gegeben wurden. Im Landtag hat Lueger, als Adler am 11. Juli seine
Rede gegen die Marodeure des Klerikalismus hielt, ihm zugerufen, er sei
ein Vertreter der Novaragasse, dann aber, als ihn Adler stellte,
so getan, als ob er damit doch nichts Ungebührliches gesagt habe.
Die ganze Affäre ist im VIII. Band dieser Sammlung bei der Rede
Adlers ausführlich erzählt und es sei darauf verwiesen. (Bd. VIII,
Seite 430 bis 435.)
Hier sei ergänzend eines Besuches Erwähnung getan, den zwei Frauen
in der Redaktion der „Deutschen Zeitung" machten, um eine Zurücknahme
jener Beschimpfungen zu erwirken. Die „Arbeiter-Zeitung" berichtete
darüber am 5. Juli:
* Bei den Zeitungsstrolchen. Trotz aller Erfahrungen sind wir noch
immer der Gefahr ausgesetzt, die Gemeinheit und Feigheit der
christlichsozialen Preßbengel zu unterschätzen und für eine Ausnahme
zu halten, was durchgängige Regel ist. Die Infamie, deren sich die
„Deutsche Zeitung" gegen jene Frauen schuldig gemacht hat, die bei
der Favoritner Wahl agitierten, schrieben wir einem Einzelnen zu und
gaben der Möglichkeit Raum, daß seine Kollegen sich dieses Subjekts
schämen. Wir haben uns geirrt, und zwei Frauen haben es bitter ge-
büßt, daß auch sie angenommen haben, daß der Redakteur eines
christlichsozialen Blattes etwas anderes sein könne als ein feiger und
frecher Bube. Frau Baronin Amelie v. Langenau und Genossin
Therese Schlesinger, die die Initiative dazu gegeben hatten, daß
einige Frauen aus dem Bürgertum sich an der Wahlagitation be-
teiligten, glaubten es sich selbst und den Frauen, die sich ihrer
Initiative angeschlossen hatten, schuldig zu sein, selbst einen Schritt
zur Abwehr jener Beschimpfung zu unternehmen. Sie begaben sich
gestern zu Herrn Dr. Theodor W ä h n e r, dem Chefredakteur der
128 Adler im Landtag.
teien. Das ist für uns ein Fingerzeig für die Zukunft, ein Beweis, daß
sich die Arbeiterschaft in dem Kampfe gegen den Klerikalismus nur
auf sich selbst verlassen kann. Trotzdem ist es wahr, daß der Sieg
der Sozialdemokraten, oder besser gesagt, daß die Niederlage der
Christlichsozialen die Bürgerlichen gefreut hat. Am liebsten wäre es
ihnen gewesen, wenn sie weder den Adler noch den Rissaweg hätten
fressen müssen. (Heiterkeit.) Nun, wir werden wieder Wahlen haben.
Mögen die Herren wissen: Wir gehen bei den nächsten
LandtagswahlenundbeijederanderenWahlrück-
sichtslos als Sozialdemokraten ins Gefecht, un-
bekümmert um die anderen, mögen sie liberal, national oder volklich
heißen. (Lebhafter Beifall.) Wer unserem Weg folgt, möge sehen,
daß er uns nachkomme. Aber ich wiederhole ausdrücklich, weil da-
von so viel geredet wurde: Ein Bündnis zwischen den antikleri-
kalen Parteien, insofern die Sozialdemokraten dabei sind, hat nie
bestanden und wird nie bestehen.
„Deutschen Zeitung", um den Tatbestand festzustellen und ihm Ge-
legenheit zu verschaffen, Genugtuung zu geben und Abbitte
zu leisten für das Unerhörte, das in seinem Blatt verübt wurde.
Aber die beiden Frauen hatten sich sogar in der Annahme geirrt, in
Herrn Dr. W ä h n e r einen Mann zu finden, der jenes banale Minimum
von äußerlicher Politur hat, das genügt, um mit Frauen anständig und
höflich zu verkehren. Nachdem er die erste Verblüffung über den Be-
such überwunden, schrie und tobte er wie ein betrunkener Kutscher
über den „Skandal", daß eine Dame von adeliger Geburt für die sozial-
demokratische Partei agitiere. Der Rest war namenlose Feig-
heit. Herr Wähner und seine Redakteure erklärten ein über das
andere Mal, es werde ja in jenem Artikel gar nicht von den agitiei enden
Frauen gesprochen, es seien — „andere" gemeint gewesen. Die Kerle
fügten hinzu, man möge ihre „Beweis e" abwarten. Der mutige
Schritt der beiden Frauen hatte trotzdem einen Erfolg: das Geständnis
der Redaktion, daß der elende Halunke, der jenen Schandartikel ge-
schrieben hat, den Namen Schauer trägt, und die wörtliche und un-
widersprochene Erklärung eben dieses Kumpans: „Hier sind wir
alle solidarisch, vom Chef bis zum letzten Laus-
k e r 1." So seien sie denn auch alle, vom ersten bis zum letzten, öffent-
lich an den Pranger genagelt. Was wir gestern nur bedingt und ohne
Namen sagten, wiederholen wir heute deutlicher und bestimmter: Der
Verfasser jenes Artikels, Herr Schäffer, ist ein ehrloser Lügner und
niederträchtiger Verleumder. Und wenn sich der Stadtrat und Heraus-
geber der „Deutschen Zeitung", Herr Dr. Theodor Wähner, mit dem
schamlosen Schurkenstreich seiner Angestellten solidarisch erklärt, so
handelt er ebenso ehrlos und niederträchtig. Und nun mögen sie hin-
gehen und uns vor Gericht zitieren. Den braven und tapferen Frauen
aber wird, wie jedem Menschen, der Ehre im Leibe hat, aus dieser
Geschichte um so deutlicher geworden sein, wie notwendig es ist und
wie jeder die Pflicht hat, mitzuwirken, daß der Boden unserer Stadt
von diesem gemeinschädlichen Gezücht gereinigt werde.
Am 5. Juli hat Dr. Adler auch im Gasthaus Proksch über die Wahlen
und die infame Verleumdung gesprochen. Gleich als er begann, ertönten
stürmische Pfuirufe gegen die Christlichsozialen.
hu- Arbeiter Kegen die Zeituntfsstrolehe. 129
Dr. L ii e ge r erklärt in seiner Interpellation, daß die Wahlfreiheil
voii den Sozialdemokraten bedroht ist (Gelächter), und dal.) der Statt-
halter die Christlichsozialen schützen solle. Diese Heucheleien
kennen wir, und Herr Dr. Llieger seihst weiß, dal.» diese Inter-
pellation nur ein Trost für seine Leute ist. Die sind so be-
trübt, dal.) er ihnen die Freude machen wollte, zu tun, als oh er an
den Terrorismus der Sozialdemokraten glauben würde. (Beifall.) Da
habe ich kurz zu erklären: Die Arbeiter haben nicht terrorisiert.
Aber mit der ( i e d n 1 d d e r A r h e i t e r, die sich ans lauter Achtung
vor dem Gesetz, ans lauter Angst, ein großes Ereignis nicht zu ent-
würdigen, die größten Beleidigungen ruhig gefallen lassen, ist es
z u Ii n d e. Mich nennt man ^n Beschwichti g u n g s h o f r a t
(Heiterkeit), weil ich die jüngeren Genossen zur Besonnenheit
mahne. Aber auch ich meine, dal.» d a s M a ß der C h r i s 1 1 i c h-
s o z i a 1 e n s c h o n voll i s t. I )ie Christlichsozialen schreien über
Terrorismus, weil es vorgekommen ist, dal.» ein Genosse, wenn ihn
so ein christliclisozialer Agitator gehöhnt und beschimpft hat, endlich
diesem ein paar Ohrfeigen gegeben hat. Wenn das Terrorismus ist,
dann sind die Christlichsozialen wohl in der Lage, diesen zu be-
seitigen: Dr. Lueger möge endlich einmal seinen Parteigenossen
sagen, sie sollen anfangen, anständige Menschen zu sein. (Beifall.)
Über die Beantwortung der Interpellation Luegers wird keine De-
batte zulässig sein, aber wir werden im Landtag die Regierung auf-
fordern, daß sie beizeiten dem Wahlrechtsraub im großen und
kleinen, wie .er sich wohl auch bei den nächsten Wahlen vollziehen
soll, einen Riegel vorschiebe.
An der Wahlagitation hat sich auch eine Anzahl von bürgerlichen
Frauen beteiligt. Ich habe entschieden abgeraten, daß sie das unter-
nehmen, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie hart man sein
mnl.), wo mitzutun. Unsere braven Genossinnen, die Tag für Tag an
unserer Seite kämpfen, die mit uns leben, mit uns arbeiten, die
kennen den Gegner und sind nicht so leicht erschreckt. Denen traut
man sich auch nicht soviel anzutun. Man kennt sie, und man weiß, daß
man einer sozialdemokratischen Arbeiterin nicht
m e li r antun darf als einem sozialdemokratische n
Arbeiter. (Lebhafte Zustimmung.) Die Frauen aus dem Bürger-
tum, die nicht aus so hartem Holz sind, haben aber mit einem Eifer
gearbeitet, der mich überrascht hat. (Bravo!) Man hat ihnen, wenn
sie zu einem Spießer kamen, gesagt: S t o p f t's euch 1 i e b e r d i e
Strümpfe! Und man hat ihnen noch andere Liebenswürdigkeiten
zugefügt, aber die haben sich dadurch nicht abschrecken lassen und
haben ihre Arbeit geleistet. (Stürmischer Beifall.) Und am nächsten
Tage hat die „Deutsche Zeitung" noch den traurigen Mut auf-
gebracht, diese Frauen in unglaublichster Weise zu beschimpfen.
(Pfuirufe.) Ich halte jeden, der eine wehrlose Frau beleidigt, ob die
Krau nun ein armes Proletarierweib ist oder eine Erzherzogin, für
einen gemeinen Kerl. Aber daß man, statt für den Schimpf Abbitte
zu leisten, feige auskneift, ist echt klerikal-jesuitische Demagogie.
(Lebhafter, andauernder Beifall.)
Adler, Briefe. XI. Bd. 9
130 \ eiler im Landtag.
An die Kinder.
Siegesfeier, 7. Juli 1901*).
Liebe Kinder! Ich danke euch herzlich für eure Wünsche. Ich hoffe,
daß ihr, wohin ihr auch in eurem Leben kommt, treue Kinder des Volkes
sein werdet. Unser aller Streben ist es, daß ihr nicht so blasse
Kinder seid, sondern daß aus euch kräftige, wohlgenährte Menschen
werden. Ihr wisset heute noch nicht, was das ist, die Sozialdemo-
kratie. Aber das eine könnt ihr heute schon verstehen: Sozial-
demokrat sein heißt, ein guter, ehrlicher, braver und mutiger Mensch
sein! Und wenn ihr gute Menschen seid, werdet ihr auch auf der
ganzen Welt bei den Hunderttausenden und Millionen von Sozial-
demokraten, die alle so sind wie wir, euch zu Hause fühlen, wie bei
Bruder und Schwester.
Christlichsoziale Schulverwaltung.
Landtag, 6. Juli 1901**).
Wenn auch unsere politischen Meinungen auseinandergehen, in
dem einen Punkte, glaube ich, dürften wir doch alle eines Sinnes
sein: darin nämlich, daß wir für die Schule überhaupt viel zuwenig
aufwenden. Es wurde gestern hier auch von der Stellung der Sozial-
demokraten zur Schule gesprochen. Wir sind gewiß der Ansicht,
daß das Reichsvolksschulgesetz ein großer Fortschritt war, aber
wir glauben, daß es von Geburt aus mit dem Fehler behaftet ist,
der auch vom Abgeordneten Qeßmann angeführt wurde, daß
nämlich die Gemeinden ökonomisch nicht in der Lage sind, es
durchzuführen, und daß der Staat zu den Lasten nicht herangezogen
wird. Nun stehen wir Sozialdemokraten durchaus nicht auf dem
Standpunkt der Liberalen, den Herr Professor L u s t k a n d 1*>:*) hier
vertreten hat und dem sich zu meiner Verwunderung Herr Landes-
ausschuß Geßmann sofort angeschlossen hat, daß es eine Gefahr
wäre, wenn der Staat etwas für die Schule täte. Man sagt, daß wir
dann noch für Galizien, für die Slowenen usw. aufkommen müßten.
Das ist richtig. Aber glauben Sie denn, daß die 75 Prozent Analpha-
*) Die Favoritner feierten den Sieg durch ein prächtiges Siegesfest.
Als Adler kam, wurde er mit Jubel begrüßt und die Proletarierkinder
überreichten ihm einen Strauß roter Nelken. Darauf antwortete Adler mit
folgenden Worten.
**) In zwei Sitzungen beschäftigte sich der niederösterreichischc Land-
tag mit den Voranschlägen der Bezirkschulfonds: am 6. Juli hatte Ad;
Gelegenheit, auf die Ausführungen der christlichsozialen Redner, vor allem
des Wohlfahrtsreferenten Leopold Steiner und des Schulreferenten
Dr. Albert Geßmann, zu antworten.
***) Der Professor des Staatsrechtes an der Wiener Universität Doktor
Wenzel Lustkandl war auch als Vertreter der Universität, die eine
Virilstimme im Landtag hatte, Abgeordneter; er gehörte der liberalen
Partei an.
Christlichsoziale Schulverwaltung. ' ;l
beten in Galizie n und die beinahe ebenso vielen Analphabeten in
den südlichen Provinzen uns jetzt nichts kosten? Weil Qalizien eine
so schlechte Volksschule hat, herrscht dort unbeschränkt eine
Partei, die dem Staate ganz gehörig im Säckel liegt. Hätte n w i r
d ort nicht S 0 viele A n a I |) li a I) e t e n, in Ü ß t e n w i r
nicht s o viel f ü r die ,,s trategische n" B a h n e n
zahle n, und wir müßten den polnischen Kava-
lieren nicht ihre Schulden z a li len helfe n. Ich weiß,
daß ich hier nicht eine Änderung des Reichsvolksschulgesetzes be-
antragen kann, aber nachdem gestern nach Schluß der Debatte diese
Frage hier berührt wurde, wollte ich mit einem Worte darauf
zurückkommen. Aber gestern hat Herr Landesausschuß Steiner
auch ein glänzendes Bild von den Schulen in der (i c m e in d e
Wien entwickelt, und ich muß gestehen, ich war verblüfft über die
Unmasse von Ziffern, die er der Stadtbuchhaltung entnommen, und
ich war förmlich beschämt, daß die Schulfeinde um soviel mehr
ausgeben als unter der liberalen Ära ausgegeben wurde. Was
heißt denn überhaupt „Schulfeindschaft"? Glauben Sie denn, wenn
wir Ihnen sagen, wir halten Sie nicht für Freunde der Volksschule,
daß wir dann meinen, Sie wollen gar keine Schulen? Wir
glauben, daß Sie sich mäßigen können in Ihrer Schulfeindschaft, wir
glauben, daß Sie sich Zügel anlegen können; Botokuden sitzen
schließlich im Wiener Gemeinderat auch heute nicht, und es wäre
auch unmöglich, denn die Bevölkerung braucht doch Schulen. Aber
es handelt sich nicht um das Minimum, das muß jede Gemeinde
gewähren; die Schulfreundlichkeit fängt dann an, wrenn man über
das gesetzlich Notwendige hinaus etwas tut.
Sie machen es in Ihrer Kritik oder Antikritik der Anwürfe auf
Ihre Schulfeindschaft so, daß Sie sagen: Die Liberalen haben soviel
hergegeben und wir geben noch mehr her, oder: Die Liberalen
haben es geradeso gemacht, was wrollt ihr denn von uns?
Ich erkläre hier — und diese Erklärung hat meine Partei von
jeher abgegeben — , daß die liberale Handhabung des
Schulgesetzes den Sozialdemokraten auch nie-
mals entsprochenhat. Die Todsünde liegt schon, wie gesagt,
in dem Paragraphen des Reichsvolksschulgesetzes, der den Ge-
meinden die Aufgaben aufbürdet, denen sie nicht gewachsen sind,
die sie nicht zu tragen imstande sind. Aber auch die Durchführung
des Gesetzes in Wien hat durchaus nicht dem entsprochen, was man
von einer so reichen Gemeinde verlangen kann. Aber Ihre Berufung
auf die Liberalen kommt mir in Ihrem Munde sehr merkwürdig vor-
Es ist sonderbar, wenn die heute herrschende Partei nach der An-
erkennung buhlt, daß sie ebenso gut oder, richtiger gesagt, ebenso
schlecht ist wie die Liberalen. Aber es bedürfen leider auch die
Ziffern, die gestern Herr Landesausschuß Steiner vorgebracht
hat, einer näheren Untersuchung. Da stellt sich denn heraus, daß der
Vergleich leider nicht so zu Ihren Gunsten ausfällt, wie Sie gestern
meinten. Wenn wir wenig entzückt sind von der liberalen Schul-
politik, so sind wir es noch weniger von der Ihrigen. Ich will nichl
9*
132 Adler im Landtag.
sprechen von den Lehrermaßregelungen, dazu wird noch bei der
Budgetdebatte Gelegenheit genug sein, ich will bei den Ziffern
bleiben, die Herr Landesausschuß Steiner gestern vorgebracht hat.
Herr Abgeordneter Steiner hat Beziehungen zur städtischen Buch-
haltung, und so war es ihm möglich, amtliche Ziffern in Mengen über
unsere verblüfften Häupter auszugießen. Diese Ziffern lassen sich
nicht kontrollieren, aber ich will darauf mit Ziffern antworten, eben-
falls amtlichen Ziffern, die Sie jederzeit nachkontrollieren können.
Ich habe mich aus dem statistischen Jahrbuch der Stadt Wien
belehrt, so gut es geht, und da kommt folgendes heraus: Herr
Landesausschuß Steiner hat auf die Steigerung der Schulausgaben
vom Jahre 1892 bis 1900 von 10 Millionen auf 15V-; Millionen Kronen
hingewiesen. Man hat da mit Unrecht dazwischengerufen: „Das war
vor der Vereinigung der Vororte mit Wien!" Das war irrtümlich,
aber nicht irrtümlich war es, daß das Jahr 1892 unmittelbar
nach der Vereinigung der Vororte mit Wien folgte, das heißt zu
einer Zeit, wo das Schulbudget für Groß-Wien noch nicht vollständig
in Ordnung war. Das Schulbudget hat zwei Hauptposten: der eine
ist ein stabiler Posten, an dem die Gemeinde nicht viel ändern
kann, da das Gesetz vorschreibt, was zu leisten ist, das sind die
Bezüge der Lehrpersonen, der Eröffnung neuer Klassen, wenn mehr
Schüler da sind, usw.
Wir haben jährlich eine Vermehrung der Schülerzahl um 2501)
bis 3000, das bedingt an sich wieder eine neue Belastung des
städtischen Schulbudgets um eine gewisse Anzahl von Schulen.
Also, ob Sie nun liberale oder antiliberale Schulfreunde oder Schul-
feinde sind, diese Auslagen müssen Sie vermehren, und so sind im
Budget die Auslagen von 3,650.000 Gulden auf ungefähr 5,000.000
Gulden erhöht worden. Es hat auch die Schülerzahl in dieser Zeit
um 25.000 Kinder zugenommen. Aber es gibt einen Teil im Schul-
budget, der nicht so fest ist, das ist jener Teil, der sich mit der
Errichtung und Eröffnung von Schulen, der Bewilligung von Lehr-
mitteln usw. befaßt, kurz, jener Teil, der jene Schulfreundlichkeit
betrifft, die vom Gesetz nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist. Wie
steht es nun mit diesem? Im Jahre 1892 hat die Gemeinde für Schul-
bauten 449.000 fl. ausgegeben, und wenn Herr Landesausschuß
Steiner dieses Jahr 1892 zum Vergleich gewählt hat, so hat er sehr
gut gewußt, daß er dabei sehr gut abschneidet, und wenn er es
nicht gewußt hat, so haben es diejenigen gewußt, die ihm die Ziffern
gegeben haben; denn im Jahre 1893, als die Schulverwaltung von
Groß-Wien schon ein bißchen befestigt war — wenn wir Sie mit
aller unserer Kraft bekämpfen, so ist es uns nicht darum zu tun, die
Zustände, wie sie unter den Liberalen herrschend waren, wieder
herbeizuführen, sondern um menschliche, wirklich
sozial vernünftige Zustände zu schaffen; das taten
die Liberalen so wenig wie die Christlichsozialen — , im Jahre 1893
also hat sich die Ziffer von 449.000 bereits erhöhen müssen auf
1,000.000 fl.
Christlichsoziale Schulverwaltung. 133
Im Jahre 1894 Stieg die Ziffer auf 1,345.000, im Jahre 1895 auf
1,493.000 fl, Meine Herren, wann sind Sie aber zur Regierung ge-
kommen? Naeh der Rede des Herrn Steiner sieht es so aus, als
ob das Jahr L892 das letzte liberale Budgetjahr gewesen wäre und
als ob der ganze Zuwachs im Schulbudget seit 189J auf I h r Konto
käme; das ist aber nicht derFall, das erste Budget, auf das Sie
faktisch Einfluß gehabt haben, war das Jahr 1897.
Dr. Geßmann: Oho, schon 1896!
Abgeordneter Dr. Adler: Über das werden wir nicht streiten; es
kommt mir auf das eine Jahr nicht an. Wenn Sie aber sagen 1896,
so ist es mir auch recht, denn im Jahre 1895 betrug das Schulbudget
1,493.000 fl., i m Jahre 1 8 9 6 a b e r n u r m e h r 9 4 8.0 0 0 fl., im
Jahre 1897 fiel es sogar auf 600.000 fl. herunter, im Jahre 1898 auf
518.000 fl. Erst in den letzten zwei Jahren, nachdem soviel ver-
nachlässigt wurde an neuen Schulbauten, ist es wieder etwas
in die Höhe gegangen. Ich werde an zwei Tatsachen belegen, daß
die Gemeinde Wien tatsächlich zuwenig tut und daß wir zuwenig
Schulen haben. Sie können den Arbeitern in Ottakring noch soviel
erzählen, wieviel Sie gebaut haben: der Arbeiter schickt sein Kind tat-
sächlich in eine überfüllte Schul e*), wenn er nicht genötigt
ist, wie das leider in den letzten Jahren immer häufiger wird — und
ich mache den Landesschulrat darauf aufmerksam, denn ein Aus-
weis existiert darüber gar nicht — , das Kind in die S p ä t s c h u 1 e
zu schicken. Die Spätstunden mehren sich. Sie kennen
dieses System. Um 8 Uhr früh gehen die Kinder in die Schule, um
10 Uhr gehen sie wieder hinaus, und nach 10 Uhr geht eine
zweite Schicht von Kindern in dieselben Räume,
und davon weiß man nichts, denn darüber wird kein
Bericht erstattet; ich wüßte es auch nicht, wenn mir nicht
aufgefallen wäre, daß ich im „Amtsblatt der Stadt Wien" wiederholt
gelesen habe: „Stadtrat Tomola referiert über eine Zuschrift des
Bezirksschulrates X. über die erfolgte Zuerkennung einer Remune-
ration von 90 Kronen an den Oberlehrer Y. für den erteilten Spät-
unterricht." Das wiederholt sich oft. Aber dieser Spätunterricht ist
hygienisch — das sage ich Ihnen vom ärztlichen Standpunkt aus —
unzulässig. Es ist bedenklich, wenn man in eine solche Schule, wenn
sie noch so gut ventiliert ist, aus der soeben die Kinder hinaus-
gegangen sind, wieder andere hineinschickt.
Es ist also nicht richtig, daß wir Grund haben, mit der
städtischen Schulverwaltung so zufrieden zu sein, wie uns gestern
zugemutet wurde. Es ist richtig, daß neue Schulen gebaut wurden.
Es wäre auch unmöglich, daß keine gebaut würden, aber auf Ihr
Konto kommen nur 16 Schulen.
Landesausschuß Dr. Geßmann: Da rechnen Sie die Doppel-
Schulen.
) Die durchschnittliche Schülerzahl in den Wiener Volksschulklasseii
betrug im letzten Friedensiahr 47; jetzt 29.
134 Adler im Landtag.
Abgeordneter Dr. Adler: Ich rechne die Doppelschulen, weil sie
Herr Landesausschuß Steiner auch ausdrücklich gerechnet hat. Ich
bitte, sich nur zu überzeugen. Das Material ist Ihnen ebenso zu-
gänglich wie mir.
Ich werde Gelegenheit haben, später über Schulküchen und
Suppenanstalten zu sprechen, aber erlauben Sie mir, eines
vorwegzunehmen: Herr Landesausschuß Dr. Oeßmann hat mir
gestern die unverdiente Ehre erwiesen, von einem System
Adler zu sprechen ; das System, daß die Kinder ordentlich
ernährt werden sollen, ist weder mein privilegiertes
System, sondern das ist die Anschauung aller jener, die, wenn sie
auch nicht Sozialdemokraten sind, irgendwie soziales Emp-
finden haben; die Methode aber, die mir Dr. Geßmann insinuiert
hat, wünscht niemand einzuschlagen, auch nicht die Sozialdemo-
kraten. Herr Landesausschuß Steiner hat gestern gesagt: Was
wissen die Leute, was eine Weltstadt braucht? Wir sind nicht die
einzige Weltstadt. Sie wraren ja in Paris und haben dort manches
gesehen, und Herr Landesausschuß Steiner war sehr begeistert von
dem, was die anderen bei der Wiener Schulverwaltung lernen
konnten.
Erlauben Sie mir nur, mit einem Worte anzudeuten, was Sie in
Paris lernen könnten und was die Herren Lehrer, die Sie selbst mit
Stipendien hingeschickt haben — es waren keine böswilligen
Sozialdemokraten oder Deutschnationalen, obwohl es
wünschenswert wäre, diese schlechten Menschen in Paris etwas
ausbilden zu lassen, vielleicht würden sie sich dann auf Ihre Höhe
entwickeln (Heiterkeit), sondern Leute, die ohnehin auf Ihrem
Standpunkt stehen — , in Ihrer „Deutschen Schulzeitung" ge-
schrieben haben. Sie rühmen sich, daß 60.000 Kronen für Ernährung
der Schulkinder ausgegeben werden, und die Herren haben in
Paris erfahren, daß dort für Schulküchen eine Million
Franken gezahlt wird. Freilich, das sind schlechte Menschen, die
das gemacht haben, das war die sozialistische Gemeinde-
vertretung. Heute haben die dort eine Gemeindevertretung, die
Ihnen viel näher steht, und Sie haben ja gejubelt über den Sieg der
Nationalisten, und wir wollen abwarten, ob diese den Mut haben
werden, die Pariser Schulverwaltung auf das Niveau zu bringen,
auf dem es ihre Parteigenossen in Wien heute festhalten und sich
dabei noch rühmen, etwas Außerordentliches damit zu tun.
Also, selbst damit so zufrieden zu sein, wie Sie es sind, haben
Sie keine Ursache. Sie haben sich vielleicht nicht allzusehr zu
schämen vor den Leuten, die vor Ihnen geherrscht haben. Sie sind
vielleicht nicht sehr viel schlechter als jene, das will ich zugeben,
aber das ist die äußerste Konzession, die ich Ihnen machen kann.
Bei denjenigen aber, die das Recht des Kindes auf die
Schule auf eine breitere Basis gestellt wissen
w o 1 1 e n, kann Ihre Selbstzufriedenheit durchaus
nicht Beifall finden. (Beifall.)
Christlichsoziale Schulverwaltung. '
Schulküchen*).
Der Referent hat seihst zugestanden, daß das, was liier für
Suppenanstalten gegeben werden soll, viel zuwenig ist. Es ist auch
wirklich zu wenig. Diese Summe von (>l)()() Kronen steht, in gar
keinem Verhältnis zum Bedarf. Wenn Sie die Freund-
lichkeit haben, Ihre eigenen Berichte über che Aufteilung dieser Sub-
ventionen anzuschauen, so werden Sie sehen, daß da 50 H., 30, ja
_;() fl. für Mittagssuppen ausgegeben werden, und Sie werden mir
lIaiwi zugestehen, daß da mein- gegeben werden muß. Sie können
auch nicht leugnen, daß die Kinder schlecht genährt sind, und der
Herr Landesausschuß Geßmann hat erzählt, wie die Kinder den
ganzen Tag in der Schule bleiben müssen und mittags nicht nach
Hause können. Ich stelle mir diese Mittagssuppen auch nicht gerade
lukullisch vor. Schauen Sie, wir geben doch vom Land hübsch viel
Geld aus: wenn wir so viel aufbringen, vielleicht bringen wir auch
hier noch ein paar tausend dulden auf. Wir könnten dem Landes-
ausschuß die Möglichkeit bieten, auch dort, wo bisher solche
Mittagssuppen nicht eingeführt sind, sie anzuregen. Sie sehen, ich
bin sehr bescheiden, ich will hier die prinzipielle Frage gar nicht
erörtern, ich will vom Landtag nicht verlangen, daß er das Recht
des Kindes auf Er n ä h r u n g anerkennt, dazu wird schon ein
anderes Mal Gelegenheit sein, Sie zu fragen, wie Sie sich dazu
stellen. Ich meine aber, daß Sie selbst dazu kommen werden.
Abgeordneter Mayer (Christlichsozialer): In dreißig oder vierzig
Jahren.
Abgeordneter Adler: Ich hoffe, wir werden früher dazu kommen,
daß die Kinder unseres Landes ordentlich ernährt werden, und daß
das nicht auf dem Wege der Wohltätigkeit geschieht,
sondern daß das Kind ein Recht in Anspruch nimmt und auch die
Litern.
Abgeordneter Prinz Liechtenstein: Diese verlieren das Recht,
ihre Kinder zu ernähren!
Allgeordneter Dr. Adler: Das R e c li t, die Kinder zu ernähren?
Schauen Sie sich einmal in Wien um. Alle anderen Rechte wollen
Sie diesen Proletariern nur sparsam zufließen lassen. Aber nur das
einzige Privilegium, ihre Kinder zu ernähren, wollen Sie ihnen ver-
gönnen, weil Sie wissen, daß sie es nicht ausüben können.
Abgeordneter Sturm: Zu Hause werden die Kinder billiger er-
nährt!
Abgeordneter Dr. Adler: Zu Hause werden sie schlechter
ernährt. Aber ich will nicht leugnen, heute schauen die
S i! p p enanstalte n s o a u s, daß nur der größte
Hunger die Kinder zwingt, hineinzugehen. Einer der
Herren hat gesagt: „Fällt uns nicht ein, unsere Kinder in diese
^iipl^c naMstalten hinzuschicken!" Da haben Sie das Mittel, eine
bessere Ernährung herbeizuführen. Wenn wir diese Anstalten so
I Dann berichtet der Prälat Schmolk über die Subventionen für
ippenanst alten und Kinderhorte, wofür er °uuu Kronen be-
antragt. Da/u spricht sofort Dr. Adler als erster Redner.
136 \dlcr im Landtag.
ausstatten, daß sie für alle sind, dann werden Sie schon selbst dafür
sorgen, daß die Kinder etwas Ordentliches zu essen bekommen,
weil auch Ihre Kinder dort sein werden. Ich stell e a 1 s o d e n
A n t r a g, daß die P o s t v o n 9 0 0 0 K r o neu für Mittag s-
SUppen und Kinderhorte auf 2 0.0 00 Kronen e r h ö h t
w e r d e.
Ich sage gleich, ich bin gefaßt darauf, daß mir wieder der Vor-
wurf gemacht werde, es seien agitatorische Gründe, die
mich zu meinem Antrag bewegen. Herr Dr. Qeßmann ist sogar
weitergegangen und hat mir gesagt, daß ich böswillige Angriffe
erhebe, und daß ich ausschließlich Parteipolitik treibe. Ich erkläre
Ihnen hier: Gewiß treibe ich Parteipolitik, weil ich das Be-
wußtsein habe, daß ich der Bevölkerung diene, indem
ich meiner Partei diene. Bezüglich des Ausdruckes, der
von Dr. Geßmann allerdings nur hypothetisch gebraucht wurde,
aber doch gebraucht wurde, bezüglich des Ausdruckes „p e r f i d"
will ich ein für allemal kurz bemerken: Ich bin von Natur aus ein
sehr höflicher Mensch und froh, wenn ich höflich verkehren kann:
empfindlich bin ich gar nicht; auf mich macht es nicht den ge-
ringsten Eindruck, was Sie über mich sagen, ich habe gegen derlei
eine wahre Rhinozeroshaut. Aber Sie haben zu wählen: Ich bin
von Natur aus h ö f 1 i c h, w ollen Sie aber g r o b sei n,
s o kann ich das a u c h. Ich bitte mich also künftig mit hypo-
thetischen Klassifikationen zu verschonen*).
Die Spitalnot in Wien.
Landtag, 9. Juli 190 1**).
Es ist in dieser Frage gewiß möglich, ohne jede Leidenschaft zu
sprechen, alle Unterschiede der Partei beiseite zu lassen und rein
*) Bei der Abstimmung wird der Antrag des Abgeordneten Dr. Adler
a b g e 1 e h n t. Die Anträge des Schulaussehusses werden angenommen.
'*) Der Landtag hatte sich am 9. Juli mit dem Vertrag zu beschäftigen,
durch den die Landesirrenanstalt an den Staat verkamt wurde, der auf
dem dadurch gewonnenen Grundstück sowie auf der Area des der Kom-
mune abgekauften Versorgungshauses das neue klinische Spital errichten
wollte. Es war selbstverständlich, daß aus diesem Anlaß die Wiener Spital-
frage aufgerollt werden mußte. Der liberale Abgeordnete der Handels-
kammer, v. Lindheim, knüpfte daran den Wunsch, daß Vorkehrungen
für die isolierte Behandlung der Tuberkulosen getroffen würden. Doktor
Adler stellte den durchaus nicht beruhigenden gegenwärtigen Stand der
Krankenhausfrage fest. L u e g e r ging nicht mit einem Worte auf die Spital-
frage ein. Dagegen wendete er sich mit Wut gegen die von Adler erhobenen
Forderungen an die Gemeinde. Dann wurden alle Znsatzanträge schlankweg
abgelehnt: sogar der Antrag Adlers, die Regierung möge veranlaßt werden,
für eine genügende Anzahl von Spitalbetten zu sorgen, wurde nieder-
gestimmt.
Ein Artikel .,Z u r W i e n e r K r a n k e n h a u s f r a g e". den Adler am
15. Oktober in der Frage des Neubaues der Wiener Krankenhauskliniken
schrieb, ist im dritten Heft dieser Schriften (Seite 79) abgedruckt.
Die Spitalnot in Wien. 137
objektiv die Dinge zu erwägen. In der Frage der Versorgung der
Irren in Wien weiß ieh ZU dein vorliegenden Antrag sehr wenig ZU
bemerken. leb schließe mieli den Ausführungen des Referenten voll-
ständig an, insofern anerkannt wird, daß durch den Verkauf des
Irrenhauses ein gutes Geschäft für den niederösterreichischen
Landesfonds gemacht wurde. Ja, ich gehe noch weiter und sage,
daß ein hohes Maß von Geschicklichkeit notwendig gewesen ist, um
dieses verwickelte Geschäft so glatt abzuschließen. Aber mit dem
Verkauf des Irrenhauses ist leider nicht alles geschehen.
Wenn wir hier nur Vertreter d e s L a n de s f i s k u s wären.
dann wären wir alle einig, daß Landesausschuß Steiner ein glänzendes
Geschäft gemacht hat. (Abgeordneter Noske und Dr. Krona-
wetter: () nein!) Herr Dr. Kronawetter*), Ihnen ist es noch immer
nicht gut genug. (Heiterkeit.) Aber vom Standpunkt des Bedürf-
nisses der Wiener nach Spitälern ist das Geschäft des Landes-
ausschusses eher z u gut als zu wenig gut. Ich stehe nicht auf dem
Standpunkt des F i s k u s des Landes und auch nicht wie der Ab-
geordnete Kronawetter auf dem des Fiskus der Gemeinde Wien,
sondern auf dem Standpunkt des Bedürfnisses nach Spitälern.
Dieses Bedürfnis soll so gut und so billig befriedigt werden als
nur möglich.
Aber, so verwickelt die Frage ist, so gab es doch eine Zeit, wo
sie leicht und glänzend zu lösen war. Es sind noch nicht zwei Jahre
her, daß sowohl die Vertreter der Regierung und des Krankenhaus-
fonds als auch — wie ich mich durch Besprechungen mit Herrn
Landesausschuß Steiner wiederholt überzeugt habe — der
Landesausschuß alle auf dem Standpunkt standen, das Kran-
kenhaus nach üttakring zu verlegen, da nirgends ein
so gutes, ein so billiges und ein so allen Ansprüchen entsprechendes
Spital gebaut werden kann wie in Ottakring auf den Gründen des
Wilhelminenspitals. Dort hätte man einen billigen Grund, glänzende
Luft gehabt, und die sanitären Verhältnisse wären dort, wie die Er-
fahrungen des Wilhelminenspitals lehren, weitaus besser als in der
inneren Stadt. Auf einmal ist aber in dieser Sache eine Wendung
eingetreten. Warum der hohe Landesausschuß plötzlich diese
Wendung gemacht und sich, anstatt wie bisher für das Ottakringer
Projekt, für die Verlegung des Krankenhauses auf die Irrenanstalts-
gründe begeistert hat, ist sehr schwer zu erklären. Ursprünglich
hat gegen das Ottakringer Projekt nur die O p p o s i t i o n der
Herren klinischen Professoren bestanden, die für ihre
privatärztliche Praxis fürchteten. Diese Opposition wurde vom
) Über Kronawetter machte die „Arbeiter-Zeitung" im Bericht
über diese Landtagssitzung die Bemerkung: Ür. Kronawetter, der sonst so
vortreffliche Mann, verliert jede Besinnung, sobald der Fiskus der Ge-
meinde ins Spiel kommt. Die Erklärung der Menschenrechte und die An-
schauungen eines Wiener Magistratsrates hausen schlecht zusammen in
demselben Kopfe... Er verteidigte heute leidenschaftlich die Kommune
iCCKen die Zumutung, daß sie jene Spitäler bauen solle, für die der Kranken-
anstaltenfonds nicht ausreicht...
138 Adler im Landtag.
Hofrat Nothnagel geführt, und ich erinnere mich sehr genau, wie
damals alle dem Landesausschuß nahestehenden Blätter mit einer
wahren Wut gegen diese Opposition auftraten. Und sie haben auch
damals recht gehabt. Aber plötzlich haben sie sich von Hof ra t
Nothnagel bekehren lasse n. Das ist sonst nicht ihr Mann*),
aber gerade dort, wo er am allerwenigsten recht hat,
gerade in dem Punkte, wo sein Urteil durch das Vorurteil seines
Berufes getrübt war, haben sie sich ihm gefügt, und auf einmal
verschwindet das Ottakringer Projekt.
Zugleich erscheint auf der Bildfläche die Möglichkeit des Ver-
kaufs des Wiener Versorgungshauses. Es entsteht damit die Mög-
lichkeit, daß nicht nur das Land, sondern auch die
Kommune ein Geschäft mache, und jetzt wird ab-
geschlossen. Die kranken Wiener zahlen nun 13 Millionen für das
Irrenhaus, statt daß sie sich für etwas mehr als eine
Million Kronen den Grund in Ottakring gekauft
hätten. Dazu kommt noch — ich erlaube mir, das jetzt schon zu
prophezeien — , daß der jetzt projektierte Grund nicht einmal für die
klinischen Anstalten genügen wird. Wenn die Unterrichtsverwaltung
und der Krankenhausfonds nicht allzu schäbig sein werden, so
werden sie von dem heutigen Grund des Allgemeinen
Krankenhauses noch etwa s dazuschlagen
müsse n, um das herauszubringen, was sie an Kliniken, Hörsälen
und Unterrichtsanstaiten auf diesem Grund unterbringen wollen. In
dem Plan oder, besser gesagt, in dem Kommunique wird von allen
möglichen Anstalten erzählt, die gebaut werden sollen, aber von
einer Kinderklinik steht kein Wort darin; es scheint, daß eine solche
auch nicht beabsichtigt ist. Es soll mich freuen, wenn
der Herr Statthalter mich widerlegt und damit mich und die ganze
Bevölkerung beruhigt.
Der ganze Plan der Sanierung unserer Spitalzustände beruht auf
folgender Erwägung : Wir benützen die hochange-
wachsene Grundrente des Bodens, auf dem das
Allgemeine Krankenhaus heute steht, um damit
nicht nur billigen Boden anderwärts zu kaufen,
sondern auch, um den größten Teil des Instituts
neu aufzubauen. Für den Verkauf des Allgemeinen Kranken-
hauses sind sieben Millionen herausgekommen. Damit wäre schon
etwas zu leisten. Heute genügt der Verkauf des
Krankenhauses nicht einmal, u m den Boden zu
kaufen, auf dem die neue Anstalt stehen soll, und
für den Bau bleibt nichts.
Nun werden Sie sagen: Was zerbrechen wir uns den Kopf
darüber. Es wurde doch von hoher Stelle verkündet, daß alles
gemacht wird. Aber, meine Herren, es müßte Sie doch vor allem
*) Nothnagel, der berühmte Internist, war zugleich Obmann des „Ver-
eines zur Abwehr des Amisemitismus" und daher bei den Christlichsozialen
verhaßt.
Die SpHalnol In Wfen. ' '
das beunruhigen, daß nicht ein strich eines Finatizplans vorhanden
ist, und dann, daß bis jetzt absolut keine bestimmte n
Z i I f e r n a n g e g eben wurden, w i e v i e I die Unterricht -,-
Verwaltung im Verein mit dein Krankenhaiistonds ausgeben
will und wieviel Betten aufgestellt werden sollen. Und das
ist das Entscheidende.
Aber das „ausgezeichnete Geschäft" des Herrn Landes-
ausschusses Steiner hat noch einen Fehler: Wenn man das
Spital in Ottakring gebaut hätte, so hätte man draußen sofort
zu bauen anfangen können, und man hätte das Krankenhaus in d e r-
s e 1 b e n Zeit neu herstellen und das andere niederreißen
können, als man jetzt warten muß, bis die neue Irrenanstalt
gebaut ist. Ich gestehe, daß auch die Landesirrenanstalt nicht voll-
ständig den modernen Anforderungen entspricht und darum eines
Ersatzes bedarf. Aber eine Sorge nach der anderen. Von
allen sanitätswidrigen Krankenanstalten, die wir in Wien haben, ist
die Irrenanstalt die am wenigsten sanitätswidrige, die hätte noch
ein paar Jahre warten können. Jede Stunde aber, die das
Krankenhaus weiterbesteht, ist ein Verbrechen
an den Kranken Wiens. Das ist auch etwas, was mir die
Freude an dem „ausgezeichneten" Geschäft des Herrn Steiner ver-
gällt.
Sie werden nun sagen: Da ist nichts zu machen, freuen wir uns
also darüber, daß der Landesausschuß ein so gutes Geschäft
gemacht hat! Aber ich glaube, es obliegt uns denn doch noch etwas
anderes. WTien hat eine Ausnahmsstellung vor allen anderen Städten.
Wir haben einen Krankenhausfonds, der die Spitäler bauen
und erhalten soll; aber dieser Fonds ist längst bankrott. Wenn
er ein Präsent kriegt, ist das ein Unglück für ihn.
Im Jahre 1891 hat er die Vorstadtspitäler bekommen, das hat ihn
ein schönes Stück Geld gekostet, und vor ein paar Jahren hat er
durch die Großmut der Stadt Wien wieder eine Million gekriegt, und
dieses Präsent kostete ihn wieder ein schönes Geld. Denn wenn
die Herren splendid sind, sind sie schon gar nicht
splendid. Sie haben eine Summe votiert, die nicht einmal für den
Bau ausreicht, und sie zahlen natürlich keinen Kreuzer für
die Erhaltung des S p i t a ls, und der Fonds muß aus Anlaß
des Geschenkes sehr viel daraufzahlen. Es ist also ein Danaer-
geschenk, das sie ihm gemacht haben. An diesen bankrotten
Krankenhausfonds sollen wir nun die Ansprüche stellen, daß er Wien
mit der genügenden Anzahl Krankenbetten versorgt. Der unmittel-
bare Herr Vorredner hat die notwendige Vermehrung
der Bettenanzahl mit 1500 beziffert. Aber ich bin ein be-
scheidener Mensch. Ich wäre mit einer Vermehrung von
1 0 0 0 B e 1 1 e n schon sehr froh, und ich bin neugierig, ob der Herr
Statthalter in der Lage sein wird, zu erklären: „Ja, wir bekommen
um 1000 Betten mehr." Aber wie die Dinge heute stehen, bekommen
wir auch nicht ein Bett mehr. Ja, es ist zweifelhaft, ob wir
auch nur so viel Betten in dem neuen Spital haben
140 Adler im Landtag.
werde n, a 1 s \v i r heute h a b e n. Im Abgeordnetenhaus haben
meine Parteigenossen deshalb eine Interpellation gestellt, aber der
Ministerpräsident hüllte sich in Stillschweigen.
Aber das ist gerade die Lebensfrage. Was hat denn die Be-
völkerung Wiens von dem, was Sie heute machen, wenn die Anzahl
der Krankenbetten nicht vermehrt wird? Meine Herren! Gerade
Sie, die Sie außerhalb Wiens w ohne n, Sie haben an der
Sache ein hervorragendes Interesse, dasselbe Interesse wie wir
Wiener. Es sind nicht nur W iener Kranke, die heute
in Massen von den Spitälern zurückgewiesen
werden, weil kein Platz ist, sondern auch Kranke aus der
Provinz, die nach Wien kommen und hier Hilfe suchen müssen, weil
die Art ihrer Krankheit eine Behandlung auf der Klinik erfordert.
Also auch Sie aus der Provinz müssen mit mir
einig sein und wenigstens meinen Antrag unterstützen, der
folgendermaßen lautet:
Der Landtag spricht die Überzeugung aus, daß die Spitalnot in
Wien nur behoben werden kann, wenn nicht nur die Kliniken
und Abteilungen nach modernen, hygienischen Grundsätzen
neu errichtet, sondern auch über ihren heutigen Umfang
hinaus die Zahl der Betten in einem entsprechenden
Maße vermehrt wird, und fordert den Landesausschuß auf, mit allem
Nachdruck auf den k. k. Landesfouds respektive die Regierung in diesem
Sinne einzuwirken.
Ich glaube Ihnen ja, daß die Regierung splendid sein wird; aber
wissen Sie, daß das so vorhalten wird, wenn der Druck aufhört?
Die Herren, die dann die Spitäler zu bauen haben werden, werden
sich um jeden Kreuzer herumraufen müssen.
Es gibt ja noch einen Faktor, in dessen Kompetenz es liegt, sich
mit der Errichtung und Erhaltung von Spitälern zu befassen. Das ist
die G e m e i n d e W i e n. Ich weiß, daß ich damit in ein Wespennest
hineinsteche und bei den Vertretern der Gemeinde Wien Wider-
spruch finden werde. Aber ich erkläre, daß es nach der Lage des
Gesetzes — des Sanitäts- und des Heimatsgesetzes — un-
bedingt die Pflicht der Gemeinde Wien ist, für die
Unterbringung und Verpflegung der Kranken zu
sorgen.
Herr Dr. K r o n a w e 1 1 e r entrüstet sich schon. Er wird mir
Urteile des Verwaltungsgerichtshofes vorlesen. Aber es
gibt auch andere Urteile, die für mich sprechen.
Abgeordneter Dr. Kronawetter: Nur Epidemiespitäler.
Abgeordneter Dr. Adler: Bauen Sie wenigstens Epidemiespitäler.
Ich bin schon damit zufrieden. So wird dann Platz für andere. Herr
Dr. Kronawelter wird mich dann widerlegen, ich weiß,
juristisch gewiß. Aber die Bevölkerung lebt ja
nicht am P a p i e r, und sie kann auch mit diesen bürokratischen
Anschauungen, die der Herr Bürgermeister von Wien zu meiner
Freude so festgenagelt hat, ihre Kranken nicht verpflegen. Wissen
Sie nicht, daß Zehn tausende von Menschen unter
Die Snitalnol in Wie». 141
d c m e w i g e n K 0 m p e t e 11 z streit z w i s c li e n (j e-
meinde, Land und Staat leid c d? Sie wissen es alle, die
der kommunalen Verwaltung näher stehen, wie Sie es mit
Ihren Pfrtindnem treiben und wie die hin- und her-
geschoben werden. Der Kompetenzstreit wird ausgetragen auf dem
Rücken der Bevölkerung. Sonst heißt es: Wenn zwei sich streiten,
freut sich der dritte. Das ist hier nicht der Kall. Über diesen
Streit geht die B e v ö 1 k e r 11 n g tat s ä c h 1 i c h zu-
grunde. Und es ist eine Schande v 0 r kr a n z E u r 0 ]) a,
weil es keine zweite Stadt gibt, die mit Spitälern so schlecht ver-
sehen ist wie Wien5*).
Natürlich werden Sie mir darauf zur Antwort geben: Woher
sollen wir das ( i e 1 d nehme n? Ich könnte Urnen darauf die
Antwort geben, aber das würde mich zu weit führen, und Sie
wissen es auch genau : Sie finden für andere Dinge (ield.
und zwar sehr viel (ield, und Sie würden es auch für die
Spitäler finden, wenn Sie wollten. Aber mir genügt hier das
eine: Sie müssen es finden, wie es andere Gemeinden auch
finden müssen! Sagen Sie mir, was geschieht in Wiener-
Neustadt, St. Polten, Krems? Werden etwa die
Krankenhäuser vom Landesfonds gebaut? Ich
glaube nicht, wahrscheinlich haben sie dort städtische Spitäler.
Woher haben die das Geld?
Abgeordneter Dr. Lueger: Schulden machen sie.
Abgeordneter Dr. Adler: Sie machen auch Schulden genug, und
Sie machen mitunter Schulden für weniger wichtige
Dinge. Ich wiederhole: Es ist eine Schande, in welchem Zustand
heute die Spitäler sind, es ist eine Schande für die Gemeinde Wien,
und damit meinen Vorwürfen jeder parteimäßige Charakter be-
nommen werde, füge ich hinzu : Fiskalisch und büro-
kratisch bis in die Knochen, bis zur Borniertheit
war die Gemeindeverwaltung früher ebenso wie
heute. Das Übereinkommen von 1891 ist ein sprechender Beweis
dafür. Erinnern Sie sich nur daran. Es mußte damals wegen der
Einbeziehung der Vororte ein neues Übereinkommen mit
dem Krankenhausfonds getroffen werden. Der Fonds sagte: Nehmet
euch die Spitäler und verwaltet sie. Die Gemeinde wieder sagte:
Nein, nehmet ihr sie euch. Der Fonds verlangte darauf Geld, um die
Vorortespitäler zu erhalten. Aber die Gemeinde sagte: Nein: wenn
*) Im Gegensatz dazu sei aus dem letzten Bericht von Dr. Robert
\) a n n e b e r g über die sozialdemokratische Q e m e i n d c-
v er waltung in Wien unter anderem angeführt, daß die Gemeinde
neben den Bundesanstalten ein mustergültiges städtisches Krankenhaus mit
1000 Betten betreiht und die Wiener Kinderspitäler, die bisher von Stif-
tungen erhalten wurden, der Reihe nach übernimmt, wenn sie notleidend
werden. Sie führt ein städtisches Entbindungsheim und zwei große An-
stalten für Geistes- und Nervenkranke, daneben einen schulärztlichen
Dienst, 11 Schulzahnkliniken, 12 Kinderfreibäder, unterstützt sechs Lehr-
lingsheime, betreibt ^ Tuberkulösefürsorgestellen usw.
142 Adler Im Landtag.
ihr sie nicht übernehmet, sperren wir die ganzen
Vorortespitäler zu. Der Spitalfonds wurde mit dem
Revolver gezwungen, die Spitäler zu über-
nehmen, und das ist eine der Ursachen, aus denen die Krankheit
des Spitalfonds stammt. Meine Herren! Ich bin der Ansicht, daß
sich die Gemeinde Wien dieser Verpflichtung
nicht entziehen darf und daß der Landtag — wer sollte es
denn sonst tun? — die Gemeinde Wien dazu zwingen muß. Im
Gemeinderat hat einmal Dr. Zemann*) darüber sprechen wollen,
da wurde sofort eine geheime Sitzung anberaumt, weil das
den Interessen der Kommune abträglich sein könnte. Ich bin auch
ein Wiener, ein Niederösterreicher, halte es aber durchaus nicht für
Landesverrat, wenn ich die Pflicht der Kommune, Spitäler zu bauem
betone.
Es tut mir leid, ich erscheine heute in einer neuen Rolle, ich
spreche hier für die Regierung gegen die Stadt Wien.
Abgeordneter Dr. Lueger: Das ist sehr interessant; Sie wollen,
daß der Staat nichts zu zahlen hat und wir alles.
Abgeordneter Dr. Adler: Die Verpflichtung des
Staates und des Landes soll eingehalten werden,
aber die Gemeinde wird dadurch ihrer Ver-
pflichtung nicht ledig.
Eine solche Pflicht ist die Schaffung von Ambulatorien,,
die gerade für die arbeitende Bevölkerung von kolossalem Interesse
sind. Die Ambulatorien ermöglichen dem Arbeiter, sich mit geringem
Zeitverlust kurieren zu lassen; insbesondere wird es dadurch der
arbeitenden Frau möglich, den Haushalt weiterzuführen. Wenn man
an die Kommune herantritt, erklärt sie oder wird sie erklären:
. . . Ich weiß nicht, in welchem Stadium sich die Sache jetzt befindet.
Die Antwort hängt davon ab, ob man vor oder nach den
Wahlen ist. Es spielen auch da kleinliche politische Rücksichten
mit.
Heute steht es so, daß in das Spital niemand aufgenommen wird,
der nicht akut erkrankt ist. Jeder andere wird abgewiesen und muß
abgewiesen werden, weil für die unabweislichen, dringenden Fälle
Raum geschafft werden muß. Glauben Sie, daß die Leute, die da
auf die Straße hinausgestellt werden, sich fragen, in wessen Kom-
petenz die Schuld fällt? Glauben Sie, daß Ihre prozessualisch-
juristischen Tüfteleien diese Leute beruhigen? Es geht
nicht an, daß die Gemeinde auf dem ablehnenden
Standpunkt verharrt. Diese Fragen müssen durch das Zu-
sammenwirken aller dieser Faktoren gelöst werden. Ich stelle daher
folgenden Antrag:
Der Landtag spricht seine Überzeugung aus. daß die Kommune Wien
ihrer in dem Reichssanitätsgesetz und dem fieimatsgesetz begründeten
Verpflichtung, Spitäler zu errichten und zu erhalten, durch das Bestehen
*) Ein Mitglied der Partei der „Sozialpolitiker*' und Arzt am Wiedner
Krankenhaus.
Dk Spitalnol in Wien. • 13
des k, k. Krankenhausfonds nicht enthoben ist, und forderl den
niederösterreichischen Landesausschuß auf, mit all e r E n e r sie a u i
die K o m in u !i e W I e n e i n /. u w i r k e n, d aß sie diese Pf 1 i c li t
e r i ii 1 1 e.
Es wird sich zeigen, inwieweit für Sic das Interesse der Bevölke-
rung maßgebend ist und inwieweit Ihr politisches Interesse. Ich will
Übrigens noch das eine feststellen: Alles, w a s ich hier ü b e r
die h e ii ( i g c M a j o r i t ä t g e s a g t habe, gilt ebens o
für die alte liberale M a j o r i t ä t, und falls im Gemeinde-
rat, was allerdings nicht sehr wahrscheinlich ist, wieder eine libe-
rale Majorität kommt, SO wird diese - - da kenne ich die Herren
zu gut — wieder so vorgehen wie früher. Aber hier sind doch
Leute, die nicht die Scheuklappen des Wiener kommunalen Fis-
kalismus tragen, und ich hoffe darum, daß der Landtag
seine Pflicht tun w i r d.
Der Redner spricht hierauf über die Verpflegsgebühren
und warnt davor, daß man etwa die Zinsen der kostspieligen Trans-
aktion auf Kosten der Kranken hereinbringen wolle. Die Kranken in
den Wiener Spitälern sind zu 66 Prozent oder noch mehr L o h n-
a r b e i t e r, und wir wären sehr beruhigt, wenn uns die Regierung
darüber Aufschluß geben könnte, was da beabsichtigt wird. Wir
sind natürlich vom Krankenhausfonds auf Verschiedenes gefaßt. Die
Verpflegskosten, die früher 60 Kreuzer betrugen, sind dann auf 1 fl.*)
gestiegen. Im Jahre 1895 wurde plötzlich ein Attentat auf
die Krankenkassen unternommen. Die Verpflegskosten wür-
den auf 1 fl. 20 kr. erhöht, aber infolge des Sturmes, der sich in der
Arbeiterschaft erhob, wurde am 1. April diese Erhöhung wieder
rückgängig gemacht.
Nachdem der Spitalfonds diesmal so schöne Gründe, aber um
soviel Geld angekauft hat, ist die Verlockung für ihn sehr groß,
die Kosten wieder auf die Konsumenten und speziell auf die Arbeiter
abzuwälzen. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß sich, wenn Sie
einen solchen Versuch unternehmen würden, die Arbeiter-
schaft wieder in so energischer Weise dagegen
wehren wü r d e wie das vorigemal.
Ich fasse zusammen: Wir — der Landtag — sind im Begriff,
ein sehr gutes Geschäft zu machen, wir — die Wiener, die das
Spital benützen sollen — sind im Begriff, ein sehr schlechtes Ge-
schäft zu machen. Wir bauen ganz überflüssigerweise ein Kranken-
haus mitten in Wien, verwüsten dabei einen der schönsten Gärten
Wiens, den Irrenhauspark, und wir bringen aus dem Verkauf des
alten Krankenhauses nicht einmal so viel auf, um auch nur den
Grund für das neue Krankenhaus zu bezahlen. Wir haben heute
keine Ahnung, was eigentlich jetzt geschehen soll, wir wissen nicht
wieviel Betten das neue Spital haben soll . . .
Abgeordneter Dr. Lueger: Das weiß ich auch nicht.
Abgeordneter Dr. Adler: Herr Bürgermeister! Ich bin sehr neu-
gierig, und es würde nicht schaden, wenn Sie auch etwas neu-
l fl, (1 Gulden) = 100 kr. (Kreuzer) = 2 Kronen = etwa 3 Schilling.
144 Adler im Landtag.
gieriger wären. (Heiterkeit.) Ich meine, wir haben ein Interesse,
daß alles das festgelegt werde, bevor wir mit der Regierung das
Geschäft abschließen. Die Kommune Wien hat es verstanden, in der
Frage des Versorgungshauses und des Polizeigefangenhauses ein
famoses Junktim abzuschließen...
Abgeordneter Dr. Lueger: Das ist auch mein Stolz.
Abgeordneter Dr. Adler: Nun ja, Sie haben da doch ein ganz
gutes Geschäft gemacht.
Abgeordneter Dr. Kronawetter: 0 nein, das war nicht gar so
gut, den Prozeß hätten wir gewonnen. (Heiterkeit.)
Abgeordneter Dr. Adler: Mein lieber Dr. Kronawetter, ich bin
nicht so verliebt in die Prozesse wie Sie. (Heiterkeit.) Ich meine
nur, man hätte auch hier, bevor man die Sache abschließt, den Um-
fang der Spitalreform festlegen müssen. Heute sind wir einfach
dem guten Willen der jeweiligen Regierung ausgeliefert. Ich ent-
nehme aus allen Äußerungen der Herren, die mit der Regierung
verhandelten, daß die Regierung für die Kommune und für das
Land alles mögliche tun will. Es soll mich freuen, wenn das \vrahr
ist. Aber ich glaube nicht, daß Sie die Garantie haben, daß das
andauern wird. Vorläufig wissen wir ja noch nicht einmal, was
gebaut werden soll.
Und dann müssen wir verlangen, daß in der einen Kranken-
anstalt für zwei Dinge vorgesorgt werde: für ein K i n d e r s p i t a 1
und für ein S y p h i 1 i s s p i t a 1, das Wien sehr notwendig braucht.
Abgeordneter Dr. Lueger: Das ist sehr traurig.
Abgeordneter Dr. Adler: Alle Krankheiten sind sehr traurig.
Aber noch trauriger ist es, wenn man keine Mög-
lichkeit hat, sie zu heilen. Wir müssen also auch für
diese traurigen Krankheiten Vorsorgen.
Ich hoffe, daß der Landtag seine eigene Kompetenz wahren
wird. Hier ist für diese Frage der einzige Boden, hier können und
sollen Sie für die Interessen nicht nur der Wiener,
sondern der kranken Bevölkerung von ganz
Niederösterreich energisch eintreten, und ich bitte
Sie deshalb, für meine Anträge zu stimmen.
Kommunalsozialismus und Kommunal-
kapitalismus.
Landtag, 7. Jänner 190 2*).
Es ist an und für sich nicht sehr verlockend, am Ende einer so
ausführlichen Diskussion über einen so wichtigen Gegenstand noch
zu sprechen. Aber auch die Sache selbst ist eine solche, daß ich
mich da in einer sehr eigentümlichen Lage befinde. Insofern es
*) Der Landtag hatte am 7. Jänner 1902 über das Ansuchen der Ge-
meinde Wien um Bewilligung zur Aufnahme eines Anlehens von 285 Mil-
lionen Kronen zu entscheiden. Da Wien bis nach dem Umsturz eine ge-
Kommunalsozialismus und Kommunalkapitalismus 14 >
sich iiin den städtischen Betrieb der Straßenbahnen, um die
Wasserleitung handelt, so will ich sowohl wie meine gesamte
Partei selbstverständlich mit beiden Händen dafür stimmen. Es ist
ganz selbstverständlich, daß wir Sozialdemokraten durchaus
wünschen, daß alle monopolistischen Betriebe in den Händen der
Kommune konzentriert werden. I c h m ö C h t e g e r n d a f ii r
s t i m m e n, und es i s t m i r s e h r u n a n g e n e h m, d a ß i c h
t r o t z d e in nicht d a i ü r s t i m m e u k a n n.
Wir wollen das Votum im Landtag nicht zu sehr überschätzen.
Das Wiener (ienieiudestatut und unsere ^anze Landesverfassung
beruhen eigentlich auf einem Zustand, der längst nicht mehr vor-
handen ist, auf dem Zustand, wo wir etwa 500.000 Einwohner
hatten, etwa ein Viertel der Einwohnerschaft Niederösterreichs,
also nur die größte Gemeinde von Niederösterreicli waren. Heute
ist es anders, und ich habe die Empfindung, daß ich als Landtags-
abgeordneter eigentlich gar kein Recht habe, über die Gemeinde
Wien eine Kuratel auszuüben. Es ist ein Widersinn, daß über die
wichtigsten Lebensfragen der Gemeinde Wien von ein paar Groß-
grundbesitzern entschieden wird. Es könnte sich also der Landtag
ohne weiteres auf den Standpunkt stellen: das ist eure Sache; ihr
macht es, ihr zahlt es, wir haben euch nichts dreinzureden. Aber
leider hat die Kommune Wien nicht die Autonomie, die wir ihr
wünschen, und so sind wir gezwungen, auch ein Urteil hier ab-
zugeben.
Sie müssen aber zugeben, trotz dem Plädoyer des Dr. P a 1 1 a i*).
daß die Vorlage durchaus nicht einwandfrei ist. Es ist ganz recht,
daß die Straßenbahn verstadtlicht wird, und es ist sehr erfreulich,
daß wir heute — was noch vor zwanzig, ja vor zehn Jahren nicht
möglich gewesen wäre ohne den größten Widerstand prinzipieller
Gegner jedes kommunalen Betriebes — das tun konnten, ohne daß
sich irgend jemand getraut, prinzipielle Bedenken dagegen anzu-
führen. Das Prinzip des kommunalen Betriebes ist unbestrittenes
Eigentum der gesamten öffentlichen Meinung geworden. Aber wenn
es recht und gut ist, daß die Gemeinde die Straßenbahn kauft, so
ist damit noch nicht gesagt, daß sie sie gerade unter diesen Um-
ständen kaufen muß.
wohnliche Gemeinde war, deren Finanzverwaltung vom Lande überprüft
werden mußte, konnte sie auch selbst keine Anleihe aufnehmen, sondern
mußte dazu die Bewilligung des Landtages haben. Das ist bekanntlich erst
seit der Trennung Wiens von Niederösterreich anders. Die Anleihe brauchte
die Gemeinde, weil sie von der Firma Siemens u. Halske die elektrische
Straßenbahn kaufen wollte, oder richtiger — wie es Adler sagte — , sie
kaufte die Straßenbahn gerade jetzt, weil die Christlichsozialen die An-
leihe brauchten. Adler benützte die Gelegenheit, um die ganze Frage der
Auto n o m i e W icns, aber auch die Frage des (i emeindesoziali s-
m u s aufzurollen.
) Dr. Robert Pattai, einer der ersten Antisemiten in Wien, Abgeord-
neter des Wiener Bezirkes Mariahilf im Reichsrat und im Landtag, ur-
sprünglich Deutschnationaler, der sich aber bald den Christlichsozialen
anschloß. Von 1909 bis 191! Präsident des Abgeordnetenhauses, später
Adler, Briefe. XI. 1kl. 10
14G Adler im Landtag.
Abgeordneter Dr. Pattai hat zwar gemeint, wir hätten kein
Recht, uns hier in Details einzulassen, wir könnten uns auch auf
die Berechnungen der städtischen Buchhaltung verlassen. Alle
Achtung vor den Kenntnissen dieser, aber wenn wir ihr blind ver-
trauen müssen, so braucht man uns nicht zu fragen. Dann sage
man einfach: Herr Bürgermeister, fragen Sie die Buchhaltung, wie
wir es machen sollen, und wir machen es. Faktisch ist es ja beinahe
so. (Heiterkeit.)
Die Gemeinde kauft die Tramway gerade jetzt, nicht weil sie
sie gerade jetzt sehr billig erwerben kann, sondern weil sie ein
größeres Anlehen aufzunehmen gezwungen ist. Es ist kein Zweifel,
daß der Bürgermeister, wenn er in der Lage gewesen wäre, sich
den Zeitpunkt auszusuchen, wann er die Tramway kaufen soll.
gewartet hätte, bis alle Linien ausgebaut sind, auch jene, die jetzt
auf unbestimmte Zeit verschoben worden sind. Nun bin ich weit
davon entfernt, vor großen Anlehen zu erschrecken. Es ist gewiß
paradox, zu sagen: „Je mehr Schulden wir haben, um so reicher
ist die Gemeinde." Aber Tatsache ist es, daß eine Gemeinde um so
reicher ist und um so reicher werden kann, je mehr sie die inneren
Hilfsquellen der Gemeinde aufzuschließen versteht, und das kann
sie nur, indem sie große Kapitalien investiert. Ich verweise Sie auf
die Entwicklung Englands. Dort haben sich von 1875 bis 1897 die
Schulden der Gemeinden von 106 Millionen Pfund auf 250 Millionen
Pfund erhöht, und. Sie sehen im Anschluß daran, daß heute bereits
222 Städte ihr eigenes Gaswerk haben und 206 Städte ihre
Elektrizitätswerke, und daß es in England keine einzige größere
Stadt mehr gibt, die nicht ihre Straßenbahn bereits verstadtlicht
hat oder im Begriff ist, es zu tun. Man braucht also vor großen
Kapitalsanlagen nicht zu erschrecken, dies ist eben die natürliche
Entwicklung der Städteverwraltung. Aber wenn man das, was für
jeden, der kein Analphabet ist, zum Abc geworden ist, durchführt,
wenn man das tut, was selbstverständlich ist, so soll man nicht
so tun, als ob man dafür unsterblichen Ruhm und kolossale Kränze
verdienen würde.
Die heutigen Beherrscher von Wien haben das Glück zweier
Umstände: erstens die Unfähigkeit ihrer Vorgänger (Beifall) und
Herrönhausmitglied. Im Landesausschuß hatte er das Eisenbahnreferat, bis
ihn eine Revolte in seiner Partei stürzte, als der wiederholt genannte
Professor Sturm im Jänner 1912 das Eisenbahnamt einen „A u g i a s s t a 1 1"
nannte. Von Pattai stammt noch aus der Zeit des tiefsten Friedens die Be-
zeichnung des Krieges als eines „S t a h 1 b a d e s"\ die in Österreich zum
geflügelten Wort wurde. Im Kriege hat er sich als eifriger Siegfriedler ge-
bärdet und war im Herrenhaus der Anführer der Meute, die am 28. Fe-
bruar 1918 den Professor Lammasch beschimpfte, als er für einen Yer-
ständigungsfrieden eintrat. Pattai rief damals unter dem Jubel der Herren-
häusler: Unser der Sieg, unser die Palme! — Er ist schließlich
sogar der deutschradikalen Partei beigetreten. — Im Jahre 1911 ist er bei
den Juniwahlen in seinem Stammbezirk Mariahilf (Wien VI) von dem
sozialdemokratischen Kandidaten Leuthner besiegt worden. Als Ent-
schädigung erhielt er dann den Sitz im Herrenhaus.
Kommunalsozialismus und Koinmunalkapitalismus. 147
zweitens haben sie den Zufall für sieh, daß eine ganze Anzahl von
Aufgaben gerade in diesem Augenblick reif geworden ist. So
wenig ich von der alten liberalen Kommunalverwaltung halte, so
sehr wir sie jederzeit bekämpft haben und noch bekämpfen würden,
wenn sie am Ruder wäre, für so unfähig und so impotent könnte
ieh sie doeli nicht halten, dal.) sie nieht in ähnlicher Weise, wenn
auch nicht mit ähnlichen Mitteln, diesen städtischen Betrieb auf-
richten würde.
Abgeordneter Sturm: Die müssen immer 30 Jahre studieren.
Abgeordneter Dr. Adler: Das ist gewiß sehr lang. Aber gar
nicht studieren, ist auch nicht ganz in Ordnung. (Heiterkeit.)
Die heutige Gemeindeverwaltung soll also den Mund nicht gar
zu voll nehmen, und die Herren sollen vor allem und das ist
der größte Vorwurf, den ich dem Abgeordneten Pattäi machen
muß — nicht jeden Einwand gegen die Art ihres Vorgehens als
unpatriotisch stigmatisieren. Ich spreche hier als Wiener und als
Vertreter jener großen Massen, die das allergrößte Interesse an
der Entwicklung von Wien und an einer gesunden Finanz-
verwaltung in Wien haben. Ich glaube, Sie werden wohl nicht der
alten Anschauung sein, daß das Interesse an der Gemeinde nach
der Anzahl der Stockwerke zu bemessen ist, die man besitzt. Die
Arbeiter haben ein größeres Interesse an Wien als die reichen
Leute, die sich ja ihre Bedürfnisse auch anders verschaffen können,
die nicht durch den Kot waten müssen, wenn die Straßen schlecht
gepflastert sind, die auch nicht mit der Tramway fahren müssen,
die ihre Fiaker haben. Aber weil wir ein großes Interesse an guten
Zuständen in der Gemeinde haben, so lassen wir es uns nicht
nehmen, als gute Wiener Patrioten offene und
strenge Kritik an der Verwaltung dieser Ge-
meinde zu üben. Diese Kritik wird Ihrem Geschäft nicht viel
schaden. Fürchten Sie sich nicht.
Abgeordneter IV. Lueger: Wir fürchten uns nicht.
Abgeordneter Dr. Adler: Weil wir schon vom Geschäft reden:
Ich weiß nicht, ob es gut ist, immer wieder zu sagen: Wir haben
gar so ein gutes Geschäft gemacht. Der Herr Bürgermeister, der
sich auf Geschäfte auch versteht, hört das gar nicht gern, wenn
man ihm sagt, daß wir gute Geschäfte gemacht haben. (Heiterkeit.)
Bei der Verstadtlichung ist etwas sehr merkwürdig, Sie ist von
Ihren größten Gegnern, von den Sozialdemokraten, eigentlich besser
aufgenommen worden als von der Presse Ihrer allerbesten Freunde.
Es ist ganz eigentümlich, und es war psychologisch sehr interessant
und hat Aufschluß über manche Unterströmungen gegeben, daß, als
die Sache bekannt wurde, man in beiden antisemitischen Blättern*)
eine verdrossene Stimmung hat merken können, als ob sie sagen
wollten: „Viel Schererei, und was haben wir davon! Jetzt kriegen
wir wieder 8000 neue Arbeiter, und diese niederträchtigen Leute
werden selbstverständlich mit Forderungen an uns herantreten, und
/ Die beiden antisemitischen Blätter waren die „Deutsche Zeitung" und
die „Reichspost"
10*
148 Adler im Landtag.
die Gemeinde wird jetzt diese Forderungen entweder erfüllen oder
ablehnen müssen. Das paßt uns nicht." Die Herren hätten sehr gern
die Anleihe gehabt, aber — nicht die Verstadtlichung. Wir aber
hätten gern die Verstadtlichung, würden uns aber auch mit einer
kleineren Anleihe begnügen.
Nun möchte ich Sie auf folgenden wichtigen Punkt aufmerksam
machen: Es wird uns erzählt, daß die Straßenbahnen, die wir um
107V2 Millionen kaufen, auf 110 Millionen geschätzt wurden. Das
wäre nun sehr schön, aber nur so ganz nebenbei wird dann gesagt,
daß diese 110 Millionen sich auf ausgebaute Linien beziehen, so daß
wir also diese 2 VI» Millionen, die wir unter dem Schätzungswert
kaufen, mit dem Verzicht auf eine ganze Reihe wichtiger Linien
bezahlen müssen. Ich meine, daß die Gesellschaft Siemens u. Halske
ebensoviel verdient und noch mehr, indem sie die auswärtigen
Linien nicht baut, als indem sie die anderen baut. Aber gerade diese
Linien sind auch wichtig für die Wohnungspolitik der Kommune,
deren Pflicht es ist, gerade den äußeren Verkehr zu regeln. Unter
diesen Linien ist eine sehr wichtige: die Favoriten und
S i m m e r i n g miteinander verbinden soll. Warum gibt man diese
auf?
Abgeordneter Dr. Lueger: Die wird gebaut.
Abgeordneter Dr. Adler: Obwohl wir verzichtet haben?
Abgeordneter Dr. Lueger: Ja, später.
Abgeordneter Dr. Adler: Das ist sehr schön, aber hier steht
nichts davon. Nun möchte ich auch noch wissen, ob die Kosten
dieses Baues eingeschlossen sind in den ganzen Betrag, oder ob
sie extra bezahlt werden sollen.
Abgeordneter Dr. Lueger: Extra!
Abgeordneter Dr. Adler: Diese Erklärung ist mir sehr wertvoll
und es wäre sehr gut, wenn Sie auch im Gemeinderat sich daran
gewöhnen wollten, sachliche Erklärungen abzugeben, statt sich ein-
fach mit Jubelmarsch die Sachen bewilligen zu lassen. Ihre Er-
klärung ist sehr wertvoll, weil sie alles bestätigt, was ich gesagt
habe. Es wurde weder im Gemeinderat noch hier mit einem Worte
gesagt, in welchem Verhältnis die Linien, auf die wir verzichten,
zu dem geringen Preis stehen, den wir zahlen.
Was isfs mit den Bediensteten?
Die Stadtbuchhaltung hat uns eine Reihe von Ziffern geliefert,
worin sie die Verkehrsdichtigkeit in Wien mit der anderer Städte
vergleicht. Ich habe nichts dagegen, daß sie sich da gerade die
günstigsten Städte ausgesucht hat, und daß sie daraus Schlüsse über
die Rentabilität ziehen will. Davon will ich nicht reden. Ich
bin überzeugt, daß sich diese Bahnen sehr gut rentieren werden,
ja ich fürchte, daß sie sich zu gut rentieren werden, und daß
die Gemeinde mehr daraus herausschlagen wird, als
das Verkehrsinteresse des Unternehmens und
das sozialpolitische Interesse der Arbeiter ver-
trägt. Ich fürchte, es wird dieses Geschäft allzu kapitalistisch be-
trieben werden, und daß man die Erträgnisse zu steigern versuchen
Kommunalsozialismus und Kommunalkapitalismus. M(>
wird, um die Löcher zuzustopfen, die wir einer falschen Verwaltung
zu verdanken haben. Das ist durchaus keine leere Befürchtung,
denn der Bericht s c li w e ig t sich s e Ii r vorsieh ti ;c d a r-
ii 1) e r a n s, w i e de r T a r if sein wir d, u nd noch g r ü n d-
1 ich e r d a r ü I) e r, W L e das V e r h ä 1 1 n is Z n d e n I > e d i e n-
Steten sein wird. Ich weiß, es wird der Bürgermeister nach
mir sprechen, und ich bin gefaßt darauf, daß er mich genau so ab-
fertigt wie meinen Genossen Reumann im Qemeinderat. (Bravo!
bei den Christlichsozialen.) Gewiß, der Herr Bürgermeister wird
es zustande bringen, zu reden, ohne zu sagen, wie er es
mit den Bediensteten halten will.
Sie wissen, es sind zwei Fragen, die die Bediensteten beschäf-
tigen: die Frage der Dienstordnung und der Arbeits-
zeit und die des P ensionsfonds. Die erste Frage ist Gegen-
stand eines Zivilprozesses geworden, der sogar unter den Motiven
angeführt ist, warum das Verhältnis mit der Tramway unhaltbar
geworden ist. Wenn man wirklich den Ansprüchen der Be-
diensteten Rechnung tragen will, sowie es der
Bürgermeister feierlich versprochen hat, dann
müßte man schon aus rechnerischen Gründen, aber auch aus sozial-
politischen Gründen und zur Beruhigung der Bedien-
steten in Rechnung stellen, wie die Rentabilität
sich durch die Bewilligung dieser Forderungen
ändert.
Es ist aber nicht nur das nicht geschehen, sondern gerade das
Entgegengesetzte ist geschehen. Ich will da absehen von jener Ver-
tragsklausel, die sagt, daß Änderungen nur im Einvernehmen mit
Siemens gemacht werden können. Da braucht man nichts zu
fürchten; da ja die Veränderungen von der Gemeinde bezahlt
werden müssen, wird sich die Firma Siemens u. Halske wohl fügen.
Die Herren haben doch nichts gegen eine Sozialpolitik, die sie nichts
kostet. Aber Sie haben in Sachen des Pensionsfonds
positiv dieselbe Ziffer in Rechnung gestellt, die
bisher darin war, nicht um einen Heller mehr.
Gemeindesozialismus und Gemeindekapitalismus.
Das sind die Gründe, warum ich fürchte, daß die Tramway für
Sie allzu profitabel sein wird. Man bezeichnet das Prinzip, daß
solche Unternehmungen von der Gemeinde betriebe« werden, auch
als Gemeindesozialismus. Es ist weit davon entfernt, wirklicher
Sozialismus zu sein, wenn einfach die Gemeinde wie der
gewöhnliche Kapitalist ein auf Ausbeutung bis
zum Äußersten gegründetes Unternehmen be-
treibt. Die Gemeinde kann beim Gemeindesozialismus noch immer
ihren Profit machen, aber so weit darf sie nicht gehen, daß sie
das Interesse des Publikums wie das der Bedien-
steten ignoriert. Es wäre mir außerordentlich erwünscht,
wenn wir auch hierüber beruhigende Aufklärungen bekommen
würden.
150 Adler im Landtag.
Wir wünschen, daß die Gemeinde blüht, wir wünschen, daß die
Gemeinde diese Unternehmungen in ihre Hände bekomme. Aber
Sie können von uns nicht erwarten, daß wir zu Ihnen und zu Ihrer
Amtsführung das blinde Vertrauen haben, Ihnen einen Dispositions-
fonds von 168 Millionen zu bewilligen. W i r h a b e n diesesVer-
trauen zu Ihnen nicht, und wir haben auch unsere guten
Gründe dazu. Der Abgeordnete Pattai hat gesagt: Was braucht der
Landtag alles so genau prüfen, das ist nicht so wie bei einem
Minister; hier handelt es sich um die Kommune, der man das Ver-
trauen schenkt. — Gewiß ein großer Unterschied. Aber wer ist
denn diese Kommune? Wer beherrscht sie denn?
Abgeordneter Dr. Lueger: Gott sei Dank, Sie nicht. (Heiterkeit.)
Abgeordneter Dr. Adler: Nun, wenn wir alt werden, werden Sie
noch so manche Dinge erleben. Es hat eine Zeit gegeben, wo man
auch Ihnen zugerufen hat: Gott sei Dank, Sie nicht! (Heiterkeit.)
Abgeordneter Dr. Lueger: Ja, das wechselt halt mit der Zeit.
Abgeordneter Dr. Adler: Vorläufig stehen die Dinge so, daß ein
sehr großer Teil der Bevölkerung sagt: Leider Gottes, Sie!
(Heiterkeit.) Ich wollte übrigens nicht gerade von Ihrer Partei
sprechen. Aber ich sage, daß wir einen Gemeinderat haben, von
dem die Masse der Bevölkerung fast vollständig ausgeschlossen ist.
Diese Wahlordnung, die Sie gemacht haben, mit dem vierten Wahl-
körper . . . Sie wissen genau, wie schlecht sie ist. Und deshalb ge-
trauen Sie sich alles, und Sie treiben es so arg, daß Sie nicht
einmal dieFormenwahren. Es ist eine unwürdige Methode,
mit der Sie die wichtigsten Dinge durch den Gemeinderat durch-
peitschen, und ich getraue mich zu sagen, daß der größte Teil Ihrer
eigenen Partei im einzelnen gar nicht weiß, was er beschlossen hat,
und es ist das auch gar nicht möglich bei dieser Art der Behandlung,
die in geradezu raffinierter Weise alles tut, um das Bild zu ver-
hüllen. (Ohorufe.) Das ist so, Sie wissen das ja selbst.
Es ist nicht immer nützlich, es so zu tun. Unfehlbar sind ja auch
Sie nicht. Damals hat es an einem Haar gehängt, daß der heutige
Vertrag gar nicht möglich wäre. Wenn Sie die Klausel mit dem
Elektrizitätswerk so beschlossen hätten, wie sie im ersten Entwurf
stand, wenn Sie nicht rechtzeitig gewarnt wrorden wären durch die
so scharfe, aber so patriotische Opposition in der „Arbeiter-Zeitung",
die Stimme Otto W i 1 1 e 1 s h ö f e r s*), so wären Sie heute gar nicht
in der Lage, diesen Vertrag zu machen, weil Sie das Elektrizitätswerk
"") Otto Witteishöfe r, ursprünglich Vizedirektor der Eskompte-
gcsellschaft, ist aber zeitlich in Pension gegangen und hat dann volkswirt-
schaftlichen Studien gelebt. Mitte der neunziger Jahre war er einer der
Gründer des nach dem Muster der englischen Fabiergesellschaften ge-
schaffenen Vortragsgesellschaft, die sogenannte „Fabierabende" mit Vor-
trägen veranstaltete. Aus dieser Gesellschaft hat sich dann die Partei der
„Sozialpolitiker" entwickelt. Wittelshöfer selbst ist der Sozialdemokratie
beigetreten und hat in der „Arbeiter-Zeitung" namentlich über Bankfragen
und über Fragen der Kommunalpolitik interessante Artikel geschrieben, so
auch bei der Feststellung des Tramwaytarifs und bei der Elektrifizierung
der Tramwav.
Die Landtagswahlen. 151
gar nicht in der Hand hätten. (Gelächter bei den Christlichsozialen.)
Sic können nur lachen, weil Sic die Sache gar nicht kennen. Ich
mache Ihnen ja keinen Vorwurf daraus, daß Sie einmal Argumenten
zugänglich waren, weil Sie einen Fehler nicht begangen haben, den
Sie begehen wollten. Glauben Sie, daß wir so töricht sind, daß wir
die ganze Gemeinde verwüsten wollen, Ihnen zum Trotz? Wir
k ä in pfen n u r g e g e n Sie, nicht gegen die ( i e m e i n d e.
Und wenn Sie uns noch zehnmal verhaßter wären als Sie sind: ich
versichere Sie, daß jeder v o n u n s sei n g a n z e s W i s s e n
und K ö u n e n z u g u n s t e u der ( i e m e i n d e z u r V e r-
f ü g u n g stellt.
Ich glaube, dal.» es niemand verantworten kann, gegen die An-
träge zu stimmen, denn die (i e m e i n d e i s t h c u t e i n e i n e r
Notlage, die z u in großen Teile v o n Ihnen v e r-
schuldet ist, aber sie ist einmal in Not, sie braucht das Geld,
und ich k a n n m ich nicht entschließ e n, ebensowenig
wie meine Parteigenossen im (lemeinderat, der Gemeinde die
Mittel zu versagen, um aus dieser Notlage heraus-
z u k o m m e n. Aber wir können auch nicht dafür stimmen. Wir
können nicht einen Teil der Verantwortung übernehmen.
Wir wünschen und hoffen, daß dieses große Unternehmen der
Kommune möglichst zugunsten der Kommune ausfalle, und ich kann
Ihnen sagen: Ganze Säcke von Lorbeer lassen wir Sie ruhig ver-
zehren. Es geniert uns nicht, wenn Sie sich dick und breit machen
aus Ruhm über diese Sachen, wenn wir nur durch genaues Auf-
merken auf jede Einzelheit und durch unsere Kritik eine Verbesse-
rung möglich machen.
Erlauben Sie, daß ich zum Schluß auf den Gegenstand zurück-
komme, der mir am meisten am Herzen liegt. Vergessen Sie nicht,
daß die Gemeinde es mit 8 00 0 Bediensteten zu tun haben
wird, denen sie sich verpflichtet hat, gewiß sehr be-
scheidene K o n z e s s i o n e n z u m a c h e n, I c h würde es
bedauern, nicht für Sie persönlich, aber im Inter-
esse des Ansehens und der Ehre der Kommune
Wien, wenn dieses feierliche Versprechen nicht
gehalten werden würde!
Die Landtagswahlen.
V e r t r a u e n s m ä nnervers a m m 1 u n g a m 3 1. Mär z
1902*).
Sie sind, heute zusammenberufen worden, um sich mit der Vor-
bereitung einer Aktion zu beschäftigen, die Sie für die nächsten
Monate vollauf in Anspruch nehmen wird. Wir wissen noch nicht,
wann die Landtagswahlen stattfinden werden, aber es ist sehr
) Die Lebensdauer des niederösterreichischen Landtages lief im
Sommer 1(>02 ah und mit sieben anderen Landtagen wurde er am S. Sep-
tember 1902 aufgelöst. Aber schon lange vorher hatten alle Parteien ihre
Vorbereitungen getroffen. Bereits am 31. März traten die sozialdemo-
152 Adler im Landtag.
wahrscheinlich, daß das in der zweiten Hälfte des Monats September*)
sein wird. Wir haben uns auch schon früher an Landtasswahlen be-
teiligt. Aber unser Eingreifen hatte in früheren Jahren mehr einen
agitatorischen, einen demonstrativen Zweck. Diesmal ist es anders.
Sie wissen, daß unser Ruf nach Erweiterung des Wahlrechtes
für den Landtag erfolglos geblieben ist, obwohl der Landtag von
einer Partei beherrscht wird, die sich immer rühmt, das gleiche
Wahlrecht anzustreben. Das erklärt Dr. Lueger überall, wo er es
erklären kann, aber wo er es ins Werk setzen könnte, verhindert
er es mit allen Mitteln der List und der jesuitischen Schlauheit und,
wenn es sein muß, der Brutalität. Jetzt hat er sich übrigens dahin
entschieden, nur für eine kastrierte Form des allgemeinen Wahl-
rechtes zu schwärmen, nämlich mit der fünfjährigen Seßhaftigkeit,
aber auch nur dann, wenn er keine Aussicht hat, es durchsetzen zu
können. Nun aber hat sich trotzdem der Kreis der Wahlberechtigten
erweitert. Durch die Einführung der Personaleinkommensteuer sind
die bessergestellten Schichten der Arbeiter wahlberechtigt ge-
worden, und durch die Wiener Gemeindewahlreform**) — die die
Arbeiter in der Gemeinde nahezu rechtlos macht, in der Gemeinde
also wirklich ein W a h 1 r e c h t s r a u b ist — ist in Wien das
Landtagswahlrecht einigermaßen ausgedehnt worden. Da wir nun
ein Wahlrecht haben, werden wir es auch überall ausüben, und wir
werden — darüber besteht kein Zweifel — das politische Haupt-
gewicht darauf legen, diejenigen zu besiegen, die politisch, kulturell
und sittlich unsere größten Feinde sind. Wir werden den Kampf
in allererster Linie gegen die Christlichsozialen führen. (Lebhafter
Beifall.)
Aber wir wollen den Kampf nicht nur gegen die Chi istlich-
sozialen führen, sondern auch für die Sozialdemokratie,
nicht nur gegen das Uurecht, sondern auch für das Recht des
Volkes. Aber wir wollen diesen Kampf nicht führen als
einen Teil irgendeines freisinnigen Breies von
Parteien, nicht als verschwindender Teil einer Koalition, deren
Bestandteile durchaus nicht alle sehr appetitlich sind. (Beifall.) Wir
wollen als Sozialdemokraten für die Arbeiterklasse kämpfen, und
sofern wir dabei genötigt sein werden, in einer Linie mit anderen
Leuten zu kämpfen, dann werden wir niemals das Bewußtsein ver-
lieren, daß diese Leute mit uns nichts anderes ge-
mein haben als den Wunsch, die Luegerei zu
stürzen, mit uns aber nicht mehr das Ziel gemeinsam haben,
an die Stelle dieser Luegerei ein wirklich volkstümliches Regiment
zu setzen. Wir können nichts anderes sein, als der Dritte, der sich
freut, wenn eine Clique durch die andere gesprengt wird, der aber
kratischen Vertrauensmänner aus ganz Niederösterreich im Hotel Wim-
berger zu einer Beratung über die Vorbereitung des Wahlkampfes zu-
sammen. Adler, der einzige Landtagsabgeordnete, hielt das einleitende
Referat.
*) In Wirklichkeit haben die Wahlen erst im November stattgefunden.
**) Siehe Adlers Rede am 14. Mai 1901 zur damaligen Landtagswahl in
Favoriten in diesem Kapitel.
I >ie l andtagswahlen. I '
durchaus nicht geneigt Ist, die andere Clique auf den Schild /u er-
heben. (Lebhafter Beifall.)
Wir haben jetzl schon mehrere Wahlschlachten geschlagen, und
wir haben dabei gelernt, daß man mit der Begeisterung allein ein«
Schlacht nicht gewinnen kann, wir haben gelernt, daß die großen
Versammlungen allein agitatorisch vielleicht sehr mit/lieh aber
für den Ausfall der Wahl nicht entscheidend sind, und wir wissen
jetzt, daß bei den Wahlen nicht so sehr die Agitation in Frage
kommt als die () r g a n is atio n, nicht so sehr die große Auf-
klärungsarbeit in Massenversammlungen wenn wir diese auch
nicht einen Augenblick vernachlässigen dürfen , sondern d i e
Kleinarbeit von Mann zu Mann. Darum fordere ich Sie
auf, schon heute ohne Hast, aber ohne Rast an die Arbeit zu gehen.
Alle Achtung vor unserem Vertrauensmännersystem, aber es wird
doch so mancher Ergänzung bedürfen. Es wird wohl nicht wenig
Vertrauensmänner geben, die nicht im Besitze einer geschlossenen
numerierten Liste der wahlfähigen Leute stehen. Wir können uns
nicht darauf verlassen, daß uns unsere Gegner anständige Wähler-
listen zusammenstellen, darum ist es unsere Sache, diese Arbeit selbst
zu besorgen und selbst eine vollständige Liste aller
Arbeiterwähler anzulegen. Das ist ein sehr langweiliges
Geschäft, aber ich halte es doch für das Wichtigste, und ich mache
jeden einzelnen von Ihnen dafür verantwortlich, daß das auch
genau durchgeführt werde. In den Händen der Ver-
trauensmänner liegt das Wahlrecht der Arbeiter,
und wenn einzelne Arbeiter ihr Wahlrecht ohne Not verlieren, so
ist daran der Vertrauensmann vor allem schuld.
Was die Aufstellung von Kandidaten betrifft, so
werden wir in allen Bezirken, wo wir Aussicht haben, unser Ge-
wicht bei der ersten oder bei der engeren Wahl geltend zu machen,
Kandidaten aufstellen müssen*). Aber bei unseren nicht allzu großen
Mitteln ist es selbstverständlich, daß wir unsere Kräfte nicht zer-
splittern und nicht vergeuden dürfen für aussichtslose Bezirke. Ich
meine damit nicht etwa, daß wir nur in sicheren Bezirken Kandi-
daten aufstellen dürfen. Wir haben schon oft kandidiert und sind
schon oft durchgefallen. (Heiterkeit.) Aber wir dürfen nicht in Be-
zirken, wo man erst durch die Wahlagitation die Organisation
schaffen will, Kandidaten aufstellen. Das ist nicht möglich, daß der
Kandidat das Karnikel ist, das man ausnützt, um Versammlungen
abzuhalten, die man seit Jahren nicht hatte. Wir müssen unsere
Kampfmittel genau abschätzen, und es wird Sache der Vertrauens-
männer sein, im Einvernehmen mit dem Landesausschuß in jedem
einzelnen Falle zu entscheiden.
*) Man darf nicht vergessen, daß es sich bei diesen Wahlen im Wesen
um Zensuswähler handelte, da nur in Wien das Wahlrecht eine etwas
breitere Basis hatte. In Wien wurden dann in allen Bezirken, mit Ausnahme
der Inneren Stadt, Kandidaten aufgestellt, in der Provinz nur in den drei
Städtewahlkreisen Floridsdorf, Wiener-Neustadt und Korneuburg sowie in
dem Landkreis Waidhofen an der Thaya. Über das Ergebnis wird späte;
beriehtet.
154 Adler im Landtag.
Wir wissen im vorhinein, daß die Christlichsozialen von unseren
Beschlüssen nicht allzu sehr entzückt sein werden, und Sie werden
morsen in den christlichsozialen Blättern lesen können, daß wir
eine Abteilung der großen vereinigten Judenarmee sind. (Heiter-
keit.) Ein Jud ist nämlich jeder, der den Lueger nicht für den größten
Mann dieses Jahrhunderts hält. Diesem Schicksal entgehen wir also
nicht, und jene Genossen, die etwa in dieser Beziehung noch emp-
findlich sind, die noch nicht so gewöhnt sind, beschimpft zu werden,
die sollen zu Hause bleiben. (Heiterkeit und Beifall.) Denn „Jud".
das ist das einzige Schlagwort, das die Christlichsozialen zur Ver-
fügung haben. Ihr politisches Programm haben sie, insofern es ein
demokratisches war, offenkundig verraten, ihr wirtschaftliches Pro-
gramm haben sie sich unfähig erwiesen, durchzuführen, und sie
haben damit bitterste Enttäuschung in den Massen des Kleinbürger-
tums geschaffen. Was bleibt ihnen also übrig, wenn sie in den
Kampf gehen, als das alte Wort: Jud! (Beifall.)
In diesem Wahlkampf haben wir zwei Ziele : Wir wollen so viele
Sozialdemokraten in den Landtag bringen, als wir können, und wir
wollen so wenig Christlichsoziale hinein bringen, als nur möglich
ist. Wir werden keine Alliance und keine Vereinbarung mit einer
anderen Partei eingehen, aber in allen jenen Bezirken, wo wir bei
einer engeren Wahl zu entscheiden haben zwischen einem Christ-
lichsozialen und wem immer, mag er heißen wie er will, mag er sein
wer er will, werden wir unseren Einfluß aufbieten, um gegen die
Christlichsozialen zu entscheiden. (Lebhafter Beifall.) Das ist kein
Bündnis. Wir lassen uns von den anderen dafür gar nichts ver-
sprechen, und wir wissen genau, daß in einzelnen Bezirken, w o e s
zwischen einem Sozialdemokraten und einem
Christlich sozialen zu einer engeren Wahl
k o m m e n wird, dieselben Leute, die sich heute als
Freisinnige und als die größten Feinde Luegers
gebärden, für die Christlich sozialen stimmen
w erde n. Im entscheidenden Moment werden sie sich finden, die
doch nichts anderes sind als zusammengehörige Leute derselben
herrschenden Klasse. Wir wissen ganz genau, daß auf diese Leute
gar kein Verlaß ist, und daß wir bei jeder Gelegenheit von ihnen
werden verraten werden. Aber wir stimmen ja nicht für
die „Freisinnige n", um ihnen zu nützen, sondern
nur um uns zu nützen. Wir tun es mit Haß und Verachtung
für diejenigen, die wir hineinwählen (lebhafter Beifall), und wir
machen nirgends ein Hehl daraus. Die Masse der Arbeiterschaft soll
nicht verlernen, die zu kennen, denen sie helfen muß, und es soll
kein Mißverständnis bestehen darüber, wer ihre Freunde und wer
ihre Feinde sind. Es handelt sich bei den Wahlen nicht allein darum,
in den Landtag einzudringen, sondern es handelt sich vor allem um
einen politischen Vorstoß. Es handelt sich darum, die Kon-
sequenzen aus dem zu ziehen, was sich in den letzten Jahren in
Niederösterreich ereignet hat. Wir wollen sehen, wie stark wir ge-
worden sind, und wir wollen auch sehen, wie groß die Enttäuschung
I He Eingemeindung s on Ploi idsdoi f. 155
geworden isl bei den von den Christlichsozialen betrogenen
Schichten.
Die Christlichsozialen sind das nach links detachierte Korps der
Klerikalen. Aher es ist nicht das ärgste, daß sie klerikal sind; man
kann klerikal sein und dabei doch ein anständiger Mensch, ja es
gibt sogar klerikale Parteien, die anständig sind in anderen
Ländern wenigstens, hier in Österreich kenne ich keine solche.
(Heiterkeit.) Klerikal sein muß nicht einmal den äußersten Qrad der
Reaktion bedeuten. Aher unsere Linksklerikalen, die Christlich-
sozialen, die vereinigen in sich nicht nur den Klerikalismus in seiner
borniertesten Form, sondern auch in seiner perfidesten Form. Ihr
Kampf ist der nie d e r t r ä c h t i g s t e K a m p f g e g e n d a s
Werdende, den das Absterbende führt. Das Wort
„Reaktion" klingt heute etwas abgebraucht, aber wer gesehen hat,
wie sich diese angebliche Volkspartei gegen die Arbeiter von Triest*)
gestellt hat. wer Ohren hat dafür, welche Töne dabei laut geworden
sind, der weiß, daß die Christlichsozialen nicht nur Klerikale sind,
sondern daß sie die infamste reaktionäre Kanaille sind, die es gibt.
Und gegen diese geht unser Kampf bei diesen Wahlen. (Stürmischer
Beifall.)
Die Eingemeindung von Floridsdorf.**)
Landtag, 16. Juli 1902.
Wir stellen in einer sehr langen Debatte, aber ich glaube, daß
diese Debatte eigentlich nicht mehr so notwendig ist, als sie uns
noch vor einer Woche erschien. Heute sind wir eben alle, mit
wenigen Ausnahmen, über den Plan, das linke Donauufer ein-
zuverleiben, im allgemeinen einer Meinung, über die Art der
Durchführung braucht aber heute nicht mehr viel gesprochen zu
werden, weil die Überrumpeln n g, die der Bürgermeister
Dr. Lueger versucht hat, heute schon vereitelt ist. Ich bin im
Gegensatz zu meinem verehrten Freunde Dr. Kr on a w e 1 1 e r
*) Über die Schüsse von Triest, durch die am 14. und 15. Februar 1902
zehn Arbeiter getötet und fünfzehn schwer verletzt wurden, siehe die
Bemerkungen zu Adlers Rede auf dem Parteitag 1902 über das System
Körber, Bd. VIII, Seite 225, aber auch die Rede zur Märzfeier am 12. März
190? im Kapitel von der Pa r t e i ge.s c nicht e in diesem Hand.
"') Die Wiener Christlichsozialen halten angeblich, um bei dem bevor-
stehenden Hau des Donau-Oder-Kanals, der bei Floridsdorf beginnen sollte,
die Mündung des Kanals in Wien zu haben und an dem erhofften Auf-
schwung des linken Donauufers Anteil zu haben, die Eingemeindung von
zwölf Gemeinden, darunter auch Floridsdorf, zu Wien beantragt. In Wirk-
lichkeit planten sie einen großen W.ahlschwindel. Die Wahlen in die Ge-
meindevertretung von Floridsdorf, die im Herbst stattfinden sollten.
sollten verschoben werden. Außerdem sollte die Eingemeindung erfolgen,
um durch die bäuerlichen Stimmen der neuen Wähler den Sozialdemokraten
Eintrag zu tun. Da aber die Regierung sich, weigerte, die materiellen
Wirkungen des Proiekts auf sich zu nehmen, müßten sich die Christlich-
iilen schließlich damit begnügen, für einen Antrag des Großgrund-
156 \6\er im Landtag.
der Ansicht, daß es wirklich im Sinne einer voraussehenden
Gemeindepolitik liegt, beizeiten eine Vereinigung von Floridsdorf
mit Wien vorzubereiten. Aber das Unglück der gegenwärtigen
Verwaltung von Wien und der Majorität des Landtages ist, daß sie
ganz vernünftige Dinge mit so viel
Parteiegoismus und kleinlicher Fraktionspoütik
versetzt, daß die Sache, um die es sich handelt, dabei zu Schaden
kommt. Als ich zum erstenmal die Anträge las, die Dr. Lueger im
(iemeinderat vertreten hat, bin ich auf die Idee gekommen, daß
der Dr. Lueger die Einverleibung gar nicht will. Der ärgste
Feind der ganzen Aktion hätte nicht anders
handeln können als Dr. Lueger, indem er alle möglichen
anderen, damit gar nicht zusammenhängenden Dinge verknüpft
hat. Dr. Lueger hat damit nicht nur eine ungeheuerliche Aus-
dehnung von Wien verknüpft, die mit dem wirtschaftlichen Be-
dürfnis der Stadt gar nichts zu tun hat, er hat damit aber auch
eine Änderung des Wiener Gemeindestatuts vereinigt, die ein
großes Hindernis für die Aktion bedeuten mußte. Dr. Lueger weiß
so gut wie ich, daß, wenn er einfach die Eingemeindung von
Floridsdorf-Stadlau, den paar Gemeinden an der Donau, in Angriff
genommen hätte, weder die Regierung noch die Bevölkerung da-
gegen einen solchen Widerstand hätte leisten können, und er mußte
vorhersehen, daß er dadurch gewisse Schichten des Bürgertums,
deren Einfluß einmal besteht und leider nicht aus der Welt zu
schaffen ist, zwingt, gegen das ganze Projekt zu sein. U n d s o
stark, so hinreißend ist diese Idee der Ein-
verleibung nicht, daß sie die Belastung mit allen diesen
Dingen vertragen könnte.
Ich verstehe es psychologisch sehr gut, wie man dazu ge-
kommen ist. Dr. Lueger hat leider einen Zustand von
Allmachtsbewußtsein
erlangt, daß er meint, es gäbe nichts, was ihm nicht
möglich ist, und dieser Übermut verschafft ihm hier eine
Niederlage, wo er leicht einen großen Sieg hätte erringen müssen,
wenn er ein bißchen vernünftig gewesen wäre, und wTenn er nicht
besitzerabgeordneten Fürsten Schwarzenberg zu stimmen, der
neuerliche Verhandlungen mit allen Beteiligten verlangte. Außerdem aber
beschlossen sie die Verschiebung der Gemeindewahlen in Floridsdorf. Es
nützte ihnen allerdings nichts, bei den Gemeindewahlen erlangten die
Sozialdemokraten die Mehrheit in Floridsdorf. Bei den Landtagswahlen im
Herbst 1902 wurde in Floridsdorf der Sozialdemokrat Karl S e i t z mit 1549
Stimmen gegen den christlichsozial-deutschnationalen Kandidaten Doktor
Richter, der nur 1170 Stimmen erhielt, gewählt. Obwohl Adler sein Mandat
in Favoriten verlor, war die Sozialdemokratie also im Landtag doch durch
einen Abgeordneten vertreten.
Am 10. Jänner 1905 kam die Vereinigung Floridsdorf mit Wien doch
zustande, allerdings auf einer vernünftigeren Grundlage. Floridsdorf war
fortan der 21. Wiener Gemeindebezirk und ein Bollwerk der Sozialdemo-
kratie.
I He Eingemeindung \ on Ploridsdorf. ' "
als Häuptling seiner Partei gehandelt hätte, sondern als pflicht-
bewußter Anwalt der Interessen von Wien Wir haben heute die
Antwort der Regierung gehört, und ich muß gestehen, sie hat mir
wenig Freude gemacht, weil ich daraus ersehe, dal.; die R e g i e-
r U n g gegen dieses Projekt eine weit st ä r k e r e
Abneigung empfindet, als ich es im Interesse
der Bevölkerung wünschen würde. Aber wer hat
es der Regierung leicht gemacht, sich so ablehnend zu verhalten?
Nur die ganz verfehlte T a k t i k d e s B ii r g e r m e i s t e r s !
Die materiellen Anforderungen sind der Regierung (Jas wichtigste
Bedenken. Sie will nichts hergeben.
Abgeordneter Dr. Lueger: So ist es!
Abgeordneter Dr. Adler: Sie können aber, vereintester Herr
Bürgermeister, Ihren Angriff nicht gegen diese unberechtigte
Zurückhaltung der Regierung richten, weil die Regierung neben
dieser unberechtigten Verweigerung eine ganze Menge Punkte
anführen kann, wo sie recht hat; Sie haben es ihr leicht
gemacht, Nein zu sagen. Wir haben jetzt eine Reihe von
Rednern gehört, aber keiner hat erklärt, daß er überhaupt nicht
mit der Einverleibung des linken Donauufers einverstanden wäre,
mit Ausnahme des Dr. Kronawetter, dessen Interesse für die
Menschen und für die Dinge, wie es scheint, dort aufhöre, wo die
Gemeindegrenzen von Wien liegen. Ich muß offen sagen, daß ich
diese engherzige Auffassung nicht teile. Die Vereinigung von
Floridsdorf mit Wien wird heute beschlossen werden, genau so,
wie Sie es wünschen, nämlich im Prinzip.
Wir haben einen Referentenentwurf, wo uns gesagt wird: „Wir
wissen gar nichts über die Sache, es liegt alles noch im unklaren.
Der Landesausschuß war noch nicht in der Lage, sich zu in-
formieren, der Landtag ebensowenig; aber gerade darum, weil wir
nichts über die Sache wissen, muß sofort und unzweideutig die. An-
schauung der Landesvertretung zum Ausdruck gebracht wer-
den." — Soweit das richtig ist, können wir gehen, soweit man
nämlich eine Meinung haben kann ohne Kenntnis der Einzelheiten
und ohne nähere Prüfung, das heißt, wir können den
platonischen Beschluß lassen:
Wir wünschen, daß die Vereinigung studiert
werde, und daß uns der L a n d e s a u s s c h u ß seiner-
zeit Vorschläge mache. Aber wir können keine Frist
setzen, und wir können auch nicht das (iebiet bezeichnen, das
einverleibt werden soll.
Wenn man die Rede des Dr. Lueger im Gemeinderat liest, so
müßte man auf die Meinung kommen, daß Dr. Lueger mehr oder
weniger zufällig die Gemeinden bestimmt hat, die einverleibt wer-
den sollen: Wir haben Strebersdorf genommen, und weil wir zu-
fällig dabei waren, haben wir auch die Stammersdorfer dazu-
genommen, die das gewollt haben. Er hat selbst erzählt, wie ver-
wundert er war, als die Stammersdorfer zu ihm kamen. Aber wenn
158 Adler im Landtag.
die es wollen, warum sollen wir nicht wollen? (Heiterkeit.) So ist
auf die gemütlichste Weise das Ganze zusammengekommen. Es
sieht beinahe so aus, als ob es sich um die Zusammenstellung einer
Kegelpartie handle und nicht um die Zusammensetzung eines so
großen Verwaltungsgebietes. Aber man muß sich nicht gar zu sehr
an das halten, was Dr. Lueger im Gemeinderat gesagt hat. Über
die Politik des Christlichsozialen erfahren wir weniger aus den
offiziellen Reden als aus den Vcrsammlungsredcn. Da haben wir
nun aus dem Munde des Herrn Bürgermeisters erfahren: Stammers-
dorf, Strebersdorf und die anderen Gemeinden müssen zu Wien
kommen, um
die paar tausend Sozialdemokraten umzubringen.
Abgeordneter Dr. Lueger: Ja, natürlich.
Abgeordneter Dr. Adler: Wenn Sie sich nur als Führer Ihrer
Partei betrachten, der sich gar kein Gewissen daraus macht, wie
die Dinge in Wirklichkeit aussehen, dann ist es natürlich, daß Sie
sagen: Hier haben wir zu wenig Wähler, nehmen wir sie also von
anderswo dazu. Das ist ganz einfach. Aber ich muß Ihnen schon
sagen: Wir Sozialdemokraten, die die Geschichte etwas näher
angeht, können uns auf diesen einseitigen Standpunkt nicht stellen.
Abgeordneter Dr. Lueger: Sie stellen sich auf Ihren ein-
seitigen Standpunkt!
Abgeordneter Dr. Adler: Wenn wir bloß von unserem Partei-
standpunkt ausgehen würden, so würden wir sagen: Lassen wir
den Dr. Lueger nur machen, das ist ganz gesund für uns. Es würde
jetzt in Floridsdorf nicht gewählt werden. Dafür aber würden wir
eine Gelegenheit bekommen zur Landagitation, wie sie Sozial-
demokraten überhaupt noch nie innerhalb der Grenzen einer Groß-
stadt hatten, mit allen Behelfen, die die Großstadt bietet. An diesem
Beispiel und an Ihren eigenen Werken würden wir den Leuten
zeigen, welche Grundsatzlosigkeit Sie leitet, wir würden zeigen,
wie wenig es Ihnen um die wirklichen Bedürfnisse der Bevölkerung
zu tun ist und wie wenig Sie imstande sind, eines der großen
Worte wahr zu machen, die Sie immer vorgebracht haben. Das
allen Wienern zu zeigen, die unter Ihrer Herrschaft sind, das wäre
sehr verlockend für uns, und von unserem Parteistandpunkt könnte
uns gar nichts Besseres passieren, als wenn Sie, Herr Dr. Lueger,
unbeschränkter Herrscher über ganz Niederösterreich wären.
Abgeordneter Dr. Lueger: Das wäre sehr gesund.
Abgeordneter Dr. Adler: Aber viel mehr gesund für uns als
für Sie. Denn dann würde die Bevölkerung erst erkennen, welcher
Widerspruch zwischen Ihren Worten besteht und — nicht Ihren
Taten — , sondern Ihrer Fähigkeit, die Worte zu Taten zu machen.
Aber die Sache ist heute erledigt. So groß wird der 21. Bezirk
kaum werden, und Sie werden die paar Sozialdemokraten da
drüben auch noch schlucken müssen, so unangenehm Ihnen das
auch sein mag.
Die Eingemeindung von Floridsdorf.
Abgeordneter Dr. Lueger: So werden wir sie halt hinunter-
würgen.
Abgeordneter Dr. Adler: Ich gestehe Ihnen allerdings, daß ich
mich hier in einem kleinen Gegensatz zu meinen Parteigenossen in
Floridsdorf befinde. Ich und unser Parteiorgan sind verpflichtet, die
Angelegenheit rein sachlich von das Ganze fassenden Gesichts-
punkten zu betrachten, unsere Parteigenossen in Floridsdorf sind
aber, mehr als ich wünsche, beherrscht von der negativen Sehn-
sucht, mit Ihrer Verwaltung in nähere Berührung zu kommen.
Abgeordneter Dr. Lueger: Das glaube ich sehr gern, weil ich
ihnen zeigen werde, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat,
Abgeordneter Dr. Adler: Sie haben noch niemand etwas ge-
zeigt; und wenn Sie etwas zeigen, kommt es noch auf den anderen
an, was er mit Ihrem Kommando macht. Unter Ihrer Herrschaft
hat die Zahl der Sozialdemokraten nicht abgenommen, regieren Sie
also ruhig weiter. Ich bin überzeugt, daß die Sozialdemokraten
noch weiter zunehmen werden. Also Sie können uns gar nichts
zeigen. Aber ich begreife, daß die Floridsdorfer Arbeiter keine
Sehnsucht danach haben und sagen: Was geht das uns an, das ist
eine Sache der Zukunft. Heute aber haben wir von der Vereinigung-
gar nichts weiter, als daß wir höhere Steuern zahlen
müssen und daß die Zinskreuzer erhöht werden, wie es
tatsächlich jetzt schon geschieht mit Rücksicht auf die kommende
Vereinigung. Wir haben nichts davon, als daß man uns unser
Wahlrecht konfisziert im Luegerschen Sinne.
Es gehört tatsächlich eine große Überwindung dazu, und
man muß wirklich das üesamtinteresse ins Auge fassen, um trotz-
dem für die Vereinigung zu sein. Ich antworte meinen Floridsdorfer
Genossen : Ich bin trotzdem für die Vereinigung,
allerdings
nicht in dieser unvernünftigen, unwürdigen, überstürzten Weise,
wie Sie sie machen wollen . . .
Abgeordneter Sturm: Das ist echt jüdisch!
Abgeordneter Dr. Adler: ...nicht in dieser unsinnigen W'eise.
Ich bin dafür, daß man die Verhältnisse jeder
einzelnen Gemeinde prüft und zu Wien nur die Ge-
meinden dazuschlägt, bei denen es für beide von Vorteil ist. Frei-
lich, da drüben bei Ihnen wird gesagt: Ah was, studieren!
Abgeordneter Dr. Lueger: Ihr seids ja lauter durchgefallene
Studenten.
Abgeordneter Dr. Adler: Ich will nicht prunken, ich habe es
nicht notwendig, gerade ich bin nicht durchgefallen. Vielleicht
haben Sie drüben mehr Durchgefallene. (Heiterkeit.) Sie werden
damit kein Glück haben. Die Zeiten sind vorbei, wo Sie das
Studieren verächtlich machen konnten. Es hat eine Zeit gegeben,
wo einer von Ihren Freunden gesagt hat: „Wenn ich ein Büchel
160 Adler im Landtag.
sei)', hab' ich schon g'fressen*)!" Damals hat das Ilinen gefallen.
Aber ich glaube, das ist vorbei, und Sie wären sehr froh, wenn Sie
nur ein paar Leute mehr hätten, die verstehen zu studieren. Der
Überfluß an tüchtigen Leuten, die etwas gelernt haben und die
imstande wären, die große Gemeinde, die Sie in die Hand be-
kommen haben, zu verwalten, ist bei Ihnen nicht so groß, und es
steht Ihnen gar nicht gut, das Studieren so zu verachten. Freilich,
Sie haben recht, wenn Sie sagen: Wir studieren nicht, wir haben
es nicht notwendig, der Lueger hat es gesagt, und jetzt wird es
gefressen, und damit basta! Damit haben Sie recht im Gemeinderat,
den Sie sich zusammengesetzt haben, wie Sie ihn brauchen; das
können Sie aber nicht sagen in einer Versammlung, wo so viele
Leute sitzen, die Würde haben und die auch für das, was sie tun,
eine Verantwortung tragen wollen.
Ich bin also dafür, es werde studiert und es werde von diesem
Plan ausgeführt, was einem ausreichenden Studium standhält. Aber
ich wende mich mit aller Entschiedenheit
gegen die Regierung,
die uns hier anzukündigen scheint, daß sie nicht nur den Plänen
in dem heutigen Stadium ablehnend gegenübersteht, sondern die
auch durchblicken läßt, als ob sie überhaupt die Sache auf un-
bestimmte Zeit verschieben möchte. Ich fühle mich hier an dieser
Stelle als ein Verteidiger der Vereinigungsidee
Ihnen gegenüber. Ich bin gegen Ihre Anträge,
*) Hermann B i e 1 o h 1 a w e k, der Abgeordnete des ersten Wiener
Wahlkreises der fünften Kurie, unter dem allgemeinen Wahlrecht des
Parkviertels der Inneren Stadt, der aber auch hier bei den Juniwahlen des
Jahres 1911 durchgefallen ist, Sanitätsreferent des niederösterreichischen
Landesausschusses, gestorben am 30. Juni 1918; bekannt durch seine ur-
wüchsigen Roheiten. Am 6. Mai 1898 hat er, als in der Debatte über den
sozialdemokratischen Antrag auf Aufhebung des Getreidezolls der sozial-
demokratische Redner Dr. Verkauf aus einem Buch etwas vorlas, ge-
rufen: „Schon wieder ein Buch! Da hab' ich g'fr essen!" Und
als dieser Satz schallende Heiterkeit erregte, sagte er: „Ja freilich, diese
dummen Theorien werde ich lesen!" Und dann: „Man soll nicht nur aus
Büchern lernen! Die schreibt ein Jud vom anderen ab!" Von
ihm sind aber auch noch andere geflügelte Worte. So schloß er auf dem
Züricher Internationalen Arbeiterschutzkongreß im September 1S97 in der
Debatte über die Sonntagsruhe seine Rede mit den Worten: „W i r
stehen nicht auf dem Standpunkt der Affentheorie,
sondern auf dem der biblischen Schöpfungsgeschichte." Den Gipfelpunkt
erreichte er aber, als er am 3. April 1908, als er im Legitimationsausschuß
des Abgeordnetenhauses dem Abgeordneten Pernerstorfer, der ein Wort
von Tolstoi zitierte, zurief: „Tolstoi ist ein alter Tepp!"
Übrigens hat auch Lueger ähnliche Geistesblüten von sich gegeben. So
sagte er einmal: „Es gibt so viele alte Weiber, die gescheiter sind als die
Doktoren!" Ein andermal: „Solange ein Gelehrter keinen Grashalm kon-
struieren kann, ist er ein Pfuscher!" Gegen die Schulärzte brachte er das
Argument vor, sie „könnten die Maderln zu genau untersuchen**.
Die Eingemeindung von Floridsdorf. Ml
weil ich für die Vereinigung bin, weil Sie die
ganze Angelegenheit verpatzt haben.
Abgeordneter Sturm*): Da sieht man, daß in Ihnen der Jud steckt.
Abgeordneter Dr. Adler: Sagen Sie mir einmal aufrichtig: Ist
Ihnen das nicht schon zu fad mit den Juden? Mir ist es schon lange
zu fad. (Heiterkeit.)
Abgeordneter Sturm: Er hat sich ja taufen lassen.
Abgeordneter Dr. Adler: Ich habe die Absicht gehabt, einen
selbständigen Antrag einzubringen. Nachdem aber der Antrag dos
Fürsten Auersperg ungefähr das sagt, was ich will . . .
Abgeordneter Dr. Lueger: Sie haben ihn ausgearbeitet und dem
Fürsten Auersperg gegeben.
Abgeordneter Dr. Adler: Sie sind viel länger mit ihm bekannt
als ich und müssen deshalb genauer wissen, ob er nicht selbst in
der Lage ist, einen solchen Antrag auszuarbeiten.
Sie können es nicht erwarten, daß Sie die Sozialdemokraten in
Floridsdorf mit Hilfe der Bauern bessern. Nebenbei gesagt, glaube
ich, daß die Bauern mehr von uns lernen werden als wir von ihnen.
(Heiterkeit.) Sie können das aber nicht erwarten, sondern Sie
wollen schon jetzt die arbeitende Bevölkerung von Floridsdorf mit
der Methode bekannt machen, die Sie anwenden, wenn es sich um
politische Rechte der Arbeiter handelt. Das Mandat des jetzigen
Gemeinderates von Floridsdorf wird am 1. September ablaufen,
und es müßten schon jetzt die Wahlen ausgeschrieben sein. So
schreibt es das Gesetz vor. Das Gesetz ! Das wäre doch
zum Lachen, wenn
Lueger nicht so stark wäre wie das Gesetz!
Da ist es selbstverständlich, daß die Wahlen am 12. Juli nicht
ausgeschrieben wurden und bis heute noch nicht ausgeschrieben
sind. Man wartet, wie stark Sie hier sind, man wartet, ob es Ihnen
wirklich gelingen wird, hier im Landtag ein Gesetz zu erzwingen,
das die Bevölkerung aller Gemeinden, die wir einverleiben wollen,
auf ein halbes Jahr ihres Verfügungsrechtes beraubt. Ich halte auch
diesen Antrag nur dem Übermut entsprungen, der Sie erfaßt hat.
Denn verständig ist er nicht! Wenn die Bevölkerung wirklich den
Wunsch hat, zu Wien zu kommen, dann wird ja wieder eine
Majorität gewählt, die dafür ist. Ist die Bevölkerung aber nicht
einverstanden, dann frage ich Sie:
Mit welchem Rechte vergewaltigen Sie die Bevölkerung?
Wie können Sie mit dieser Gemeindeverwal-
tung einen solchen Vertrag abschließen gegen
den Willen der Bevölkerung? Ihr Antrag, die Wahlen
aufzuschieben, ist
entweder überflüssig oder die unerhörteste Vergewaltigung,
die man sich vorstellen kann.
*> Abgeordneter von Margareten; ein Zeichenlehrer.
Adler, Briefe. XI. Bd. 11
162 Adler im Landtag.
Also nicht, weil dies noch verfrüht ist, wie der Statthalter
gesagt hat, sind wir gegen diesen Antrag, sondern weil wir wollen,
daß in dieser hochwichtigen Angelegenheit entschieden werde
nach d e in Willen, den die Bevölkerung dieser
Gemeinden heute hat, und nicht nach dem Willen
von Leuten, die vor sechs Jahren unter ganz
anderen Verhältnissen gewählt worden sind.
Es wäre sehr verlockend, auf einige der früheren Redner ein-
zugehen. Ich will mich nur mit einigen wenigen befassen. Arn
meisten überrascht hat mich, daß Dr. Knotz von der Achtung
vor dem Selbstbestimmungsrecht der Gemein-
den gesprochen hat. Die Autonomie der Gemeinde, die für mich
ein sehr wünschenswertes Ideal ist, ist nicht identisch mit der
Autonomie einer Handvoll Hausherren, die die
Gemeinde tyrannisieren. Es darf nicht eine Autonomie
einer kleinen Schicht von Besitzenden sein wie in Wien. Wien wird
heute beherrscht von den Grundbesitzern, während der kleine
Mittelstand nur den
Stanczyken*) von Wien
die Kastanien aus dem Feuer holt. Für diese Autonomie bedanke
ich mich. Bevor die Gemeinden eine Autonomie haben, müssen sie
erst eine Vertretung haben, in der jedes Gemeindemitglied dasselbe
Recht hat.
Wie kann Herr Dr. Knotz**) überhaupt von Gemeindeautonomie
reden, wo er in demselben Moment den Gemeinden ihr Selbst-
bestimmungsrecht nehmen will? Er sagt: Ich habe eine solche
Achtung vor deinem Selbstbestimmungsrecht, daß ich dich nicht
mehr eine neue Gemeindevertretung wählen lasse, damit diese
nicht so handle, wie du willst. Diesen Widerspruch versteht Doktor
Knotz sehr gut, und weil er ihn versteht und weil er hofft, daß ihn
die anderen nicht verstehen werden, darum macht er so schöne
Phrasen.
Abgeordneter Auersperg hat einige Worte auch der Sozial-
demokratie gewidmet, und er hat uns die Partei genannt, die das
Böse will und oft das Gute schafft. Über das „das Böse wollen"
werden wir schwer einig werden, denn ich fürchte selbst, daß
einiges von dem, was ich will, ihm recht bös erscheinen wird. Das
ist nun einmal so, aber ich finde es immerhin nett vom Herrn Ab-
geordneten Auersperg, zuzugeben, daß wir vielfach das Gute
schaffen. Unter das Gute, was wir bereits geschaffen haben, gehört
unter anderem, daß die Anschauungen, die die Sozialdemokraten
als eine wilde Rotte von kulturwidrigen Elementen ansehen oder
*) Stanczyken hieß der ultrakonservative Teil der polnischen Groß-
grundbesitzer.
; '.) Dr. Alfred Knotz war einmal ein sehr radikaler Deutschnationaler,
der im Parlament arge Schimpfreden über die Tschechen hielt und für
Bismarck schwärmte, als er aber nach Floridsdorf übersiedelte, christlich-
sozial wurde.
Die Eingemeindung von Floridsdorf. 163
als blinde Menschen, die sich führen hissen zu irgendwelchem von
ihnen nieht gewollten Ziel . . .
Abgeordneter Dr. Lueger: Ganz richtig!
Abgeordneter Dr. Adler: ...daß diese Anschauungen, die Sie,
Herr Bürgermeister, vertreten, nur von den unwissendsten und un-
gebildetsten Leuten geteilt werden. (Heiterkeit.) Es hat mich ja
auch gewundert oder vielmehr nicht gewundert, denn ich habe
Ähnliches in der letzten Zeit wiederholt hören müssen , daß Ab-
geordneter Scheiche r*) eine so heftige \{cl\c gegen uns geheilten
hat. Es ist sehr interessant für denjenigen, der die klerikale und
christlichsoziale Bewegung verfolgt, von Ihrer Seite und von einem
Priester eine antisemitische Rede zu hören, die auf dem reinsten
Rassenstandpunkt steht.
Abgeordneter Sturm: Jud' bleibt Jud', auch wenn er getauft ist.
Abgeordneter Dr. Adler: Ich habe nichts dagegen einzuwenden,
denn ich freue mich immer, wenn ich meine Gegner in Wider-
sprüche verstrickt sehe, denen sie nicht entrinnen können. Sie
haben sich über die unbefugte Einmischung eines Juden Sie
beehren mich mit diesem Namen — in religiöse Angelegenheiten
beklagt. Ich mische mich nie in religiöse Angelegenheiten (Oho-
rufe), niemals. Aber, meine Herren, es gibt andere Juden — da Sie
nun schon auf dem Rassenstandpunkt stehen — , Juden, die Ihnen
näherstehen und die sich sehr in Ihre religiösen Angelegenheiten
hineinmischen. Wenden Sie sich, Herr Dr. Scheicher, mit Ihren
Vorwürfen gefälligst an den
Erzbischof Kohn**),
der vom Rassenstandpunkt aus doch ein Jude ist und sich den-
noch — also unbefugt, aber sehr intensiv — mit der katho-
lischen Religion beschäftigt. (Heiterkeit.)
Ich komme zum Schluß . . . (Beifall bei den Christlichsozialen.)
Ich glaube es Ihnen, daß Sie mich nicht gern hören. Ich rede doch
nicht, um Ihnen ein Vergnügen zu machen, dazu hätten mich die
Wiener Arbeiter nicht gewählt. (Heiterkeit.) Ich komme zum
Schluß. Sie haben sich einmal
in Ihrer eigenen Schlinge gefangen.
Abgeordneter Mayer***): Lassen Sie uns hängen!
*) Prälat Josef Scheicher, der als wirklicher christlicher Sozialist
angefangen hatte, jetzt rüde antisemitische und antisozialistische Hetzreden
hielt. Näheres über ihn in Adlers Rede im Landtag vorn 11. Juli 1901 über
die „Marodeure des Klerikalismus", insbesondere in der Fußnote. (Bd. VIII,
Seite 4M.)
) Der Erzbischof von Olmütz Dr. Theodor Kolin. (Näheres über ihn
siehe in Dr. (iustav Pollatschek: „Das unfehlbare Rom", das Kapitel
„Kohn der E r z b i s c li o f", Seite 113.)
**) Ein christlichsozialer Bauernführer. Mayer aus Bockfließ, wie er
nach seinem Wohnort gelegentlich genannt wurde. Er wurde später auch
Mitglied des niederösterreichischen Landesausschusses.
11*
164 Adler im Landtag.
Abgeordneter Dr. Adler: Es handelt sich nicht um das Hängen,
sondern um das Fangen. Sie haben bei der Gelegenheit, daß
Sie die vernünftige Idee haben, das linke Üonauufer einzuverleiben,
einen großen Fischzug machen wollen. Sie haben, um Ihre Macht
zu befestigen, auch zu ganz kleinlichen Mitteln greifen wollen, wie
die Verschiebung der Floridsdorfer Wahlen. Um vor den Landtags-
wahlen keine Niederlage zu erleiden, haben Sie die große Sache
direkt gefährdet. Und wenn diese Angelegenheit verschleppt wird,
was ich nicht hoffe, so sind S i e selbst am allermeisten schuld
daran. Gerade weil ich für die Vereinigung bin,
bin ich gegen die Anträge, die Sie gestellt haben,
und ich bin deshalb selbstverständlich auch
gegen die Entrechtung der Floridsdorfer Ge-
meindewähler. Ich werde für den Antrag Auersperg stimmen.
Dienstbotenordnung auf dem Lande.
Landtag, 2 4. Juli 19 02*).
Ich hatte ursprünglich nicht die Absicht, über dieses Referat zu
sprechen. Aber die Ausführungen des Abgeordneten Scheicher
machen es mir unmöglich, zu schweigen. Über die Sache selbst ist
ja nicht viel zu sagen. Die Prämien, die Sie an alte und junge
Leute geben wollen, um die Lust und Liebe zum Dienstbotenberuf
zu heben, haben nicht viel Bedeutung, und ich habe den Eindruck,
daß auch der Landesausschuß selbst von der Geschichte nicht zu
viel hält, zumindest aber, daß er sich keinen Illusionen
über die Wirkung hingibt. Der Referent weiß, wie gering
die Zahl der Prämiierten im Verhältnis zur Zahl der Beschäftigten
ist, und er muß bekennen, daß eine sozialpolitisch konstatierbare
Wirkung nicht zu erwarten ist. Aber ich begreife, daß Sie derlei
Dinge machen. Das gehört heute zum Geschäft. Wenn man eine
Frage nicht lösen kann — und die Gesellschaft ist heute ganz un-
fähig, diese Frage zu lösen — , so sucht man wenigstens durch
Aufsetzung eines Flecks
die Geschichte ein bißchen reputierlicher zu machen.
Man will den guten Willen zeigen, das ist alles. Es ist, um mich
*) Am 24. Juli standen im Landtag die Anträge zur Bekämpfung
der Leutenot auf dem flachen Lande zur Verhandlung. Danach sollten
jährlich hundert junge Arbeiter mit Prämien von 20 Kronen, einem „Kapi-
tal" zur Altersversorgung von 10 Kronen und Anerkennungsdiplomen be-
teilt und zwanzig Altersrenten errichtet werden. Referent des Ausschusses
war Monsignore Scheicher, der auch auf einen Bericht verwies, den er
als Referent des Landesausschusses der Landesregierung erstattet hatte.
Scheicher hat übrigens nicht nur in diesem Bericht den Ausdruck von
den entlaufenen Dienstboten gebraucht, sondern sogar auch in
einer Dienstbotenordnung, die er am 1. September 1903 dem Landtag vor-
legte, diesen Ausdruck gebraucht und Strafen für sie und Gendarmerie-
assistenz für ihre Zurückstellung verlangt.
Dienstbotenordnung auf dem Lande. 165
eines agrarischen Ausdrucks zu bedienen, ein Pflanz. (Heiter-
keit.)
Abgeordneter Sehnabi*): Jüdische Frechheit.
Abgeordneter Dr. Adler: In Punkt 2 und .3 des Antrags wird
dem Kernpunkt der Frage nähergetreten, nämlich dem Mangel
an Arbeitskräften auf dem flachen Lande. Ich
lege kein Gewicht darauf, daß im letzten Absatz von Studien
gesprochen wird, um gesunde Besiedelungsverhältnisse zu schaffen,
da ja der Herr Referent selbst sehr skeptisch über die Sache ge-
sprochen hat. Er weiß so gut wie wir, daß durch gesetzgeberische
oder durch Verwaltungsmaßregeln diese Verhältnisse nicht ge-
ändert werden können. Man kann es bedauern, aber man muß es
als gegebene Tatsache hinnehmen, daß die Entwicklung der
Industrie den Zuzug zu den Städten bewirkt. Man kann es bedauern,
daß auf dem Lande die patriarchalische Wirtschaftsmethode nicht
mehr möglich ist — aber sie ist nicht mehr möglich. Man kann es
bedauern, daß sich heute die sogenannten „Dienstboten", die länd-
lichen Arbeiter, mit Verhältnissen, wie sie vor fünfzig oder hundert
Jahren bestanden, nicht mehr zufrieden geben. Ich begreife, daß
das vom Standpunkt der ländlichen Unternehmer — der großen
wie der kleinen Unternehmer — bedauerlich sein mag, aber es ist
ein Kulturfortschritt. Jeder Fortschritt der
Kultur ist zunächst ein Fortschritt an Bedürf-
nissen. Wir haben genau soviel Kultur, als die breiten Massen
Bedürfnisse haben, und jedes Ansteigen der Bedürfnisse der Massen
ist ein Kulturfortschritt. Ob Sie das nun bedauern oder nicht, es
ist so. Was soll man nun sagen, wenn Sie gegenüber dieser Tat-
sache, daß die Landarbeiter mit den Arbeitsbedingungen nicht mehr
zufrieden sind und nicht sein können, mit Moralpredigten
kommen?
Es liegt ein Bericht des Abgeordneten P i r k o vor, der außer-
ordentlich sachkundig abgefaßt ist und aus dem man etwas lernen
kann. Aber Abgeordneter Pirko sagt selbst, daß dieser Bericht erst
eine angefangene Arbeit ist, die noch in den ersten Anfangsstadien
steht, daß es sich da eigentlich mehr um Studien handelt ■—> wie
ich hinzufüge, um ernste Studien. Ich bin nicht mit allem ein-
verstanden, was Abgeordneter Pirko sagt, aber ich gestehe, daß
er in einer der wichtigsten Fragen eine verhältnismäßig fortschritt-
liche Stellung eingenommen hat, nämlich in der Frage der
*) Von den Rednern, die hier Zwischenrufe machten oder von Adler
genannt wurden, ist SchnabI ein ehristlichsozialer Geistlicher, der sonst
wenig von sich reden machte. Hauchinger ein Pfarrer, der als Referent
oft sprach, immer sehr salbungsvoll und immer sehr arbeiterfeindlich,
Sengstbratl ist ein wenig gekannter christlichsozialer Hauer.
Skrbcnsky und Pirko sind Großgrundbesitzer, jener ein konserva-
tiver, dieser ein sogenannter freiheitlicher. Sturm und Scheich er
ind schon bekannt.
166 Adler Im Landtag.
Dienstbotenordnungen.
Wir verlangen, daß die Dienstbotenord nungen über-
haupt beseitigt werden wie ja der Ausdruck „Dienst-
bote" überhaupt heute nicht mehr anzuwenden ist — , und daß d i e
ländlichen Arbeiter unter demselben Gesetz
stehen wie die Arbeiter in der Stadt. Ich erwarte
nicht, daß Sie sich auf diesen Standpunkt stellen, und ich erkenne
es an, daß in dem Bericht einige Symptome einer freieren Auf-
fassung vorkommen. Die Bauern . . .
Abgeordneter Sengstbratl: Wenn der Ausdruck „Dienstboten"
nicht anwendbar ist, so gibt es auch den Namen „Bauern" nicht.
Abgeordneter Dr. Adler: Der Ausdruck „Bauer" ist
und war immer ein Ehrentitel, denn er bezieht sich auf
die Arbeit, die der Bauer leistet; Dienstbote aber
bezieht sich auf die Botmäßigkeit, auf die Unterwerfung,
auf das Verhältnis der Abhängigkeit, das heute nicht mehr
zu halten ist . . . In dem Bericht wird ausgesprochen, daß die länd-
lichen Unternehmer auf gewisse Dinge verzichten müssen, die sie
bisher hatten. Sie wünschen nicht, daß er auf die Ungleichheit in
der Behandlung verzichte zwischen den beiden vertragschließenden
Teilen. Wenn der Unternehmer einen Dienstboten engagiert und
ihn nicht nimmt, so hat er ihm nur den Schaden zu ersetzen. Wenn
aber der Arbeiter den Kontrakt bricht, so hat er auch ein Delikt
begangen. Er wird bestraft. Er ist - - und das ist für mich ein
Ausdruck, der mich jedesmal so fürchterlich berührt — ein „en t-
laufener Dienstbot e". Entlaufener Dienstbote, das erinnert
mich so an den
entlaufenen Sklaven.
Abgeordneter Skrbensky: Das steht ja nur im Büchel, das wird
doch nie praktiziert.
Abgeordneter Dr. Adler: Ob Sie geneigt sind, das wenigstens
abzuschwächen, und ob Sie darauf verzichten wollen, daß dieser
entlaufene Sklave ihnen wieder mittels Gendarmerie zugestellt
werde, weiß ich nicht.
Abgeordneter Bauchinger: Jeder ist froh, wenn er ihn nicht
mehr bekommt.
Abgeordneter Dr. Adler: Das sollte man meinen. Aber das
Gesetz lautet doch anders. Wenn aber auch die Praxis etwas
weniger hart ist als das Gesetz — in Ihrem eigenen Interesse — .
so wirken doch die Empfindung der Abhängigkeit und die Furcht
vor der Strafe schwer genug, und Sie dürfen sich nicht wundern,
daß der Landarbeiter lieber in die Stadt geht, selbst unter wesent-
lich unsichereren Verhältnissen, um sich als freier, unabhängiger
Mensch zu fühlen. Einer der Hauptgründe, warum Arbeiter und
Arbeiterinnen vom Lande in die Stadt gehen, ist, daß sie auf dem
Lande viel schwerer Aussicht haben zu heiraten,
(Widerspruch.) Erinnern Sie sich nur, welche Schwierigkeiten sie
da haben, wenn beide Dienstboten sind. Im Zusammenhang damit
Dienstbotenordnung auf dem Lande. W
will ich Sic aufmerksam machen auf die Aufsätze eines sehr sach-
kundigen Mannes, des Dr. Michael Hainisch*), die in der „Grazer
Tagespost" erschienen sind. Dr. Hainisch weist auf den Wider-
spruch Ihn, in dem Sie sich befinden. Einerseits wünschen Sie ein
Proletariat nicht, andererseits aber brauchen Sie ländliche Arbeiter.
Dr. Hainisch weist auch auf die von mir eben besprochene Ursache
der Entvölkerung des Landes hin. Die Zahl der auf dem Lande ab-
geschlossenen Ehen, insbesondere in den deutschen Alpenländern,
ist nicht nur absolut kleiner als in den Städten, sie ist auch im Ab-
nehmen begriffen.
Nachdem ich über den ernsthaften Teil dieser Frage gesprochen,
möchte ich zu dem minder ernsthaften übergehen: zum Bericht des
Abgeordneten S c h e i c h e r. Ich hätte darüber nicht gesprochen,
weil dieser Bericht nicht auf der Tagesordnung steht. Nachdem
aber Abgeordneter Scheicher selbst das Bedürfnis gefühlt hat,
ihn auf die Tagesordnung zu stellen, kann ich nicht umhin, doch
einige Worte über die Tendenz dieses Berichtes zu sagen. Ab-
geordneter Scheich er hat in seinem Referat nur ein paar
Hauptsachen herausgegriffen. Er sagt: Die Regierung muß un-
bedingt gegen die Landflucht etwas tun. Einverstanden; wenn
die Regierung etwas dagegen tun kann, werden wir ja darüber
reden können. Abgeordneter Scheicher verlangt vor allem die
Einschränkung der Freizügigkeit.
Ich erschrecke vor gar keinem Wort und falle auch nicht um,
wenn ich von Einschränkung der Freizügigkeit höre. Aber ich ver-
lange, daß, wenn man davon spricht, man sich dabei irgend
etwas vorstelle. Daran scheint es nun beim Vorschlag des
Herrn Scheicher bedenklich zu fehlen. Denn er hat uns glaubhaft
machen wollen, daß sich Einschränkung der Freizügigkeit mit der
Freiheit vortrefflich vertrage, und er hat, um uns das zu beweisen,
auf Nordamerika hingewiesen. Ich war wirklich sehr neu-
gierig, denn ich habe über die Wirtschaften in Amerika auch
manches gelesen. Herr Scheicher führt als Beweis an, daß die
Amerikaner Ausländer nicht in das Land lassen, außer unter
gewissen Bedingungen: daß sie keine Analphabeten seien, daß sie
für die erste Zeit zum Leben haben usw. Handelt es sich
bei der Bekämpfung der Landflucht darum, nie-
mand auf das Land hinauszulassen oder nicht
vielmehr darum, niemand von dort wegzulassen?
Sie wissen, daß in Deutschland die Bekämpfung der Dienstboten-
not nicht auf diese amerikanische Weise vonstatten geht, sondern
direkt in antiamerikanischer Weise. Es werden von
einem Landstrich in den anderen große Transporte von Arbeitern
geführt, sogar aus dem Auslande führt man Arbeiter zu, um der
Dienstbotennot abzuhelfen, und Sie müssen auch wissen, daß dort
) Der nachmalige Bundespräsident, der bekanntlich ein Großgrund-
besitzer, aber auch ein Atfrarthcoretikcr ist und ein Buch über die Land-
flucht geschrieben hat.
168 Adler im Landtag.
unter den ländlichen Großunternehmern sogar ernstlich die Ein-
führung chinesischer Kulis erwogen wird. Es scheint also bei Ihnen
eine klare Vorstellung über die Beschränkung der
Freizügigkeit nicht vorhanden zu sein, und ich sehe
darum die Gefahr, daß diese Angelegenheit aus
dieser nebulosen Gestalt in die Form eines Ge-
setzes gelange, noch in so weiter Ferne, daß ich dar-
über nicht viel zu reden brauche.
Die zweite Maßregel, die Abgeordneter Scheicher vorschlägt, be-
trifft eine sehr wichtige Angelegenheit: die Militärbefreiung.
Auch ich bin
für die Befreiung vom Militärdienst
in seiner heutigen Form, aber nicht nur für das flache
Land, sondern für uns alle. Auch das sozialdemokratische
Programm verlangt : Abschaffung des heutigen Milita-
rismus und Ersetzung der stehenden Armee
durch die Volkswehr.
Abgeordneter Mayer: Also doch Soldaten.
Abgeordneter Dr. Adler: Ich weiß nicht, wer diesen Zwischen-
ruf gemacht hat, aber wer ihn gemacht hat, der versteht schon gar
nichts. (Heiterkeit.)
Abgeordneter Bauchinger: Das muß international gemacht
werden !
Abgeordneter Dr. Adler: Wenn einer sagt: „Das muß inter-
national sein", so kleidet er die Lust, eine Sache zu
verschieben, in ein modernes Gewand. Darum ist Ihre Partei
auch für den Achtstundentag usw., aber er muß „international"
sein. Sie haben das Wort nicht erfunden. Sie haben übrigens auch
den Witz nicht selbst erfunden. Ich gebe der Wahrheit die Ehre:
das haben die liberalen Professoren erfunden
(Heiterkeit), aber gelehrig, wie Sie sind, haben Sie sich doch das
Schlechte, das die anderen erfunden haben, sofort angeeignet.
(Heiterkeit.)
Durch den Militarismus wird ein ganz bedeutender Teil der
produktiven Kraft des Volkes zu ganz unproduktiven, überflüssigen
Zwecken verwendet — zum moralischen und physischen Schaden
des Volkes, zum dauernden Schaden der Produktionsfähigkeit des
Volkes. Darum bin ich für die Beseitigung des Militarismus. Aber
verlangen Sie das nicht als Privileg. Schließen Sie sich der Sozial-
demokratie an in der Bekämpfung des Militarismus . . .
Abgeordneter Scheicher: Das tun wir selbst!
Abgeordneter Dr. Adler: Aber sehr schwach!
Abgeordneter Bauchinger: Schließen Sie sich uns an!
Abgeordneter Dr. Adler: Das geht nicht, wir sind zu weit vor,
als daß wir wieder zu Ihnen zurücklaufen könnten. Also diese For-
derung des Abgeordneten Scheicher ist innerhalb dieser Grenzen
ernst zu nehmen — wird wenigstens von uns ernst genommen. Ob
sie von Ihnen ernst genommen wurde, traue ich mich nicht zu ent-
Dienstbotenordnung auf dem Lande. IÖ9
scheiden. Abgeordneter Scheiclier hat sich bitter beklagt, daß er
wegen seines Berichtes gar so sehr angegriffen wurde.
Abgeordneter Scheicher: Im Gegenteil Ich habe Witze darüber
gemacht.
Abgeordneter Dr. Adler: Es waren aber sehr bittere Witze.
(Heiterkeit.) Ich bekenne mich schuldig, daß sich auch unser Blatt
gegen seinen Bericht gewendet hat, weil in dem ganzen Bericht
keine sachliche Begründung und keine sachliche Würdigung der
tatsächlichen Verhältnisse zu finden waren. Wenn Herr Scheicher
auch nur den Bericht gelesen hätte, der von seinem Amtskollegen
gemacht wurde, so hätte er unmöglich so allgemeine Redensarten
machen können, wie er sie gemacht hat.
Ich bin fertig. (Bravo!) Da rufen Sie immer „Bravo". (Heiter-
keit.) Das kenne ich. Aber das nützt Ihnen nichts. Sie sind so viele
und Sie können es sich einteilen. Ich aber bin hier allein und muß
für eine ganze Partei allein reden. Darum werde ich Ihnen so oft
so unangenehm. Ich kann Ihnen nicht helfen.
Ich wiederhole: Ich habe nichts dagegen, daß Sie die paar
tausend Kronen bewilligen. Der Landesfonds hält es aus, und ihnen
und den paar Dienstboten, die die zehn Gulden bekommen, macht
es eine Freude. Ernst zu nehmen ist es nicht. Im übrigen haben Sie
ja selbst versprochen, in Zukunft den Ursachen der Landflucht
nachzuforschen. Ich bin immer für die Forschung. Darum gratuliere
ich Ihnen zu dem Entschluß und wünsche Ihnen viel Glück dabei.
Aber daß Sie etwas Positives damit zuwege bringen, glaube ich
nicht, solange Sie sich nicht entschließen, den Arbeiter auf
dem Lande unter dieselben Gesetze zu stellen
wie den industriellen Arbeiter.
Abgeordneter Sengstbratl: Achtstundentag!
Abgeordneter Dr. Adler: Den haben wir ja auch in der Industrie
noch nicht. Fürchten Sie sich also nicht. Das geht alles. Man kann
sich den ländlichen Verhältnissen anpassen, wie man sich den indu-
striellen anpaßt. Wenn diese Frage zur Diskussion kommt, v/erden
Sie uns bereit finden, über diese Frage wie über jede
Frage sachlich zu verhandeln.
Abgeordneter Sturm: So, das habe ich noch nicht gesehen. Auch
Ihre Presse ist nicht sehr sachlich.
Abgeordneter Dr. Adler: Das Urteil über unsere Presse, Herr
Abgeordneter Sturm, müssen Sie schon uns überlassen . . .
Abgeordneter Sturm: Dann müssen Sie sie auch selbst lesen!
Abgeordneter Dr. Adler: Unsere Partei ist mit ihr zufrieden, und
für Sie schreiben wir nicht . . . Wenn es also nötig sein wird, werden
wir über die Frage der Arbeitszeit sachlich verhandeln. Aber hier
handelt es sich um die prinzipielle Frage, ob Arbeiterschutz
oder nicht, um die Frage der Aufhebung des entwürdi-
genden Dienstbotenverhältnisses und Schaffung
eines modernen Arbeitsverhältnisses auch für
die ländlichen Arbeiter. Das ist die wichtigste Bedingung,
wenn Sie Arbeiter auf das Land hinausbekommen wollen. Unter
170 Adler im Landtag.
anderen Bedingungen sind Arbeiter auf dem
Lande heute — zum Glück, daß ist ein Fortschritt
der Kultur, den jeder begrüßen muß — , heute nicht
m ehr zu haben.
Kandidatenrede für den Landtag.
Zwei Versammlungen im Arbeiterheim,
1. Oktober 1 902*).
Der Wahlrechtsraub, den die Christlichsozialen geplant haben,
ist nur zur Hälfte gelungen, nämlich in der Gemeinde, aber die
Christlichsozialen vermochten es nicht, die guten Folgen dieser
schlechten Wahlreform für die Landtagswahlen zu beseitigen**).
Wenn Dr. Lueger seinen Plan hätte ganz durchführen können, so
hätte er eine Wahlreform gemacht, die auch für den Landtag eine
fünfte Kurie einführt und die der großen Masse des Volkes wohl das
Recht gibt, den Stimmzettel abzugeben, aber dieser Masse nicht
die Möglichkeit gibt, ihre Vertreter in den Landtag hineinzubringen.
Durch die Vereitelung dieses Planes hat es sich ergeben, daß das
alte schlechte Landtagswahlrecht ziemlich erweitert wurde, so daß
wir in einigen Bezirken in Wien und auf dem flachen Lande mit
Aussicht auf Erfolg in den Wahlkampf treten können. Wir werden
gewiß schwer zu kämpfen haben, und auch in diesem Bezirk, wo
noch bei keiner Wahl die Sozialdemokraten in der Minderheit ge-
wesen waren, werden wir harte Arbeit leisten müssen, um durch-
zudringen; aber wenn jeder seine Pflicht tut, so müssen wir siegen,
Um den Landtag haben sich früher die Massen der Wähler nicht
viel gekümmert, und sie konnten das auch nicht, da das Wahlrecht
so eingeschränkt war, daß in ein paar Gast- und Kaffeehäusern die
Entscheidung über die Landtagsmajorität getroffen wurde. Der
Landtag war übrigens eine reine Verwraltungskörperschaft, die nicht
viel von sich reden machte. Das wurde in den letzten sechs Jahren
anders. Mit der christlichsozialen Majorität ist eine neue Politik
eingezogen, die in der unbedingten, rücksichtslosen
Ausnützung der Majorität für Parteizwecke be-
steht. Wir haben gesehen, daß von diesem Landtag aus die Herr-
schaft der Christlichsozialen in der Gemeinde eine Unterstützung
und Festigung gefunden hat, die diese Herrschaft zu einer uner-
träglichen Tyrannei machte. Durch den Landtag sind
Lueger und seine Leute die unumschränkten Herren von Wien ge-
*) Am 1. Oktober wurden die Wählerlisten aufgelegt und nun begann
die Hauptarbeit der Partei: die Wählerlisten zu prüfen, die christlich-
sozialen Schwindelwähler herauszureklamieren und die nichtaufge-
uommenen Arbeiterwähler hineinzureklamieren. An diesem Tage hielt
auch Adler seine Kandidatenrede im Favoritner Arbeiterheim, das be-
kanntlich am 7. September eröffnet worden war. (Siehe darüber die
damals von Adler gehaltene Rede.)
**) Siehe Adlers Rede bei der Landtagswahl im Jahre 1901.
Kandidatenrede für den Landtag. '71
worden. Es wurde ihnen ermöglicht, nicht nur die Gemeindewahl-
ordnung durchzudrücken, die die arbeitende Bevölkerung von Wien
nullifiziert, sondern auch die ganze Verwaltung des Landes SO mit
christlichsozialen Elementen durchsetzt, daß man heute sagen muß:
Wir li a b e n keine p o 1 i t i s c h e V e r w a 1 t u n g d u r e li
Landesbehörden, sondern durch Luegersche
Ämter, und w i r haben nicht Landes- und Q e m e i n d e-
beamte, sondern Beamte des Lueger! (Lebhafte Zu-
stimmung.)
Im Dienste der Klerikalen.
Aber Dr. Lueger hat diese Ausnützung seiner Macht nicht allein
mit seinen Kleinbürgern durchsetzen können, sondern er hat, u m
zu herrschen, in die Dienste einer anderen Macht
treten müssen, in die Dienste der klerikalen Par-
tei. Er wurde, um seine Herrschbegierde zu befriedigen, abhängig
von dem Todfeind jedes Fortschrittes, von dem Todfeind jeder ver-
nünftigen kulturellen Entwicklung. Es ist kein Zweifel man muß
auch dem Feinde gegenüber gerecht sein — , daß Dr. Lueger sehr
oft unter dieser Knechtschaft ächzt, es ist nicht sehr angenehm, den
Herren Bischöfen untergeordnet zu sein und ihre Winke gehorsam
befolgen zu müssen; aber er mußte, wenn er auf das hohe Roß
kommen wollte, sich von den Klerikalen den Steigbügel halten
lassen, und zum Dank dafür muß er nun gestatten, daß sie sein
Pferd am Zügel führen. (Heiterkeit.) Unter diesem Einfluß ist es
zustande gekommen, daß dem Herrn Geßmann die Schule und die
Lehrerschaft ausgeliefert wurden. Das ist der Zoll, den Lueger den
Klerikalen zahlen mußte. Freilich zahlt das nicht er, nicht er leidet
ja darunter, sondern es leidet die Schule und es leiden unsere
Kinder, die Zukunft des arbeitenden Volkes. (Zustimmung.)
Das belogene Kleingewerbe.
Wenn Dr. Lueger in die Höhe gekommen ist, infolge der miß-
lichen Lage des Kleinbürgertums, so konnte er sich am Ruder nur
erhalten dadurch, daß er dieses Kleinbürgertum belog und betrog.
Einer der größten Vorwürfe, die uns von den Christiichsozialen ge-
macht werden, ist der, daß wir Sozialdemokraten das Kleingewerbe
vernichten wollen. Sie wissen alle sehr wohl, wie unberechtigt
dieser Vorwurf ist. Wahr ist allerdings, daß wir den Kleingewerbe-
treibenden nicht die Lüge erzählen, daß sie, wenn nur ein paar
Maßregeln vom Landtag oder Reichsrat beschlossen werden, sich
ewig fortfretten werden. Wir wollen sie nicht anlügen, wie die
Christlichsozialen. Wir sind nicht Feinde der Klein-
gewerbetreibenden, wir sind aber Feinde der
Lüge und wir sind dagege n, daß die Kleingewerbe-
treibenden belogen und über ihre Zukunft ge-
täuscht werden. Wir erzählen den Kleingewerbetreibenden
nicht, daß der Landesausschuß ihnen nur etwas zu versprechen
braucht, damit sie über ihr Elend wegkommen, wir erzählen ihnen
172 Adler im Landtag.
nicht, daß ihnen geholfen werden kann, wenn man sie nur unge-
hindert die Lehrlinge ausbeuten läßt, wir erzählen ihnen nicht, daß
man nur einige Juden totzuschlagen braucht, damit wieder alles in
Ordnung sei, wie es vor fünfzig oder hundert Jahren war. (Heiter-
keit.) Das erzählen wir nicht, weil wir sie nicht anlügen wollen.
Das aber sind die Mittel, mit denen die Christlichsozialen heute
ihre Herrschaft über die Kleingewerbetreibenden aufrechterhalten.
Von Schritt zu Schritt werden sie als Lügner entlarvt, aber immer
neue Lügen müssen sie auftürmen, immer neue demagogische Phra-
sen müssen sie machen, um diesen Schwindel weiterzuführen. Wir
lügen den Kleingewerbetreibenden nichts vor, und wenn die
anderen siegen, weil sie lügen, dann brauchen wir das nicht zu be-
dauern. Das ist kein Unglück für uns, sondern für die anderen, für
die Betrogenen und für die Betrüger. Denn Lügen haben kurze
Beine, und wir mit unserer trockenen, bitteren, nackten Wahrheit,
wir werden siegen trotz alledem. (Lebhafter Beifall.)
Der Judenpunkt.
Einer der wichtigsten Punkte im christlichsozialen Programm
war früher einmal der sogenannte Judenpunkt, nämlich die Auf-
fassung, daß das Elend in der heutigen Gesellschaft wesentlich
daher komme, daß es so viele Juden gibt, die ausbeuten. Nun ist es
kein Zweifel, daß es Juden gibt, die ausbeuten, und zwar sehr viele,
aben ebensowenig ist es zweifelhaft, daß, wenn alle diese Juden
plötzlich verschwinden würden, wenn man den Antrag Schneider
annehmen würde (Heiterkeit) oder wenn sonst die göttliche Barm-
herzigkeit ein Einsehen hätte und die Judenplage, die schon soviel
tausend Jahre auf uns lastet, beseitigen, das heißt, wenn die Welt
durch ein Wunder von den Juden erlöst würde, so würde das natür-
lich am ersten Abend verschiedene Leute gar sehr freuen, aber die
Freude würde nicht lange dauern. Denn schon am nächsten Tag
würde sich zeigen, daß, abgesehen davon, daß nicht nur die jüdi-
schen Ausbeuter, sondern auch die jüdischen Ausgebeuteten ver-
schwunden wären, noch verdammt viele Ausbeuter da wären.
(Heiterkeit und Beifall.) Ich erinnere mich da an ein Gespräch, das
ich einmal mit Herrn Lueger hatte, zu der Zeit, wo er noch ein
kleinerer Herr war und wo er noch glaubte, daß er uns alle einmal
unter seine Fittige kriegen werde. Da hat er immer nur gesagt:
„Dr. Adler, wir müssen miteinander gehen. Wir mit unseren Ge-
werbetreibenden und ihr mit euren Arbeitern, wir werden schon
Ordnung machen." (Heiterkeit.) Ich habe ihm niemals klarmachen
können, daß zwischen uns eine Kluft ist, das versteht er überhaupt
nicht, für Prinzipien und Programme hat er keinen Sinn. So hat er
wieder einmal im Parlament zu mir gesagt: „Wir müssen zu-
sammengehen. Wenn es dann einmal dazu kommt, hängt ihr die
arischen Ausbeuter auf und wir die jüdischen Ausbeuter!" (Heiter-
keit.) Das war ja ein Vorschlag zu einem Kompromiß; ich habe ihm
darauf geantwortet, daß ich nicht in der Lage bin, dieses Kom-
promiß anzunehmen. Ich sagte ihm: „So dumm sind wir nicht, daß
Kandidatenrede für den Landtag. 173
wir uns von Ihnen betakeln lassen. Denn wenn es dazu käme,
würdet ihr mit den paar jüdischen Ausbeutern bald fertig sein und
wir hätten lebenslänglich nichts zu tun, als Ausbeuter aufzuhängen,
und das ist uns zu langweilig." (Lebhafte Heiterkeit.) Das hat er
aueh eingesehen und ist nicht weiter mit seinem Vorschlag ge-
kommen.
Es ist charakteristisch, daß die Antisemiten diesen Judenpunkt
jetzt nur mehr bei feierlichen Gelegenheiten hervorheben. Die
Christlichsozialen haben von ihrem ganzen Programm nichts ge-
halten, nicht einmal das Versprechen, daß sie die Juden bekämpfen
wollen. Wenn man dem Lueger sagt: „Du willst die Juden be-
kämpfen und hast deine Gasrohren vom Juden Rothschild in Wit-
kowitz machen lassen!", dann sagt der Lueger: „Wo soll ich denn
die Gasröhren hernehmen? ' Soll ich sie beim Klempner machen
lassen?" (Heiterkeit.) Er hat ganz recht, er kann sie wirklich nur
beim Großkapitalisten machen lassen, aber wenn ein anständiger
und ehrlicher Mensch das weiß, dann sagt er nicht, daß man mit
den Juden keine Geschäfte machen darf, und er verspricht nicht
etwas, wovon er weiß, daß er es nicht wird halten können. Nicht,
daß er die Gasröhren dort bezieht, wo er sie kriegt, ist die Nieder-
trächtigkeit, sondern, daß er seinen Wählern Sand in die Augen
gestreut und ihnen vorgeschwindelt hat, daß er anders wirtschaften
werde als die anderen vor ihm. Der ganze Antisemitismus der
Christlichsozialen besteht darin, daß ab und zu, wenn es niemand
geniert, dem Schneider oder sonst einem dieser Herren erlaubt
wird, auf die Juden loszuknurren. Der Lueger hat es selbst einmal
gesagt: „Der Schneider ist zwar etwas bissig, aber manchmal muß
man ihn doch loslassen." (Heiterkeit.) So hat sich auch dieses
Schlagwort als Schwindel erwiesen.
Ordnung im Lande oder Bankrott?
Nun kommt ein drittes Schlagwort, das ist die Ordnung im
Lande Niederösterreich, die die Christlichsozialen angeblich ge-
schaffen haben. Vorige Woche habe ich ein Blatt in die Hand be-
kommen, das von unserem verehrten Gemeinderat und Stadtrat
Bielohlawek geschrieben ist, ein Blatt, das sich dadurch aus-
zeichnet, daß es so gedruckt ist, daß man die Aufschneidereien
gleich als Plakat verwenden kann. Auf der rückwärtigen Seite, wo
die Börsengeschäfte besprochen werden, sind allerdings kleinere
Lettern angewendet, das brauchen nicht alle Leute zu verstehen,
welche Beziehungen zwischen dem Blatt und den Wechselstuben
bestehen. Auf der ersten Seite wird nun in solchen Riesenlettern
erzählt, daß die Liberalen vier Millionen Schulden hinterlassen
haben, während die Christlichsozialen in den sechs Jahren durch
ihre Weisheit und durch ihre ausgezeichnete Finanzwirtschaft nicht
nur dieses Defizit beseitigt haben, sondern noch drei oder vier
Millionen bar in den Kassen liegen haben. Über dieses Kapitel habe
ich schon im Landtag gesprochen, und es hat auch der Finanz-
minister des Landes, der Landesausschuß Schöffel, drastisch die
174 Adler im Landtag.
Lüge von der Ordnung im Lande widerlegt. Die Umlagen
sind um die Hälfte erhöht worden, der Steuer-
exekutor muß die Steuerschraube bis auf das
Mark der Knochen der Steuerträger anziehen.
Aber das ist leider noch nicht alles, sondern mit allen diesen Kün-
sten ist die Finanzlage des Landes so schlimm geblieben, daß
Landesausschuß Seh ö fiel sagen mußte: „Jubilieren Sie nicht,
i m Jahre 1911 sind w i r fertig mit dem, was wir bis
heute dem Volke abgepreßt haben, und Sie werden
dann vielleicht das Jubiläum des S t a a t s b a n-
krotts vom Jahre 1811 mit einem allgemeinen
Staats-, Landes- und Qemeindebankrott feiern
können!" So ist es, und wenn die Christlichsozialen auf die er-
sparten Millionen hinweisen, so antworten wir ihnen: Die Be-
völkerung hat diese Millionen erspart, die Spar-
büchse war aber der Sack des Fiskus, das Steuer-
amt war die Sparkasse, wo das Geld angelegt
wurde. (Lebhafter Beifall.)
Die nationale Frage.
In der letzten Zeit wurde von meiner Stellung zur nationalen
Frage gesprochen, und da wurde von der einen Seite behauptet,
ich hätte die Deutschen verraten und von der anderen Seite, ich
hätte die Tschechen verraten. (Heiterkeit ) Ich traue mir viel zu.
Aber so viel Geschicklichkeit, um zu gleicher Zeit Deutsche und
Tschechen zu verraten, geht doch über meine Kräfte. (Heiterkeit.)
Es wurde auch behauptet, ich hätte vor der letzten Landtagswahl
den Tschechischnationalen irgendwelche Zugeständnisse gemacht,
um gewählt zu werden, das ist selbstverständlich eine Lüge. Ich
habe vor meiner Wahl auch über die nationale Frage gesprochen
und habe da dasselbe gesagt, was ich immer gesagt habe. Wir
Sozialdemokraten stehen auf der festen prinzipiellen Grundlage
unseres Programms. Wir haben überall in erster Linie die Inter-
essen der Arbeiterklasse und die Interessen der einzelnen Arbeiter
zu wahren, und zwar alle ihre Interessen, auch ihre nationalen und
kulturellen Interessen. Es ist ganz selbstverständlich, daß wir für
die tschechischen Arbeiter in Wien wünschen, daß sie den wirt-
schaftlichen Kampf hier führen können, wozu eines der Hauptmittel
ist, daß sie die deutsche Sprache vollständig in ihrer Gewalt haben,
und dann, daß auch ihr nationales Interesse gewahrt werde, daß
ihnen die Möglichkeit gegeben wrerde, Tschechen zu bleiben, wenn
sie Tschechen bleiben wollen. Das ist unsere Ansicht; aber chauvi-
nistischen Schwindel — ob deutschen oder tschechischen — unter-
stützen wir nicht! Das ist unsere Ansicht, und wenn die
Tschechischnationalen daraus den Schluß ziehen, daß sie für mich
stimmen werden, dann wrerde ich sie nicht hindern; wenn sie aber
nicht für mich stimmen wollen, dann sollen sie es bleiben lassen.
Für uns ist die Wahl nicht ein Geschäft mit unseren Prinzipien.
(Beifall.) Hinzufügen möchte ich noch, daß der Landtag mit allen
Am Vorabend der Wahl. I7r>
diesen Dingen nichts zu tun hat, und daß zum Beispiel der Antrag
Kolisko*) nur ein demagogischer Antrag ist, von dem der Antrag-
steller selbst sehr wohl weiß, daß er nicht in die Kompetenz de;
Landtages fällt und daher niemals sanktioniert werden kann.
Weg mit der christliehsozialen Majorität!
Der Redner bespricht sodann noch die Schulfrage und die Frage
des Kompromisses mit anderen Parteien. Unsere Politik ist einfach:
Wo wir Sozialdemokraten stark genug sind, daß wir Aussicht
haben, einen Sozialdemokraten in den Landtag zu bringen, werden
wir selbstverständlich gegen alle Parteien allein auf-
treten. Wir kennen die Liberalen und setzen nicht unsere Hoff-
nung auf sie. Wenn die Liberalen heute so stark wären, wie es die
Christlichsozialen sind, so würden wir ihre Majorität zu sprengen
trachten; da aber die Christlichsozialen heute in der Majorität sind.
so haben wir die Pflicht, ihre Majorität zu brechen. In den Be-
zirken, wo wir nicht allein die Christlichsozialen beseitigen können,
werden wir, unbekümmert um alles Geschrei, den Gegnern
der Christlichsozialen unsere Stimme geben.
(Lebhafter Beifall.)
Am Vorabend der Wahl.
Versammlung am 4. November 1902**).
Ich habe das Vertrauen, daß es uns morgen gelingen wird, mit
unserer ehrlichen Arbeit, mit unserer Begeisterung den Wahl-
schwindel der Christlichsozialen wettzumachen. Ich habe das Ver-
trauen zu unserem Siege, wie ich das Vertrauen habe zum Siege
unserer Sache überhaupt. Nicht um meine Person handelt es sich
heute, sondern es geht darum, zu beweisen, daß nicht alles in
Österreich bis in das Zentrum der Arbeiterschaft hinein in den
Klauen der Luegerei ist, daß nicht alles der Lüge und Gemeinheit
und Niederträchtigkeit verfallen ist. (Stürmische Zwischenrufe, leb-
hafter Beifall.) Ehemals dachte ich, Dr. Lueger glaube alles, was
er sagt. Aber ich habe jetzt die Überzeugung gewonnen, daß er mit
Bewußtsein Infamien begeht, und daß es nichts gibt, was ihm zu
schlecht und zu gemein ist, wenn es ihm nur augenblicklich nützt.
*) Der deutschnationale Landtagsabgeordnete Dr. Kolisko stellte
immer wieder den Antrag, daß an allen Schulen Niederösterreichs, aueh den
privaten, nur die deutsehe Unterrichtssprache zulässig sein solle. Das sollte
sieh gegen den „Komensky-Verein" richten, der in Wien eine tschechische
Privatsehule erriehtet hatte. Aber obwohl der Antrag von den Deutseh-
nationalen, später aueh von den Christlichsozialen, als Antrag Axmann,
immer wieder eingebracht wurde, war er nicht ernst gemeint und wurde
von den Antragstellern selbst immer wieder zurückgestellt, wenn es die
.Taktik" erforderte. Auf die Tschechen mußte er natürlich als Provokation
wirken und das war ja wohl auch sein Hauptzweck.
*■*) Am Vorahend der Wahl hielten die Favoritner noch eine Massen-
versammlung ah, in der als Hauptredner Daszynski sprach. Nach ihm
prach auch Adler.
176 Adler im Landtag.
(Laute Pfui-Lueger-Rufe!) Diese Überzeugung habe ich seitdem,
wo ich gesehen habe, daß er mit Bewußtsein seinen Lohnschreibern
diktiert hat, sie mögen die Frauen von Favoriten beschimpfen.
(Große Erregung in der Versammlung, daß der Redner mehrere
Minuten lang nicht weitersprechen kann. Immer wieder ertönt der
Ruf: Pfui Lueger!)
Dr. Adler kommt nun auf den Wahlaufruf Prochazkas*) zu
sprechen, in dem es heißt: Was hat Dr. Adler im Landtag geleistet?
Nichts und wieder nichts. (Lautes Gelächter.) Das ist wahr. Ich
habe einen Antrag gestellt, daß den Schulkindern zu essen gegeben
werde, und daß man 20.000 Kronen dafür verwende. Der Antrag
wurde abgelehnt. Ich habe den Antrag gestellt, daß man 50.000 K
für die Arbeitslosen verwende. Dr. Lueger ist aufgestanden und hat
erklärt: Es gibt keine Arbeitslosen. Der Prochazka hat ihm das
bewiesen. Mein Antrag wurde abgelehnt. Ebenso mein Antrag, daß
300.000 K für tuberkulöse Kinder verwendet werden. Alle meine
Anträge wurden abgelehnt. Ich habe also nichts geleistet, nichts
durchgesetzt. Das ist wahr, und es ist nur meine Schuld. Hätte ich
beantragt, daß ein paar neue Kirchen gebaut oder dem Dr. Lueger
ein Denkmal errichtet werde, so hätte ich das durchgesetzt, so
hätte ich etwas geleistet (Heiterkeit) und Prochazka hätte nicht
sagen können, ich sei für gar nichts in den Landtag gewählt worden.
Aber ich glaube, dazu haben Sie mich nicht in den Landtag gewählt.
(Lebhafte Heiterkeit und Beifall.) Wenn Sie wollen, daß einer
hineinkomme, der etwas durchsetzt, das heißt, der so ist wie die
anderen, so wählen Sie den Prochazka, wenn Sie aber wollen, daß
dort einer die Wahrheit sage, wenn Sie wollen, daß das, was die
Arbeiter über die Luegerei denken, ausgesprochen werde, so
werden Sie mich wählen. (Stürmischer Beifall.) Wenn Sie morgen
alle Ihre Pflicht tun, so ist mir nicht bange um den Ausgang der
Wahl. Dann wird Favoriten seine Ehre wahren und wird rot
bleiben, wie es bisher war. (Stürmischer Beifall und Hoch-
rufe.)
Nach der Stichwahl.
Versammlung am 7. November 19 02**).
Wir sind mit ein paar Stimmen durchgefallen. (Pfuirufe.) Be-
ruhigen Sie sich! Politisch ist das nicht von so großer Bedeutung.
*) Julius Prochazka war auch 1897 gegen Adler gewählt worden.
Jetzt war er derjenige, unter dessen Namen, da er ja als Reichsratsabge-
ordneter immun war, die Flugblätter der christlichsozialen Partei heraus-
gegeben wurden. So konnte man straflos die schamlosesten Verleumdungen
gegen die Gegner vorbringen. Später gaben die Christlichsozialen sogar
unter der verantwortlichen Redaktion des unverantwortlichen Prochazka
eine eigene Lügenzeitung „Der Reichsratswähler" heraus. Diesmal kandi-
dierte er auch für den Landtag gegen Adler.
**) Bei der Landtagswahl in Favoriten am 7. November 1902 war in der
Stichwahl Adler mit 6223 Stimmen gegen den Christlichsozialen
Prochazka (6262 Stimmen) unterlegen. Der schamlose Wahlschwindel der
Christlichsozialen hatte gesiegt. Im ersten Wahlgang hatte Adler 5730,
Nach der Stichwahl. 177
Aber es ist eine k r o li c Sache, daü dieser Bezirk trotz der u n-
geheuren Dinge, die heute hier vorgegangen sind, den
Christlichsozialen die W;ikrc halten konnte. Wir sind einer
Koalition von Amtsmißbrauch und Bestechung gegenübergestanden,
wie sie nicht ärger aufzutreiben war. Mit Stolz können wir sagen:
An ehrlicher, gründlicher, begeisterungsvoHer
Arbeit ist von uns (iroßes geleistet worden. Das Mandat?
Die Sozialdemokraten waren bisher durch einen Mann im Land-
tag vertreten, sie sind es auch jetzt. Früher hieß er Adler, jetzt
Seit z*). Was mir leid und weh tut, das ist nur dies, daß eure Hin-
gebung, eure rührende Arbeit, eure liebevolle, unermüdliche Arbeit
nicht gelohnt wurde. Ich danke jedem einzelnen und jeder einzelnen
aufs herzlichste, nicht in meinem Namen, sondern im Namen der
Partei, der Sozialdemokratie. Sie werden, wenn es wieder
dazu kommt, wieder auf dem Platze sein. (Jubelnde Zustimmung.)
Nicht in einem einzigen ist das Bewußtsein erschüttert worden, daß
wir schließlich doch siegen werden und siegen
müssen! (Brausender Beifall.) Wenn es keine Gemeinheit,
keinen G e 1 d s a c k, keinen Aberglauben gäbe, was hätten
wir denn zu tun? Wir haben 500 Stimmen mehr wie vorgestern.
Das will was bedeuten, denn wir müssen ja unsere Leute nicht bei
allen vieren zur Wahl zerren wie unsere Gegner. Wenn es möglich
war, daß tausende Arbeiter wieder einen Arbeitstag geopfert haben,
so ist das ein großer Beweis von Opferfreudigkeit. Nach dieser
glänzenden — - Niederlage rufen Sie mit mir: Hoch die Sozial-
demokratie! (Stürmische, begeisterte Hochrufe.) Nieder
mit den Volksbetrügern! Nieder mit der Gemein-
heit! (Nichtendenwollende Entrüstungsrufe.)
Noch eines. Dieser Tag soll Sie nicht noch mehr Opfer kosten
als notwendig ist! Sie haben ihre Nächte, Ihren Verdienst,
Ihre Arbeit geopfert. Opfern Sie nicht noch Ihre
geraden Gliedern den Hunderten von berittenen
und. un berittenen Polizisten! Unsere Schädel sind zwar
stark, aber die Polizistensäbel sind noch stärker! Lueger hat
veranlaßt, daß sechshundert Polizisten nach Favoriten
dirigiert wurden. (Pfuirufe.) Tun Sie es mir zuliebe und gehen Sie
ruhig und langsam nach Hause! Singen wir das Lied
der Arbeit und gehen wir dann nach Hause**)!
Prochazka 5638 Stimmen. Dr. Adler hielt sofort im Arbeiterheim in Favo-
riten eine Versammlung ab, um die über die christlichsozialen Wahl-
schwindeleien und die Niederlage furchtbar erregte Masse zu beruhigen.
Die Situation war um so bedrohlicher, als auf Verlangen Lueger.^
6 00 Wachleute Favoriten besetzt hatten und dadurch die
Gefahr von Zusammenstößen vergrößert war.
*) In Floridsdorf hatte Karl S e i t z, der Organisator und Führer der
Wiener jungen Lehrerschaft, von 2723 abgegebenen Stimmen 1549, der
christlichsoziale Landesausschuß Richter 1170 Stimmen erhalten. Seitz
war also mit Kroßer Mehrheit gewählt.
> Die Massen setzten sich in Bewegung. Hochrufe auf Adler, Pfuirufe
auf Prochazka ertönten. Noch einmal sprach Adler: „Entladen Sie hier ihre
Adler, Briefe. XI. hd. 12
178 Adler im Landtag.
Das Denkmal des Polizeieinbruchs,
E n t li ü 1 1 u n g a in 1 2. F e b r u a r 1 9 0 5*).
Genossen und Genossinnen! Wir feiern heute einen echt öster-
reichischen Gedenktag, einen Gedenktag österreiehiseher Sicher-
heit, österreichischer Freiheit, österreichischer Gerechtigkeit. (So
ist es!) Wir feiern heute die Erinnerung an einen Tag unseres
Kampfes und unserer „Niederlage" und einen Tag des Rechts-
bruches und der Niedertracht unserer Gegner. Parteigenossen!
Wer von Ihnen, der in diesem Saale war, als wir am 7. November
1902 hier erfuhren, wie die Stichwahl für den Landtag ausgefallen
ist, der die Empfindungen der Freude und der Genugtuung über die
von der Arbeiterschaft Favoritens geleistete Arbeit und der die
Empörung über den uns durch niederträchtige Mittel der List ent-
wundenen Sieg hier miterlebt hat, erinnert sich, daß trotz der
größten Erregung, daß, trotzdem eine Woche des erbittertsten
Kampfes hinter uns war und alle Nerven gespannt waren, die hier
versammelten Arbeiter gehobenen Hauptes ruhig wie immer den
Saal verließen. Draußen auf der Straße waren die „Sieger". Nicht
in eigener Person, aber ihre Protektoren und ihre Werkzeuge. Wir
haben immer gewußt, daß uns in diesem Staate gegenüberstehen
nicht nur eine andere Meinung und ein arideres Interesse. Das ist
Entrüstung! Ruten Sic draußen nicht Pfui! Ich ergreife jetzt den Vorsitz
und schließe die Versammlung. Gehen wir ruhig nach Hause!"
Diese von dem Verantwortlichkeitsgefühl Adlers zeugenden Worte taten
ihre Wirkung: die Arbeiter zogen langsam ab. Um auch auf die vor dem
Arbeiterheim stehenden Massen beruhigend zu wirken, trat Adler an ein
Gassenfenster im Mezzanin und forderte auch von dort aus die Arbeiter
auf, ruhig nach Hause zu ziehen. Langsam setzte sich der Zu:*i
in Bewegun g.
In der Eugengasse war es inzwischen zu einer Säbelattacke der Wach-
leute gekommen und, ohne daß bis heute ermittelt werden konnte, wie
das gekommen war, marschierten die Wachleute zum Arbeiterheim zurück
und drangen in das Haus über die Freitreppe, zerschlugen die Fenster und
hieben mit den Säbeln auf die weggehenden Arbeiter ein. 15 Schwer-
verletzte und eine große Anzahl Leichtverletzter blieben auf der Strecke.
Ärger als Kosaken haben damals die zum Teil betrunkenen Wachleute
gehaust.
Eine ausführliche Schilderung dieses Polizisteneinbruches ist in der
Gedenkschrift zum 25jährigen Bestehen des Arbeiterheims enthalten. Eine
Sühne für den Einbruch ist nie erfolgt.
*) Schon am Tage nach dem Polizeieinbruch in das Arbeiterheim am
7. November 1902 wurde die Anregung zur Errichtung einer Gedenktafel
gegeben. Diese ist vom Architekten G e ß n e r entworfen.
Die Enthüllung fand am 12. Februar 1905 statt. Adler hielt die Gedenk-
rede.
Siehe die Schilderung des Polizisteneinbruchs oben bei der Rede Adlers
nach der Stichwahl.
Das Denkmal des Polizeieinbruchs. 17'*
überall, und nirgends hat die Sozialdemokratie eine freie breite
Straße zum Siege. Wir haben liier immer gewußt, dalj uns außer
anderen Anschauungen und Interessen gegenübersteht eine Rotte
von Menschen ohne Gesinnung, ohne Schani, ohne Ehrgefühl, eine
Rotte, die zu allem fällig ist.
Diese Leute haben den Sieg vorweggenommen. Sie haben ihre
Soldateska, ihre Polizisten, besoffen gemacht, SO wie
man drüben in Polen und Rußland die Polizisten in die Branntwein-
schenken bringt und sie zu wilden Tieren macht. Wir haben die
Alkoholquantitäten «eschen, mit welchen die Luegerei den Poli-
zisten die Begeisterung eingehaucht hat. (Sehr richtig!) Nachdem
sie besoffen waren, wurde verübt, was ein Verbrechen nach jeder
Richtung war: gegen das Gesetz, gegen die Menschlichkeit und
gegen die eigene Autorität, die so hochstehen soll. Sie sind hier ein-
gedrungen mit geschwungenem Säbel und haben auf das Häufchen.
das noch hier war, losgedroschen, auf Männer, Frauen und Kinder.
(Pfui!) Damit man wisse, wer uns hier besucht hat, haben sie wie
echte Besoffene in dummer, teuflischer Lust auch auf die Gläser
losgedroschen.
Man vergißt leicht. Es liegt in der Natur jedes Menschen, daß
er den gerechtesten Zorn zurücktreten läßt, und es ist gut so. Denn
wie könnten wir leben, unsere tägliche Arbeit tun, wenn vor uns
fortwährend stünde das Bild des Rechtszustandes dieses Staates
in seiner vollen Wucht, wenn wir in fortwährender Empörung
wären? Aber so gut es ist, daß man sich beruhigt, so nötig ist es.
daß man sich erinnert. Weil wir immer hören von Recht
und Sicherheit und Gesetz, ist es gut, daß wir nicht vergessen,
welche Barbarei auf dem Boden dieses Rechtsstaates liegt. Die
Genossen, die hier eine Erinnerung geschaffen haben, haben ein
gutes Werk getan. Es war ein guter Gedanke, der österreichischen
Justiz nicht zu trauen und die Missetäter selbst zu bestrafen. Die
Schande der österreichischen Behörden, der österreichischen Justiz,
der gesamten Bürokratie von unten bis hinauf zu dem Minister-
präsidenten, jenem hochmodernen, aufgeklärten Körber, hat man
zugedeckt mit einer schönen Untersuchung, die ein neuerliches
Vergehen am Recht und an der Gerechtigkeit war. Man hat sehr
aufgeregt getan, es gab Untersuchungen durch den Polizeipräsi-
denten und den Minister des Innern. (Heiterkeit.) Man hat aber
die Polizisten nicht herausfinden können, die das
hier verübt haben. (Erneuerte Heiterkeit.) Wenn einer von Ihnen
auf dem Rückweg von einer Versammlung mit einem Wachmann
in Konflikt käme und an ihn anstreifen würde, um ihn aufmerksam
zu machen, daß sein Rock nicht ganz sauber ist: das Verbrechen
der öffentlichen Gewalttätigkeit, bestraft mit vielen Monaten
Kerker, wäre ihm sicher und man hätte den Verbrecher. Aber hier.
wo es sich um bewaffnete, numerierte Einbrecher gehandelt
hat, wo es sich herausgestellt hat, daß niemand den Auftrag ge-
geben hat, einzubrechen, wo die Reputation der Polizei
auf dem Spiele gestanden, hat man die Verbrecher nicht finden
12*
180 Adler im Landtag*.
können. Man hat gesucht, aber nicht die Schuldigen, sondern
( iründe zur V e r t u s c h u n g, zum Schutze der Schul-
digen. Das ist gelungen, trotz unserer Bemühungen, und nicht
einmal ein Disziplinarvergehen hat man gefunden.
Alle diejenigen, die für die Ehre und Würde, für die Autorität des
Staates, für die Achtung vor dem Gesetz zu sorgen haben, alle
diese Instanzen sind solidarisch für das von den Polizisten be-
gangene Verbrechen eingetreten. Sie haben sich selbst befleckt mit
diesem Verbrechen. (So ist es!)
Es gibt allerdings noch Leute, die gemeiner sind, die noch
niederträchtiger sind, die moralisch und geistig noch tiefer stehen.
Die ganze Bevölkerung, auch Gegner, hat aufgeschrien vor Zorn.
Aber Leute haben aufgeschrien nicht vor Empörung, sondern vor
Schadenfreude, aus Gemeinheit. Das waren die christlichsozialen
Politiker, das war der Herr L u e g e r. Die Tafel unten soll uns
nicht nur mahnen, daß der Rechtsbruch das tägliche Brot in diesem
Lande ist, sondern auch, daß wir Gegner haben, die so niedrig,
geinein und schurkisch sind wie nirgends, daß der Dr. Karl
L u e g e r im offenen Parlament die Untat uns aber wegen eines
politisch harmlosen Wirtshausstreites „Meuchelmörder" ge-
nannt hat. (Stürmische Pfuirufe!) Ich verstehe die Leidenschaft des
Gegners, wie ich meine verstehe, und nehme es niemand übel, daß
er mich so behandelt wie ich ihn. Aber wenn der erste Würden-
träger der Stadt die gröbste, infamste Verleumdung gegen unsere
Partei geschleudert hat, so lag das nicht auf politischem Gebiet.
Ein Mensch, der das tut, ist entweder ein unheilbarer Narr oder ein
niederträchtiger Schurke. (Laute Ausrufe der Entrüstung.) Erinnern
Sie sich, wie man nach der vorletzten Landtagswahl die Frauen,
die sich mit einem Opfermut sondergleichen an dem Kampfe be-
teiligten, Prostituierte genannt hat*). Das Monument, das hier gesetzt
worden ist, soll uns auch erinnern an die Kultur der Anständigkeit
der Kerle, die uns hier beherrschen. (Lebhafter Beifall.)
Ich danke den Genossen, die die Errichtung des Steines an-
regten, im Namen der Arbeiter von Favoriten, im Namen der
Arbeiter von ganz Wien, im Namen aller derer, die an dieser Tafel
neuen Entschluß, neue Kraft suchen werden und die dafür sorgen
werden, daß sie ein Denkmal bleibe für jene Zeit, wo wir befreit
sein werden von Gerneinheit und Unrecht. Sie ist ein Pranger für
die Träger der Justiz und Sicherheit in Österreich, ein Erinnerungs-
zeichen für uns, die nur eine Wohlfahrt, Recht, Freiheit und Sicher-
heit in diesem Österreich schaffen wollen. Wir werden nun das
Denkmal ansehen und es in unsere Hut nehmen. Eines haben wir
zu antworten, das, was uns den Sieg bringen wird: Hoch die inter-
nationale Sozialdemokratie!
*) Siehe Adlers Rede im Landtag über die „M arodeure des
Klerikalismus" vom 11. Juli 1901 (Bd. VIII, Seite 430) und seine
Rede vom 5. Juli 1901 über die „Z e i t u n g s s t r o 1 c h e" (in diesem Bande).
Die Antwort der Favoritner. INI
Die Antwort der Favoritner.
F ii n f V c r s a m m I u n g e n a m I 2. Novo m I) er L 902* I.
So ist es immer. Wenn Arbeiter irgendwo zusammenkommen,
müssen die Polizeihäuptlinge ihre Notwendigkeit demonstrieren.
Aber an diesem Abend hat sieli gezeigt, was in solchen Fällen noch
nicht da. war. Hier war es nicht gewöhnliche Streberei der Poli-
zisten, sondern es war Parteihaß am Werke: die spezielle Partei-
leidenschaft der Christlichsozialen, die nichts anderes ist als Roheit,
Gemeinheit und Brutalität. (Stürmische Zustimmung.) Wenn es
möglich ist, dal] der Bürgermeister von Wien, das Haupt der
christlichsozialen Partei, im Parlament die infame Verleumdung
wagt, die sozialistische Partei als Meuchelmörder zu bezeichnen.
weil bei einer Rauferei ein Mann gestochen wurde, was soll man
dann von den Polizisten erwarten? Lueger-Horde u n d P o 1 i-
z i s t e n, sie gehören zusammen. Ihre innerste Natur ist ja
dieselbe, Lueger hat, als er in der Gemeinde zur Macht kam, damit
angefangen, daß er einem geständigen und bekannten Naderer bloß
deshalb, weil er ein Naderer war, die Salvator-Medaille**) verlieh,
und er hat seine Partei damit für alle Zeiten gekennzeichnet. (Rufe:
Spitzelpartei!)
Am Freitag wurde auf der Straße eine ganze Reihe harmloser
Leute von Polizisten schwer verletzt, gestoßen, beschimpft, ge-
hauen, geprügelt. Aber daran sind wir schon gewöhnt, und das ist
es gar nicht, was diese Aufregung hervorgerufen hat. Am Freitag
ist es aber zum erstenmal geschehen, daß Polizisten ein Verbrechen
begingen, das nicht, wie sonst die Verbrechen, abgeleugnet werden
kann. Hier in unser Haus ist eine Horde von Polizisten eingebrochen,
ohne jeden Grund, ohne Auftrag, wie es heißt. Warum? Aus Haß
gegen die Arbeiter, aus Haß gegen die Gegner
Lueger s, aus blinder Wut gegen die sozialdemo-
kratische Arbeiterschaft. Sie sind herein-
gestürmt in dieses Haus, weil es den Christlich-
sozialen ein Dorn im Auge ist! (Stürmische Pfuirufe.) Sie
fluchen und beschimpfen uns, dieses schöne Haus, sie wollen es uns
verekeln durch Anwürfe aller Art, und die Wut, daß sie uns nicht
ankönnen, hat diese zwanzig besoffenen Kerle hereingebracht.
(Laute Zustimmung.) Wie diese Leute da hereinstürmten, wie sie
in blinder Wut auf Menschen und Biergläser losgingen, da hatte
*) In fünf großen Versammlungen gaben die Favoritner Arbeiter Ant-
wort nicht nur auf den Polizisteneinbruch, sondern auch auf die Infamie,
mit der die christlichsoziale Presse einen Raufhandel in einem Favorjtner
Wirtshaus, bei dem ein in Zivil gekleideter Wachmann verwundet wurde,
in einen sozialdemokratischen Mordversuch auf einen Wachmann hatte
umlügen wollen, obwohl schon die volle Wahrheit festgestellt war.
**) Lueger hatte einem Friseur, Pfister, der einen seiner Kunden
we^en Majestätsbeleidigung denunziert hatte, die Salvator-Medaille, das
Ehrenzeichen der Gemeinde, verliehen, die seither von allen anständigen
Menschen als „P f i s t e r - M e d a i I 1 e" in Acht getan war.
182 . Adler Im Landtag.
man den Eindruck einer Morde von Wahnsinnigen, den Kin-
druck, daß das eine plündernde Schar von Feinden
ist, die da komme n.
Aber so gemein, so niederträchtig und roh dies ist, was da ge-
schehen ist, das ist noch nicht das Ärgste. Die Polizei in Wien ver-
fügt über 2000 bis 3000 Wachleute, und es wäre kein Wunder, wenn
sich unter dieser Armee von Leuten eine Anzahl roher Rüpel, eine
Anzahl von Verbrechern befindet. Aber wenn diese Leute dann
Verbrechen begehen, so haben diejenigen, die dieses Korps leiten,
vor allem die Verbrecher herauszugreifen, sie zu verhaften und
dem Gericht einzuliefern. Wenn sie es aber nicht tun — und sie
haben es nicht getan — , so machen sie sich mitschuldig an
diesem Verbrechen. (Stürmischer Beifall.) Der Polizei-
präsident hat uns erklärt, daß er die Untersuchung führt, und der
Ministerpräsident hat erklärt, daß er die Untersuchung kontrolliere.
(Gelächter.) Wir sagen aber: Wir pfeifen auf diese Unter-
suchung; denn wir glauben nicht, daß sie objektiv geführt wird.
Denn der Polizeipräsident hat das allergrößte Interesse daran
- leider, weil er so unverständig ist — , seine Leute zu ent-
lasten, anstatt sie zu strafen! Hätte der Mann einen Be-
griff von der Würde seines Amtes, so muß er sein Korps reinigen
von allen Elementen, die so sind wie die zwanzig, die hier ein-
brachen. (Stürmischer Beifall.) Aber den Begriff hat er wohl nicht.
Diese Polizisten sind ja systematisch dazu erzogen, syste-
matisch auf den Mann dressiert. Man will die
Bluthunde als Bluthunde haben. Man fürchtet, man
könnte es ihnen abgewöhnen, wenn man sie der verdienten Strafe
zuführte. Sie könnten zu einer anderen Auffassung kommen, a 1 s
daß der Arbeiter nur dazu da ist, um für ihre Säbel
als Objekt zu dienen. Manwill die Neigung zur
Gewalttätigkeit, das Machtbewußtsein in ihnen
nicht beseitigen, manwill es eher festigen, weil
auf Unrecht und Gewalttat ihre Macht ruht — nach ihrer törichten
Anschauung. (Stürmischer Beifall.)
Wenn wir in einem Lande leben würden, wo man Respekt hat
vor dem Bürger und seinem Recht, in einem Lande, wo die Ab-
geordneten sich als Vertreter des Volkes fühlen, so würde gestern,
als diese Sache im Parlament zur Sprache kam*), das ganze Haus
aufgestanden sein und sich gegen den Minister gestellt haben. Der
größte Feind unserer Partei — wenn er nur ein ehrlicher Mensch
ist — hätte mit uns dagegen protestieren müssen, daß
der Arbeiter ein Freiwild ist für die Säbel der
) Pernerstorfcr hatte wegen des Polizisteneinbruches interpelliert.
Körber antwortete mit einer Verteidigung der Polizei, die von den Sozial-
demokraten angegriffen worden sei, und erklärte, daß vom Polizeidirektor
bereits eine Untersuchung im Zuge sei. Ein Antrag Pernerstorfers, über
diese Debatte die Debatte zu eröffnen, wurde abgelehnt, ja als Perner-
storfer von den christlichsozialen Fanghunden in der Uniform
der Sicherheitswache sprach, drohte ihm der Präsident das Wort zu ent-
ziehen.
I >ie Aniuoi t der Favoi Itnei . 183
Polizisten, und daß eine solche Gewalttat ungestraft begangen
werden dürfe. Was heute uns geschieht, kann morgen den anderen
geschehen, und es wird ihnen geschehen. Die Flutwelle
des Klerikalismus, die heute den Lueger in die Hohe und in SO
nahe Gevatterschaft und Bundesgenossenschaft mit dem Körber
bringt, die wird auch bewirken, dal.» diese Gewalttätigkeit nicht halt-
macht bei den Arbeitern, sie wird z u d e n B ü r g e r n a n cli vor-
dringen, sobald sie rebellisch werden, und ich gestehe, ich
könne es ihnen vom Herzen, ich gönne es ihnen, weil sie
sitzen blieben, als Körber mit ein paar elenden, verlegenen Aus-
flüchten sich über den Skandal hinweghalf, weil sie da sitzen
blieben, wo man erwarten mußte, daß das ganze Haas, vielleicht
mit Ausnahme der sittlich verkommenen Leute auf den Lueger-
Bänken, sich für die Eröffnung der Debatte erheben werde. (Leb-
hafter Beifall.)
Und nun, was können wir tun? Wir können und das werden
unsere Abgeordneten tun — darauf bestehen, daß die Schuldigen
verfolgt werden, und wenn das gelingt, daß wir ihre verantwort-
lichen Führer, daß wir den Polizeipräsidenten und den
Ministerpräsidenten an den Pranger der Ge-
schichte nageln für die Untat, die da begangen
w urde. (Stürmischer Beifall.) Und noch eines können wir, das ist.
daß wir dafür sorgen, daß die Zahl der Sozialdemokraten größer
werde und die Zahl der Knechte kleiner. In diesem Lande ist es
ein Fluch, zu arbeiten und zu leben, solange nicht die arbeitenden
Menschen zu einer großen, imponierenden Macht geworden sind,
solange es nicht möglich ist, mit solcher Macht aufzutreten, daß
jede solche Schandtat verhindert werde.
Wir haben dem Herrn Justizminister und Ministerpräsidenten
fünf Tage Zeit gegeben, zu tun, was seines Amtes ist. Da er es nicht
getan hat, werden wir morgen die Anzeige an die
Staatsanwaltschaft erstatte n*), und wir werden sehen,
was sie zu verfügen geruhen wird! In Österreich wäre es ja schließ-
lich auch nicht unmöglich, daß man uns auch die Rechnung für
verdorbene Säbel vorlegt. (Heiterkeit.)
Unterdessen aber ist etwas anderes notwendig. Der Zustand.
wie er heute besteht, kann nicht so bleiben. Es muß eine gewisse
Beruhigung unter Ihnen eintreten. Sie müssen er-
kennen, daß die ganz berechtigte Wut, die Sie in sich haben, die
Entrüstung, die jeder anständige Mensch mit Ihnen teilt, sich nicht
erschöpfen kann in Flüchen und Beschimpfungen, nicht erschöpfen
kann darin, daß wir den verächtlichen Gegner beurteilen wie
er es verdient, sondern daß diese Kraft der Entrüstung um-
gewandelt werden muß in eine Kraft, die unsere Mühlen treibt, jene
Mühlen, die langsam mahlen, aber gründlich mahlen, in eine Kraft.
die unsere Organisationen groß macht, die neuen Geist, neuen
Eifer, neue heilige Begeisterung für unsere große Sache in alle
) I)ie Staatsanwaltschaft hat auf diese Anzeige geantwortet, daß sie
die Schuldigen nicht feststellen könne.
184 Adler im Landtag.
Herzen bringt. (Stürmischer, andauernder Beifall.) Denn in all
diesem österreichischen Elend gibt es nur einen Trost: Österreich
ist ein elendiger, schmutziger, korrupter Sumpf, aber eines gibt es
da, was groß ist, was siegen wird und dem die Zukunft gehört, das
ist die österreichische Sozialdemokratie. Daß es Arbeiter
hier gibt, die sich in den Dienst der Freiheit
stellen, das sei unser Trost!
Und nun bitte ich Sie um etwas. Lassen Sie nicht noch mehr
Opfer fallen, als bisher schon gefallen sind. 47 Leute haben sich
schon als verwundet gemeldet und viele scheuen sich, ihre Namen
zu nennen, um sich Scherereien zu ersparen. Genug Opfer sind also
gefallen. Überlassen Sie den Kampf mit der Polizei und den Gegnern
jetzt den Abgeordneten. Vor allem aber bitte ich Sie, gehen Sie
nach der Versammlung ruhig nach Hause. Ihre Schädel sind zu gut
dafür, als daß die Polizisten an ihnen sich Rache holen. Denn wie
die auch toben in ihren Blättern, so fühlen sie doch sehr genau, daß
sie diesmal im Nachteil sind, daß wir im Recht und sie im Unrecht
sind vor der ganzen öffentlichen Meinung, und sie möchten gern
eine Gelegenheit haben, die Geschichte umzudrehen. Was wir zu
sagen haben, haben wir gesagt, und das übrige werden morgen
unsere Abgeordneten sagen. Wir aber gehen wieder an unsere
tägliche Arbeit. (Stürmischer Beifall und Händeklatschen.)
In der Frauenversammlun g*).
Ich freue mich, daß Sie mit mir zufrieden sind, auch wenn ich
kein Landtagsabgeordneter bin. (Heiterkeit.) Mir hat's nicht ge-
schadet, wenn's dem Landtag nicht schad't! (Heiterkeit.) Das Land-
tagsabgeordnetenwählen ist nicht das Wichtigste, das wir zu tun
haben. Wir haben mehr Kämpfe. Sie sollen mir nicht — aus-
kühlen! (Heiterkeit.) Lueger hat uns gestern im Parlament
Meuchelmörder genannt. Es war eine Rauferei in einem Wirtshaus.
Der Bürgermeister von Wien ist ein so infamer Schurke,
diese dumme Hochzeitsrauferei als „Meuchelmord" im Parlament
auszugeben. (Pfuirufe.) Arbeiten Sie auch während der Zeit, wo
keine Wahlzeit ist so, als ob Wahlen wären. Versprechen Sie mir
das! (Rufe von allen Seiten: Wir schwören es! Wir ver-
sprechen es!)
*) In der Frauenversammlung, die im kleinen Saale des Arbeiterheims
stattfand, referierte Therese Schlesinger. Nach ihr sprach Adler
einige Sätze.
Reichenberi 1H-'
Das System Bienerth.
Reichenberg.
„A r 3b e i t e r - Z e i t u n g", 19. S e p t e m her I 909*).
Auf klassischem Boden der Sozialdemokratie werden morgen
die Vertrauensmänner des deutschen Proletariats in Österreich
*) Am 6. November 1908 war Beck von der Thronfolgerkamarilla mit
Hilfe der Christlichsozialen gestürzt worden, weil er nicht genügend
energisch gegen den Professor Wahrmund vorging (siehe Adlers Rede
zum Fall Wahrmund in der Budgetdebatte am 3. Juni 1908) und weil er
wiederholt im nationalen Wirrwarr an die Hilfe der Sozialdemokraten
appelliert hatte. (Siehe darüber namentlich die Fußnote zu Adlers Rede
vom 3. Dezember 1908: „Für die Nationen! Wider die nationalistischen
Hetzen!" im Bd. VIII, Seite 144 f.) Mitten im ärgsten nationalen Chaos, da
es in ganz Böhmen nationale Exzesse gab, ließ man Beck fallen und am
7. November wurde der bisherige Innenminister Richard Freiherr v. B i e-
nerth zum Ministerpräsidenten ernannt, der nach Geßmanns Plan alle
bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie einigen sollte. Aber statt
eines parlamentarischen Kabinetts konnte er dem Parlament doch nur
ein Beamtenkabinett vorstellen.
Der Parteitag in Reichenberg, der vom 19. bis 24. September tagte,
trat in einer Zeit völliger Verwirrung des Staates zusammen. Bienerth
hatte das Parlament wieder einmal auseinandergejagt, indem er die
Obstruktion der Slawischen Union als Ausrede benutzte. Vergebens hatte
Adler in der Obmännerkonferenz am 9. Juli die Parteien dazu gebracht,
die Bekämpfung der Obstruktion selbst in die Hand zu nehmen und so
lange zu tagen, bis die Obstruktion niedergerungen sei. Die Obstruktio-
nisten hatten sich darauf bereit erklärt, auf ihre Dringlichkeitsanträge zu
verzichten. Aber die Regierung schloß kurzerhand die Session. Darauf
erließ der sozialdemokratische Verband ein Manifest „An das arbei-
tende Volk aller Nationen Österreichs!", worin er die
Schuld der Regierung und der bürgerlichen Parteien an der Sprengung
des Parlaments feststellte. (Siehe über die ersten Phasen des Systems
Bienerth Adlers Reden im achten Band dieser Schriften, und zwar „Das
Standrecht in Prag" vom 15. Dezember 1908, die „Schließung des Parla-
ments" vom 8. Februar 1909, „Die Sprengung des Parlaments" vom
14. Juli 1909 Bd. VIII, Seite 294 bis 327 — und die dazugehörigen
Fußnoten zu der Situation beim Reichenberger Parteitag, namentlich die
Fußnote auf Seite 315.)
Zum Reichenberger Parteitag, auf dem Adler überdies auch ein Referat
über „Äußere Politik und R ü s t u n g e n" hielt (Bd. IX, Seite 29 f.),
hat Adler in der „Arbeiter-Zeitung" diesen Begrüßungsartikel geschrieben.
186 Das System Bienerth.
zusammentreten. Nordböhmen ist eine der Geburtsstätten der
österreichischen Arbeiterbewegung und der Bezirk Reichenberg
zumal eines der ruhmvollsten Schlachtfelder proletarischer Kämpfe,
in der Geschichte der nordböhmischen Arbeiterschaft spiegelt sich
mit handgreiflicher Deutlichkeit der Gang der kapitalistischen Ent-
wicklung, aber auch damit parallel der bewundernswerte Aufstieg
des Proletariats zum klaren Klassenbewußtsein und zur politischen
Wehrhaftigkeit. In einer Atmosphäre der besten sozialdemokra-
tischen Tradition wird unsere Parteiversammlung tagen, in einer
Luft, die getränkt ist von Kampfesmut und Kampfesfreudigkeit.
Der Parteitag wird reichliche Arbeit zu verrichten haben. Die
Vertrauensmänner der Partei werden Rechenschaft legen über das,
was in den letzten zwei Jahren geleistet wurde. Mit ruhigem Ge-
wissen und bescheidenem Bewußtsein der redlich erfüllten Pflicht
können sie dieser Selbstprüfung entgegensehen. Die deutsche
Sozialdemokratie ist größer und stärker geworden in dieser Zeit.
Nach der ungeheuren Kraftanspannung der Reichsratswahlen gab
es kaum eine Pause der Ermüdung und Ruhe, sondern mit neuem
Eifer wurde sofort das Werk der Propaganda und der Organisation
wieder aufgenommen. Gerade in Deutschböhmen sind die Fort-
schritte, die wir gemacht haben, deutlich, und wenn die Neugestal-
tung unserer Organisation an der Spitze der Aufgaben steht, die
der Parteitag zu erfüllen hat, so vor allem darum, weil dem
Wachstum der Partei, ihrem intensiver und mannigfaltiger gewor-
denen Leben der alte Rahmen nicht mehr genügt. Auf den
schwierigsten Posten waren unsere Vertreter im Parlament ge-
stellt. In engster Solidarität und Kampfgemeinschaft mit unseren
Genossen anderer Nationalität haben sie in unserem Verband der
sozialdemokratischen Abgeordneten in schwerster politischer Zeit
ein Stück schwerster politischer Arbeit geleistet. Während die
bürgerlichen Parteien sich selbst und das Parlament zerfleischten,
während eine rat- und tatlose Regierung das Wirrsal sich bis zum
Gipfel steigern ließ, tat der Sozialdemokratische Verband furchtlos
und treu, besonnen und mutig seine Pflicht. Und die reaktionären
Parteien, deren Traum es war, die Sozialdemokraten einzukreisen,
zu demütigen, zu vernichten, mußten mehr als einmal von ihrem
eigenen Wahnsinn an die sozialdemokratische Vernunft, von ihrer
eigenen Schwäche an die selbstsichere Kraft der Sozialdemokratie
appellieren. Zum zweitenmal ist nun die parlamentarische Arbeit
unterbrochen dank der verbrecherischen Frivolität der Obstruktion
und der feigen Schwäche derer, die die Obstruktion mit lautem
Lamento verfluchen, aber zu kraftlos und zu faul sind, sie zu über-
winden, dank vor allem einer Regierung, die die Impotenz zur
obersten staatsmännischen Maxime erhoben hat. Aber der Boden
des Parlaments wird wieder betreten werden müssen und die
Sozialdemokratie wird von neuem mit Energie und Zähigkeit ihre
Arbeit wieder aufnehmen, wird sein, was sie war: der feste Pol
in der Flucht der Erscheinungen selbstmörderischen Wahnwitzes.
Die sozialdemokratischen Abgeordneten können mit stolzer Ruhe
Reichenben 187
vor ihre Wähler treten, sie sind es nicht-, die die Hoffnungen ent-
täuscht haben, die die Völker an das Hans des allgemeinen Wahl-
rechtes knüpfen. Nichts wäre erwünschter, als daß recht bald die
Probe auf das Exempel gemacht würde. Wenn Herr v. Bienerth
nicht seinen Bankrott erklären und abtreten will, dann ist es seine
Pflicht, an die Wähler zu appellieren, und die Neuwahlen werden
beweisen, wie die Massen über die breitmäuligen Demagogen und
die unfähigen Staatsmänner urteilen.
Der Parteitag wird sich selbstverständlich über die politische
Taktik der Partei aussprechen und er wird ihre Stellung zu dem
neuesten Wirbelsturm chauvinistischer Aufgeregtheit deutlich um-
schreiben. Vermutlich wird die Erörterung der nationalistischen
Ausschreitungen nicht einen besonderen Punkt der Tagesordnung
bilden, wie einige Genossen vorschlagen, denn die Erscheinungen
des nationalistischen Deliriums lassen sich von der Behandlung der
Gesamtpolitik in Österreich leider nicht trennen. Soweit es sich
aber um die Erörterung und Vertiefung des nationalen Programms
der Sozialdemokratie selbst handelt, ist das eine ebenso not-
wendige wie schwierige Aufgabe, die aber klarerweise nur ge-
meinsam mit unseren Genossen anderer Zunge gelöst werden kann.
Das hat in. einer Debatte, deren sachlicher Ernst und von Ver-
antwortungsgefühl getragene Besonnenheit wohl anerkannt werden
darf, der Prager Parteitag unserer tschechischen Genossen auch
seinerseits als einzig zweckentsprechend festgestellt. Die deutschen
Sozialdemokraten waren sich der Notwendigkeit, die Grundlinien
für ein gemeinsames nationales Programm gemeinsam zu er-
arbeiten, stets bewußt und haben bei aller pflichtmäßigen Wahrung
der Bedingungen des nationalen Lebens des deutschen Volkes auch
in den schwierigsten Lagen trotz mancher Meinungsverschieden-
heit die engste Kampfessolidarität mit den Bruderparteien zu
wahren gewußt. Gemeinsam trotzen wir dem Ansturm der Natio-
nalisten von allen Seiten, getragen von Liebe zum eigenen Volke,
gestärkt durch das unzerreißbare Band der internationalen Solida-
rität des Proletariats.
In dieser Zeit, wo alles wieder einmal wankt in diesem Lande,
wo alles problematisch geworden ist, Reich, Staat und Länder,
Verfassung und Verwaltung, in dieser Zeit, wo eine schwere wirt-
schaftliche Krise die Lebenshaltung der arbeitenden Massen
heruntergedrückt hat, finden es unsere Regierenden für gut, mit
neuen, geradezu wahnwitzigen Forderungen für den Militarismus
hervorzutreten, sofort auch die Rechnung zu präsentieren in ebenso
dreisten wie unreifen Finanzplänen, in denen nur eines deutlich ist:
daß sie auf die Ausplünderung der breiten Massen hinauslaufen,
derselben Massen, deren notwendigste Lebensbedingungen man
dem Zugriff der Agrarier preisgibt. Die Sozialdemokratie wird
darauf die Antwort nicht schuldig bleiben und der Parteitag wird
sie unmißverständlich formulieren. Schon hat die Furcht vor der
Sozialdemokratie die bürgerlichen Parteien eingestandenermaßen
genötigt, den staatlichen Biersteuerplänen einen ungewohnt ein-
188 Das System Bienerth.
mutigen Widerstand zu leisten, und wir werden es verstehen, den
Herren auch fernerhin den Rücken zu steifen. Die Bewilligung
neuer Steuern im Galoppschritt, aber die Verschleppung der Alters-
und Invalidenversorgung, das ist das sozialpolitische Programm
der Regierung und ihrer bürgerlichen Stützen. Die sozialdemo-
kratische Arbeiterschaft wird ihre Antwort darauf finden.
Schwere Arbeit und harter Kampf steht vor uns. Aber zu
arbeiten ist das klassenbewußte Proletariat gewohnt, in bitterem
Kampf ist die Sozialdemokratie erwachsen und groß gediehen und
in diesem Lande, wo alles fraglich, ist es allein die sozialdemo-
kratische Arbeiterschaft, die ohne Zagen und sicher ihrer Zukunft
ihren Weg geht.
So wünschen wir denn guten Erfolg und reichliche Frucht der
Arbeit unseres Reichenberger Parteitages!
Die neue Regierung Bienerth.
Erste Lesung des Budgets, 2 4. Jänner 1911*).
Diejenigen, welche gemeint haben — und die Sozialdemokraten
gehörten dazu — , es lohne sich nicht, außer der Budgetdebatte eine
besondere politische Debatte über die Regierungserklärung abzu-
*) Mehr als zwei Jahre lang regierte Bienerth bereits mit dem
einzigen Programm : „Gegen die Sozialdemokratie!" Dabei
ließ er immer die Obstruktionen gewähren, ohne den Versuch zu machen,
sie durch Verhandlungen beizulegen oder durch Energie niederzuringen.
Als durch seine Unfähigkeit die Obstruktion am 5. Februar 1909 das
Parlament durch Lärm störte, schloß er die Session und nahm in den
Ferien einige neue Minister auf: Stürgkh als Unterrichtsminister,
Hochen burger als Justizminister, Weiskirchner als Handels-
minister und, obwohl er sich als deutschen Minister feiern ließ, auch den
Polen B i 1 i n s k i und den Tschechen B r a f . (Siehe Bd. VIII, Seite 307.
Note.) Im Juli 1909 gelang es Dr. Adler, die Obmänner der Parteien
für den Plan zu gewinnen, die Obstruktion der „Slawischen Union" nieder-
zuringen. Als aber die Obstruktionisten kapitulieren wollten, schloß
Bienerth am 11. Juli die Session. (Siehe Band VIII, Seite 316, Note.) Die
Thronfolgerkamarilla wollte kein Parlament; so mußte Bienerth die Ge-
sundung des Parlaments verhindern, um dann mit dem § 14 zu regieren.
In Wirklichkeit hatte Bienerth auch nie eine teste Mehrheit im
Parlament. Von den 516 Abgeordneten gehörten den Regierungsparteien nur
243 an: 96 Christlichsoziale, 77 Deutschfreiheitliche und 70 Polen. Die
fehlenden 16 Abgeordneten mußten, wenn es bei einer Abstimmung not-
wendig wurde, aus der Gruppe der Unio latina (Italiener und Rumänen)
oder von den fünf Bukowinaer Ruthenen (die zum Unterschied von den
radikalen Ruthenen aus Galizien regierungsfreundlich waren) verschafft
werden. So war die Mehrheit der Regierung immer sehr schwankend und
oft nur mit den Stimmen der vier Minister, die auch Abgeordnete waren,
zu halten. Auch in der Majorität gab es immer irgendeine unzufriedene
Gruppe, die mit Opposition drohte. So namentlich im Polenklub, der ehe-
mals die festeste Stütze jeder Regierung, seit der Einführung des allge-
meinen Wahlrechtes aber innerlich so zersetzt war, daß die bäuerlichen
Die neue Regierung Bienerth. 189
führen, dürften wohl nach dein allgemeinen Urteil heute reeht be-
halten haben. Was der Ministerpräsident vorgebracht hat, verlohnt
und die städtischen Elemente nicht mehr der Parole der „Schlachzizen"
(des Adels) folgten. Ursprünglich drohte der Regierung Bienerth die Ge-
falir von der bäuerlichen (iruppe, der „Volkspartei", die Anlehnung an die
oppositionelle „Slavische Union" suchte und sich wiederholt bei Ab-
stimmungen absentierte. Mit dieser kam eine Vereinbarung zustande, als
die Regierung Bienerth eine dieser Partei nahestehende Bank sanierte.
Aber im Dezember 1910 kam es plötzlich zu einem Bruch mit der
Majorität des Polenklubs, die auf das Drängen ihrer Wähler hin die
endliche Ausführung des im Jahre 1901 beschlossenen Gesetzes über den
Bau von Wasserstra B e n verlangte. Das (iesetz, das Koerber durch-
gesetzt hatte, um die nationale Obstruktion mit einem wirtschaftlichen
Programm zu besiegen, war nämlich nicht durchgeführt worden, weil
man die halbe Milliarde, die die Kanäle kosten sollten, dem Militarismus
und Marinismus nicht entziehen wollte. Aber gerade in Galizien hatte
man sich von den Kanälen eine gewaltige Entwicklung der Produktions-
kraft des Landes versprochen und deshalb verlangte der Polenklub immer
wieder die Durchführung des Gesetzes.
Aber Bienerth war in seine Politik der Passivität so eingeschworen
und dabei so ungeschickt, daß er schon im Sommer 1910 einer Abordnung
des Polenklubs statt der üblichen allgemeinen Vertröstungen rundheraus
erklärte, die Regierung denke gar nicht daran, die Wasserstraßen zu
bauen. Das war der Grund, warum schon im Sommer sich die Polen
zurückhaltend verhielten und warum damals das Parlament plötz-
lich geschlossen wurde.
Lange wurde verhandelt, und da der Polenklub, wenn er sich im Lande
nicht unmöglich machen wollte, nicht nachgeben konnte, mußte Bienerth
am 12. Dezember zurücktreten. Aber bald zeigte sich, daß es der
Krone, aber auch dem Polenklub mit der Krise nicht Ernst war.
Der Polenklub verzichtete auf seine sachlichen Forderungen und begnügte
sich damit, daß sein Obmann Minister wurde. Professor G 1 o m b i n s k i
wurde Eisenbahrimiriister und außerdem noch der polnische Sektionschef
v. Zaleski polnischer Landsmannminister. Bienerth hatte auch mit den
Tschechen verhandelt und ihnen für den Eintritt in die Regierungskoalition
zwei Ministerien angeboten. Als die deutschbürgerlichen Parteien davon
erfuhren, protestierten sie dagegen, worauf ihnen wieder Bienerth die
endgültige Demission androhte. Schließlich einigte man sich dahin, daß
die Tschechen nur einen Minister erhielten, den Sektionschef Marek
als Minister für öffentliche Arbeiten.
Dafür wurden noch zwei deutsche Beamte aufgenommen, und zwar als
Minister des Innern Graf Wickenburg, der bisher Sektionschef im
Ackerbauministerium gewesen war, und als Ackerbauminister ein Hof-
rat v. W i d m a ii n. Außerdem blieben von den alten Ministern Weis-
kirchner, Hochenburger, Stürgkh und der Landes-
verteidigungsminister Georgi. Um den Kurs der neuen Regierung noch
deutlicher zu unterstreichen, wurde Graf Thun zum Statthalter
v o n B Ö h m e n ernannt.
Am 17. Jänner 1911 stellte sich die neue Regierung dem Parlament
mit einer inhaltlosen Erklärung vor. In der Budgetdebatte, die sofort
begann, wurde natürlich vornehmlich über die Regierungserklärung ge-
sprochen. Für die Sozialdemokraten sprachen Adler, Daszynski
und Dr. Leo Winter (Prag).
190 Das S\ stein Bienerth.
wahrhaftig nicht, einer besonderen Erörterung unterzogen zu wer-
den; es war nichts als eine Wiederholung alter bewährter Redens-
arten. Nicht ein Wort hat man über die Absichten, die Pläne, die
Politik der neuen ins Amt getretenen Regierung vernommen. Die
Regierung versichert, ihr Leitstern werde die gewissenhafteste
Objektivität in der Verwaltung sein. Hat man je eine Regierung
gesehen, die etwas anderes versichert hätte? Wir kennen diese
Objektivität zur Genüge, insbesondere wenn sie in der Bienerth-
schen Inkarnation auftritt, die einfach die
Objektivität des Nichtstuns,
die Objektivität des Nichteingreifens, des Zusehens ist, die für die
Unfähigkeit, einzugreifen, die Formel eines tiefen politischen Ge-
dankens, des Geschehenlassens, wählt. Wir haben von den staats-
männischen Ideen des Ministeriums Bienerth auch in seiner dritten
Erscheinung nichts zu erwarten. Wir haben nicht den geringsten
Anhaltspunkt dafür, daß jetzt ein neuer Weg, daß überhaupt ein
Weg beschritten wird, sondern wir haben es mit nicht mehr zu tun
als mit dem Wunsche, zu bleiben.
Allerdings haben wir einige Personalveränderungen auf der
Regierungsbank. Wenn man sieht, wie großaussehende politische
Aktionen, wie die des Polenklubs, zuletzt in kleine Personal-
verschiebungen ausmünden, muß man sagen: Ein Tor ist, der sich
davon täuschen läßt. Wahr ist, was Baron Bienerth sagte: Der
Kurs bleibt der alte, das heißt kein Steuermann und kein
K u r s. (Zustimmung und Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Der nationale Streit in Böhmen soll eine neue Behandlung er-
fahren, indem man den Grafen Thun zum Statthalter gemacht hat.
Gewiß ist eines: Von allen Personalnachrichten der „Wiener Zei-
tung" ist diese Ernennung eine, die auf die innere Politik den
größten Einfluß übt. Gewiß ist Graf Thun nicht ein Statthalter wie
ein anderer. Und wie lange der Ministerpräsident unter ihm dienen
wird (Heiterkeit), ist eine Frage, die er wohl selbst noch nicht zu
beantworten weiß. Für uns bedeutet
der Name Thun vor allem ein Stück Geschichte,
und zwar ein Stück der traurigsten Leidensgeschichte der Arbeiter-
schaft Böhmens, aber auch des Bürgertums. Für uns bedeutet der
Name Thun die Erinnerung an den Ausnahmszustand, an willkür-
liche Prozesse, an schmählichste Verfolgung, an die furchtbarsten
Exzesse des Feudalismus. Graf Thun kommt heute in anderem Ge-
wände. Er behauptet, er habe etwas gelernt, und er erwartet von
uns, daß wir vergessen sollen. Ob das möglich ist, wird von
ihm abhängen. Wenn er aber mit der Ambition und der Aufgabe
kommt, in dem nationalen Streit der Vermittler zu sein, so ist es
ein trauriges Armutszeugnis für das Bürgertum
(lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten), sowohl für das
deutsche wie für das tschechische, daß ein Appell an den feudalen
Herrn überhaupt möglich ist. Die Unfähigkeit, selbst Ordnung zu
Die neue Regierung Bienerth. »"'
machen und Frieden zu stiften, ermöglicht die Wiedergeburt dieses
allen Feudalen, der durch Jahrzehnte die Verkörperung von allem
war, was die Völker gedrückt hat und was die Völker gehaßt haben.
Mi schließe mich den Worten meines tschechischen Parteigenossen
Dr. Winter*) durchaus an, die Schlichtung des Streites in Prag, wenn
sie auch mit Ausschließung der Volksmassen erfolgen soll, würde
auch von uns allen, Tschechen wie Deutschen, auf das wärmste
begrüßt werden, und ieli stehe nicht an, Klage zu führen, daß das
Proletariat auch auf diesem (iebiet an dem leiden muß, was das
Bürgertum verbroehen hat. (Zustimmung bei den Sozialdemo-
kraten») Her Brand um uns herum hat auch in unser eigenes
Haus Feuer herüber geworfen. Aber wir alle, seien Sie
überzeugt, werden es uns zur Warnung und zum Exempel dienen
lassen. Den Proletariern in Österreich, den deutschen und den
slawischen, wird es nicht so gehen wie dem Bürgertum. Das ein-
zige, was Sie uns bieten können, ist
das abschreckende Beispiel,
Wir werden es uns zur Warnung dienen lassen und nicht die-
selbe Unfähigkeit beweisen, die Sie bewiesen haben.
Wir haben keinen Einfluß darauf, wie die Dinge in Böhmen
gehen. Sicher ist, daß man sie schlichten will ohne jene Voraus-
setzung, die eine Schlichtung überhaupt möglich macht. Der natio-
nale Streit in Böhmen kann nur auf der breitesten, ehrlichsten und
ernsthaftesten demokratischen Grundlage geschlichtet
werden. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Wer die
Demokratie nicht will, kann den nationalen Frieden nicht her-
stellen. Die Rolle, welche die Feudalen jetzt als Retter des Vater-
landes spielen sollen, deutet darauf hin, daß wir von diesen Voraus-
setzungen heute weiter entfernt sind als je. Sie läßt uns wieder
erkennen, daß das Bürgertum in dieser Frage wie in unzähligen
freiheitlichen und politischen Fragen aus Furcht vor der Demo-
kratie seine eigenen Interessen und seine eigene Aufgabe im Stiche
gelassen hat. Ich bin von der Regierungserklärung abgekommen.
Aber wie soll ich mich denn, wenn ich von ernsten Dingen rede,
mit dieser Regierungserklärung befassen? (Heiterkeit.) Die tragische
Frage, welche die Völker Österreichs belastet, daß uns ein Boden
eingeräumt ist, auf dem wir alle zusammenleben und uns entwickein
müssen, ohne daß ein Volk das andere behindern oder von einem
anderen behindert werde, muß von uns beantwortet werden, sonst
gehen die Völker an dieser Tragik zugrunde. Daß der Minister-
präsident die Frage nicht so tief zu fassen beabsichtigt, geht aus
der ganzen Art hervor, wie sie behandelt wird. Man sagt, solange
die Leute in Böhmen sich nicht vertragen, werden sie dann die
Schwierigkeiten bei ihren Finanzen haben. Es ist das jene Taktik,
wie sie das gegenwärtige Ministerium an allen Fragen übt. Es
übernimmt keine Verantwortung, sondern sieht z u.
*) I)r. Leo Winter, der Abgeordnete von Prag um\ Smichow, der
nachmalige Sozialminister der tschechoslowakischen Republik.
192 Das System Bienerth.
Die böhmische Frage ist, so furchtbar sie ist, nicht allein zu lösen,
wir haben diese tiefgehenden Fragen an allen Funkten. Wenn sie
im Süden zwischen Südslawen und Deutschen, zwischen Süd-
slawen und Italienern nicht so in die Augen springen, so liegt der
(irund darin, daß der Streit dort nicht so alt ist, daß die Nationen
unten doch im ganzen jünger sind, daß die Frage sich dort noch
nicht so zugespitzt hat.
Aber die Weltgeschichte steht nicht still, von Tag zu Tag wird
diese Frage brennender. Und welche Sorte Weisheit bringt die
Regierung diesen Fragen entgegen? Die bosnische Affäre bleibt
eine Frage der Delegationen und des Ministeriums des Äußern, die
uns nichts angeht. Und wir haben hier nichts zu tun, als nach zwei
Jahren hinterher diese Erstreckung der Souveränitätsrechte*) auch
zu unterschreiben. In das ganze Verhältnis zu den südslawischen
Völkern, zu Italien haben wir gar nichts dreinzureden. Die Regie-
rung hat in diesen Dingen Sünden auf sich gehäuft, die sich rächen
werden, für die wir blutig büßen werden. Glauben Sie, daß Tat-
sachen wie der Agramer**) und der ebenso lächerliche wie verruchte
Graz er liochverratsprozeß***) nicht politische Dinge
*) Die Annexion Bosniens und der Herzegowina am 8. Oktober 1908.
**) Über den Agramer liochverratsprozeß siehe Bd. IX, Seite 34 f.
Der Agramer liochverratsprozeß hatte am 5. Oktober 1909 mit der
Verurteilung von 31 Angeklagten zu fünf bis zwölf Jahren geendet; ins-
gesamt mit der Verurteilung zu 184 Jahren Kerker. Und im Dezember
1909 mußten der Geschichtsschreiber Dr. Heinrich Friedjung und der
Chefredakteur der christlichsozialen „Reichspost" Dr. Fun der in dem
Prozeß, den die 50 Mitglieder der kroatisch-serbischen Koalition des
kroatischen Landtages vor den Wiener Geschwornen gegen sie ange-
strengt hatten, zugeben, daß die von ihnen produzierten Dokumente ge-
fälscht waren. Jetzt wurde die Sache durch den Professor M a s a r y k
in den Delegationen wieder zur Sprache gebracht, indem er nachwies, daß
die Fälschungen zumindest unter Mithilfe der österreichischen Gesandt-
schaft in Belgrad fabriziert wurden. Überdies wurde dies gerade Anfang
Jänner in einem Prozeß in Belgrad dargetan. Der Fälscher der Doku-
mente, ein gewisser W a s s i t s c h, war wegen Landesverrat und
Spionage geklagt und es wurde bei einer Hausdurchsuchung ein ge-
fälschtes Telegramm aufgefunden, von dem festgestellt wurde, daß es
von dem Beamten der Gesandtschaft Swientochowski geschrieben
war. Daß die Fälschungen aber nicht von einem untergeordneten Organ
ausgingen, geht daraus hervor, daß sie sich nicht damit begnügten, die
angeblichen serbischen Insurrektionspläne zu beweisen, sondern darauf
ausgingen, die dem Außenminister Aehrenthal unbequemen Politiker zu
kompromittieren. Das Urteil sprach auch mit großer Vorsicht davon, daß
zwischen dem Angeklagten und den Organen einer fremden Mission eine
engere Bekanntschaft bestand, derzufolge es dem Angeklagten möglich
war, bei der erfolgten Verfertigung der Dokumente Dienste zu leisten.
Graf Aehrenthal suchte sich gegenüber diesen Feststellungen mit leeren
Redensarten hinwegzuhelfen.
***) Wie Adler später selbst mitteilt, ein Hochverratsprozeß gegen
Triestiner, für den das Grazer Gericht delegiert wurde. Er hat weniger
Aufsehen erregt als der Agramer Prozeß.
I He iu ue Rcgiei unx l liencrth. I ' '
ersten Ranges sind? Es wurde von dem Agramer Prozeß schon
wiederholt gesagt, daß wir ihn bezahlen werden müssen, nicht nur
politisch, sondern auch handelspolitisch und ökonomisch (lebhafte
Zustimmung bei den Sozialdemokraten), daß wir und unsere Kinder
es noch spüren werden. Man hat dann den Triestcr Prozeß in Graz
gemacht, eine lächerliche Farce, die an die zwanziger und dreißiger
Jahre erinnert. Wo ist unser Justizminister? Fragen Sie ihn. ob er
dafür verantwortlich ist, daß wir eine ganz neue Sorte von juri-
stischen Sachverständigen haben:
Sachverständige in Hoehverratssachen!
(Heiterkeit und Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Offiziere, die
darüber einvernommen werden, ob ein Lied oder eine Sportuniform
eine Gefahr ist! (Heiterkeit.) Sie lachen; aber was schlimmer ist,
d i e g a n z e W eltlachtun s a u s. (Zustimmung bei den Sozial-
demokraten.) Aber diese Dinge müssen wir bezahlen, und die ganzen
absurden Rüstungen gegen Italien sind durch diese Politik mit ver-
schuldet. Es ist nicht wahr, daß wir Angriffe von Italien zu gewär-
tigen haben. Wenn es aber Stimmungen drüben gibt, so sind sie
in erster Linie durch diese verbrecherische,
provozierende Politik verschuldet. (Beifall bei den
Sozialdemokraten.) Mit der Politik einer Regierung, die in diesen
wichtigsten Lebensfragen kein Wort zu sagen hat, in eine Erörte-
rung sich einzulassen, ist wahrhaft eine Kunst.
Wie haben die Parteien diese Regierung begrüßt? Die Radikalen
rechts und links wissen heute noch nicht, ob sie Mandeln oder
Weibeln sind. (Heiterkeit.) Wenn man einer Regierung so lange
treu und mit Pathos gedient hat
wie die Deutschradikalen und ihr Sprecher Wolf in Momenten, wo
jede ehrliche Volkspartei dem Ministerium entgegentreten mußte,
durch dick und dünn für das Ministerium Bienerth gegangen ist und
nun sagt, es sei etwas Furchtbares geschehen, die Herren wissen
noch nicht, wie sie sich einrichten werden, man habe das Eisen-
bahnministerium einem Polen und das Arbeitenministerium einem
Tschechen ausgeliefert, so muß man doch sagen, das sind
kindische Redensarten. Das Finanzministerium ist nicht
weniger wichtig als das Arbeitenministerium und es ist seit vielen
Jahren von einem Polen nicht zu unserem Vergnügen, aber sehr
zum Vergnügen des Herrn Wolf (Heiterkeit bei den Sozialdemo-
kraten) verwaltet worden. Ein Pole kann wohl im Eisenbahn-
ministerium nicht mehr Unheil stiften als im Finanzministerium
Wie stellen sich die Herren eigentlich eine österreichische Regie-
rung und Verwaltung vor?
Dr. Kramarsch: Mit Herrn Malik als Minister!
Dr. Adler: (ierade Sie, Herr Dr. Kramarsch, muß ich zitieren.
(Lebhafte Heiterkeit.) Ich halte es für einen törichten Einfall eines
sehr gescheiten Mannes,
Adler. Briefe. XI. Bd. 1:5
194 Das System Btenerth.
die Verwaltung national zu parzellieren,
nach den Prozenten der Bevölkerung zu rayonieren, wie Herr
Dr. Kramarsch uns wiederholt vorgeschlagen hat.
Dr. Kramarsch: Das ist keine Rayonierung, oder es ist ganz
Osterreich rayoniert!
Dr. Adler: Das ist etwas wesentlich anderes!
Dr. Kramarsch: Ist es praktisch unmöglich, daß fünf slawische
Minister sind?
Dr. Adler: Man kann ja auch nach der Volkszählung alle fünf
Jahre die Ministerstellen anders austeilen.
Dr. Kramarsch: Das wäre auch das Richtige!
Dr. Adler: Na, ich danke! Lassen Sie irgendeinen Verein, der
eine ernste Verwaltung hat, irgendeine Beamtenkasse nach diesem
Rayonierungsprinzip verwalten.
Dr. Kramarsch: Sie haben im Vorstand der sozialdemokratischen
Partei auch eine Vertretung nach der Zahl.
Dr. Adler: Vertretung und Verwaltung sind sehr verschiedene
Dinge. Minister und Verwalter müssen daher genommen werden,
wo man den gescheitesten und brauchbarsten findet.
Dr. Kramarsch: Ist er bei uns nicht zu finden?
Dr. Adler: Ich zweifle nicht daran und habe gar nichts dagegen,
wenn man zehn gescheite slawische Minister findet, alle zehn hin-
zusetzen.
Dr. Kramarsch: Ich habe auch nichts dagegen. (Heiterkeit.)
Dr. Adler: Das sieht Ihnen ganz gleich! (Heiterkeit.) Aber ich
halte es für unmöglich . . .
Dr. Kramarsch: ... zehn gescheite Tschechen zu finden?
Dr. Adler: Nein, ich kenne selbst viel mehr. Aber ich halte es
für verwaltungstechnisch unmöglich und mit einer vernünftigen
Verwaltung unvereinbar, daß man die Ministerien nach der Be-
völkerungsziffer einteilt. Von der anderen Seite aber wird ein
mindestens ebenso absurder Maßstab angelegt. Glauben Sie, daß es
wirklich möglich ist, die Tschechen, die Polen, irgendeine Nation
prinzipiell von der Verwaltung auszuschließen? Ist es nicht eine
Torheit, das zu verlangen? Die Herren meinen aber ihre Opposition
gar nicht ernst; denn sie denken gar nicht an die Minister, sondern
viel wichtiger ist ihnen die Beamtenunterbringung,
die Verschiebungen in den Beamtenkörpern. Das gilt für die Herren
links und rechts. Sie haben gemeinsam beide die Erklärungsdebatte
verlangt, weil sie beide gemeinsam noch nicht wissen, wie sich das
mit den Beamtenverschiebungen stellen wird. Das andere ist nur
dekorativ. Die Hauptsache ist: Wen bringen wir unter? (Heiterkeit.)
Die Partei des Herrn Wolf braucht zwei Gattungen von Politik:
eine für das Parlament und eine für die Geltendmachung des Ein-
flusses in den Ministerien. Dafür ist die oppositionelle Haltung nicht
ganz nützlich. Den Wählern gegenüber aber ist es viel
besser, in der oppositionellen Pose zu erscheinen. Und
DU neue Reglei ung Bh nei th.
nachdem man nichts Gewisses weiß, ob nicht in absehbarer Zeit
Neuwahlen sein werden, ist es nützlich, sieh für alle Fälle für die
neue Rolle vorzubereiten. Auch bei den Tschechen dürfte sich der
ziemlich starke Aufwand von Pathos durch die Ernennung des
Grafen Thun und die Strömungen, die damit zusammenhängen, für
die Zukunft wesentlich beruhigen.
Für uns existieren diese Dinge nicht. Wir haben keine Beamten
unterzubringen, wir haben ganz andere Sorgen Für uns bleibt das
Ministerium Bienerth auch in seiner neuen Gestalt das alte, in jeder
Beziehung unfruchtbare (iebilde, allerdings mit einigen Ver-
schlimmerungen.
Das Bleibende im Wechsel
ist Graf Stürgkh*). Gegen verschiedene Herren ist der Ansturm,
von allen Seiten gekommen. Die Polen haben es vermocht, Herrn
v. Bilinski, der sehr fest gesessen ist, zu entwurzeln. Graf Stürgkh,
der von denjenigen selbst befeindet wurde, für die er ursprünglich
ernannt wurde, von den Deutschen, bleibt. Man wird doch nicht
einen Mann fallen lassen, weil er aus einem Liberalen ein Klerikaler
geworden ist. Man wird es sich oben doch nicht gefallen lassen,
daß man den getreuesten Diener der neuesten Poli-
tik den Herren opfert, man nützt sie aus, durch Jahre haben
sie redlich gedient, aber der Dank ist, daß Graf Stürgkh
bleibt. Und er hat großen Einfluß in allen Kulturfragen, nicht nur
in Fragen der Schulen und der Universitäten, sondern das Schlimme
ist, daß wir auch in manchen anderen Fragen hier einen Mann vor
uns haben, der völlig unverläßlich ist, von dem wir nie wissen, was
wir von ihm zu erwarten haben. Ich verweise da auf die nieder-
österreichische Spitalfrage, eine der wichtigsten Fragen, die nicht
nur Wien, sondern auch alle Kronländer und Nationen angeht.
Wir haben das allergrößte Interesse daran, daß dieser wider-
wärtige Skandal, der sich in Niederösterreich abspielt, dieser nega-
■ *) Graf Karl Stürgkh, der seinerzeitige „verfassungstreue", liberale
Großgrundbesitzer, der den fanatischen Kampf gegen die Wahlreform ge-
führt hatte, war nach der Wahlreform zwar nicht Abgeordneter, aber in
der Regierung Bienerth Unterrichtsminister. Am 3. November 1911 wurde
er nach Gautsch Ministerpräsident. Am 21. Oktober 1916 wurde er be-
kanntlich von Friedrich Adler erschossen.
Er hatte sich als Abgeordneter immer für einen Liberalen ausgegeben,
als Minister aber suchte er sich die Gunst der Klerikalen zu erwerben.
Im November 1910 ließ er zwei Privatschulen des Vereines „Freie
Schule" sperren, weil sich der Verein weigerte, nur die vom bischöflichen
Ordinariat ausgewählten Religionslehrer den Religionsunterricht erteilen,
zu lassen, und bald danach bestätigte er die Maßregelung von Lehrern,
die nichts getan hatten, als daß sie in Versammlungen der „Freien Schule"
gegen die Auslieferung der Schule an die Klerikalen protestierten. Darauf
veröffentlichte der Verein „Freie Schule" ein Denkschrift, in der er den
Nachweis führte, daß die Schulverwaltung unter dejn Grafen Stürgkh
mehr als je ein Instrument der Klerikalisierung war, was
schon die Verfolgung der nichtklerikalen Volksschullehrer und die des
Professors Wahrmund bewies.
13*
196 Das System Bienerth.
tive Kompetenzkonflikt zwischen Staat. Gemeinde und Land, der
sich darin ausdrückt, daß wir
zu wenig Spitäler*)
haben und diejenigen, die wir haben, nicht erhalten können, daß d\c
Lasten dafür auf denjenigen ruhen, die sie am allerwenigsten tragen
können, ein Ende nimmt, und wir sind gewiß dafür zu haben, daß
endlich in dem Einvernehmen zwischen den drei Instanzen Ordnung
geschafft werde. Aber der Plan, der vom niederösterreichischen
Landesausschuß ausgegangen ist und manches Vernünftige für sich
hat, ist mit den Lastern, mit den bösen Eigentümlic h-
k e i t e n der c h r i s 1 1 i c h s o z i a 1 e n Partei überhaupt
behaftet, ist mit dem Versuch verquickt, die ganze Verwaltung
in ihre eigenen Hände zu bekommen, eine Verwaltung, die niemals
eine Parteiverwaltung werden darf. Mit Recht haben alle die-
jenigen, die an der Volksgesundheit und an den Fortschritten der
Medizin ein Interesse haben, aufgeschrien, als man davon sprach,
man wolle die Spitäler und Kliniken bürokratisieren, die Lehrer und
Forscher denjenigen ausliefern, die weder für die medizinische,
noch für eine andere Lehre und Forschung ein ernstes Interesse
haben. Es wäre nun vor allem Pflicht des Unterrichtsministers ge-
wesen, Farbe zu bekennen. Graf Stürgkh hat jedoch die einge-
brachte Interpellation nicht beantwortet und den Professoren nur
unverbindliche Redensarten gesagt, ohne eine Verpflichtung dafür
zu übernehmen, daß er dieses Projekt nicht zustande kommen
lassen werde ohne ernste Garantien für die Möglichkeit und Un-
versehrtheit des medizinischen Unterrichtes und der freien medizi-
nischen Forschung.
Schuhmeier: Wie steht denn Stürgkh zur Professorenernennung?
Eine Erzherzogin nimmt Einfluß auf die Erne n-
nung von Professoren!
Dr. Adler: Das ist ein Kapitel, über das wir beim Unterrichts-
budget noch reden können . . . Wir haben dann noch einen anderen
Herrn, der bleibt. Der Handelsminister Dr. We i s k i r ch n e r**)
wird auf seinem Platze von seiner Partei gestützt, welche nebenbei
bemerkt, die einzige ist, die voll und ganz mit dem gegenwärtigen
Ministerium einverstanden ist. Dr. Weiskirchner, der die Interessen
der städtischen Bevölkerung, der Industrie und der industriellen
Arbeiterschaft zu vertreten hätte, hat sich
*). Siehe zur Spitalfrage die Rede, die Adler ein Jahrzehnt vorher, am
9. Juli 1901, im niederösterreichischen Landtag gehalten hat. Noch immer
war die Spitalschande aktuell.
**) Dr. Richard Weiskirchner, früher Magistratsdirektor in Wien,
der erste Präsident des Abgeordnetenhauses nach der Einführung des
allgemeinen Wahlrechtes, dann Handelsminister, nach Neumayers Rück-
tritt, März 1913, Bürgermeister von Wien, hat den Agrariern zuliebe den
Geheim vertrag mit Ungarn geschlossen, durch den die Einfuhr
argentinischen Fleisches verboten wurde. (Siehe Adlers Reden über die
Teuerung vom 4. Oktober 1911 [Bd. VIII, Seite 447 ff.] und vom 5. Oktober
)Bd. VIII, Seite 452, besonders 462 f.].)
I >ic neue l\ i'Kiri iniv l Mein i ili. 1^7
als das Werkzeug agrarischer Eingriffe
in einem Maße bloßgestellt, das ihm in jedem anderen Lande ein
weiteres Amtieren unmöglich gemacht hatte. Die christlichsoziale
Partei hat ja immer den Kampf gegen das Übergewicht der Ungarn
an die Spitze ihres Programms gestellt, u\k\ die Militärforderungen
der Ungarn abzuwehren, war für sie immer das Wichtigste. Mit
diesem dekorativ wirkenden Pathos gegen die Ungarn schmücken
die Christlichsozialen ihre Reden ja noch immer. Die Wahrheit ist
aber, daß sie die IVLilitärforderungen der Ungarn wohl abweisen,
dagegen den M il i t ä r f o r d e r u n g e n gegenüber, die das Volk
wirklich drücken, d i e g e h o r s amsten Z u t r ä gerdienste
leisten, daß sie den Forderungen der n n g a r i s c h e n A g r a-
rier Knechtesdienste leisten und mithelfen, daß die ganze
städtische Bevölkerung Österreichs nach dem Befehl der unga-
rischen Agrarier regiert werde. (Lebhafter Beifall und Hände-
klatschen bei den Sozialdemokraten.) Das Werkzeug dieser Politik,
nicht offen, sondern in geheimen W7 i n k e 1 z ü g e n, ist Doktor
Weiskirchner. Er ist ein ausgezeichnet geschickter Mann, seiner
Versatilität gleicht nicht bald die eines anderen. Er weiß m i t
hundert Zungen zu reden, um jedem etwas anderes
zu sagen; das Wort „Doppelzüngigkeit" wäre, auf ihn ange-
wendet, ein Euphemismus. (Lebhafte Heiterkeit.) Dr. Weiskirchner
vermag es sehr gut, vor seiner Wählerschaft in Wien zu erscheinen
und ihr zu versprechen: Fleisch, Fleisch, argentinisches Fleisch;
und darauf wieder anderswohin zu gehen und die „Interessen der
Landwirtschaft zu sichern, daß die Herren ganz beruhigt sein
können". Er versteht es, förmliche Agitations reisen von
einer Unternehmervereinigung zur anderen zu
veranstalten und dort Reden zu führen, die geradezu schon an
Aufreizung gegen den sozialpolitischen Fort-
schritt streifen, sich solidarisch mit ihnen zu erklären; aber ich
zweifle gar nicht, wenn unsere Gewerkschaften einmal den Einfall
hätten, Herrn Weiskirchner zu einem Kongreß einzuladen (Heiter-
keit), so würde er ihnen eine sozialpolitische Rede halten. Weis-
kirchner ist ein Mann für alles und darum ein Mann
für gar nichts. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen bei den
Sozialdemokraten.)
Heute will man die Sünde des gewiß verfassungswidrigen
Geheimvertrages
bezüglich der Fleischeinfuhr auf das Ministerium Beck abschieben.
Das Ministerium Beck möge verantworten, was es zu verant-
worten hat, die heutige Regierung wird dadurch nicht entlastet.
Die Klausel, die seinerzeit gemacht wurde, hat den gefährlichen
Charakter, den sie heute bekommen hat, damals gar nicht an sich
getragen. Sachlich war eine Klausel, daß man bei Meinungs-
verschiedenheiten Veterinärbestimmungen im strengeren Sinne
auslegen werde, nicht so gefährlich und sie hatte jedenfalls keinen
198 Das System Bienerth.
Bezug auf die Einführung von Fleisch in einem Moment, wo die
Bevölkerung kein Fleisch hat.
Dr. v. Korytowski: Die Klausel besteht seit 1886!
Dr. Adler: Die Anwendung dieses Abkommens auf die Frage
der Fleischversorgung ist ein neuer Verrat, ist erst recht ein
Verfassungsbruch und eine Preisgebung der wichtigsten
Interessen der städtischen Bevölkerung. (Lebhafter Beifall bei den
Sozialdemokraten.) Weiskirchner hat das Haus in der
ganzen Frage der Handelsverträge zum Narren
gehalten. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen bei den Sozial-
demokraten.) Im Volkswirtschaftlichen Ausschuß hat er eine flam-
mende Rede für die Handelsverträge gehalten und zwei Stunden
darauf hat er mit Dr. Licht und Konsorten die Verschwörung gegen
die städtische Bevölkerung angezettelt. Solchen Herren gegenüber
muß man mindestens vorsichtig sein und sich die Taschen zuhalten.
Das ist das Bild, das wir heute von Dr. Weiskirchner haben. Diese
Preisgebung der städtischen Bevölkerung ist ein Verrat an
seinem Amte, an seinen Wählern und an seiner
Vergangenheit.
Dr. Weiskirchner ist
auch für die Sozialpolitik in Österreich verantwortlich.
Er ist ja hervorgegangen aus der christlichsozialen Partei, die
einen Teil ihres Ansehens in der Öffentlichkeit auf ihre sozial-
politischen Tendenzen gebaut hat. Die ganze Sozialpolitik
ist aber, seitdem sie in den Händen Dr. Weiskirch-
ners liegt, zum Stillstand verdammt, und zwar so
absolut, wie das seit Jahren nicht der Fall war. Gewiß, die Zeiten
sind vorbei, wo man sich einbilden konnte, man könne die Arbeiter-
schaft durch wohlwollende Phrasen gewinnen. Die Arbeiterschaft
ist kräftig geworden und heute sind die Klassengegensätze so stark
geworden, daß wirkliches Wohlwollen auf der anderen Seite, weil
es sich reell betätigen müßte — und nicht bloß in öligen Redens-
arten — , so ziemlich verschwunden ist. Die Zeiten sind vorüber,
wo der Adel auf seinen Schlössern, weil er nicht gewußt hat, wie
es in einer Fabrik aussieht, nicht wußte, wie man Profit macht,
wenigstens unparteiisch der Sozialpolitik gegenübergestanden ist.
Heute sind die Adeligen selbst Industrielle, sie sind vor allem
Zuckerfabrikanten, Holzindustrielle, haben Mühlenwerke, Säge-
werke, Eisenindustrie und alles mögliche, kurz, sie sind nicht mehr
unparteiisch. Die schönen Zeiten, wo wir hier und im Herrenhaus
die Reden des B e 1 c r e d i, des eifernden Mannes der christlichen
Sozialpolitik, wo wir die Zöglinge des Vogelsang*) gehört haben,
wo Fürst Liechtenstein seine schöbe Reden gehalten hat,
sind vorüber. Heute hat die Politik des hohen Adels für die Ar-
beiterschaft, die nie viel Wert gehabt hat, jeden Anschein verloren.
Heute sieht man im Gegenteil, daß sich zwar in diesem Hause des
*) Siehe unter anderem Bd. VIII, Seite 342, 352 ff.
Die neue Regierung Bienerth, 199
allgemeinen Wahlrechtes gewisse volks- und arbciler- und darum
kulturfeindliche Tendenzen, die sich gegen die Sozialpolitik und
den Arbeiterschutz richten, nicht hervortrauen, daß sich aber
Im Herrenhaus der Kauze Ausbeuterklüngel etabliert
hat; im Herrenhaus ist heute die Klassenvertretung der
g anzcii Ausbeuterschaft ö s t e r r e i c h s. Wozu ist denn
dieses Herrenhaus? Die Befürworter der ersten Kammer haben
dem Herrenhaus die Objektivität zugesprochen und erklärt, dalj
dort nur die großen Interessen des Staates gewahrt werden. Heute
sieht man aber, daß ein Zuckerfabrikant und Präsident einer
Handelskammer das Gesetz über die Nachtarbeit der Frauen im
Herrenhaus zu verderben sucht, heute sehen wir, daß die Herren
Grafen, die beinahe anonym sind (Heiterkeit) — so wenig kennt
man sie, man muß nachschauen, wer sie sind, allerdings nicht mehr
im Gothaschen Kalender, sondern im „Kompaß*)", wo
man sie komplett findet (lebhafte Heiterkeit und Beifall) — , das
verderben, was hier halbwegs gerettet wurde. Objektivität, Wohl-
wollen ist beim Herrenhaus nicht. Aber vielleicht das Wissen? Die
sozialpolitische Unwissenheit, wie sie sich bei allen
diesen Gesetzen im Herrenhaus zeigt, ist so unerhört, daß man sich
schämen muß. Das hat die letzte Debatte in geradezu kläglicher
Weise gezeigt.
Die Arbeiterschaft und ihre Vertreter hier im Hause werden
sich aber diese Angriffe des Herrenhauses nicht ge-
fallen lassen. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemo-
kraten.) Die Herren mögen sich darüber nicht täuschen. Sie haben
den Sturm erlebt, als es sich um die Nachtarbeit der Frauen han-
delte ; sie werden einen ähnlichen Sturm noch in
verstärktem Maße erleben, wenn das Herrenhaus
es wagt, das Gesetz über den Kontraktbruch zu
hindern. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen bei den Sozial-
demokraten.) Die Herren dort sollen nur nicht glauben, daß sich
die Arbeiterschaft das allgemeine Wahlrecht und eine Vertretung
im Parlament erobert hat, um sich vom Herrenhaus die Früchte
dieses Wahlrechtes konfiszieren zu lassen. (Lebhafter Beifall und
Händeklatschen bei den Sozialdemokraten.) Die Herren im Abge-
ordnetenhaus aber sollen nicht glauben, daß es ihnen gelingen
werde, die Welt über ihren wahren Charakter, ihre wahren sozial-
politischen Absichten zu täuschen, indem sie hier Wohl-
wollenheucheln und dieHenkersarbeitdemHerren-
haus überlassen. An dem Verhalten des Herrenhauses zum
Kontraktbruchgesetz können Sie sehen, welche niederträchtigen
Flausenmacher das sind. Das Gesetz soll nicht gemacht werden,
weil es nur im Zusammenhang mit dem ganzen sechsten Haupt-
stück der Gewerbeordnung gemacht werden muß. Wenn wir aber
*) Der „Gotliasche Kalender" (richtiger Gothasclie „Almanach") das
Verzeichnis des Adels, der „Kompaß" das Verzeichnis der Akticngesel!-
s ehalten und großen Unternehmungen!.
200 I );is S3 stem Bicnerth.
mit diesem Vorschlag kommen, dann heißt es: Das geht nicht, die
Geschichte der englischen und der deutschen Arbeiterschutzgesetz-
gebung hat gezeigt, daß man nur stückweise vorgehen kann. Wir
haben diese Litanei hundertemal gehört. Nun kommt man mit
Finzelforderungen, wir bemühen uns, einzelnes zu bessern, da
kommt man nun und sagt: Nur im Zusammenhang kann man das
machen. Ja, glauben denn die Herren, daß sie es mit Grafen und
Fürsten zu tun haben, die, köpf- und hirnlos, nicht wissen, was
man ihnen erzählt? Die Arbeiterschaft versteht die
Komödie und wird sie sich nicht gefallen lassen
(lebhafter Beifall und Händeklatschen bei den Sozialdemokraten)
und wir als ihre Vertreter hier werden die Träger dieser Abwehr-
bewegung sein.
Der Handelsminister selbst hat seit Monaten den Entwurf einer
Verordnung fertig liegen, durch welche der sogenannte sanitäre
Maximalarbeitstag festgelegt werden soll, eine ganz
schwächliche Maßnahme, die in Deutschland schon seit zwanzig
Jahren durchgesetzt ist, die überdies bereits alle möglichen Beiräte,
nicht zum Vorteil der Sache, passiert hat, Beiräte, die heute mehr
Verschleppungs- als Förderungsinstrumente sind; aber
der christlichsoziale Sozialpolitiker
versperrt auch diese Verordnung in seinem Pult. Ist er denn so
fruchtbar an sozialpolitischen Großtaten, daß er für seinen Eifer
keinen Platz mehr hat? Nein, er will es sich eben mit
den Industriellen nicht verderben, deren Gast auf
Kongressen er fortwährend ist. Was die Beiräte betrifft, möchte
ich übrigens nur nebenbei bemerken, daß es nicht so weitergehen
wird, daß die Arbeiterschaft aus allen Beiräten ausgeschlossen ist
und daß in dem einzigen Beirat, in dem Arbeiter sitzen, im Arbeits-
beirat, in den Industriellen, Fachmännern und Regierungsvertretem
ein Gegengewicht gegen die Forderungen der Arbeiterschaft be-
steht. Entweder wird man die Industriellen aus dem Arbeitsbeirat
in den Industrierat zurücksenden oder den Arbeitern auch in den
anderen Beiräten eine Vertretung gewähren müssen.
Alle diese Sorgen werden aber durch die große Frage der
Finanzen überwogen, durch die ungeheure Frage, wie die Be-
völkerung die ungeheuren Lasten, die ihr zugemutet werden, tragen
soll. Wrir kommen dem neuen Finanzminister mit all dem Respekt
entgegen, der einem Manne von wissenschaftlicher Tüchtigkeit und
erprobter Arbeitskraft gebührt. Aber man hat es hier nicht mit
einer Person, sondern mit einem Minister zu tun. Da ist nun sehr
zu fürchten, daß Dr. Meyer trotz seiner Tüchtigkeit das Los aller
Finanzminister teilen wird. Vorläufig hat er bereits ein höchst ge-
fährliches Wort gesprochen, er hat von der Sparsamkeit ge-
sprochen. Wenn
ein Finanzminister von Sparsamkeit redet,
so liegt das an sich ja durchaus in seiner Rolle; aber an dieser
Stelle und als das einzige Positive in einem Programm des Finanz-
I lu neue Regierung liicnci th. 201
ministers hat dieses Wort geradezu Schrecken hervorrufen müssen.
Österreich ist ja der sparsamste Staat der Welt. Welcher Staat
spart denn mehr, wenn es gilt, Schulen zu hauen, welcher Staat
hat einen elenderen Zustand des Volksschulwesens? Sparen wir
nicht an Spitälern, sparen wir nicht überhaupt, wenn es sich um
etwas handelt, was die Kultur, die Ernährung, den Körper des
Volkes angeht? Da wird g e s p a r t bi s z u m ri u n g e r. Mai;
lese aber demgegenüber, was heute den Delegationen an Forde-
r u n g e n f ü r d i e A r m e e, f ii r d e n D a u n e u e r S c h i 1 f e
und dergleichen vorgelegt wird'). Der Finanzminister, der sparen
will, spielt eine etwas kölnische Figur. Cr möge seine Rede doch
in den Delegationen halten! Wenn er dort oder im Ministerrat mit
seiner Mahnung zum Sparen durchdringt, dann soll er auch im
Abgeordnetenhaus diese Mahnung vorbringen! Dann werden wir
ihm sagen, daß mau nicht an produktiven Ausgaben sparen darf,
welche die Produktions- und Arbeitskräfte des Volkes stärken und
heben; dann werden wir ihm sagen, daß es Selbstmord ist, auf den
unproduktiven Gebieten des M i 1 i t a r i s m us Milliarden zu
\ erschw enden und die Sünden unserer törichten auswärtigen
Politik durch eine Verschwendung zu bezahlen, die früher
oder später zum Bankerott führen muß. (Lebhafter
iteifall bei den Sozialdemokraten.) Wir werden ihm dies sagen
mit der Entschlossenheit, keinen Groschen für diese Forderungen
zu bewilligen, die dem Volke doppelt schaden, nicht nur direkt.
sondern auch indirekt, weil sie die Mittel für die kulturelle Ent-
wicklung des Volkes wegnehmen. (Lebhafter Heifall und Hände-
klatschen bei den Sozialdemokraten.)
Daraus können Sie entnehmen, welches Urteil die sozialdemo-
kratische Partei über die Bilanz dieser Regierung hat. Dabei sollen
kleine dekorative Erscheinungen mit Stillschweigen übergangen
werden. Ich spreche hier nicht davon, daß unter dem liberalen
deutschen Justizminister eine Konfiskationspraxis besteht wie seit
nahezu einem Jahrzehnt nicht. Von der Preßgesetzgebung redet
man heute überhaupt nicht mehr. Sie ist ganz in den Hintergrund
gedrängt. Heute erlebt man auch wieder den artigen Spaß, in den
Versammlungen Polizeikommissäre zu sehen. (Lebhafte Zustim-
mung bei den Sozialdemokraten.) Wir haben sie lange nicht ge-
sehen. Nun, uns schadet das nicht, aber wir lachen darüber. Aber
welches Licht wirft das auf die Regierung und auf ihre Tendenzen!
Wenn man alle diese Einzelheiten summiert, hat man den Ein-
druck, daß wir
in eine Periode des Kampfes eintreten,
des Kampfes nicht allein gegen diese vergängliche Regierung, son-
dern in eine ernste Periode des Kampfes der Arbeiter-
klasse nach allen Fronten, in den Dingen der Kultur
gegen den Klerikalismus, in den Dingen der Sozialpolitik in bezug
) Siehe die Rede Adlers vom .S. Februar 1911: ..Die neuen Dread-
n o ii g h t s" Im Kapitel „Militarismus und K r i e g".
202 Das System Bienerth.
auf den Arbeiterschutz und in den Dingen der Politik und Ver-
waltung in bezug auf die Freiheit, in eine Periode des Kampfes, die
uns nicht schreckt, die vielmehr für uns das Lebenselement ist
(lebhafter Reifali und Händeklatschen bei den Sozialdemokraten),
eines Kampfes, den wir führen wollen, wie wir es, seitdem wir
denken, gewohnt sind. Sie sollen nur kommen, wir sind ihnen ge-
wachsen! Wir sind mit anderen Leuten fertig geworden als mit
der Bienertherei, und wenn der alte Thun selbst wäre, was der
junge Thun war, wir sind der ganzen Rückwärtserei gewachsen,
von Bienerth hinüber zum Herrenhaus und bis nach Prag zur
Statthalterei. Wir werden mit ihnen fertig werden, und Kampf.
Kampf und wieder Kampf dieser Regierung, diesem System und
diesem ganzen Wust von Verbindungen, von faulen Beziehungen,
von unklaren Drahtziehereien und vor allem Kampf der Heuchelei,
der Zweideutigkeit und der Lüge, die sich ausdrückt in den großen
Worten, mit denen die Herren uns kommen, hinter denen aber
nichts steckt als Unfruchtbarkeit auf der einen und
der Polizeigeist auf der anderen Seite! (Anhaltender
lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Ein Attentat auf das Vereinsrecht
Parlament, 8. März 191 1*).
Wir sollen heute eine Arbeit zu Ende führen, die das Parlament
in den verschiedensten Formen seit dem Jahre 1874 beschäftigt.
Unser Vereins- und Versammlungsgesetz entstand
*) Am 8. März 1911 sollte das Abgeordnetenhaus eine Reform des
Vereinsgesetzes verhandeln, die das Verbot der Teilnahme von Frauen
an politischen Vereinen und das Verbot der Verbindung politischer
Vereine beseitigen wollte. Eine Reform, die auf einen Initiativantrag des
Abgeordneten Pernerstorfer zurückging und gegen den offenen und
versteckten Widerstand der Regierung und der bürgerlichen Parteien im
Ausschuß durchgegangen war.
Gerade an diesem Tage aber brachte die Regierung Bienerth einen
Entwurf ein, der sich anstellte, als ob auch er eine solche Reform plane,
aber in Wirklichkeit ein Attentat auf das Vereinsrecht war. Natürlich
mußte sich die Debatte auch mit diesem Entwurf beschäftigen. In der
Debatte kam auch Adler zu Wort. Um die Rede dem Verständnis näher-
zubringen, sei ein Überblick über das damals geltende Vereinsrecht ge-
geben:
Das geltende österreichische Vereinsgesetz stammte aus dem Jahre
1867. Es war in seiner Art für die damalige Zeit ein großer Fortschritt.
Aber bald hatten sich in der Praxis die großen Fehler herausgestellt. Sie
bestehen vornehmlich in den Bestimmungen über die politischen
Vereine. „Ausländer, Frauen s-personen und Minder-
jährige" (die Großjährigkeit begann nach österreichischem Gesetz erst
mit dem vollendeten 24. Lebensjahr) durften politischen Vereinen nicht
angehören. Politische Vereine mußten den Behörden die Namen ihrer
Mitglieder bekanntgeben, sie durften keine Ortsgruppen bilden und mit
arideren politischen Vereinen nicht in Verbindung treten. Ob ein Verein
i.ni Attentat aui das Vereinsrecht. 203
im Inihling unseres sogenannten Verfassnngslebens,
wo die alten Herren noch jung waren. Heute sind die jungen Herren
sehr alt, die mit der Verfassung in einen nominellen Zusammen-
hang gebracht waren, und ihre Urheber stellten sieh darunter ein
sehr liberales Werk vor. Sie setzten eine verständige Durchführung
des Gesetzes voraus. Es hat sieh aber gezeigt, dal.» die Paragraphen
dieses Gesetzes in den Händen unserer Verwaltung zu einer
k ü u t s e h u k a r t i g e n Materie geworden sind, daß man das
Vereinsgesetz je nach den politiseh maßgebenden Strömungen mehr
oder weniger schroff angewendet hat, nicht, um die Vereinsbildung
zu ermöglichen und zu fördern, sondern um sie zu erschweren und
ein politischer Verein war, entschieden die Behörden. Diese Beschrän-
kungen wurden mit dem Erstarken des politischen Lebens fühlbar. Die
zahllosen Anträge auf Abänderung des Vereinsgesetzes, die seit dem
Beginn des parlamentarischen Lebens eingebracht wurden — der erste
von Kronawetter schon im Jahre 1874 — , bezogen sich vornehmlich
auf die politischen Vereine. Alle diese Anträge kamen aber höchstens
in den Ausschuß; aus dem Ausschuß kam keiner mehr heraus.
Erst dem Antrag, den Pernerstorfer namens des sozialdemo-
kratischen Verbandes am 20. Oktober 1909 einbrachte, war ein besseres
Schicksal beschieden. Dieser Antrag verlangte einfach die Streichung
der §§ 29 bis 35, die die Sonderbestimmungen für die politischen Vereine
enthielten. Damit wären diese allen anderen Vereinen gleichgestellt
worden. Im Verfassungsausschuß machten aber die Regierung und einzelne
Parteien Bedenken geltend, von denen nur das eine Berücksichtigung
verdiente, daß das Herrenhaus eine solche radikale Reform vereiteln
oder zumindest verschleppen würde. Also kam dann im Ausschuß ein
Konpromiß über das unbedingt notwendige Minimum der Reform zu-
stande: das Verbot der Beteiligung der „Frauenspersonen" an
politischen Vereinen wird aufgehoben, die Altersgrenze auf 21 Jahre
herabgesetzt und den politischen Vereinen das Recht, Ortsgruppen
und Verbände zu bilden, eingeräumt.
Aber kaum war der Beschluß im Ausschuß gefaßt und auf Verlangen
der Sozialdemokraten auf die Tagesordnung gestellt, als schon ein Kessel-
treiben dagegen anfing — » offenbar auf Veranlassung der Regierung. Im
„Deutschen Nationalverband" gab es plötzlich erregte Debatten über
Frauenemanzipation, über Heiligkeit der Familie
und über Frauen würde und die deutschradikalen Spießer schämten
sich dort nicht, allen Ernstes von den Gefahren der Teilnahme
von Frauen am politischen Leben zu faseln. Eine Deputation
des National Verbandes wurde zum Ministerpräsidenten
geschickt und Herr v. B i e n e r t h erklärte den Herren, daß
der Antrag Pernerstorfer überflüssig sei, da die Regierung ohne-
dies an einer Vorlage über eine Reform des ganzen Vereinsgesetzes
arbeite. Aber die Sozialdemokraten bestanden darauf, daß die lex Perner-
storfer auf der Tagesordnung verbleibe. Noch im Februar wurde die Be-
ratung begonnen und nach dem Wiederzusammentritt des Parlaments
fortgesetzt.
Nun sah sich die Regierung gezwungen, mit ihrer Vorlage heraus-
zurücken. Die Vorlage sah auf den ersten Blick ganz modern aus. Sie
kannte keine politischen Vereine mit ihren Beschränkungen mehr. Dafür
enthielt sie die Bestimmung, daß „Ausländer und Minderjährige" von der
204 Das System Bienerth.
unmöglich zu machen. Insbesondere kehrte sich seine Anwendung
durch Jahrzehnte selbstverständlich gegen die Arbeiterklasse. Es
ist unnötig, die Leidensgeschichte, die die Arbeiterschaft auf diesem
Gebiet durchzumachen hatte, hier zu wiederholen. Aber alle diese
Bemühungen der Herrschenden und ihrer Organe waren vergeb-
lich. Trotz des Mißbrauches des Vereinsgesetzes durch die Büro-
kratie hat die Arbeiterschaft ihr Recht und ihre Lebensmöglichkeit
durchgesetzt. Wir waren die besten Lehrer und Ausleger dieser
Gesetze. Mit schwerer Mühe ist es uns gelungen, einen Bezirks-
liauptmann um den anderen zum Lesen und Befolgen der Gesetze
zu erziehen. Es war eine opfervolle Arbeit, und wir sind es müde,
sie immer wieder zu verrichten. Nun sieht es so aus, als sollte ein
Teilnahme an Vereinen, die eine Einwirkung auf das Staats-
\v e s e 11 oder dessen Einrichtungen, auf Fragen der Gesetzgebung oder
der Verwaltung bezwecken, oder deren Tätigkeit eine solche Einwirkung
in sich schließt, durch die politische Landesbehörde ausgeschlossen wer-
den könnten. Damit waren auf einem Umweg die alten „politischen
Vereine" in verschlechterter Form wieder eingeführt. Die nunmehrige
Definition paßte nämlich so ziemlich auf alle Vereine, vor allem natürlich
auch auf die G e w e r k s c h a f t e n. Das Gefährlichste an dieser Be-
stimmung war aber, daß die Beschränkungen nicht diesen Vereinen an
sich anhafteten, sondern ihnen von den Behörden auferlegt werden
konnten, somit der Willkür der Behörden und vor allem der ver-
schiedenartigen Behandlung der Parteien von Gesetzes wegen schon Tür
und Tor geöffnet war. Dieses freie Ermessen der Behörden kehrte dann
noch einmal wieder: „Vereine, die vermöge ihres Zweckes, ihrer Ein-
richtung oder ihrer Tätigkeit gesetzwidrig sind, oder das Gemeinwohl
gefährden, können durch die politische Landesbehörde aufgelöst werden."
Hier kam der Versuch, ein Ausnahmegesetz gegen die Sozial-
demokraten zu scharfen, verblümt zum Vorschein, wenn auch die
Regierung jede derartige Absicht weit von sich wies und Graf Wicken-
burg, der Minister des Innern, meinte, es werde der Behörde damit nur
die Möglichkeit gegeben, zu „individualisiere n".
Das waren so die zwei schönsten — es gab noch andere schöne —
Bestimmungen dieser Reform. Es ist begreiflich, daß die Sozialdemokraten
keinen Zweifel darüber ließen, daß sie sich einem solchen Gesetz mit allen
Mitteln widersetzen würden.
Der Deutschradikale Dr. v. Mühlwert stellte, als die Regierung
mit ihrer Vorlage herauskam, den Antrag, die lex Pernerstorfer an den
Ausschuß zurückzuverweisen — wo sie mit der Regierungsvorlage zu-
sammen verhandelt werden solle — , angesichts der klaren Haltung der
Sozialdemokraten wagte er es aber doch nicht, so offenkundig die Ver-
antwortung für die Verschleppung der Reform, die im Programm aller
Parteien dieses Parlaments stand, auf sich zu nehmen und zog daher un-
mittelbar vor der Schlußrede des Ausschußberichterstatters Pernerstorfer
seinen Antrag auf Rückverweisung zurück.
Die Pernerstorfersche Reform wurde dann einstimmig ange-
n o m m e n.
Das Herrenhaus hat sie aber nicht mehr erledigt und das alte Ge-
setz blieb bis zum Umsturz in Geltung, ebenso wie ja erst
nach dem Umsturz das Alter der Großjährigkeit auf das 21. Lebensjahr
herabgesetzt wurde.
Ein Attentat aui das Vereinsrecht. 205
Teil dieser mühevollen Arbeit wieder vernichtet werden. Man siulii
Erscheinungen wieder, die man seit Jahren nicht mehr zu beob-
achten hatte. Ich spreche nicht von dem armen Poli/eikommissar .
der jetzt wieder in den Versammlungen erscheint, der nicht ein
Gegenstand der Beängstigung, sondern des Mitleides ist. Man sieh«
aber auch wieder Behelligungen von Versammlungen und Vereinen,
an die man seit langer Zeit nicht mehr gewöhnt war. Das
schlimmste aber ist, dal! sich die Regierung selbst auf einem
falschen Wege befindet. Wie aus der Beilage zur Regierungs-
vorlage selbst zu entnehmen ist. sind an den seit dem Jahre 1S7 4
sich immerfort erhebenden Anträgen auf Reform des Vereins-
gesetzes alle Parteien des Hauses beteiligt, die mit den Massen
irgendwelche Berührung haben.
Die drückendsten Bestimmungen des Vereinsgesetzes betreffen
den Ausschluß der Frauen, der Leute unter vierundzwanzig Jahren
und das Verbot der Verbindung von Vereinen. Unter dem Kindruck
der unbedingten Notwendigkeit, hier Wandel zu schaffen, ist der
Ausschuß zusammengetreten und nach vergeblichen Bemühungen
von Dezennien ist es ihm jetzt endlich gelungen, sich im Wege
eines Kompromisses aller Parteien über
ein Minimum
zu einigen. Die Regierung erklärte nun, daß sie natürlich jedem
Bestreben, das Vereinsgesetz zu reformieren, sehr sympathisch
gegenüberstehe und die Sache selbst in die Hand zu nehmen be-
absichtige. Bei diesem Satze des Regierungsvertreters sind wir alle
erschrocken. (Heiterkeit.) Denn wir kennen die österreichische
Regierung. Die Regierung hat das Vereinsrecht in der Admini-
stration vereitelt, sie hat ihm den Boden unter den Füßen weg-
gezogen; nachdem wir diesen Boden pilotiert haben, hat sie gegen
jede Verbesserung des Vereinsgesetzes passive Resistenz geübt.
Als sich endlich das Parlament aufraffte, wenigstens ein Minimum
zu schaffen, griff die Regierung zum äußersten Mittel: die
Sache selbst in die Hand zu nehmen, um so
die Reform zu obstruieren.
(Lebhafte Zustimmung und Beifall bei den Sozialdemokraten.) Es
ist bedauerlich, daß aus der Mitte des Hauses ein Vertreter einer
Partei sich gefunden hat, um diesen Vereitlungsversuch der Regie-
rung zu unterstützen. Man könnte einen Zusammenhang zwischen
der Meinung Dr. v. M ü h 1 w e r t h s, daß den Frauen überhaupt
noch nicht das politische Vereinsrecht zu geben sei, und diesem
Versuch herstellen. Fr hat jedoch heute von diesem Motiv noch
nicht gesprochen. Doch waren die einzigen, die im Ausschuß gegen
die Ausdehnung des Vereinsrechtes auf die Frauen gesprochen
haben, die Mitglieder der Partei des Dr. v, Mühlwerth. Das Haus
wird hoffentlich der Regierung nicht auf den Leim gehen und der
angeblich großzügigen Reform die im Ausschuß einstimmig be-
schlossene bescheidene Reform opfern. Uns ist ein kleiner Ge-
winn lieber als die größte Niederlage. (Lebhafte Heiterkeit.)
206 Das System Bienerth.
Der Ausschuß hat sich also darauf beschränkt, zunächst den
Ausschluß der Frauen
aus den politischen Vereinen aufzuheben; eine Begründung ist
überflüssig. Es gibt nur wenige ganz rückständige Menschen, die
daran zweifeln, daß die Frau politisch berechtigt sein soll, so wie
sie politisch verpflichtet und politisch belastet wird. (Zustimmung
bei den Sozialdemokraten.) Und es hängt ganz von der Umgebung
ab, in der wir jeder leben, welche Meinung wir uns über die Intelli-
genz und die Befähigung der Frau bilden, in die Politik drein-
zureden. (Lebhafte Heiterkeit und Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Ein zweites Moment sind die Minderjährigen. Minderjährig im
bürgerlichen Sinne ist eine breite Schicht des Volkes, die
volljährig und vollbelastet ist im sozialen und realen Sinne.
Minderjährig mögen die Herren Studenten bis zum vierund-
zwanzigsten Jahre sein, die jungen Kavaliere, die man für die
Obligationen nicht verpflichten will, die sie eingegangen sind, voll-
jährig aber sind die Menschen, die man mit vierzehn Jahren zur
Arbeit drängt und die mit dem dreißigsten Jahre sich ihrem Ende
nähern. (Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Die Zeit zwischen
der bürgerlichen Volljährigkeit und dem durchschnittlichen Todes-
alter des Arbeiters ist kurz. Und es ist eine von allen Seiten ver-
urteilte Torheit, jene Schicht des Volkes, die zu allermindest mit
achtzehn Jahren erwerben muß, für sich verantwortlich ist, die
mit zwanzig Jahren schon schwere Lasten tragen muß, heiraten
darf und sogar heiraten soll, bis zum vierundzwanzigsten Jahre zu
entrechten.
Dr. v. Mühlwerth hat ja darin recht, daß man auch das Bürger-
liche Gesetzbuch hinsichtlich der Grenze der Minderjährigkeit ab-
ändern soll. Nur dürfen wir nicht mit dem Vereinsgesetz so lange
warten, bis das geschieht.
Dr. v. Mühlwerth: Um die Eherechtsreform*) kümmern sich die
Herren Roten gar nicht! (Lebhafte Gegenrufe bei den Sozialdemo-
kraten: Jetzt sind wird beim Vereinsrecht!)
Dr. Adler: Sie können uns beim Wort nehmen! Bringen Sie die
Eherechtsreform auf die Tagesordnung!
Dr. v. Mühlwerth: Kann denn ich dafür?
Dr. Adler: Wir haben aber den Grundsatz, daß wir jedesmal
bei den Dingen, die gerade auf der Tagesordung sind, voll und ganz
*) Mit der Eherechtsreform haben die Deutschnationalen schon in
der Monarchie das gleiche Spiel getrieben wie in der Republik. Auch Herr
Dr. v. Mühlwerth hatte einen Antrag auf Angleichung der Ehen von
Katholiken an die von Nichtkatholiken (Aufhebung des § 111 des Allge-
meinen bürgerlichen Gesetzbuches, der Katholiken auch nach der Schei-
dung das Eingehen einer neuen Ehe verbietet) eingebracht. So oft es aber
zur Abstimmung kam, liefen die Deutschnationalen, namentlich die vom
Nationalverband, davon, und das Ehehindernis des § 111 besteht bekannt-
lich auch heute noch.
Ein Attentat aul das Vereinsrecht. ^("
unseren Prinzipien gemäß handeln. (Zustimmung bei den Sozial-
demokraten.) Eines nach dem anderen! Jetzt reden wir vom
Vereinsgesetz. Machen wir jetzt also das Vereinsgesetz! Kommen
Sie mit der Eherechtsreform, so werden wir diese machen. Die
Bestimmung, daß die politischen Vereine miteinander nicht in Ver-
bindung treten sollen, hat zu den größten Vexationen geführt. Auch
gewisse bürgerliche, namentlich die nationalen Vereine haben dar-
unter zu leiden gehabt. Alle diese Dinge sind bei uns durch die
Praxis, weil wir
auf das Gesetz, das so schlecht ist, gepfiffen haben,
heute momentan nicht mehr so gefährlich, aber sie können gefähr-
lich werden. Das beweist ein Aktenstück neuesten Datums: die
heutige Regierungsvorlage. Die Regierungsvorlage hat die
Unterscheidung zwischen politischen und nichtpolitischen Vereinen
nicht mehr; aber sie hat eine eigene Kategorie geschaffen, sie nennt
sie nicht mehr politische Vereine, sondern „die im § 10 bezeich-
neten Vereine" (Heiterkeit), deren Tätigkeit „eine Einwirkung auf
das Staatswesen oder dessen Einrichtungen, auf Fragen der Gesetz-
gebung oder der Verwaltung bezwecken oder deren Tätigkeit eine
solche Einwirkung in sich schließt". Gegen solche Ausdrücke ist
der gewöhnliche Kautschuk ein sehr starrer Körper. (Heiterkeit.)
Und als ob das noch zu deutlich wäre, wird nicht gesagt, die in
diese Kategorie gehörigen Vereine seien folgendermaßen zu behan-
deln, sondern es wird gesagt, sie können so behandelt werden.
Der Minister meint, das sei eben der Fortschritt. Die Regierung sei
nicht mehr gezwungen, Ausländer oder Minderjährige aus solchen
Vereinen auszuschließen. Uns haben aber Gesetzesparagraphen nie
so behindert wie das
Ermessen der Regierung.
(Zustimmung und Beifall bei den Sozialdemokraten.) Der Ansicht
der Landesbehörden es zu überlassen, ob sie unsere glänzend auf-
blühenden Vereine der Jugendlichen oder die mitunter auch nicht
sehr beliebten nationalen Vereine, welche denselben Zweck ver-
folgen, schikanieren wollen, ob sie sie zwingen wollen, die jungen
Leute hinauszuwerfen, und dafür bei einem Verein, der in Gunst
steht, den irgendwelche konservative Kreise protegieren, nach
ihrem Ermessen diese Ausschließung nicht vorzunehmen, das ist
keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung. Auf diesen
Leim gehen wir Ihnen nicht!
Wenn heute eine Gewerkschaft eine Resolution für den Acht-
stundentag beschließt oder über das Koalitionsrecht spricht, hat
noch keine Behörde — - so blöd sind sie schon lange nicht mehr -
gesagt, daß sie damit das politische Gebiet betreten habe. Jetzt
braucht die Regierung nur zu sagen, die Gewerkschaft habe sich
mit politischen Gesetzen beschäftigt, sie habe eine Einwirkung auf
Fragen der Gesetzgebung oder Verwaltung bezweckt, und sie kann
aus einem solchen Verein alle Arbeiter unter vierundzwanzig Jah-
208 Das System Bienerth.
ren ausschließen. Vereine können jetzt aufgelöst werden ein
Verein ist ein Ding, das aufgelöst werden kann (Heiterkeit) — ,
wenn sie
„das Gemeinwohl gefährden".
Dagegen ist ja Kautschuk geradezu schon ein Diamant! (Heiter-
keit bei den Sozialdemokraten.) Mit bezug auf die Bestimmung.
daß ein Verein sich nicht in einem Zweig der Gesetzgebung oder
der exekutiven Gewalt „eine Autorität anmaßen" dürfe, erinnere
ich an den Fall der Wiener Bäckergewerkschaft, die Anfang der
neunziger Jahre eine Enquete über die Verhältnisse im Bäcker-
gewerbe veranstaltete und aus diesem Titel von der hohen Statt-
halterei - die doch weiß, nicht nur was Gemeinwohl, sondern auch
was Anmaßung ist (Heiterkeit) — aufgelöst wurde. Der Minister
wird sagen: Das war früher, jetzt sind wir gescheiter geworden.
Gewiß, aber vor Rückfällen ist die Bürokratie nicht sicher (lebhafte
Heiterkeit) und man soll den Herrschaften jedenfalls ein scharfes
Messer nicht in die Hand geben. (Neuerliche Heiterkeit.) Gerade
dadurch, daß der Entwurf dem Ermessen der Regierung so viel
Spielraum gibt, ist er so gefährlich. Wenn eine Bestimmung des
Entwurfes die Schaffung eines Verbandsverhältnisses von inländi-
schen Vereinen mit ausländischen verbietet, so ist das wieder eine
Bestimmung, die sich durchaus nicht auf die Arbeitervereine allein
bezieht, da es in allen Schichten Körperschaften gibt, die inter-
nationale Beziehungen haben müssen. Ich erinnere nur an die
internationalen Juristenvereine, die Volkswirtschaftsvereine, die
Arbeiterschutzgesetzgebungsvereine und auch an die Friedens-
vereine. Alle diese könnten in Hinkunft aufgelöst werden. Wenn
aber die Regierung sagt, sie verlange
nur die Möglichkeit der Auflösung,
sie werde damit nicht vorgehen, dann ist diese Bestimmung über-
flüssig. All das zeigt, daß in dem Moment, wo der Regierungs-
entwurf zum Gegenstand der Beratung gemacht und der Antrag
des Verfassungsausschusses zurückverwiesen wird, eine Reihe von
Fragen ganz überflüssigerweise aufgeworfen wird. Der Entwurf
enthält ja auch eine Reihe von Erleichterungen gegenüber dem
heutigen bürokratischen Verfahren. Allein darauf verzichten wir
lieber, weil wir das Kleine in Sicherheit bringen wollen vor den
Feinden der Reform und vor der allzu großen Freundschaft für das
Vereinswesen, die die Regierung jetzt entfaltet und vor der man
sich mehr fürchten muß als vor allen Feinden. (Beifall bei den
Sozialdemokraten.) Wir nehmen das wenige an, was der Ausschuß-
entwurf bietet. Hoffentlich wird das Herrenhaus nicht wieder einen
Strich durch die Rechnung machen und bei dieser Reform, über die
alle Parteien des Hauses dem Wesen nach einig sind, sich nicht
mit der ganzen Bevölkerung in Widerspruch setzen. Dann hat die
Regierung freie Bahn, dann möge sie nach gemachten neuen Er-
fahrungen einen anderen Entwurf vorlegen. Wir sind jederzeit
Die Regierung im Bunde mit der Obstruktion. 209
bereit, auch auf diese Reform einzuteilen .Jetzt aber machen wir,
was bereits fertig ist. Die Parteien des Hauses mögen sieh dureli
die Taktik der Regierung nicht kaptivieren lassen, die nicht
eine v e r e i n s f r e u n d I i c h e i s t, s o n d e r n d i e v e r e i t e 1 n
will, was alle Parteien des Hauses zusammen
bereits gemacht haben. (Lebhafter Beifall und Hände-
klatschen bei den Sozialdemokraten.)
Die Regierung im Bunde mit der
Obstruktion.
Sieben Versammlungen, 3. April 1911*).
Das gleiche Wahlrecht konnte die Bedingungen für die Entwick-
lung Österreichs scharfen, aber es konnte nicht ein Regierungs-
system beseitigen, das Österreich seit Jahrhunderten zugrunde
richtet, ein System, das sich auf die Alleinherrschaft der Büro-
kratie, der Klerisei und des Säbels gründet. Das Instrument, um
den Volkswillen zum Ausdruck zu bringen, ist besser geworden,
*) Die Methode der Gehässigkeit gegen das Parlament, die das System
Bienerth ausmachte, mußte zur Auflösung des Parlaments führen. Die
provisorische Geschäftsordnung, die sich das Parlament Ende 1908
gegeben hatte, machte die Obstruktion einiger Desperados, wie sie im
Kurienparlament die Regel gebildet hatte, so ziemlich unmöglich. Aber
Bienerth berief nun das Parhament immer so spät ein, daß es nicht zu
wirklicher Arbeit kommen konnte, sondern an fixe Termine gebunden
war, so zum Beispiel beim Budget. So war 1910 das Parlament nicht im
September, wie sonst, sondern erst Ende November einberufen worden
und hatte daher das Budget nicht mehr erledigen können. Durch die
Demission der Regierung waren überdies noch einige Tage verloren
worden. Unter dem Vorwand, daß es schwer sei, zu gleicher Zeit das
Parlament und die Delegationen tagen zu lassen, wurde das Parlament
dann wieder erst für Ende Februar zusammenberufen. Einige Tage ver-
gingen mit den üblichen Demonstrationsanträgen der Parteien, und als
das Parlament dazu kam, das Budgetprovisorium — das am 16. Dezember
bis Ende März bewilligt worden war — neuerlich zu beraten, war die
Frist natürlich zu kurz. Nun hatte die Obstruktion gewonnenes Spiel. Sie
konnte mit bloßen Reden, ohne irgendwelche Gewalttätigkeiten, die Er-
ledigung des Budgetprovisoriums bis zum 31. März verhindern. Und als
die Tschechischradikalen anfingen, zwang Bienerth förmlich die tsche-
chischen Agrarier und die Jungtschechen, mitzutun, indem er durch seine
offiziöse Presse die Auflösung des Hauses androhen ließ: hätten sich diese
Parteien gegen ihre Übernationalen gestellt, so hätten sie ihnen ja die
beste Wahlparole gegeben. Trotzdem wäre es doch möglich gewesen, das
Budgetprovisorium, wenn auch nicht bis zum 31. März, so doch bis zum
2. April fertigzustellen. Länger konnte die Obstruktion die Erledigung
nicht verschleppen. Da erwachte aber plötzlich Herrn v. Bienerths
konstitutionelles Gewissen und er erklärte, das bedeute, daß er zwei
Tage ohne verfassungsmäßig bewilligtes Budget regieren müsse, und er
müsse das Parlament auflösen. Zwei Tage ohne verfassungsmäßige^
Budget — man nannte das hierzulande Ex lex konnte er nicht regieren,
Adler, Briefe. XI. Bd. 14
210 I las System Bienerth.
und selbst im Sterben kann dieses Parlament stolz sich erheben
über jenes alte, verrottete Kurienparlament. Aber dieses erste
Parlament des allgemeinen Wahlrechtes ist mitten in seiner Arbeit
weggeschickt worden, wie man den unbequemen Gast wegschickt.
Neuwahlen und der Appell an die Bevölkerung wären ja eine nütz-
liche Sache. Aber hier handelt es sich nicht darum, daß die Be-
völkerung gefragt wird, wie sie über dieses System denkt, sondern
hier handelt es sich um die Tatsache, daß die nationalistischen
Parteien in frivoler Zügellosigkeit das Parlament ruiniert haben
und daß eine Regierung, die keinen Boden im Parlament, die keine
Beziehung zum Parlament hat, die dem Parlament feindselig gegen-
übersteht,
im Bunde mit den slawischen Nationalisten
dem Parlament den Garaus gemacht hat.
aber mit dem § 14, also mit Ausschaltung des Parlaments auf dem Wege
des Verfassungsbruches, das Budget sich selbst bewilligen, das hielt
sein konstitutionelles Gewissen aus.
Daß die Auflösung jetzt erfolgte, hatte aber noch einen besonderen
Grund. Die bozialversicherung (Alters- und Invaliditäts-
versicherung der Arbeiter) war endlich im Subkomitee des Ausschusses
zu Ende beraten worden und auch im Ausschuß war die Beratung bis
zum letzten Hauptstück gediehen, so daß noch vor Ostern die zweite
Lesung im Hause hätte beginnen können. Das war der Regierung nicht
sehr angenehm, die das Gesetz seinerzeit vorgelegt hatte, um den Sozial-
demokraten den Wind aus den Segeln zu nehmen, aber nun alles Geld
des Staates für Dreadnougths und Kanonen haben wollte, die
in den Delegationen bereits bewilligt wurden. Durch die Auflösung fiel
nun die mehrjährige Arbeit des Ausschusses zusammen. Ebenso ging es
mit einer Reihe anderer Gesetze, die im Abgeordnetenhaus fertiggestellt
waren, wie die Vereinsgesetzreform, das Gesetz über die Unfall-
versicherung in den baugewerblichen Nebenbetrieben, über die Lohn-
zahlungen im Bergbau und über die Aufhebung der Strafe für den
Kontraktbruch der Arbeiter, oder wie die Preßreform wenigstens im
Ausschuß durchberaten waren.
Die Sozialdemokraten haben die Angelegenheit vor allem von den
beiden Gesichtspunkten der Wiederanwendung des § 14 und der Ver-
eitlung der Sozialversicherung beurteilt, und sie hatten das Verhalten
der Obstruktion, die der Regierung den erwünschten Anlaß bot, und der
Regierungsparteien, die die Regierung in ihrem verbrecherischen Ver-
halten unterstützten, gebrandmarkt. In einer Beratung beim Minister-
präsidenten hatten übrigens die Führer der Majoritätsparteien ihre Be-
denken gegen die Auflösung ausgesprochen: Der Zeitpunkt sei jetzt un-
günstig, da, wie der Vertreter der Deutschnationalen ausdrücklich er-
klärte, die Majoritätsparteien der Bevölkerung nur militärische Lasten
gebracht hätten, aber nichts von dem, was sie von ihnen verlangte.
Am 27. März hatte die Regierung das Parlament vertagt. Am 31. März
löste sie es auf. Die Auflösung war schon im Dezember beschlossen.
Bienerth wartete nur auf die Gelegenheit. Dazu mußte er die Obstruktion
förmlich erzwingen.
Er hoffte, das neue Parlament werde den Sozialdemokraten eine
Niederlage bringen und die gestärkte Koalition der Christlichsozialen und
Die Regierung Im Bunde mit der Obstruktion. 211
Erinnern Sic sich, wie die Regierung zum erstenmal das Haus
geschlossen hat, damals, als die Choc-Buben*) ihre Musik aufführten.
Einige Monate darauf trat das Parlament wieder zusammen und
wieder brach die Obstruktion ans. Warum obstruieren diese Leute?
Warum hindern sie die Arbeit? Weil sie iiiitessen wollen an dem
großen Trog, an dem die anderen essen! Wieder war Herr v. Bie-
nerth froh, daß er durch die Obstruktion der Verlegenheit entgeht,
eine Abstimmung im Parlament zu wagen, wo sich zeigen würde,
daß er keine Majorität im Hause hat. In einer denkwürdigen
Sitzung der Obmänner aller Parteien gelang es uns Sozialdemo-
kraten, einen Ausgleich zu treffen, gelang es uns, alle Parteien so
mit uns fortzureißen und die Möglichkeit zu schaffen, daß die Ob-
struktion beseitigt werde und das Haus weiter arbeiten könne.
Aber die Herren von der Majorität, die sich in der Obmänner-
konferenz uns angeschlossen haben, gehen nach der Sitzung zu
Herrn Bienerth und Herr v. Bienerth sagt, daß ihm der Ausgleich
nicht gefalle, und schließt das Haus. Das Haus tritt wieder zu-
sammen, die Obstruktion beginnt wieder. Erinnern Sie sich an jene
Zeit vor Weihnachten des Jahres 1909, wo. den Herren obstruieren-
den Slawen mitten in der Obstruktion einfällt, daß sie die Ge-
schäftsordnung ändern wollen, um künftige Obstruktionen unmög-
lich zu machen. Ob der Antrag ehrlich gemeint war oder nicht, ist
eine Frage für sich, aber sicher war, daß, wenn man das Parlament
Nationalverbändler werde ihm leichter die neuen Steuern für die erhöhten
Militärausgaben bewilligen.
Die Sozialdemokraten setzten natürlich sofort mit der Aufklärung der
Wähler über das frivole Spiel der Regierung ein, die im offenen Bunde
mit den Obstruktionisten das Parlament zerstört hatte. Am 3. April fanden
in Wien sieben Versammlungen statt, die alle massenhaft besucht waren
und den Auftakt zu der Wahlbewegüng bildeten. Im Favoritner Arbeiter-
heim sprach Adler.
Am 31. März wurde das Abgeordnetenhaus aufgelöst und am 1. April
wurde schon die erste §-14- Verordnung publiziert, mit der die Regierung
ein neunmonatiges Budgetprovisorium, das laufende Rekrutenkontingent
(die Aushebung einer bestimmten Zahl von Rekruten) und zugleich auch
die Aufnahme einer schwebenden Schuld von 76 Millionen Kronen für
die außerordentlichen Kosten der Ausgestaltung des Heeres
und der Marine sich selbst bewilligte. Der § 14, der der Regierung
das Recht zu Notgesetzen gab, „wenn sich die dringende Notwendigkeit
solcher Anordnungen zu einer Zeit herausstellt, wo der Reichsrat nicht
versammelt ist", wurde wieder zum nackten Verfassungsbruch
im Interesse des Militarismus mißbraucht. Und unter den Ministem, die
diese §-14- Verordnung unterschrieben, war auch derselbe Dr. flochen-
burger, der im Jahre 1898 denen, die den § 14 mißbrauchen, mit der
Gefahr gedroht hatte, am nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft
zu werden. (Siehe Bd. VIII, Seite 474.)
) Wenzel C h o c, der tschechischradikale Abgeordnete von Prag-
Weinberge, war neben Wenzel Klofac Obmann seines Klubs; die
Obstruktionskrawalle kommandierte immer er; daher die Bezeichnung
Choc- Buben. (Siehe Bd. VIII, Seite 309.)
14*
"212 Das System Bienerth.
wollte, man sie beim Wort nehmen mußte. Das haben wir Sozial-
demokraten getan und wir haben diese Geschäftsordnung auf unse-
ren Rücken genommen. Aber wer war es, der sich widersetzt hat?
Schwer beweglich kamen endlich die Majoritätsparteien und dem
toten Lueger will ich es ins Grab nachsagen, daß er der erste in
der ganzen Runde war, der gesagt hat: „Ja, eigentlich hat der
Adler recht, wir können nicht anders*)!" Aber
wer hat damals dieser Reform der Geschäftsordnung den größten
Widerstand entgegengesetzt?
Die Regierung Bienerth! Geradezu mit Gewalt
mußten wir den Herrn Baron Bienerth dazu zwin-
gen, daß er darauf eingehe! Er wollte nicht ; denn man
könne nicht mitten im Winter das Herrenhaus zusammenberufen
vor den Jagden! Wir waren es, die diese Reform der Geschäfts-
ordnung moralisch erzwungen haben, gegen die Regierung und
gegen die Regierungsparteien!
Die Obstruktion war aus dem Hause verscheucht und zog sich in
die Ausschüsse zurück. Sie sehen nun, welcher Qualität diese Herren
Schusterschitz und Udrzal waren; diese Herren, die die Geschäfts-
ordnung angeblich wollten, um das Parlament von der Obstruktion
zu befreien, fangen nun wieder zu obstruieren an. Diese Obstruktion
im Ausschuß war nicht schwer zu überwinden. AberHerrv. Bie-
nerthwollte nicht! Aus guten Gründen. Er wollte nicht, weil
sich damals zeigte, daß seine Getreuesten, die Polen, Schwierigkeiten
machen, und weil eine Abstimmung im Hause offenbart hätte, daß
er keine Majorität habe. Also hat sich Herr v. Bienerth der Obstruk-
tion gefügt — oder, wie er sagt, nicht gefügt — und das Haus wurde
wieder geschlossen. Und nun die letzte Obstruktion. Es wird förm-
lich raffiniert darauf angelegt, dem Parlament so wenig Zeit als
möglich zu lassen. Das Parlament wird im November einberufen,
obwohl ein einstimmiger Beschluß des Hauses vorliegt, daß das
Budget im September vorgelegt werden muß. Nun kann das Budget
normalmäßig nicht mehr beraten werden. Dazwischen drängt sich die
Sorge der Delegation. Sie wissen, was das ist. Das ist das Wich-
tigste, das Heiligste, was wir in Österreich haben; das ist jene
Maschine, durch die die Kanonen, Bajonette und vor allem die großen
Kriegsschiffe bewilligt werden. Millionen werden bewilligt und es
bleibt wenig Zeit für das Parlament und für das Budget.
Aber nun wird die politische Situation eigentümlich. In Budapest
hat die Majorität des Bienerth, das sind die Herren „Deutschen", die
Christlichsozialen und die Polen,
bewilligt was das Herz des Kriegsministers und des Marine-
kommandanten begehrt*').
Hunderte von Millionen. Sie haben sich geziert, aber sie haben be-
willigt, und die Herren Slawen von der Opposition haben nur einen
^
*) Siehe unter anderem Bd. VIII, Seite 316.
**) Siehe die Rede in der Versamlung vom 7. Februar 1911: „Die
neuen Dreadnoughts" im Kapitel ..M i 1 i t a r i m u s und Krieg".
Die Regierung im Bunde mit der Obstruktion. 213
Schmerz gehabt: daß sie nicht mit dabei sein konnten heim Be-
willigen. Dann kommen die Herren von Budapest zurück und nun
handelt es sich darum, daß die Zeche, die dort gemacht wurde, hier
bezahlt wird. Denn was der Militarismus dort frißt, das müssen wir
liier berappen. Was man dort für Dreadnoughts bewilligt hat, das
muß an Steuern aus der österreichischen Bevölkerung heraus-
gequetscht werden. Da wird auf einmal den Herren ein wenig bang.
Denn sie wissen nicht, wie bald sie wieder vor den Wählern stehen
werden. Als nun Bienerth mit der Rechnung kommt und nicht mit
der ganzen, sondern nur für den ersten Bissen da wollen sie statt
der 75 Millionen für dieses Jahr nur 50 bewilligen. Aber sie raffen
sich bald zusammen und beschließen feierlich, alles zu bewilligen
um so mehr, als die Obstruktion langsam wieder anfängt. Aber Herr
v. Bienerth sieht, daß die Regierungsmajorität doch nicht mehr ganz
verläßlich ist, und darum nimmt er, wie so oft schon in diesen vier
Jahren, die Obstruktion beim Wort, um auf bequemere Weise zu
seinem Budget und zu seinen 75 Millionen zu kommen - - auf dem
Wege des § 14.
Was Herr v. Bienerth da getan hat, ist
nackter, bewußter Verfassungsbruch
und die Bedingungen dafür sind von ihm bewußt herbeigeführt
worden. Das Haus wurde aufgelöst und damit ist alle angefangene
Arbeit, an der das Wohl von Hunderttausenden hängt, ins Wasser
gefallen. Wir alle, die wir alte Sozialdemokraten sind, wissen sehr
wohl, daß das Ziel der Arbeiterschaft nicht solche Versicherungen
sind, daß wir Höheres und Größeres anstreben, aber ebenso, wie
wir in jeder Stunde unseres Kampfes unser letztes Ziel, die Be-
freiung vom Kapitalismus, anstreben, so kämpfen wir mit Zähigkeit
für den kleinsten Fortschritt, der der Arbeiterschaft zugute kommt
Darum haben wir im Parlament nicht nur für die Sozialversicherung,
sondern auch für eine ganze große Zahl großer und kleiner Gesetze
das Äußerste an Fleiß und Gewissenhaftigkeit geleistet und wir
können mit reinem Gewissen vor unsere Wähler treten, denn wir
haben unsere Schuldigkeit voll und ganz getan! (Stürmischer Beifall.)
Wir fürchten also das Urteil der Wähler nicht, und wenn wir über
die Auflösung empört sind, so nicht darum, weil wir die Neu-
wahlen fürchten, sondern darum, weil soviel Kraft und Arbeit
vergeudet und eine große Reform verzettelt wurde, auf die
Millionen von Menschen warten (lebhafter Beifall) und das nur des-
halb, weil Herr v. Bienerth nicht weiter regieren kann und weil er
mit Sicherheit darauf rechnet, daß ein neues Parlament, das die
Wahlen noch in weiter Ferne sieht,
die neuen Dreadnoughtsteuern pünktlich liefern
wird.
Bienerth glaubt, daß er vor das neue Parlament noch treten wird
mit seinem ganzen Generalstab von Leuten, die die Verfassung mit
Füßen getreten haben; er glaubt, daß das neue Haus besser für ihn
sein wird, und um das zu bewirken, hat er mitgeholfen, einen neuen
214 Das System Bienertb.
Bund zu stiften: den Bund aller bürgerlichen Parteien, den Bund
aller Parteien, die nicht Sozialdemokraten sind! Klerikale und Libe-
rale, Agrarier, Städter, Kapitalisten und Großgrundbesitzer und
Zünftler, alle zusammen gegen uns! Alle gegen die Sozialdemokraten,
alle gegen das arbeitende Volk! (Stürmische Pfuirufe; Rufe: Die
Arbeiter sind mehr wert als alle die Faulenzer!) Alle zusammen
gegen die Arbeiter! Aber ich sage Ihnen: Dieses Bündnis
gegen uns, das ist unser Stolz! Denn es ist
das Zeugnis, daß die Sozialdemokratie ihre Pflicht erfüllt hat.
(Stürmischer, andauernder Beifall.) Dieser Haß aller derer, die aus-
beuten, aller derer, die auf die Dummheit spekulieren, aller dieser
Knechte des Militarismus und der Klerisei, dieser Haß gegen uns ist
das Ehrenzeichen, das wir auf der Brust tragen, daß sich die Sozial-
demokratie den Haß aller Reaktionäre redlich verdient hat. (Neuer-
licher stürmischer Beifall.) Ja, wir sind ihnen allen ein Stein des An-
stoßes. Herr Bienerth sucht Material für diesen Bund zu liefern, und
dieses unnatürliche Bündnis kann nicht besser eingeweiht werden als
durch eine widernatürliche Lüge und niederträchtige Verleumdung,
die man als Motto gesetzt hat bei der Stiftung dieses Bundes: daß
die Sozialdemokraten der Obstruktion stillschweigend, ja sogar
helfend beigestanden haben! Der Herr Ministerpräsident Baron
Bienerth muß sich bewußt sein, und er ist sich dessen bewußt, daß
er damit eine ganz bewußte Unwahrheit aus-
gesprochen hat. Er weiß es, und niemand weiß es so gut wie
er, daß es Zeiten gegeben hat, wo die Sozialdemokraten allein dieses
Haus gehalten haben, wo es zusammengebrochen wäre unter der
Unfähigkeit der einen und der Frivolität der anderen; er weiß es,
daß die Sozialdemokraten allein mit Hintansetzung des bloßen Partei-
interesses, weil sie das Parlament, als den gemeinsamen Boden aller
Völker, erhalten wollten, sich in die Bresche gestellt und für dieses
Parlament gekämpft haben zu einer Zeit, da den anderen allen der
Mut schon längst zum Teufel gegangen war; er weiß es und er weiß
auch, daß ihm diese unsere Arbeit für das Haus mitunter recht wenig
angenehm war, daß ihm mitunter etwas weniger Eifer auf unserer
Seite mehr Freude gemacht hätte.
Diese Lüge ist dem Kartell der reaktionären Parteien gegen die
Sozialdemokratie mit auf den Weg gegeben worden. Die Regierung
hat für ihre Parteien nichts anderes als ein bißchen Dispositionsfonds
und einen großen Sack von Lügen. Politische Gedanken kann sie
ihnen nicht liefern. Nicht ein Gedanke ist in diesem ganzen Wust von
Phrasen zu finden, die die Regierung von sich gegeben hat, nicht ein
Gedanke auch in dem, was wir bisher von Wahlaufrufen der
Bürgerlichen gelesen haben. Lesen Sie die Wahlaufrufe der
Christlichsozialen, der Deutschradikalen, des Deutschen National-
verbandes! Überall nur große allgemeine Redensarten. Und merken
Sie wohl! Das Wichtigste in diesen drei Kundgebungen ist
das, was nicht darin steht
Kein Wort in allen diesen Aufrufen von Kanonen, kein Wort von
Kriegsschiffen, kein Wort von neuen Steuern! Und doch dreht sich
Die Regierung im Bunde mil der Obstruktion. 21 i
Jas ganze politische Leben Österreichs heute einzig und allein um
diese Dinge. Aber darüber wollen sie nicht befragt werden und wenn
man in dem jetzt beginnenden Wahlkampf SO einen Herrn recht in
Verlegenheil bringen will, so braucht man ihn nur zu Interpellieren,
ob er einverstanden ist, daß man in Budapest alles bewilligt hat, und
ob er als Abgeordneter sich verpflichtet fühlen wird, die neuen
Steuern dafür zu bewilligen.
Das ist die Frage, um die sich der ganze Kampf dreht. Uns will
man niederbeugen, hauptsächlich, weil wir so unangenehm gründliche
Leute sind. Daß wir bei der Beratung der Steuern so unangenehme,
kitzliche Fragen im Finanzausschuß stellten, daß wir die Bewilligung
der Steuern nicht beschleunigt haben, haben sie uns vorgeworfen.
Es ist ja wahr, wenn wir für die Steuern gewesen wären, so wären
sie schon lange fertig (Heiterkeit); aber wir haben tatsächlich keine
Eile gehabt und haben wirklich eine gründliche Beratung herbei-
geführt. Aber das war nicht Obstruktion, um so weniger, weil ja die
Herren selbst nicht wußten, was sie wollten, weil weder der Kory-
towski, noch der Bilinski, noch der stille Gelehrte, der arme Meyer,
wissen, wie man ein Finanzprogramm aufstellt, auf Grund dessen
man Gelder kriegt und Steuern einhebt, ohne daß es jemand zahlt
— weil das die Wähler doch nicht wollen. (Heiterkeit und Beifall.)
Sie wissen heute noch nicht, nach welcher Methode sie die Hunderte
von Millionen aus der Bevölkerung herausziehen können. Ja, wozu
man keine Gesetze braucht, das bringt man ganz leicht zuwege. Sie
werden vom 1. Juli an, also
gleich nach den Wahlen,
Ihre Zigarren und Zigaretten beträchtlich teurer zahlen müssen. Dazu
braucht man kein Gesetz. Wir haben allerdings den Antrag ein-
gebracht, daß darüber das Parlament entscheiden soll, und das wäre
jetzt im Budgetausschuß zur Sprache gekommen . . . Aber man hat
uns nach Hause geschickt und so ist man der Kritik ausgewichen.
Darum bekämpft man uns, weil wir eine Verlegenheit sind, weil
wir den wirklichen Willen der Bevölkerung darstellen, und auch
darum, weil es unserer Arbeit gelungen ist, daß in diesem Parlament
mehr sozialpolitische Arbeit geleistet wurde — trotz aller Schwierig-
keiten — als in einem Jahrzehnt des alten Kurienparlaments; weil
wir sie schließlich gezwungen haben, dafür zu stimmen, als sie nicht
mehr auskonnten. Allerdings ist jetzt eine andere Methode auf-
gekommen: sie verstecken sich hinter das Herrenhaus; im Abgeord-
netenhaus sind sie sozialpolitisch, im Herrenhaus machen sie Aus-
beuterpolitik — dieselbe Firma mit getrennten Filialen. Die ganze
Strömung geht jetzt gegendenFortschrittinderSozial-
p o 1 i t i k, g e g e n d i e A r b e i t e r s c h a f t. Genug habt ihr schon !
Immer mehr Lohn, immer kürzere Arbeitszeit, wohin soll das führen?
Die Herren Ausbeuter fangen an, sich bedroht zu fühlen, und sie
glauben, es müsse endlich wieder eine Ära der sozialpolitischen Re-
aktion kommen.
216 Das System Bienerth.
Der Scharfmacher soll König sein!
Man hört auf, sich zu genieren. Unverschämt und ungeniert wird
das Scharfmachertum zum politischen Regenten!
Darum, Parteigenossen, wenden sich alle gegen uns und darum
werden wir bei diesen Wahlen einen frischen, fröhlichen Krieg führen
gegen die ganze reaktionäre Masse. (Brausender Beifall.) Der Kampf
ist unser Element! Wir zweifeln nicht daran, daß die Arbeiterschaft
zeigen wird, daß sie treu steht zu sich selbst, daß sie von sich und
von ihren heiligsten Interessen nicht abgefallen ist, daß sie nicht faul
und nicht verlottert ist; wir zweifeln nicht, daß sie gegen das Bünd-
nis der Reaktion aufstehen und Mann für Mann in emsiger Arbeit
bezeugen wird, daß sie sich das bißchen, was sie errungen hat, nicht
nehmen lassen wird; wir zweifeln nicht, daß die Arbeiterschaft diesen
Knechten der Reaktion, diesem Klüngel von Agenten der Hunger-
politik, von Agenten des Militarismus, der uns aussaugt und den
Frieden stört, daß sie diesen Agenten eines Klerikalismus, der all-
mächtig wird in dem Moment, wo das sogenannte liberale Bürger-
tum von Herrn Geßmann geführt werden wird — zeigen wird, daß
sie der vereinigten Reaktion trotzt und daß sie vor-
wärts will, bis ihr ganzes Recht erfüllt ist. In diesem
Sinne, imKampfegegenalle gehen wir in die Wahlbewegung;
gegen Bienerth, gegen die Bienertherei, gegen die
reaktionäreMasse, nennesiesich liberal, national
oder klerikal! (Stürmischer, minutenlang andauernder Beifall.)
Hunde der Regierung Bienerth.
Wählerversammlung, 16. Mai 1911*).
Lassen Sie mich an das Wort, das unser Vorsitzender und Be-
zirkshauptmann (Heiterkeit) gesprochen hat, anknüpfen. Die Arbeit,
die in allen Bezirken — aber hier in besonderem Maße — geleistet
wurde, ist ein Ehrenzeugnis für die sozialdemokratische Arbeiter-
schaft, aber keines für die christlichsoziale behördliche Verwaltung.
Es ist eine in Europa einzig dastehende Sache, daß, um auch nur
die Vorbedingungen für eine Wahl zu treffen, ein solcher Aufwand
*) Die Wahlen in Niederösterreich fanden am 13., die Stichwahlen am
20. Juni statt. Bei diesen Wahlen, die der Ministerpräsident ausgeschrieben
hatte, um die Sozialdemokratie zu zerschmettern, erlitten die Christlich-
sozialen in Niederösterreich eine vernichtende Niederlage: B i e 1 o-
hlawek, Geßmann, Liechtenstein, Pattai, Steiner, Weis-
kirchner, Wittek fielen in den als sicher angesehenen Wahlkreisen
durch. In der Wählerversammlung im Arbeiterheim vom 16. Mai hielt
Adler mit den bürgerlichen Parteien Abrechnung.
In seiner Eröffnungsrede erzählte Pölzer, der Obmann der Bezirks-
organisation, daß 3378 Reklamationen durchgeführt wurden. Hätte die
Reklamationsfrist noch acht Tage lang gedauert, so hätte man noch
weiteren tausend Wählern, die vom Magistrat ausgelassen wurden, das
Wahlrecht verschaffen können.
Hier seien die in dieser Rede genannten Personen vorgestellt: Doktor
Robert Pattai, christlichsozialer Präsident des Abgeordnetenhauses:
Munde der Regierung Bienerth. 217
von Arbeit gemacht worden muß. Hunderte von Menschen müssen
durch Wochen und Wochen, Tag und Nacht unausgesetzt arbeiten,
um die Leistung zu bewirken, die der Magistrat mit seinem kolos-
salen Beamtenapparat liefern soll. Es sind nicht nur Hunderte von
Menschen damit beschäftigt, die die Schreibarbeiten machen, son-
dern Tausende in ganz Wien sind jahraus, jahrein tätig, um nicht
etwa eine politische Leistung hervorzubringen, sondern um die
politische Leistung erst möglich zu machen. Nur damit uns das
Wahlrecht werde, das auf dem Papier des Gesetzes steht, muß
diese ungeheure Arbeit gemacht werden. Das Pflichtbewußtsein,
der Fleiß, die Energie und nicht zuletzt die Klugheit, die sich in
dieser ganzen Arbeit aussprechen, sind allerdings eine ganz gute
Schulung für eine Menge anderer Dinge, und so gereicht das, was
uns zum Nachteil sein sollte, in anderer Weise
z um V o r t e i 1.
Als ich nach der Auflösung des Hauses zu Ihnen sprach, hatte
gerade der Ministerpräsident die Wahlparole ausgegeben, der sich
alle bürgerlichen Parteien angeschlossen haben. Sie lautet: Alle
bürgerlichen Parteien vereinigt für das Ministerium Bienerth gegen
die Sozialdemokratie! Eine Koalition sollte geschaffen werden,
um die Sozialdemokratie zu vernichten
(Heiterkeit), das heißt ja nur, ihr ein bis zwei Dutzend Mandate
wegzunehmen und der Regierungsmajorität soviel Stimmen mehr
zuzuführen. Der Sinn war: der große Bund aller Bürgerlichen gegen
den Umsturz. Uns hat das sehr gefreut. Ich erinnere mich, daß ich
mit wahrer Freude ausrief: Endlich haben wir sie alle zusammen
gegen uns! Da freut einen das Leben wieder! (Heiterkeit.) Aber die
Freude hat nicht lange gedauert, und der Bund schaut heute etwas
struppiert aus. Sie sind nicht imstande gewesen, sich miteinander zu
vereinigen, so gern sie das täten; ja, jede einzelne dieser Parteien
wäre froh, wenn sie nur im eigenen Lager eine Einigkeit zusammen-
brächte. So haben wir überall einen Luxus an Gegenkandidaten.
Und wenn es mit der Zahl der Kandidaten zu machen wäre, hätten
die Herren die besten Chancen. (Lebhafte Heiterkeit.) Wenn aber
auch die Kräfte fehlen, um die Koalition zustande zu bringen, die
Absicht ist selbstverständlich heute noch vorhanden, und keiner
Dr. Richard Weiskirchner, der vor Pattai Präsident war, Handels-
minister, Stanislaus Q 1 o m b i n s k i, Allpole, Eisenbahnminister in der Regie-
rung Bienerth; Dr. Otto L e c h e r, Sekretär der Brünner Handelskammer,
deutschliberaler Abgeordneter von Brunn, der in den Obstruktions-
kämpfen gegen Badeni eine dreizehnstündige Rede gehalten hat; Doktor
Julius Sylvester, dcutschnationaler Abgeordneter von Salzburg, später
Präsident des Abgeordnetenhauses, nach dem Umsturz in der ersten Regie-
rung Staatsnotar; Dr. Otto Steinwender, Gymnasialprofessor, deutsch-
nationaler Abgeordneter aus Kärnten, Mitverfasser des deutschnationalen
Linzer Programms (mit Adler, Pernerstorfer), nach dem Umsturz Finanz-
minister in der Regierung Renner; Dr. Albert G e ß m a n n, Abgeordneter
von Mistelbach, der eigentliche christlichsoziale Führer, im Kabinett Beck
Arbeitsminister.
218 Das System Bienerth.
der Herren, die die Repräsentanten der Regierungspolitik sind, kann
den Mund aufmachen, ohne aufzurufen zum Kampfe gegen die
Sozialdemokratie und ohne gegen sie eine ganze Reihe von Be-
schuldigungen vorzubringen.
Vor allem dreht sich die Diskussion um die Frage:
Warum ist das Haus aufgelöst worden
und wer ist schuld? Da sagen alle: Schuld sind die slawische Ob-
struktion und die mit ihr verbündeten Sozialdemokraten. Aber die
Herren sind auch in diesen Dingen nicht miteinander einig und haben
einzelne, die einen ganz anderen Aufschluß geben. Der Herr Doktor
P a 1 1 a i, der sich nach und nach herauswächst als der verehrte
Vater der christlichsozialen Partei, der aber, wie ich fürchte,- sehr
bald als ihr Schreckenskind gelten wird, der hat gesagt: „Warum
das Haus aufgelöst wurde, hat einen sehr einfachen Grund. Die
Regierung muß vom Parlament verlangen, daß soundso viel Mil-
lionen für die Militärforderungen bewilligt werden. Die bürger-
lichen Parteien möchten sie ja gern bewilligen, aber sie haben
sich nicht getraut, weil die Mandate bald ab-
laufen. Nun hat man das Haus aufgelöst, und da werden sie im
Besitz der Mandate sein, der sie auf sechs Jahre vor ihren Wählern
sicherstellt, und sie werden bewilligen. Damit sie das
können, hat man das Haus aufgelöst!" (So ist es!)
Diese Auskunft Pattais ist, so wahr sie ist, so beschämend für die
bürgerlichen Parteien und die hohe Regierung. Es ist
der Sinn dieser Wahl
der: Sind die Wähler gesonnen, die schweren Lasten auf ^ich zu
nehmen, die unsere Militärfanatiker, Qroßmachtspolitiker und
imperialistischen Narren haben auflaufen lassen? Kein Zweifel, daß
es an dem guten Willen der Bürgerlichen nicht gefehlt hat, die
Rechnung zu bezahlen. Die Aktionäre, die Großkapitalisten, die alle
an dem Geschäft profitieren, das der Militarismus mit sich bringt,
möchten sehr gern bewilligen, denn es geht aus dem Sack der
anderen in den eigenen Sack, und die etwa zögern möchten, wie
einzelne Mitglieder der deutschliberalen Partei und wie hie und da
ein Christlichsozialer, der noch nicht ganz und gar Regierungs-
knecht geworden ist oder an seine Wähler denkt, sagen sich:
Schließlich werde ich doch bewilligen. Ein reichsdeutscher Liberaler,
Bamberger, hat einmal in dieser Lage gesagt: „Wir wehren uns,
aber schließlich bewilligen wir,
Hunde sind wir ja doch!"
Weil sie aber wissen, daß die Sozialdemokraten
keine Hunde sind, sich nicht einschüchtern lassen mit der
Hundspeitsche, sich rücksichtslos wehren gegen jede Belastung des
Volkes: darum sind wir ihnen ein Dorn im Auge, darum die possier-
lichsten Vorwürfe von Negation, Staats- und Familienfeindschaft
und weiß noch was alles auf der einen Seite, auf der anderen Seite
aber andere komische Vorwürfe. Herr Dr. Lech er hat traurig
Hunde der Regierung Bienerth. 219
gesagt: Das Unglück sei, daß wir nicht positive Politik machen
wollen, und der Herr Dr. Sylvester hat es getadelt, daß wir
nicht in die Arbeitsmehrheit eintreten wollen. (Lebhafte Heiterkeit.)
Eine so große Partei! sagen sie. Was wäre das für eine schöne
Arbeitsmajorität, wenn sie sich entschlösse, die Verantwortung mit
ZU übernehmen. Natürlich nieinen sie nicht die V e r a n t w o r-
t u n g f ü r d a s, w a s w i r w olle n, sondern für das, was die
Regierung will. (Lebhafte Zustimmung.) Dr. Lecher, ein Mann,
der die Fehler seiner eigenen Partei und die Schwäche der Bürger-
lichen Ranz Renan kennt, sagt: „Line wirklich positive Politik wollen
sie nicht machen und sie müssen sich damit begnügen, nichts nach
Hause zu bringen als ein halbes Dutzend armseliger sozialpolitischer
Gesetzchen." Das kleinste sozialpolitische Gesetz-
chen ist mir aber
lieber als die schönste und größte Steuervorlage,
die den Völkern das Mark aus den Knochen zieht. (Lebhafter Bei-
fall.) Welche Merkwürdigkeit, daß ein bürgerlicher Politiker der
Sozialdemokratie vorwirft, daß sie zu genügsam ist, sich mit kleinen
Gesetzchen begnügt, statt die allerdings sehr großzügige Politik
der Kriegsschiffe zu machen. Wir hätten allerdings mehr
nach Hause gebracht als ein halbes Dutzend, wenn diese Ge-
setze nicht vereitelt worden wären, zum Teil vom
Herrenhaus, zum Teil vom Abgeordnetenhaus. (So ist es!) Genossen!
Sie werden mit uns einig sein, daß wir diese Gesetzchen
nicht verachten. So sehr wir den vollständigen Umbau der
Gesellschaft für notwendig halten, so sehr wir Revolutionäre
sind, so sehr sind wir auch Arbeiter für die Reform
Schritt für Schritt, weil wir wissen, daß der Weg zum
großen Ziele Schritt für Schritt gemacht werden muß. Wenn sie uns
höhnen, weil wir angeblich Utopien nachgehen, und uns dann höhnen,
daß unsere Schritte so klein sind, so zeigen sie nur, daß sie hirnlos
sind und den Charakter der Zeit noch nicht begriffen haben.
Die Sozialdemokratie soll an den verschiedensten Dingen schuld
sein. Gestern hat der
Redeminister des Ministeriums
gesprochen. (Heiterkeit.) Sie fragen, wer das ist? Das ist Seine
Exzellenz Herr Weiskirchner. (Heiterkeit.) Dieses Ministerium kann
nicht anders sprechen als durch Dr. Weiskirchner. Die anderen sind
keine Abgeordneten, außer dem Dr. Glombinski, aber der spricht
polnisch. Dr. Weiskirchner hat nun die Gründe untersucht, warum
das Parlament aufgelöst ist. Er ist dabei mit seinem intimsten —
Freund trau' ich mich nicht zu sagen - - Parteigenossen P a 1 1 a i in
d a a größten Widerspruch gekommen. Er hat gesagt, der
Grund der Auflösung des Hauses sei, daß man das Budgetpro-
visorium auf zu kurze Zeit bewilligt habe. Im Dezember ist das große
Unglück geschehen. Die Regierung wollte ein Budgetprovisorium
für sechs Monate, man gab ihr aber nur eines für drei Monate, und
220 Das S.\ stein Bienerth
daran waren die Sozialdemokraten in erster Linie sehuld, die in
ihrer „K u r z s i c h t i g k e i t'\ wie Weiskirchner sagte, nicht be-
rechnen konnten, was das für Folgen haben wird. Dadurch ist aber
die Regierung ins Gedränge gekommen und hat auflösen müssen,
weil sie ohne Budget dagestanden wäre und man ohne Auflösung
den § 14 nicht hätte anwenden können. Diese Kurzsichtigkeit möchte
ich nun beleuchten. Wie Dr. Weiskirchner die Situation schildert,
war sie aber gar nicht. (So ist es!) Im Dezember mußte die Regie-
rung um ein Budgetprovisorium einkommen. Sie hat wohl verlangt,
man möge ihr für sechs Monate gestatten, Steuern einzuheben und
Ausgaben zu machen. Darauf haben mehrere Parteien, vor allem die
Sozialdemokraten, gesagt: „Nein, auf sechs Monate nicht!" Vor
allem aus einem sehr wichtigen Umstand, den aber der Herr Weis-
kirchner vollständig übersieht. Es hat nämlich damals eine defini-
tive Regierung gar nicht gegeben. Das Ministerium
Bienerth hatte demissioniert und war nur mit der Fortführung der
Geschäfte betraut. Weiskirchner hat zwar schon gewußt, daß er
auch weiter Minister bleiben wird (Heiterkeit); aber das Parlament
kann doch nicht einer Regierung Machtvollkommenheiten geben,
ohne zu wissen, welche Regierung das ist. Ein Parlament würde sich
blamieren, wenn es rein ins Blaue hinein, wenn es einer Regierung,
die es nicht kennt, auf so lange Zeit Vollmachten gibt. So ist es
gekommen, daß die „Kurzsichtigkeit" der Sozialdemokraten, der wir
allerdings kräftig Ausdruck gegeben haben, auch von bürgerlichen
Parteien, nicht nur von den Tschechen, geteilt wurde, und daß der
Antrag auf sechs Monate im Budgetausschuß mit 29 gegen
11 Stimmen abgelehnt wurde. Wenn alle neun Christlichsozialen
damals dagewesen sind, so sind unter den elf fanatischen Bienerth-
Husaren nur zwei Deutschbürgerliche gewesen. Den Antrag, das
Budgetprovisorium nicht auf sechs Monate zu bewilligen, hat
Dr. Stein w ender gestellt, der kein Sozialdemokrat ist und
auch der slawischen Opposition nicht angehört. (Heiterkeit.) Es ist
also das, was Dr. Weiskirchner über die Kurzsichtigkeit der Sozial-
demokraten erzählt hat, nur eine A u s r e d e, die ungeschickt und nur
auf die Unwissenheit der Wähler berechnet
ist. (Sehr richtig!) Weil ich mich mit Dr. Weiskirchner beschäftige, so
muß ich feststellen, daß er die Wahlparole der Regierung wieder in
den Vordergrund gestellt hat. Diese Wahlparole soll sein: das Fest-
halten an dem Prinzip einer festen, objektiven, allen Parteieinflüssen
entrückten Verwaltung. (Schallendes Gelächter.) Da muß nun vor
allem eines auffallen. Wenn man für eine Regierung eintreten soll,
muß man wissen, was sie will. Spricht sie das da in dieser Wahl-
parole aus? Nein, sie hat nur negative Eigenschaften.
(Heiterkeit.) Unparteiisch, Parteieinflüssen unzugänglich: das ist,
auch wenn es wahr ist, nur negativ und ist so, als ob jemand, der
gefragt wird, was sein Beruf ist, antworten würde: Ich habe nichts
gestohlen und wünsche ferner nichts zu stehlen. Aber kein Ver-
brechen zu begehen ist keine Beschäftigung und kann nicht das
Hunde der Regierung Bienerth. 221
Lehen einer Regierung ausfüllen. (Lebhafte Zustimmung.) Eine
Regierung, die behauptet, sie werde keine Verbrechen begehen
ob es wahr Ist, werden wir sehen , gibt keine Wahlparole aus,
eharakterisiert sieh nicht, sondern verschweigt, was sie
will. (So ist es!) Wäre sie ehrlich, so müßte sie sagen, ihr Ziel sei,
ein Parlament zu bekommen, das die kostspielige Verstärkung des
Heeres bewilligt, das neue schwere Steuern bewilligt und, nicht zu
vergessen, das Veteranengesetz. (Lebhafte Heiterkeit.) Kurz, ein
Parlament zu bekommen für alle Dinge, die die Regierungsparteien
wollen und die vor allem die sogenannte Großmacht, das sogenannte
Reich möchte. Das Programm dieser Regierung ist in Wirklichkeit:
„Alles, was für diese Großmacht nötig ist, dem Parlament abzu-
trotzen oder abzulisten, das will ich, alles andere ist mir gleich-
gültig." (Lebhafte Zustimmung.)
Ist es aber nicht kurios, daß Weiskirchner, der nicht immer
Handelsminister war, sondern auch eine genaue Kenntnis der Ge-
schäftsführung des Magistrats hat, es wagt, an dem Tage, da
bekannt wird, daß 42.000 Reklamationen eingebracht wurden, von
einer objektiven und parteilosen Verwaltung zu sprechen? Man
sage nicht, daß dafür nur der Magistrat und nicht das Ministerium
verantwortlich ist; jeder Mensch weiß es und Dr. Weiskirchner weiß
es noch besser, daß diese
Schandwirtschaft nur möglich ist, weil die Regierung die Dinge
gewähren läßt.
(Laute Zustimmung.) Von der parteilosen Verwaltung spricht Weis-
kirchner, der in einem Ministerium sitzt mit dem „liberalen"
S t ü r g k h, der die Unterrichtsverwaltung zugunsten der Klerikalen
führt. (So ist es!) Herr Weiskirchner spricht von einer von Partei-
einflüssen unabhängigen Regierung; aber ist der Handelsminister
selber in seiner Verwaltung unabhängig von Parteieinflüssen? (Sehr
gut !) Welche passive Resistenz, welchen hartnäckigen
Widerstand findet man gegen jeden sozialpolitischen Fortschritt,
seit Weiskirchner Minister ist? Das merkt man im Parlament, im
Ausschuß, im Arbeitsbeirat, das merkt man, so oft man mit einem
Sektionschef oder einem Hofrat oder mit Seiner Exzellenz selbst zu
tun hat. Immer steht er
unter dem Einfluß der Großunternehmer und der Scharfmacher.
Und es bedarf des größten Kraftaufwandes, um nur den kleinsten
Fortschritt im Arbeiterschutz zu erzielen. Aber Dr. Weiskirchner hat
gestern für Konsumentenpolitik gesprochen und sich den
Luxus geleistet, gegen den Reichsritter v. Hohenblum*) einen Protest
vorzubringen, weil der sich die schnoddrige und freche Redensart
erlaubt hat, daß die Frauen nur darum das Fleisch billiger haben
*) Dieser Hohenblum war damals als Präsident der agrafischen
Zentralstelle eine sehr mächtige Person, um so mehr, als er an
agrarischer Demagogie alle arideren übertraf und die bürgerlichen Abgeord-
neten terrorisierte.
222 Das System Bienerth.
wollen, damit sie sich die Hüte breiter machen können. Das ist eine
Frechheit dieses Herrn, aber ich würde sehr wünschen, daß Weis-
kirchner die Energie, die er gegen diese Äußerung aufgewendet
hat, gegen den Agrarismus aufbrächte, wenn er nicht nur Maul
gegen Maul, sondern Tat gegen Tat setzen würde. (Laute Zustim-
mung.) Der Protest gegen eine Phrase tut den Agrariern nicht weh,
aber die ganze Regierungstätigkeit Weiskirchners zeigt auf Schritt
und Tritt einZurtickweichenvordenAgrariern. (Leb-
hafter Beifall.) In der Fleischfrage, in der Zollfrage, bei den Handels-
verträgen hat er etwas geleistet, was seine ganze Regierungs-
methode und seine ganze Persönlichkeit als Politiker kennzeichnet.
Er sagt, in keiner Wählerversammlung dürfe man an die Phrase von
den breiten Hüten vergessen. Ich sage wieder:
In keiner Wählerversammlung soll man des 26. März 1909 vergessen!
Da ist auf der Tagesordnung des Volkswirtschaftlichen Aus-
schusses ein Ermächtigungsgesetz gestanden. Die Regie-
rung sollte ermächtigt werden, mit Bulgarien und Mexiko Handels-
verträge abzuschließen. Nun hat wieder ein so kurzsichtiger Sozial-
demokrat, Genosse S e i t z, gesagt, wir sollen der Regierung auch
die Ermächtigung und den Auftrag geben, mit Serbien einen
Handelsvertrag zu vereinbaren. Da ist Weiskirchner aufgestanden
und hat in einer begeisterten Rede zugestimmt. Der
Antrag Seitz wurde angenommen. Der Referent war Dr. Licht,
ein Liberale von Rothschilds Gnaden; im Ausschuß hat er zuge-
stimmt und im Hause ist er umgefallen. Der Handelsminister, der
sich vor wenigen Tagen für die vernünftige Politik ausgesprochen
hat, hat wegen des Einspruchs der Agrarier sein eigenes Wort
verleugnet und der Antrag ist abgelehnt worden.
(Stürmische Entrüstungsrufe.) Damals hat man gesehen, welcher
Charakter Weiskirchner ist. Man wußte aber noch, nicht, warum er
sich so rasch geändert hat. Später hat sich's herausgestellt, daß er
durch einen Geheimvertrag mit Ungarn gebunden ist und sich ver-
pflichtet hat, nicht mehr Vieh herüberzulassen, als den ungari-
schen Viehzüchtern paßt. (Rufe: Ein Judäomagyar! Ein Vater-
landsverräter!) Dieses Beispiel genügt, um zu verstehen, was es
heißt, wenn dieser Mann von der parteilosen Regierung spricht und
von der „kurzsichtigen" Sozialdemokratie, die das glorreiche Mini-
sterium verhindert haben soll, alle Segnungen auch über uns auszu-
schütten, die es für uns bereit hat. (Sehr gut!)
Die Parteien glauben ja selbst nicht, was sie sagen. Wer meint
denn, daß die Christlichsozialen an die Parteilosigkeit der Regierung
glauben? (Lebhafte Heiterkeit.) Es handelt sich ja darum, ein Regime
zu erhalten, bei dem ihrWeizenblüht, und das wird natürlich
um so notwendiger, als es ja bei ihnen selbst anfängt, ein bißchen
unangenehm auszusehen.
Die Erbschaft, die Dr. Lueger hinterlassen hat,
wird von Dr. G e ß m a n n gerade nicht in glücklicher Weise fort-
Hunde dei Regierung Bienerth. 223
geführt. So sympathisch Dr. Lueger so vielen Wienern war, so
unsympathisch ist ihnen Qeßmann. Er ist zu gescheit, zu klug, er
will fortwährend überlisten. Qeßmann hat aber das große Verdienst,
den Schleier gehoben zu haben von den Zuständen in der christ-
lichsozialen Partei. Sie waren ja zum Teil zugedeckt durch die per-
sönliche Beliebtheit und die abgöttische Verehrung für Dr. Lneger.
Selbstverständlich liegen die Ursachen der Wirren tiefer. Diese
Partei mußte an ihrer innerlichen Unmöglichkeit früher oder später
kaputt gehen. Es widerspricht allen wirtschaftlichen und politischen
Tatsachen, daß man Interessengegensätze der größten und schärfsten
Art in einer Partei vereinigen könnte. So wie die Bibel sagt: „Man
kann nicht Gott dienen und dem Mammon" - - ich weiß nicht, wie
Qeßmann das mit sich ausmacht (lebhafte Heiterkeit) — , so wenig
ist es möglich, daß man dem Hausherrn und städtischen Grund-
besitzer und dem armen Mieter zugleich hilft, daß man dem Groß-
industriellen und dem Kleingewerbe und dem Arbeiter auch noch
hilft. Es ist ausgeschlossen, sich von den Großerzeugern von Vieh
und von Brotfrucht kommandieren zu lassen und zugleich zu behaup-
ten, daß man das im Interesse der großen Massen der städtischen
Bevölkerung tut, die billiges Brot und Fleisch braucht. Man kann den
Wucherern und den Bewucherten nicht zugleich helfen. So hat sich
in dieser Partei nach und nach eine Zersetzung vollzogen. Ich
erinnere mich an die Zeit, als die Christlichsozialen anfingen. Damals
hat der arme Kronawetter gesagt: „Was soll ich machen? Die ver-
sprechen jedem eine goldene Uhr, ja was, eine goldene Uhr? ein
Haus!" (Lebhafte Heiterkeit.) Das sollte alles geschehen mit dem
Befähigungsnachweis. Wer spricht heute davon? Heute sind sie bis
aufs Hausiergesetz*) heruntergekommen und dazu sind sie
unfähig. Wir „kurzsichtigen" Sozialdemokraten haben uns im Parla-
ment an der Gesetzgebungsarbeit außerordentlich eifrig beteiligt.
Wir hatten das Interesse, daß die Gesetze vernünftig ausfallen. Am
Hausiergesetz haben wir uns nicht beteiligt. Es schaut aber auch
danach aus. (Heiterkeit.) Diese Zersetzung nimmt überhand, weil
die christlichsoziale Partei aus Enttäuschten besteht. Die Wähler
wurden getäuscht und wurden enttäuscht, denn die wirtschaftliche
Entwicklung hat nicht den Christlichsozialen recht gegeben, sondern
den Sozialdemokraten, die gesagt haben: „Es ist Schwindel oder
Selbsttäuschung, wenn man mit Zünfteleien entgegenarbeiten will
der Ausbreitung des Kapitalismus und der Großindustrie!" (So ist es!)
Aber es gibt auch eine Gruppe, die zufrieden ist. Wenn man
das Kleinbürgertum nicht im ganzen gerettet hat, so konnte man
doch einzelne retten. Einzelne konnte man zur Futterkrippe lassen,
ihnen Ämter geben, sie avancieren lassen. Aber allen kann man das
nicht tun, denn die Partei ist groß, und die nichts gekriegt haben, die
chreien. Wenn sie nun zu zanken anfangen, packen sie allerhand
Dinge aus. Man braucht nur zu lesen, was Geßmann über Vergani
*) Das Verbot des Hausierhandels, aber mit so viel Ausnahmen, daß
das Verbot illusorisch wurde. Das Gesetz wurde am 10. Februar 1911 in
einer dreistündigen verworrenen Abstimmung beschlossen.
224 Das System Bienerth.
und Vergani über Geßmann sagt, und man kann sich ein Urteil über
beide bilden. (Sehr gut!) Aber das ist nicht das wichtigste. Die
Anbetung des Gott Nimm*) ist vielleicht nur eine vorübergehende, als
Einzelerscheinung nicht übertrieben zu wertende Sache. Das Ent-
scheidende ist, daß das Raufen um den Futtertrog, um Ämter und
Amterln, dieser Krieg aller gegen alle, diese Gevatterschaften
zusammenhängen mit dem Wesen dieser Partei selbst.
Auch wenn sie alle ehrliche Leute wären,
so wäre die Partei auf die Dauer nicht lebensfähig, weil es wider-
sinnig ist, daß eine Partei mit solchen Widersprüchen lebensfähig
bliebe. Schauen Sie diese armen Leute an, die man christlich-
soziale Arbeiter heißt und die von Enttäuschung zu Enttäu-
schung gehen. Aber immer wieder ducken sie sich, nicht alle mehr
allerdings, und es werden wohl allen noch die Augen gründlich
aufgehen.
Glauben Sie aber nicht, daß diese Fäulniserscheinungen, diese
höchst unappetitlichen Dinge, die in der Partei vorgehen, dieser
Streit um die Mandate und die Kandidaturen, daß das alles schon
bedeutet, daß der Macht der Christlichsozialen und ihren Erfolgen
bei den Wahlen ein Ende gemacht sei. Sie können sich streiten und
werden noch immer Wahlerfolge haben. Sie siegen nicht, weil der
Kandidat so ehrlich, so unterrichtet, ein so großer Staatsmann ist,
sondern weil die Maschine da ist, weil die Transmissionen vorn
Wahlkataster bis zur Urne laufen. Diese Wahlmaschinerie arbeitet
weiter, auch wenn sich die Herren streiten; vielleicht gelingt es uns,
einzelne Teile dieser Maschine herauszunehmen und einmal andere
aufzumontieren. Aber geben Sie sich nicht der Illusion
hin, als ob wir es ohne eigene Arbeit der Zer-
setzung der Christlich sozialen überlassen könn-
ten, daß sie zugrunde gehen! Es soll das auch nicht
sein. Nicht an ihren eigenen Sünden sollen sie zugrunde gehen,
sondern an der Kraft der Arbeiterschaft, nicht an ihrem
Wahnsinn, sondern an unserer Vernunft, nicht an ihrem
Verrat an allen Klassen der Bevölkerung, sondern an der Ener-
gie, mit der wir die Interessen des arbeitenden
Volkes in Schutz nehmen. (Stürmischer Beifall.) Darum
fordere ich Sie auf: Wählen Sie sozialdemokratisch! Jede Stimme,
die Sie für die Wahrheit abgeben, ist ein Schlag gegen die Lüge,
jede Stimme für das Recht ein Schlag gegen das Unrecht und jede
Stimme für die Freiheit ein Schlag gegen die Vergewaltigung!
*) Am 19. März 1910, also wenige Tage nach dem Tode Luegers, hatte
der christlichsoziale Stadtrat und Landtagsabgeordnete Hraba von den
christlichsozialen Führern gesagt, es seien Leute, die „z u m G o 1 1 Nimm
bete n". Außerdem sagte er, es habe sich ein Konsortium von Aas-
geiern gebildet... Lueger habe diese Leute verachtet... Im Jahre 1911
brachte dann das christlichsoziale „Deutsche Volksblatt", dessen Heraus-
geber Ernst Vergani war, Enthüllungen über Geßmann, dem vor-
geworfen wurde, er habe eine Baukreditbank gegründet, die durch
die Unterstützung des jüdischen Bauwitchers hohe Prozente abwerfe.
Siegesfeier In V\ len, 225
Wir kämpfen gegen eleu Klerikalismus, gegen den verhüllten Ab-
solutismus dieser Regierung, gegen den Agrarismus, der die Arbeiter
ausraubt, gegen die Arbeiterfeindlichkeit der Regierung und der
bürgerlichen Parteien. Mit uns ist das Volk und mit uns wird der
Sieg sein! (Stürmischer Beifall.)
Siegesfeier in Wien.
Vertraue n s m ä iinerve r s a m in 1 u n g, _; 8. Juni 1911 *).
Werte Genossen und Genossinnen! Die Parteivertretung und die
Landesparteivertretung haben gemeint, daß es nicht nur ihrem,
sondern aller Genossen Empfinden und Bedürfnis entsprechen wird,
daß wir die Vertreter der Wiener Genossen zusammenberufen, um
*) Ende März hatte Bienerth das Parlament aufgelöst und in der
amtlichen „Wiener Zeitung" einen Kommentar dazu geliefert, in dem er
die Sozialdemokraten beschuldigte, als Verbündete der Tseheehen das
Parlament zerschlagen zu haben. Zugleich unternahm er den Versuch, ein
Wahlübereinkommen der Deutschfreiheitlichen und der Christlichsozialen
gegen die Sozialdemokraten zustande zu bringen. Tatsächlich waren auch
die Führer des „Deutschen Nationalverbandes" wie der „Christlichsozialen
Vereinigung" dazu bereit; das Kompromiß zerschlug sich aber, weil in
den Alpenländeru die klerikale Gefahr zu offenkundig war. In Deutsch-
böhmen kam zwar ein weitsehendes Übereinkommen zwischen den deutsch-
bürgerlichen Parteien zustande. In Wien aber war nach dem Tode Luegers
die christlichsoziale Partei in völliger Auflösung, zumal ihre Korruption
aus ihren eigenen Reihen enthüllt worden war. Siehe oben die Bemerkungen
über den „Gott Nim m".
Die Wahlen am 13. und 20. Juni brachten der Sozialdemokratie zwar
einen Verlust an Mandaten, der durch die Verluste in den Sudetenländern
herbeigeführt worden war, statt 87 Mandaten hatte die Sozialdemokratie
nur noch 81, die deutsche Sozialdemokratie statt 50 nur noch 44, aber
trotzdem hatte die deutsche Sozialdemokratie ihre Stimmenzahl von
513.219 auf 541.989 erhöht. Aber das Entscheidende war, daß Bienerths
eigentliche Partei, die christlichsoziale Partei, eine vernich-
tende Niederlage erlitten hatte. In Niederösterreich erhielt die Sozial-
demokratie 26 statt der bisherigen 16 Mandate. Von den 33 Wiener Man-
daten erhielten die Sozialdemokraten 19. Von den 20 Abgeordneten, die die
Christlichsozialen in Wien hatten, verloren sie 16, und von den vieren, die
gewählt wurden, hatte der eine, Dr. fieilinger, sein Mandat nur behalten,
weil er sich von der christlichsozialen Partei losgesagt hatte. Alle ihre Führer
lagen auf der Strecke: der Handelsminister Weiskirchner wurde von
dem Redakteur der „Arbeiter-Zeitung" Max Winter, der Bürgermeister Doktor
N e u m a y r von dem Obmann der Buchdruckerorganisation S c h i e g 1 ge-
schlagen, der Präsident des Abgeordnetenhauses Dr. Pattai wurde von
dem Redakteur der „Arbeiter-Zeitung" Karl Leuthner besiegt. Auch alle
anderen christlichsozialen Führer, Liechtenstei n, K u n s c h a k,
Wittek waren durchgefallen, in dem niederösterreichischen Ort Mistelbach
auch Q e B m a n n.
Am 28. Juni wurde Bienerth durch Qautsch ersetzt.
An diesem Tag hielten die Wiener Vertrauensmänner im Sofiensaal unter
dem Vorsitz von B r e t s c li n e i d e r eine Siegesfeier ab, in der Adler
Sprach. Zu Beginn wurde von den Arbeitersängern der „Festgesang" von
loset Sehen vorgetragen.
Adler, Briefe. XI. Bd. 15
226 Das System hienerth.
ihnen zu sagen, daß die Partei ihnen dankt. Die Sozialdemokratie
hat in Wien ein großes Werk verrichtet, sie hat ein Joch ab-
geschüttelt, sie hat eine Schmach von Wien gewendet, sie hat das
Volk von Wien von Schande befreit.
(Lebhafte Zustimmung.) Diese Wiener Wahlen sind nicht das ^Verk
und das Produkt eines Tages und nicht eines Jahres. Diese Wiener
Wahlen, bei denen die sozialdemokratische Arbeiterschaft jene
Lage in Wien geschaffen hat, die es möglich machte, die Christlich-
sozialen hinwegzufegen, sind das Resultat einer jahrzehntelangen
Arbeit der Sozialdemokratie in Wien, der Sozialdemokratie von
ganz Österreich! Parteigenossen! Wir können von den Wiener
Wahlen nicht sprechen, ohne von den Wahlen im ganzen Reiche
und von der Lage der Partei zu reden. Wir sind herausgefordert
worden zum Kampfe, gezwungen worden, eine Schlacht zu schlagen
in einem Augenblick, der der Regierung, der allen bürgerlichen
Gegnern der günstigste erschien, die Sozialdemokratie zu schlagen,
in einem Moment, den wir selbst als einen wenig günstigen für uns
betrachteten. Wir sind herausgefordert worden, in einen Wahl-
kampf zu treten gegen eine Verbindung aller Bürgerlichen, befehligt
und kommandiert von der Regierung Bienerth mit der ausdrück-
lichen Parole, der Effekt der Wahlen solle sein: Stärkung der Regie-
rungsparteien, deren stärkste die Christlichsozialen waren, durch
Besiegung der Sozialdemokratie und Raub von zwei bis drei
Dutzend ihrer Mandate. Der Feldzug ist begonnen und geführt
worden, damit das vereinigte Bürgertum der sozialdemokratischen
Arbeiterschaft eine Schlacht liefere. Der Wahlkampf, den wir im
Jahre 1907 durchzufechten hatten, ging unter ganz anderen Bedin-
gungen vor sich, unter den allergünstigsten, die jemals
einer Partei beschieden waren und sein können.
Im Jahre 1907 waren wir die Bringer des allgemeinen Wahlrechtes.
Genosse Bretschneider hat die Tradition dieses Saales be-
rührt, aber er hätte daran erinnern können, daß er selbst es war,
der in diesem Saale verkündet hat: Keine Ruhe in Öster-
reich, bis das allgemeine, gleiche und direkte
Wahlrecht erkämpft ist! Diesen Kampf haben wir geführt
in ganz Österreich, voran in Wien. Langsam haben wir Bundes-
genossen gefunden, spät, als schon die Wage der Entscheidung zu
unseren Gunsten gesenkt war, und der Mann, der heute wieder
Ministerpräsident ist, war einer von denen, die am schwersten zu
bekehren waren. Als Sieger im Wahlrechtskampf
haben wir die Wahlschlacht von 1907 gewonnen.
Wir waren die einzige aller Parteien, die einen Ansatz zu einer
Wahlorganisation hatte, die irgendwie eingerichtet war auf eine
Massenbewegung, und so konnten wir eine Reihe von überraschen-
den Wahlerfolgen verzeichnen. Seitdem aber hat sich das Bürger-
tum in bewußten Gegensatz zu der Arbeiterschaft gestellt, hat sich
in ganz Österreich gegen uns ralliiert und der Kampf bei dieser
Wahl war als ein wahrer Klassenkampf zu führen. Bei der Haupt-
wahl waren es in allen Ländern und selbst hier in Wien a u s-
Siegesfeier in Wien. 227
s ch 1 i e ü lieh Soziaide m o k ra 1 e n, die sozialdemokratische
Stimmen abgegeben haben. Wir haben bei dieser Wahl so ii.it
sieh der Klassengegensatz zugespitzt ohne Mitläufer gekämpft
und inder ganzen Provinz sind alle Mitläufer W e g-
1 ä u f e r geworden. Die
Arbeiterschaft war auf ihre eigenste Kraft angewiesen
gegenüber einer Übermacht, die nicht wählerisch war in ihren
Mitteln, die gemeinste Demagogie und brutalste Gewalttätigkeit nicht
scheute und den ganzen Verwaltungsapparat in den Parteidienst
stellte, (legen diesen Apparat, der draußen ebenso in den Händen
der Bürgerlichen ist wie hier und draußen nicht weniger mißbraucht
wird von den Machthabern wie hier von den Christlichsozialen,
hatten unsere Genossen in Böhmen, Mähren und Schlesien zu
kämpfen. Und wenn es uns gelungen ist, trotz des schmerzlichen
Verlustes einiger unserer tüchtigsten Parlamentarier, unsere
Stimmen zahl zu behaupten, den furchtbaren Kampf mit
Ehren zu bestehen, ist das ein Beweis für die große Tüchtigkeit und
Tapferkeit der sozialdemokratischen Arbeiter in ganz Österreich.
(Lebhafte Zustimmung.)
Hier in Wien war es freilich ganz anders. Hier haben wir bei
der Hauptwahl durch das starke Anwachsen unserer Stimmen die
Möglichkeit geschaffen, daß dem Bürgertum die Zuver-
sicht gekommen ist, ihm die Hoffnung aufgeleuchtet hat, daß
man
mit den Christlichsozialen fertig werden
kann. Das war nicht immer so. Ich erinnere Sie an den 9. März
1 8 9 7*), an dem wir, die wir geglaubt hatten, daß wir die Mehrheit
haben, überall geschlagen wurden. Ich erinnere Sie an diesen Tag
des großen Schmerzes und der großen Enttäuschung gerade am
heutigen Tage des Sieges und der Freude. Wir haben uns damals
nicht schlecht geschlagen als Anfänger, die wir waren. Wir hatten
in Wien 88.350 Stimmen, eine schöne Zahl. Wir hatten genug, aber
die anderen hatten zuviel. (Heiterkeit.) Wir haben erst am Abend
des 9. März das Kräfteverhältnis und die Situation bei den Wahlen
in Wien kennengelernt. Kein Tag in der Parteigeschichte ist für uns
so fruchtbar gewesen wie dieser 9. März. (Sehr richtig!) Wie
Schuppen ist es uns von den Augen gefallen. Damals lernten wir den
Unterschied zwischen dem, was man das „Volk von Wien" nennt,
und der sozialdemokratischen Arbeiterschaft, dem Kern von Wien,
kennen. Damals haben wir unterscheiden gelernt zwischen einer
Masse, die Stimmung hat, die mitgeht, aber auch weggeht, zwischen
Leuten, die gelegentlich guten Willens sind und mit denen gehen,
die Macht und Erfolg haben, und denjenigen, die Kämpfer sind in
den Reihen des Proletariats in trüben wie in guten Tagen. Damals
*) Bei den ersten Wahlen in der fünften Kurie hat die Sozialdemokratie
von den fünf Wiener Mandaten dieser Kurie kein einziges errungen. (Siehe
den Artikel vom 10. März 1897, „Die Niederlage vom 9. März 1897",
Bd. VfFI, Seite 367.)
15*
228 Das System Bienerth.
haben wir auch kennengelernt, worin die Macht der Christlich-
sozialen in Wien besteht. Am Tage nach der Niederlage schrieb die
„Arbeiter-Zeitung": „Daß Lueger den Verwaltungsapparat in der
Hand hat, das hat uns geschlagen, Lueger ist der Herr von
Wien und darum ist er der Herr der Wahlurne ge-
w o r d e n. Die Christlichsozialen haben nicht die Wähler, sondern
die Legitimationen an ihrer Seite." Wir haben damals zum
erstenmal erkannt, welchen ganz besonderen Kampf die Arbeiter-
schaft in Wien zu führen hat, wenn sie sich geltend machen und ihr
Recht auf Vertretung hier erringen will. Nicht allein hat es gegolten,
Überzeugung, Aufklärung, Wissen zu verbreiten, nicht allein, Sozial-
demokraten, Anhänger zu gewinnen. Es hat gegolten, der Gewalt,
dem Betrug gewachsen zu sein. Es galt, was in keiner Stadt nötig
und was keiner Arbeiterschaft beschieden ist: das ganze System
von Betrug, Gewalttat, Amtsmißbrauch, diese Maschine systema-
tischen Amtsmißbrauchs, die im Wahlkataster anfängt und bei der
Urne endet, wenn nicht zu zerbrechen, so durch unseren Zuwachs
zu kompensieren. (So ist es!)
Das ist nun das Werk, das die Wiener sozialdemokratische
Arbeiterschaft und ihre Organisationen, deren Vertreter hier ver-
sammelt sind, zuwege gebracht haben. Ihr, Genossen, habt nicht nur
der Sozialdemokratie Anhänger geworben, nicht nur unermüdlich
Propaganda gemacht und euch erfüllt mit dem Geiste der Sozial-
demokratie! Ihr mußtet mehr tun: euch wehrhaft machen,
stark sein, euch nicht beugen und die Maschine, wenn sie nicht
zerschlagen werden kann, unbrauchbar machen. Das ist die
Leistung. Sie zu vollbringen ist nicht an einem Tage möglich ge-
wesen; zu ihr war nötig die feste Überzeugung von den Lebens-
notwendigkeiten des Proletariats bei vielen Zehntausenden, die feste
Überzeugung von der Möglichkeit des Gelingens und unverrück-
barer Mut. (Laute Zustimmung.)
Die bürgerlichen Parteien, die sich freuen über die Be-
freiung von Wien, die könnten wir heute fragen, was eigentlich s i e
dazu getan haben. Sie haben das christlichsoziale Regime über
sich ergehen lassen wie eine göttliche Fügung. Sie haben g e-
träumt von der Wiedereroberung und gelegentlich und nicht sehr
klug von ihren Träumen gesprochen. Haben sie sich aufgerichtet,
haben sie es gewagt, den Kampf aufzunehmen?
Die Arbeiterschaft hat den Bann gebrochen,
und unsere Pflicht war es auch. Das haben wir erkannt, und am
10. März 1897 verkündete es die „Arbeiter-Zeitung": „Wien, das
dem Lueger zu Füßen liegt, das ist für Wien eine Schmach, für die
Wiener Sozialdemokraten ist es eine Aufgab e." Diese Aufgabe
haben wir geleistet, und mit allem Pflichtgefühl, mit aller Zähigkeit,
mit einer Hingebung, die, ich sage es Ihnen offen, mir oft die Tränen
in die Augen gebracht hat. (Bewegung.) Wenn ich gesehen habe,
wie unsere Frauen und Männer Nacht um Nacht, durch Wochen
und Monate gearbeitet haben, nicht nur zur Zeit der Wahl, jahraus,
jahrein, ungenannt und ungekannt ihre Arbeit verrichtet haben —
Siegesfeier in Wien. 229
dieses Austragen von Plugschriften und Zeitungen, das ohne Möglich-
keit der Kontrolle und ohne Möglichkeil einer Belohnung ist, die
auch nur in der Anerkennung läge; wenn ich sah. daß sich aus dieser
Masse ein Korps herausgebildet hat, in das viele Kämpfer eingereiht
sind, nicht nur für Wien, sondern für ganz Osterreich, die zu Hilfe
gerufen werden, wo man Erfahrung und Tapferkeit braucht, erprobte
Soldaten, die lehren, wie man das macht; wenn ich diese ungeheure
Summe von Hingebung gesehen habe — da habe ich gesagt und Sie
wohl alle: Das kann keine andere Partei! Finer solchen Sache zu
dienen ist für jeden das Heiligste, ist das. was das Lehen allein
lebenswert macht. (Lebhafter Beifall.)
Wir haben in dieser, wie wir es bescheiden nennen,
Kleinarbeit, sie ist aber die große Arbeit,
und wir heißen sie nur Kleinarbeit, weil sie alle 1 age verrichtet
werden muß, unsere Pflicht getan. Aber Sie kennen mich: ich halte
es nicht aus, Ihnen nur Gutes zu sagen. Ich will nicht verhehlen, daß
auch da noch vieles zu tun ist. Ich will Sie heute nicht mit Weih-
rauch benebeln und nicht Ihren Willen lähmen durch Einseitigkeit
oder Übertreibung. Sie wissen besser als ich, wo es fehlt, wieviel
auch in Wien noch zu tun ist; Sie wissen besser als ich, was wir
leisten könnten, wenn die volle Kraft der Wiener Arbeiterschaft an-
gespannt wäre. (So ist es!)
Nun haben wir nicht nur den Trägern unserer Organisation zu
danken, die draußen den Kampf geführt haben., wir müssen auch
danken, ich möchte sagen, den Opfern, den Objekten aller dieser
Anstrengungen, den Kandidaten. Kandidat zu sein ist keine be-
sonders angenehme und leichte Sache, wenn man ein sozialdemo-
kratischer Kandidat ist. Unsere Kandidaten haben, und es waren
manche junge und unerfahrene unter ihnen, durchaus ihre Pflicht
getan. (So ist es!) Wir müssen auch danken dem P arteisekr.e-
t a r i a t. Ich möchte hier einmal feststellen, was Ihnen wohl bekannt
ist, was aber heute auch anerkannt werden soll: daß niemals bisher
Wahlen einen so guten Zentralapparat vorgefunden haben, wie er
bei diesen Wahlen funktioniert hat. Wir haben nicht viel weniger
als eine Million Broschüren in die Wählerschaft geworfen, die
schnell improvisiert waren, die acht bis zehn Tage nach der Wahl-
ausschreibung zu Ihrer Verfügung gestanden sind, worin alle Fragen,
die im Wahlkampf von Bedeutung waren, gründlich und verständ-
lich behandelt wurden. Wir hatten weiter eine Zentrale gehabt für
die Herstellung von Flugblättern, die natürlich in die Millionen
gingen. Der Apparat hat geklappt, wie es in ähnlicher Weise niemals
noch für unsere Partei auch nur gedacht war. Ich kann und will nicht
die Namen aller derer nennen, die sich daran beteiligt haben. Ich
muß aber doch sagen, daß in der Zentrale ein Mann gewirkt hat,
dem an der Organisation der Wahlen ein großes Verdienst zukommt,
das um so mehr hervorzuheben ist, als er allen Grund gehabt hätte,
sich der Arbeit zu entziehen oder sie einzuschränken: Genosse
S e i t z. (Die Versammlung bringt Seitz lebhafte Ovationen dar.)
Kurz nach einer Operation auf Tod und Leben, kaum erholt, hat er
230 Das System Bienerth.
sich, mehr als ihm physisch nützlich war, in die Arbeit gestürzt.
(Neuerliche Kundgebungen für Seitz.) Und wenn ich von denen
schweige, die auch sonst in der Öffentlichkeit wirken, so will ich
doch als Vertreter der Schmiede unserer geistigen Waffen einen
Namen nennen, einen unserer Arsenalverwalter, den Genossen Otto
Bauer, der sein außerordentliches Wissen und seine Arbeitskraft
voll in den Dienst der Sache gestellt hat. (Lebhafte Zustimmung.)
Jetzt lassen Sie mich nun eines Apparats erwähnen, der nicht
nur für die Wahl, sondern für jede Parteiarbeit an allererster Stelle
steht, ich meine
unsere Presse.
(Laute Zustimmung.) Wenn ich jetzt von der „Arbeiter-
Zeitung" spreche, so wissen Sie, daß ich es tun kann, ohne
irgendwie auf Lob für mich Anspruch zu machen. Meine Kraft ist
schon längst zu schwach geworden, um in der „Arbeiter-Zeitung"
regelmäßige Arbeit zu verrichten wie einstmals. Ich habe mit dem,
was ich sonst zu tun habe, für meine Kraft genug. Ich stehe also der
Leistung der „Arbeiter-Zeitung" ganz objektiv gegenüber und ich
möchte Sie darum einladen, mit mir anzuerkennen, daß die Leistung
der „Arbeiter-Zeitung" ganz enorm war. (Lebhafte Zustimmung.)
Sie hat unsere Kraft vervielfacht; sie hat uns gegeben, was keine
andere Partei von ihrer Presse hat. (So ist es!) Lassen Sie mich
darum auch des Mannes gedenken, der die Seele des Blattes ist,
unseres Friedrich Austerlitz*) (Rufe: Hoch Austerlitz!), den wir
leider trotz besten Willens und Wollens als Kandidaten auf einen
Posten gestellt haben, wo wir seine Niederlage erleben mußten, und
den wir an dem Orte schmerzlich vermissen werden, wohin er schon
lange gehört. (So ist es!) Um so mehr ist es uns Bedürfnis, anzu-
erkennen, was der Mann neben seiner Kandidatur gewirkt hat. Wenn
er in zwei oder drei Versammlungen gesprochen hat, ist er bis fünf
oder sechs Uhr morgens an seinem Schreibtisch gesessen und hat
Broschüren und Flugblätter für Böhmen und Mähren und überall
geschrieben. Er hat mit seiner unvergleichlichen Arbeitskraft, wie
ich sie noch bei keinem anderen Menschen gesehen habe, ganz Un-
erhörtes geleistet, nicht für seinen Wahlbezirk allein, sondern für
die ganze Partei. (Bravo! Bravo!) Ich sage ausdrücklich: Wir ver-
missen ihn schmerzlich im Parlament. (So ist es!) Aber mehr noch,
als seine parlamentarische Tätigkeit uns geben könnte, leistet uns
und ganz Österreich Friedrich Austerlitz in der Presse, hat er ge-
leistet und wird er leisten. Und was er für die Wiener Wahlsiege
getan, wissen Sie. Ich habe vom Kampfe um die Legitimationen
gesprochen, dem Kampfe gegen Amtsmißbrauch und Betrug. Sie
wissen, wie er die juristische Seele dieses Kampfes gewesen ist.
(Lebhafte Zustimmung.)
Wenn ich hier einzelne genannt, wenn ich einzelne Tatsachen
hervorgehoben habe, so werden Sie mir das gewiß nicht übelnehmen
und nicht glauben, daß ich die Leistung anderer darum zurückstelle.
*) Austerlitz, der Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung", wurde erst
nach dem Umsturz in das Parlament gewählt.
Siegesfeier in Wim. 231
Aber gerade diejenigen Leistungen, die gar nicht an die Öffentlich-
keit getreten, nicht einmal an die Parteiöffentlichkeit im vollen Um-
fang, zu erwähnen, war mir Pflicht und Bedürfnis. (Bravo!)
Was bedeuten nun die Wiener Wahlen?
Ihr Effekt liegt zutage: Herr Bienerth hat die Sozialdemokratie
herausgefordert und Bienerth ist nicht mehr Ministerpräsident.
(Heiterkeit.) Er wollte uns schwächen, er hat aber die Zahl unserer
Mandate sehr unerheblich vermindert. Er wollte seine Freunde
stärken, vor allem seine Parteigenossen, die Christlichsozialen, und
er hat seine Partei vernichtet (Bravo!), unter die Räder gebracht,
so gründlich, wie es noch nie geschehen ist. Wenn das Haupt-
verdienst an der Niederlage der Christlichsozialen die Sozialdemo-
kratie hat, der zweite, der ein Verdienst daran hat, ist Bienerth.
(Heiterkeit und Beifall.) Nur ihm konnte einfallen, in seiner Feind-
seligkeit gegen das Parlament, in diesem Moment die Wahl auszu-
schreiben, eine Parole auszugeben, die unmöglich ist. Und nur ihm
konnte einfallen, zur Hauptwahl und Stichwahl das Unmögliche zu
versuchen und dem Wiener Bürgertum zuzumuten, es solle sich
unter die Parole beugen, die von ein paar Herren aus der Provinz
ausgegeben wurde, die keine Ahnung von Wien haben. Nur ihm
konnte einfallen, in Wien Politik zu machen auf Geheiß G e ß-
manns. Herrn Bienerth sind wir dankbar. (So ist es!) Er hat die
Konstellation ermöglicht, die den Sieg bringen konnte. So war es
möglich, den Kampf zu führen unmittelbar gegen die Häupter
der Christlich sozialen, unmittelbar gegen die Verkörpe-
rung der Christlichsozialen, die das ganze Ministerium war,
nicht nur Weiskirchner, der doppelt unterlegen ist. Ein Weiskirchner
mehr oder weniger, darauf kommt es nicht an. Hier bedeutet es die
Niederlage des ganzen Systems. Liechtenstein, Pattai, Weiskirchner
und ihr Führer Geßmann unterlegen — das bedeutet, daß eine
Partei in ihrer heutigen Gestalt aufgehört hat, zu
existieren. (Lebhafte Zustimmung.) Ich habe das Verdienst des
Ministerpräsidenten gerühmt, ich muß auch das Verdienst des
HerrnGeßmann rühmen. (Heiterkeit und Beifall.) Es ist noch
nicht lange her, daß Geßmann wieder einmal im Parlament den
Kreuzzug gegen die Sozialdemokratie gepredigt und gesagt hat:
„Alle müssen sich vereinigen gegen die Vaterlands-, nations- und
religionsfeindliche, die Familie untergrabende Sozialdemokratie!"
Ich hatte das Glück, unmittelbar nach ihm zu Worte zu kommen
und ihm zu antworten: „Wir warten auf diesen Feldzug! Nichts wird
uns angenehmer sein, aber eines erbitten wir uns: Exzellenz Geß-
mann muß der Generalissimus dieses Feldzuges sein!" (Schallende
Heiterkeit.) Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen (neuerliche,
lebhafte Heiterkeit), und darum würden wir das Verdienst, das Geß-
mann hat, unterschätzen, wenn wir ihm nicht ausdrücklich dankten.
(Sehr richtig!)
Wir hatten den Kampf i n d e r H a u p t w a h 1 a 1 1 e i n zu führen.
Wir sind in die Stichwahl gekommen durch eigene Kraft und durch
die unvermeidliche Zersetzung der christlichsozialen Partei. Wir
232 Das System Bienerth.
können nicht allein durch unsere Tugenden wachsen. (Heiterkeit und
Sehr gut!) Wo wir nicht vorwärtskommen durch eigene Kraft, helfen
uns die Laster der Gegner. Das ist aber ein Umstand, auf den wir
mit derselben Bestimmtheit rechnen können wie auf unsere eigene
Kraft. (Sehr richtig!) Neben uns kam in die Stichwahl eine Anzahl
bürgerlicher Herren verschiedener Parteien. Nun war die W e n-
d u 11 k da. Nun sah man zum erstenmal die Möglichkeit der Beseiti-
gung der Christlichsozialen, nun hat das Bürgertum die
Courage bekommen, mit uns zu gehen, endlich das von sich
zu stoßen, was es schon so lange verachtet und gehaßt hat. So ist
bei der Stichwahl der Sieg gemeinsam erfochten worden. Was nun
kommt, ist auf Seite des Bürgertums schwer vorauszusagen, und
ich möchte Sie
vor Illusionen ausdrücklich warnen.
Meinen Sie nicht etwa, daß diese Treue dem Gedanken der Frei-
heit auf immer gesichert sei. Wir haben bei der Stichwahl gewählt
als Politiker, ohne alle Illusion. (So ist es!) Wir lieben diese
bürgerlichen Parteien nicht, für die wir gestimmt haben, und wir
haben um ihre Liebe nicht geworben. Wir haben zusammengewirkt
zu einem gemeinsamen augenblicklichen politischen Zweck, zur Be-
seitigung der Christlichsozialen, zu einem wohltätigen Werke für
ganz Wien. Das ist alles, und wir möchten weder Illusionen bei uns
noch bei unseren Gegnern darüber erwecken, als ob irgendein
anderer Zusammenhang zwischen diesen beiden Gruppen von Par-
teien bestände. Wir bleiben, was wir waren, die Arbeiterpartei, die
proletarische Partei, die Partei der klassenbewußten Arbeiterschaft.
Wir sind keine Art von Allianz, keinerlei Art von
Koalition eingegangen, wir haben nichts anderes als bei
einer lebenswichtigen Gelegenheit eine gemeinsame Anstrengung ge-
macht, einen schweren Stein, der uns im Wege lag und auch den
anderen unbequem war, haben sie mit wegwälzen geholfen. Man soll
nicht meinen, daß wir dem deutschen Bürgertum, gegen das wir in
den Sudetenländern für das nackte Leben der Arbeiterschaft mit dem
vollen Einsatz unserer Kraft kämpfen müssen, mehr zumuten, als es
leisten kann. Oh, es gibt gewiß unter den gewählten Herren und unter
ihren Wählern noch mehr, die den Kopf gelegentlich voll der Ge-
danken an Freiheit haben. Allen Respekt vor jedem, der es gut meint
und guten Willens ist. Es ist unsere Pflicht, im entscheidenden
Moment alle diese Kräfte zusammenzufassen und mitzureißen. Das
ist selbstverständlich und wir werden es immer tun. Aber das soll
uns nicht verdunkeln, was hier in Wien nicht minder als in ganz
Österreich für die Arbeiterklasse nötig ist: das Bewußtsein des
proletarischen Kampfes für die Ideale und Interessen des Prole-
tariats, die die Ideale und Interessen der ganzen Menschheit
sind und die nur verwirklicht und durchgesetzt werden können
durch das Proletariat selbst. (Bravo! Bravo!) Wir danken
denen, die uns geholfen haben. Wir erwarten keinen
Dank für das, was wir geleistet; wir haben, was wir getan,
niemand zuliebe getan. Was wir taten, geschah für die Arbeiter-
Siegesfeier in \\ len
schaft, für die Sozialdemokratie, geschah in unserem Geiste.
Wir wissen auch: wenn wir ins Parlament kommen,
w i r d d i e W e I t g a n z a n d e r s a u s s e h e n a I s a m _; 0. .1 u n i.
Da ist nicht mehr der Feind die Verdummung, der Klerikalismus, die
christlichsoziale Gewalttat. Da gibt es nur Gruppen, die sich um das
Ministerium sammeln, heiße es nun Bienerth oder Gautsch. Wenn
wir fragen:
Wofür haben wir gekämpft?
in wessen Namen haben wir den Kampf geführt? SO haben wir ihn
geführt namens der s o z i a 1 d e m o k r a t i s c h e n Vorder u n-
g e n, gegen die sich alle widersetzen, gegen den Militaris-
mus, gegen den A g r a r i s m US, gegen neue Steuer-
b e 1 a s t u n g e n, g e g e n die A u s h u n g e r u n g des Volkes
durch eine Politik, die alles andere ist als eine Volkspolitik. Glauben
Sie, daß für diese Kämpfe bei den Herren, die an die Stelle der
Christlichsozialen getreten sind. Verlaß ist? Glauben Sie, daß die
Parteien, die die Christlichsozialen ersetzen, morgen etwas anderes
sein werden als Regierungsparteien? Es wäre mir sehr erwünscht,
wenn ich die Herren beim Worte nehmen könnte, aber es wäre
Selbsttäuschung. Gewiß, die Wahlen in Wien haben im Bürgertum
eine leidenschaftliche Bewegung für große Dinge gezeigt, aber
täuschen wir uns nicht! Das ist ein wesentlich negativer Prozeß, eine
Bewegung gegen die Christlichsozialen, die nötig war. deren wir uns
freuen, die zeigt, daß es noch reine Elemente im Bürgertum gibt, die
noch einige Hoffnung bieten, daß die Schichten, die unter seinem
Einfluß sind und die uns noch fernstehen, entwicklungsfähig sind, daß
sie einst zu uns kommen werden. Wir könnten nicht leben, wenn
wir nicht diese Siegeszuversicht hätten, daß wir noch gewinnen
könnten, wenn wir meinten, daß alles außer uns verloren ist für alle
Vernunft. (So ist es!)
Gewiß sind diese Wahlen ein Zeichen erwachender gesunder Er-
kenntnis. Aber für den speziellen parlamentarischen
Kampf.denwiriühren, wird sich im Hause wenig ändern. Nur
eines ist allerdings angebahnt, was freilich etwas Großes ist. D i e
furchtbare Macht der Christlich soziale n. die
wie ein Alp auf der ganzen Verwaltung
gelegen ist, noch mehr wie auf der Gesetzgebung, die alle Ministerien
verwüstet hat, die den ganzen Apparat des Landes in der Hand hat
und mißbraucht, die die Gemeinde in der Hand hat und nicht nur für
Parteizwecke, sondern auch für persönliche mißbraucht, hat einen
ernsten Stoß bekommen. Wenn Sie aber glauben, wir seien
mit ihr fertig, täuschen Sie sich! Bevor ein Jahr um ist, bei den
Gemeinderatswahlen, sehen wir uns wieder. Es wird des Aufgebots
der größten Kraft bedürfen, um weiterzuführen, was am 20. Juni erst
begonnen wurde. (So ist es!)
Vielleicht ist das. was ich da sage, keine Eestrede. (Heiterkeit und
Widerspruch.) Vielleicht hat mich mein Hang zu politischen Erörte-
ren etwas weiter geführt, als ich wollte. Aber wenn ich mit vielen
234 Das System Bienerth.
Genossen beisammen bin, geht das mit mir durch. Wir können aber
die Arbeit, die wir begonnen haben, nicht eine Minute unterbrechen,
und darum spreche ich von den nächsten Wahlen. Nichts läge ja
näher, als daß wir nach den zweieinhalb Monaten Wahlarbeit jetzt
einmal ausschnaufen, und jeder hat geradezu das physische Bedürf-
nis danach. Aber, Genossen und Genossinnen, Sie dürfen das nur in
sehr beschränktem Maße tun (Heiterkeit und Zustimmung) und
dürfen absolut nicht glauben, daß Ihnen auch nur eine Minute Ruhe
gegönnt ist bei der eigentlichsten Arbeit, die jeder einzelne zu ver-
richten hat. Sie dürfen das um so weniger tun, als wir nicht wissen,
ob wir nicht in ganz kurzer Zeit die Kraft unserer Organisation
— nicht nur für die Gemeinderatswahlen — werden
von neuem auf die Probe stellen müssen. (So ist es!) Ich möchte es
Ihnen von dieser Stelle aus und in diesem feierlichen Moment als
heilige Pflicht ans Herz legen, nicht dem Gedanken zu verfallen: Die
Stichwahlen werden uns auch dann herausreißen. Ich wiederhole:
Verlassen wir uns nur auf die eigene Stärke!
Sonst sind wir verloren! (Sehr richtig!) Benützen Sie die Zeit, um
schwache Punkte zu stärken, Erfahrungen zu nützen; tun Sie das-
selbe, was auch die Parteivertretung tut: rastlos sofort an die neue
Arbeit gehen. (Bravo! Bravo!)
Nun, Genossen und Genossinnen, freuen wir uns, daß von Wien
genommen ist die Schmach, daß, was 1897 nicht möglich war. heute
geworden ist! Freuen wir uns, daß das schwarze Wien zum
großen Teil das rote Wien geworden ist! Freuen wir uns,
daß wir so zugenommen haben an Zahl und Kraft. Wir haben 1897
88.000 Stimmen gehabt — ohne Floridsdorf, das damals eine Stadt
für sich war; ich sage das mit aller Ehrfurcht vor Floridsdorf (Heiter-
keit), aber ich kann darum die heutige Stimmenzahl auch nur ohne
Floridsdorf angeben. Wir haben heute ohne Floridsdorf 136.000 Stim-
men. Wir sind um mehr als fünfzig Prozent gewachsen, um
48.000 Stimmen. Nun, Wien ist groß, größer geworden, aber die
Partei, mit der wir zu kämpfen hatten, war uns 1897 beträchtlich
überlegen. Unseren 88.000 stellte sie 117.000 Stimmen entgegen.
Heute — ich spreche selbstverständlich nur von der Hauptwahl —
hatte sie uns mit allen ihren Wilden nur 130.000 Stimmen entgegen-
zustellen. Wir, die damals Schwächeren, sind also weit stärker ge-
worden, aus eigener Kraft und das ist das wichtigste Ergebnis des
Wahlkampfes. Wir stehen im Dienste einer großen Idee, wir stehen
im Dienste, wie es erhebend im herrlichen Chor, der diese Feier er-
öffnete, heißt: des Wissens Macht, der Freiheit Drang, der Men-
schenliebe. Wir stehen im Dienste der Idee des Sozialismus, im
Dienste einer Kraft, die die Arbeiterklasse und mit ihr die Welt be-
freien wird. Wir sind ein gutes Stück weitergekommen! Aber wie
viel auch noch zu tun ist, wie ungeheuer auch die Kraft der Gegner
ist und sich steigert, weil sie zum Bewußtsein kommen des Klassen-
gegensatzes, den sie leugnen, den sie aber täglich brutaler zum Aus-
druck bringen — in diesem Kampfe werden wir gestärkt, weil wir
das Bewußtsein der Notwendigkeit unseres Sieges haben.
ohne Bienerth. 235
Genossen von Wien! Von ganz Österreich ich wage zu sagen,
von allen Nationen liegt auf euch die größte Last der Arbeit und
Verantwortung, weil Wicnda s g r ö ß t e Industriezentru m
ist. Wien ist nicht nur die Haupt- und Residenzstadt des Kaisers,
sondern auch die
Haupt- tind Residenzstadt des österreichischen Proletariats.
(Lebhafter Beifall.) Wien ist das Herz des österreichischen Prole-
tariats, hier sind in unserem industriell langsam wachsenden Lande
die größten Massen der Proletarier. Hier haben sie die Möglichkeit,
emporzukommen, sich geistig zu entwickeln, alle Gelegenheiten, sich
zu entfalten und zu kämpfen. Sie, Genossen, sind also berufen, die
Hauptträger unserer nächsten Kämpfe zu sein! Sie sind es heute
schon. Unsere Wiener politische Organisation kann sich sehen
lassen, aber auch die gewerkschaftliche Organisation von ganz
Österreich hat ihr Zentrum, ihren Schwerpunkt in Wien und Nieder-
österreich. Nicht anders steht es um alle anderen Formen der prole-
tarischen Tätigkeit. Hier müssen wir uns immer mehr erfüllen mit
der Kraft zur Arbeit, die nicht allein der Wunsch, zu siegen, gibt,
sondern der unbeugsame Wille, denSiegzu erringen durch
Arbeit Tag um Tag, durch unermüdbare Zähigkeit! (Tosender
Applaus.)
Und so fordere ich Sie auf zu einem Hoch auf die Sozialdemo-
kratie! Die Sozialdemokratie Wiens, die internationale Sozialdemo-
kratie, sie lebe hoch! (Brausende Hochrufe.)
Ohne Bienerth.
Sieben Versammlungen, 18. Juli 1911*).
Das Parlament ist eröffnet und rüstet sich zur Arbeit; zunächst
allerdings nur zu einer vorläufigen Arbeit, denn im August wird
es auf Urlaub gehen. Immerhin wird man schon jetzt ein Bild be-
kommen, wessen man sich von ihm und der neuen Regierung vor-
sehen kann. Die erste Wirkung der Neuwahlen war das Verschwin-
den des Herrn Bienerth. (Bravo!) Der Mann hat sich verspekuliert
und ist an seiner verfehlten Spekulation kaputt gegangen. Die Herren
haben es sich so fein ausgerechnet gehabt, daß Herr Bienerth eine
bedeutend größere Majorität bekommen soll, indem die Christlich-
sozialen in Wien und der Deutsche Nationalverband in der Provinz
den Sozialdemokraten ein paar Dutzend Mandate wegnehmen, so
daß Herr Bienerth leichter regieren kann; aber die Wahlen sind
anders ausgefallen. (Heiterkeit.) Allerdings haben wir in den
Sudetenländern sehr schmerzliche Verluste zu beklagen. In diesen
Ländern sind wir überall gegenübergestanden einer Verbrüderung
aller Parteien und Schichten, die nicht Arbeiter und nicht Sozial-
*) Am 17. Juli trat nach dun Juniwahlen das Parlament zusammen und
die Sozialdemokraten hielten am 17. und IS. Juli sieben Massenversamm-
lungen ab, um ihre Stellung /-um neuen Parlament zu besprechen. Im
Favoritner Arbeiterheim sprach Adler.
236 Das System Bienerth.
demok raten sind, und wir haben zwar nicht eine Einbuße an Stim-
men, aber eine Einbuße an Mandaten erlitten Aber Klauben Sie
nicht, daß der Mut unserer Genossen draußen gebrochen ist. Im
Gegenteil, es zeigt sich heute schon, daß in der Arbeiterschaft in
dieser Industriegegend sich endlich jener Trotz, jene Entschlossen-
heit durchbricht, die dort noch vielfach gefehlt haben und ohne die,
das wissen wir in Wien am allerbesten, man nichts durchsetzt. Ein
anderes Bild haben wir hier in Wien gehabt. Hier hat sich gezeigt,
daß die einzige Kraft, die fertig werden kann mit den klerikalen
Beherrschern Wiens und Niederösterreichs, die einzige Kraft, die
nie versagt und immer wächst, die sozialdemokratische Arbeiter-
schaft ist. (Beifall.) Wir haben auch hier in der Stichwahl — und
ich lege Wert darauf, das immer wieder hervorzuheben — mit
niemand Kompromisse abgeschlossen und gewählt, wie es im Inter-
esse der Arbeiterschaft notwendig ist.*) (Lebhafter Beifall.)
Aber der Deutsche Nationalverband, der sich freiheitlich nennt,
hat in Böhmen, Mähren und Schlesien Kompromisse geschlossen
mit den Klerikalen, Kompromisse, die kompromittieren, weil sie
ausdrücklich mit Zurücksetzung und Aufhebung ihres Programms
eingegangen wurden. (Pfui!) Die Deutschfreiheitlichen haben dort
Mann für Mann ihre freiheitlichen Grundsätze abgeschworen, haben
Erklärungen abgegeben gegen die freie Schule, gegen die Ehe-
reform, haben jeden Kampf gegen den Klerikalismus abgeschworen,
alles bloß, um die christlichsozialen Stimmen zu bekommen. Wenn
die Christlichsozialen dank dem Haß, den sie sich durch ihre jahre-
lange Tätigkeit zugezogen haben, verschwunden sind mit ihren
Häuptern aus dem Parlament, so können die Klerikalen unbesorgt
sein: der Deutsche Nationalverband wird schon dafür sorgen, daß
dem Klerikalisnms nichts Übles widerfahre. Wenn die Herren
meinen, daß sie sich über diese Frage hinwegschwindeln werden,
da täuschen sie sich. Wir werden sie zwingen, Farbe zu bekennen,
und diejenigen, die sich freiheitlich genannt haben, werden Gelegen-
heit haben, zu zeigen, wie weit ihr Freisinn geht. (Großer Beifall.)
Aber die für uns wichtigste Frage ist, wie sich das neue Parla-
ment in allen Dingen stellt, wo es sich um die soziale Reform und
die Lebenshaltung der breiten Massen handelt. Da ist zunächst die
Frage**): Wie wird sich das Parlament stellen überall dort, wo es
sich um die Ernährung und wo es sich um die Wohnungen des
*) Die Sozialdemokraten haben in der Stichwahl zwar überall gegen
die Klerikalen gestimmt, aber die Freisinnigen haben nicht überall für die
Sozialdemokraten gestimmt und wenn sie mit Sozialdemokraten in der
Stichwahl waren, haben sie bei den Pfarrern um die klerikalen Stimmen
gebettelt.
Außerhalb Niederösterreichs stand die deutsche Sozialdemokratie in
42 Stichwahlen, aber von diesen wurden nur zwei zugunsten der Sozial-
demokratie entschieden. Christlichsoziale stimmten für Freiheitliche, Los-
von-Rom-Leute für Klerikale, nur um die Sozialdemokratie niederzuringen.
r*) Siehe Adlers Reden über die Teuerung am 4. und 5. Oktober 1911.
(Bd. VIII, Seite 447 und 452 f.)
ohne Bienerth. 237
Volkes handelt? Nim passiert es heute, daß wieder eine Sendung
von ein paar hunderttausend Tonnen argentinischen Fleisches an-
gekündigt wird, und in der „Arbeiter-Zeitung" werden Sie morgen
lesen, daß das Ackerbaiinunisterhiin erklärt, es sei nielit in ^Wv
Lage, zu verfügen, daß dieses Fleisch nach Österreich eingeführt
werde. (Allgemeine Erregung und minutenlange tosende Pfuirufe.)
Wir haben nun ein neues Ministerium, aber in dieser Beziehung ist
die Richtung die alte, Die Qeschichte dieser Fleischeinfuhr ist am
belehrendsten, weil sie zeigt, wie man die Bevölkerung in raffi-
nierter Weise irreführen kann. Sie erinnern sich, daß der christlicht
soziale Handelsminister Weiskifchner (Pfui!) so getan hat, als
wollte er der Bevölkerung dieses Fleisch in genügender Menge
verschaffen, und daß er dann im Parlament eingestehen mußte, daß
er mit Ungarn einen Geheimvertrag abgeschlossen hat, nach dem
nicht mehr als zweitausend Tonnen nach Österreich hereingelassen
werden sollen. Dieser von Weiskirchner abgeschlossene, von den
Christlichsozialen gedeckte und gutgeheißene Geheimvertrag gibt
dem Ackerbauminister den Scheingrund für sein Einfuhrverbot, und
nun sind die Christlichsozialen die ersten, die eine Protestversamm-
lung in der Volkshalle gegen die Einfuhrverhinderung ankündigen!
(Pfuirufe und Gelächter.) Weiter kann die Heuchelei in der Politik
nicht mehr getrieben werden. Wrenn jemand schuld ist, daß der
Ackerbauminister einen Vorwand hat, den Wienern das Fleisch zu
entziehen, so ist es der christlichsoziale Vertreter des früheren
Ministeriums. Wir werden ja sehen, wie sich die Sache im Parla-
ment machen wird und ob man die Anträge, die die Sozialdemo-
kraten schon im früheren Hause gestellt haben, auch jetzt so auf-
nehmen wird wie damals, da sich Herr Bielohlawek und Herr Kun-
schak erfrecht haben, die Teuerung einen Schwindel
zu nenne n.*)
Wir werden sehen — das will ich einfügen — , was der
Wiener Gemeinderat gegen die furchtbare Wohnungsnot tut, gegen
*) In der Debatte über die sozialdemokratischen Teuerungsanträge im
Herbst 1907 stimmten die Christlichsozialen, auch ihre sogenannten Ar-
beitervertreter, am 28. November 1907 gegen die Anträge. Zur Begründung
führte Ku nsch ak an, „daß die Preise einiger im Haushalt der Arbeiter
zumeist gebrauchten Artikel, wie Kartoffeln und Kraut, wesentlich
gesunken" seien. Deshalb stimmte er gegen die Aktion für billiges Fleisch.
Die Arbeiter sollen nach dem Rezept des christlichsozialen Arbeiterführers
Kraut und Kartoffeln essen; dann brauchte das Fleisch nicht billiger zu
werden. B i e 1 o h 1 a w e k nannte damals die Teuerung einen „T e u-
erungsschwindel" und stellte sie als eine Erfindung der
Sozialdemokraten und der Frauen hin.
Die obige Äußerung Kunschaks findet ihr Gegenstück in der Äußerung,
die er am 7. Februar 1927 über die Löhne der Bauarbeiter gemacht hat.
Er sagte damals wörtlich:
„Ich bin ein entschiedener Gegner des Wohnhausbaues durch die Ge-
meinde. Und zwar hin ich deswegen dagegen, weil die Gemeinde schlecht
und teuer baut. Wir haben in Österreich die höchste V a 1 o r i s i e-
238 Das System Bienerth.
die die Gemeinde das Notwendige vorzukehren hat. Es wird sich
ja zeigen, ob sich die Leute gebessert haben nach der ersten Lek-
tion der Pädagogik, die ihnen die Stadt Wien zuteil werden ließ.
Der Wiener Gemeinderat ist eine Körperschaft, in der die Haus-
und Grundbesitzer dieselbe Rolle spielen wie im Parlament die
großen Viehzüchter und Getreidefabrikanten. Wie diese das größte
Interesse haben an teurem Fleisch und Brot, so haben die Be-
herrscher des Gemeinderates ein Interesse an
teuren Wohnungen. Aber wir meinen, daß diese teuren
Wohnungen nun endlich teuer genug geworden sind (Sehr richtig!
So ist es!); wir meinen, daß in Wien ein unerträglicher Zustand
geworden ist, weit unerträglicher als er mit dem kapitalistischen
Grundausbeutungssystem überall verknüpft ist. (Stürmischer Bei-
fall.) Die Wohnungspreise sind in Wien zu einer Höhe gediehen,
daß jeder, der Einblick hat, erschrickt und erstarrt bei dem Ge-
danken, wie sie bei den Löhnen und Einkommen überhaupt noch
getragen werden können. (Leidenschaftliche Entrüstungsrufe: Zehn
Personen in einem Zimmer!)
Die Wohnungs- und Lebensmittelteuerung, das sind die Dinge,
die heute am meisten auf uns drücken und gegen die zunächst,
wenn auch nur Palliativmittel, gesucht werden müssen. Ob wir im
Parlament dafür eine Unterstützung finden werden, weiß ich nicht.
So viel aber ist sicher, daß alles das um so unerträglicher wird, um
so schwerer es der Arbeiterschaft gemacht wird, ihre Lebenslage
zu verbessern und ihren Lohn einigermaßen zu erhöhen. Wenn wir
nun ein Parlament vor uns sehen, dessen größte Partei, der
Deutsche Nationalverband, mit der ausdrücklichen Parole gewählt
wurde: „Gegen die sozialdemokratische Arbeiterschaft und ihre
Forderungen!", dann dürfen wir uns darauf gefaßt machen, daß
jede Forderung für den Arbeiterschutz, jeder Schritt, um das
Koalitionsrecht zu sichern und zu erweitern, jeder Schritt, um die
Lebenslage der Arbeiterschaft zu heben, auf schweren Widerstand
stoßen wird. Darauf machen Sie sich gefaßt: Wir werden in diesem
Parlament das Bild des Klassenkampfes haben, wie wir es im
Wahlkampf gehabt haben. (Lebhafte Zustimmung.) Darum müssen
wir von allen politischen Dingen aus diesen Wahlen die Lehre
ziehen, daß wir so, wie wir unsere politischen Organisationen er-
gänzen und verstärken müssen, vor allem unsere gewerk-
schaftlichen Organisationen mit um so größerem Eifer verstärken
müssen, denn wir werden es in der nächsten Zeit mit schweren
r u n g der Bauarbeiterlöhne in Europa. Das erklärt sich
daraus, daß bei uns nur die Gemeinde baut. Es ist klar, daß die G e-
meinde gegenüber den Bauarbeitern sehr freigebig
sein kann. Es kostet sie ja nichts. Die Steuerträger
müssen ja alles zahlen. Wenn eine Forderung gestellt wird,
zeigt sich die Gemeinde nobel, ohne Rücksicht auf die Lage der übrigen
Arbeiterschaft."
So sprach nicht etwa der Unternehmersekretär, sondern der christlich-
soziale „Arbeiterführer".
Ohne Bienerth. '^
Kämpfen, vielleicht mil frechen Angriffen ;iuf ganze Positionen der
Arbeiterschaft zu tun haben. (Allgemeine lebhafte Zustimmung.)
Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß wir Ihnen in der nächsten
Zeit über Erfolge, für Sie, die unmittelbar wirken, werden berichten
können; ich kann nur mit allein Ernst und mit dem größten Nach-
druck Sie auffordern, bereit zu sein zum schwersten Kampfe.
(Stürmischer Beifall und Rufe: Zu jeder Stunde!) Ich kann Ihnen
nichts anderes sagen, als dal» Sie auf das beschränkt sein werden
und das haben werden, was Sie selbst zu halten wissen durch ihre
Organisation.
Nicht daß ich die Tätigkeit im Parlament unterschätze. Wir
Sozialdemokraten arbeiten alle schwer und ernst im Parlament,
wir halten es für eine heilige und wichtige Sache und verteidigen
jeden Fußbreit Boden und sind froh, wenn wir einen Millimeter
weiter vorrücken; wir werden diesen Kampf mit größter Schärfe
und Intensität weiterführen; aber wir würden unrecht tun, wenn
wir sie nicht aufmerksam machten, daß der Kampf im Parlament
in der nächsten Zeit noch weniger ausreichen
wird als bisher. Wir stehen einer Ralliierung des Unter-
nehmertums gegenüber, wie sie in Österreich noch nicht da war,
und was noch schlimmer ist — gegen eine Unternehmer-
organisation, die noch jung ist, unerfahren und die ihre Flegeljahre
noch nicht hinter sich hat. (Beifall.)
Nun haben wir eine ganze Reihe von sozialpolitischen Anträgen
und Dingen, die wir im vorigen Parlament sehr weit gefördert
hatten. Selbstverständlich werden wir sie alle sofort erneuern und
wir hoffen, sie mit Benützung der besten Gelegenheiten stückweise
eines nach dem anderen durchzusetzen. Das Wichtigste ist freilich
die Sozialversicherung. Da stehen wir vor einer großen Schwierig-
keit. Das frühere Haus hatte das Gesetz im Ausschuß soviel wie
fertig, und es ist eines der größten Verbrechen Bienerths, daß er
das Haus aufgelöst hat mitten in dieser Arbeit. (Pfui Bienerth!) Es
hat ihm übel angeschlagen. Das erste Wort der Sozialdemokraten
mit dem neuen Manne, Herrn v. G a u t s c h, galt natürlich der
Sozialversicherung. Wir sagten ihm, daß wir wünschen, daß die
Arbeit sofort aufgenommen und im neuen Hause dort fortgesetzt
werde, wo das alte aufgehört hat. Der Minister erwiderte, die
Regierung wolle die Sozialversicherung; aber ob er sie gleich ein-
bringen werde, kann er nicht sagen. Er will es in der allernächsten
Zeit; man beschäftigte sich mit der Ausarbeitung der Vorlage.
Nun kann das was Gutes und was Schlechtes bezeichnen. Die alte
Vorlage hat durchaus nicht allen unseren Wünschen entsprochen;
die Vorlage ist außerordentlich verbesserungsbedürftig und ver-
besserungsfähig; aber die Frage ist, ob sie aus den Händen der
Regierung verbessert oder etwa gar verschlechtert kommt. Wir
verlangen, daß die Sozialversicherung ehestens eingebracht und
die Arbeit sofort fortgesetzt werde. (Großer Beifall.)
Wir stellen diese Forderung an ein altes Ministerium mit einer
neuen Spitze. Wir können sagen, daß wir Herrn v. Gautsch
240 Das System Biene rth.
eigentlich ohne Übelwollen und ohne böse Vorurteile entgegen-
kommen; denn Gautsch hat während seines letzten Auftretens als
Ministerpräsident manches gutgemacht, was er früher verbrochen
hat. Cr war der Mann, der seinerzeit gesagt hat: Man darf in
Ungarn keine Wahlreform machen, weil das für Österreich schäd-
lich wäre. Cr war aber auch der Mann, der sich gedreht hat und
seine neue Überzeugung kräftig vertreten hat. Wir erinnern uns
alle, mit welch wirklichen Kraftworten er die Wahlreform gegen-
über den Herren Junkern vertreten hat. Das war eine männliche
Sprache, und wenn die Herren oben vergeßlich sind: das Volk
hat ein gutes Gedächtnis — auch für gute Dinge. Von
vornherein kommen wir Herrn v. Gautsch unvoreingenommen
entgegen; aber freilich, es wäre sehr zu wünschen, daß er diese
gute Meinung nicht allzu schnell dementieren würde. (Stürmischer
Beifall.) Wenn war die Thronrede lesen, die ja das Regierungs-
programm ist, so müssen wir schon sagen, daß unsere gute
Meinung eine erkleckliche Abschwächung erfährt;
denn in dieser Thronrede steht vor allem, was die eigentliche
Mission des Herrn v. Gautsch ist: Wehrvorlage mit neuen Lasten
und neuen Steuern. Mit welchen Mitteln er das erreichen wird,
weiß er heute wohl noch selber nicht. Er sucht erst eine tragfähige
Majorität. Man weiß noch nicht, wer die Majorität sein wird, die
trägt, man weiß aber schon sehr genau, was sie tragen soll: Aus-
gaben für den Militarismus und neue Steuern; und wer sie tragen
und ausgeben soll, das sind die neuen Massen. (Lebhafte Zustim-
mung.) Freilich wird sich der Kampf nicht so leicht abspielen. Unser
Glück ist wieder unser Unglück: zunächst ist das Ding in Ungarn
nicht in Ordnung. Aber dieses Unglück ist ein sehr zweifelhaftes;
denn Parlamente, die zu Schlechtem nicht zu brauchen sind, sind
gewöhnlich auch zu nichts Gutem zu brauchen. (Heiterkeit.)
Nun schwebt natürlich auch allen die Frage auf den Lippen, in
welcher Verfassung die Sozialdemokraten ins Parlament kommen.
Sie haben gelesen, daß der Sozialdemokratische Verband nicht in
der alten Form erneuert wurde. Es ist bedauerlich, daß das nicht
möglich war, aber Sie brauchen darum noch nicht daran zu
zweifeln, daß für ernste politische Interessen alle
Sozialdemokraten ohne Unterschied der nationalen Klubs
tätig sein werden.*) (Allgemeiner Beifall.) In einigen tschechischen
Parteiversammlungen in Wien wurde gestern zum Teil die An-
klage gegen uns erhoben, daß wir Deutschen den Verband zerrissen
hatten, daß wir uns separiert haben im Parlament. Ich will keine
Polemik hier führen; aber das möchte ich konstatieren, daß die
deutsche Sozialdemokratie die internationale Solidarität auch in
*) Im neuen Parlament haben die Sozialdemokraten der verschiedenen
Nationen nicht mehr wie im vorigen einen gemeinsamen Verband gebildet,
sondern es hat sich nach dem Beispiel der anderen Nationen gemäß dem
Beschluß der Parteivertretung vom 21. Juni ein besonderer Klub der deut-
schen Sozialdemokraten konstituiert, der sich allerdings bemühte, mit den
sozialdemokratischen Klubs der anderen Nationen enge Fühlung zu haben.
ohne Blenerth. 241
der Organisation in allen ihren Formen, politisch, gewerkschaftlich
und genossenschaftlich, mit den größten Opfern durchgesetzt und
aufrechterhalten hat. (Sehr richtig! Bravo!) Und ich möchte kon-
statieren, daß, wer immer den Separatismus erfunden hat, eine
deutsche Erfindung ist er nieht. Wir konnten uns dein Eindruck
nicht entziehen, daß es unsere tschechischen Genossen nur schwer
ertragen haben und wiederholt in Gegensatz gekommen sind zu
dem, was der gesamte Verband beschlossen hat, und die gesamte
tschechische Parteipresse hat wiederholt von der Last gesprochen,
die ihr die deutsehe Führung auferlege. Wir haben uns für ver-
pfliehtet gehalten, unter solchen Umständen die schwer zu er-
haltende Einigkeit im Verband etwas loser zu gestalten. Wir
hoffen, und ich bin überzeugt davon, daß die Zeit kommen wird,
wo das gesamte tschechische Proletariat einig mit uns gehen wird;
aber, Parteigenossen, wir können mit Gewalt nicht an uns halten,
was bei uns nicht bleiben will oder kann. (Beifall.) Wir wollen die
Selbständigkeit der tschechischen Genossen nicht antasten und wir
werden sehen, wie weit die eiserne politische Notwendigkeit der
Dinge und die eiserne politische Notwendigkeit im Parlament es
herbeiführen werden, daß gegenüber den bürgerlichen Parteien und
den Gegnern der Regierung eine eiserne proletarische Phalanx
dasteht. (Allgemeiner stürmischer Beifall.)
Adler, Briefe. XI. Bd. HJ
242 Militarismus und Krieg.
Militarismus und Krieg.
Der Deutschmeisterrummel.
Versammlung am 7. September 189 6*).
Der Jubel beim Empfang des Zaren hat natürlich nur dem
europäischen Frieden gegolten. (Heiterkeit.) Man glaubt, das Volk
sei heute so eingelullt, daß man sich alles mit ihm erlauben könne,
und man führt es systematisch von einem militärischen Gepränge
zum anderen, um es zu betäuben. Es gibt noch bürgerliche Ideologen,
die gegen den Militarismus im Namen der Menschlichkeit auftreten.
Dieselben Leute wollen aber nicht einen Schritt tun, um die kapi-
talistischen Grundlagen des Militarismus zu beseitigen. Wir sehen
klar, uns sind die Ursachen des Militarismus nicht verborgen
geblieben. Und wenn die Machthaber Ströme von Champagner
vergössen in ihrem Friedensdusel, wir wissen, daß nicht ein Mann
weniger ausgehoben werden würde. Kaiser Wilhelm, der überhaupt
für uns unbezahlbar ist, weil er so gern aus der Schule plaudert,
hat wiederholt offen den Soldaten in seinen Ansprachen erklärt,
was ihr Hauptzweck ist: die Bekämpfung des „inneren Fein-
*) Anfangs September 1896 wurden zu Ehren des sich aus Wien
rekrutierenden, „Deutschmeister" genannten Infanterieregiments, das die
Feier seines zweihundertjährigen Bestehens mit großem Tamtam beging,
große patriotische Kundgebungen und Aufmärsche auf dem Deutschmeister-
platz vor dem dortigen Deutschmeisterdenkmal veranstaltet. Am 6. Sep-
tember richtete auch der Kaiser Franz Josef ein Glückwunschtelegramm
an das Regiment.
Für den 7. September hatte die sozialdemokratische Partei in Wien
vier große Volksversammlungen mit der Tagesordnung „Der Militarismus
und das Volk" einberufen, um dem Deutschmeisterrummel der Schwarz-
gelben die wahre Gesinnung der arbeitenden Massen gegenüberzustellen.
Kurz vorher war auch der russische Zar Nikolaus II. in Wien.
Er hatte am 25. August mit seiner Frau eine große Rundreise zum Besuch
der Oberhäupter der Großmächte angetreten und hatte sich zunächst nach
Wien begeben, wo er allerdings ohne viel Geschichten mit ganz formalen
Trinksprüchen empfangen wurde. Am 5. September wurden sie in Breslau
vom Kaiser Wilhelm II. empfangen, der bei der Festtafel im königlichen
Schloß einen Trinkspruch auf den Zaren als den Träger alter Tradition
und Hort des Friedens ausbrachte.
In der Versammlung beim Hamberger „Zur Blauen Weintraube" in
Margareten, in der auch der belgische Genosse Vandervelde anwesend
war, sprach Adler.
Der Deutschmeisterrummel. 24.'i
des", eventuell des Vaters und Bind eis'). Was der Milita-
rismus wirklich bedeutet, darüber hat seinerzeit Eeldzeug-
meister Freiherr v. Schönfeld ein wertvolles Geständnis ge-
inaclit, als er sagte, daß die Armee die Bestimmung habe,
Schulter an Schulter mit dem Bürgertum die heiligen Hüter
) Einige Ausspr ü che des Kaisers W i 1 h e I in II., aui die Adler
hier anspielt, sind:
Was die Förderungen selbst betrifft, so werde ich diese durch meine
Regierung genau prüfen und euch das Ergebnis der Untersuchung durch
die dazu bestimmten Behörden zugehen lassen. Sollten aber Ausschrei-
tungen gegen die öffentliche Ordnung und Ruhe vorkommen, sollte sich
der Zusammenhang der Bewegung mit sozialdemokratischen Vereinen
herausstellen, so würde ich nicht imstande sein, eure Wünsche mit
meinem königlichen Wohlwollen zu erwägen. Denn für mich ist jeder
Sozialdemokrat gleichbedeutend mit Reichs- und Vaterlandsfeind. Merke
ich daher, daß sich sozialdemokratische Führer in die Bewegung
mischen und zu ungesetzlichem Widerstand anreizen, so würde ich mit
urfnachsichtlicher Strenge einschreiten und die volle Gewalt, die mir
zusteht - - und die ist eine große — zur Anwendung bringen.
Aus der Ansprache an die Deputation der aus-
ständigen Bergarbeiter. 14. Mai 1889 zu Berlin.
Ich knüpfe hieran den Wunsch, daß dieses gute Beispiel, welches die
Provinz gegeben hat, ohne Unterschied der Parteien und Konfessionen
von allen Teilen meines Volkes befolgt werde, daß unsere Bürger end-
lich aus dem Schlummer erwachen mögen, in dem sie sich so lange
gewiegt haben, und nicht bloß dem Staate und seinen Organen die
Bekämpfung der umwälzenden Elemente überlassen, sondern selbst mit
Hand anlegen. Breslau, 13. September 1890.
Kinder meiner Garde, mit dem heutigen Tage seid ihr meiner Armee
einverleibt worden, steht jetzt unter meinem Befehl und habt das Vor-
recht, meinen Rock tragen zu dürfen. Tragt ihn in Ehren. Denkt an
unsere ruhmreiche vaterländische Geschichte; denket daran, daß die
deutsche Armee gerüstet sein muß gegen den inneren Feind
sowohl als gegen den äußeren. Mehr denn je hebt der Unglaube und
Mißmut sein Haupt im Vaterland empor, und es kann vorkommen,
daß ihr eure eigenen Verwandten und Brüder niederschießen oder
— -stechen müßt. Dann besiegelt die Treue mit Aufopferung eures
Herzblutes.
Nach einem anderen Bericht: Und müßte ich euch einst vielleicht
— Gott wolle es verhüten dazu berufen, auf eure eigenen Ver-
wandten, ja Geschwister und Eltern zu schießen, so denkt an euren Eid!
Bei der Rekrutenvereidigung der Garderegimenter
in Potsdam am 23. November 1891.
Eine erhebende Feier hat sich gestern vor unseren Augen abge-
spielt; vor uns steht die Statue Kaiser Wilhelms I., das Reichsschwert
erhoben in der Rechten, das Symbol von Recht und Ordnung. Er mahnt
uns alle an andere Pflichten, an den ernsten Kampf wider die Be-
strebungen, welche siel) gegen die Grundlagen unseres staatlichen und
gesellschaftlichen Lebens richten. Nun, meine Herren, an Sie ergeht
ietzt mein Ruf: Auf zum Kampf für Religion, für Sitte und Ordnung.
16*
244 Militarismus und Krieg.
des Eigentums zu schützen. Das Bürgertum weiß dies sehr
genau, und die Antisemiten sind in dieser Beziehung gar
nicht dümmer als die Liberalen. Lueger, der seinerzeit das richtige
Wort vom Rothschild-Militär*) gebrauchte, kennt den Mili-
tarismus und seine Aufgaben sehr genau, und seine Anhänger wissen
ebenfalls, warum sie sich nun, da sie am Ruder sind, für den „Roth-
schild-Militarismus" begeistern. Der Militarismus ist nämlich nicht
nur der ideale Hort des üeldsackes, sondern auch das unmittelbare
kapitalistische Interesse fordert die Förderung des Militarismus. Er
„befruchtet" das Kapital und verhilft ihm zu vielen recht guten
Geschäften. Die Kehrseite dieser Harmonie zwischen Militarismus
und Kapital ist die ungeheuerliche Tatsache, daß die Arbeiter nicht
gegen die Parteien des Unisturzes! ... Wohlan denn, lassen Sie uns
zusammen in diesen Kampf hineingehen. Vorwärts mit Gott, und ehr-
los, wer seinen König im Stiche läßt.
Königsberg, 6. September 1894.
Doch in die hohe, große Festesfreude schlägt ein Ton hinein, der
wahrlich nicht dazu gehört; eine Rotte von Menschen, nicht wert, den
Namen Deutscher zu tragen, wagt es, das deutsche Volk zu schmähen,
wagt es, die uns geheiligte Person des allverehrten
Kaisers in den Staub zu ziehen. Möge das gesamte Volk in
sich die Kraft finden, diese unerhörten Angriffe zurückzu-
weisen! Geschieht es nicht, nun dann rufe ich Sie, um der hoch-
verräterischen Schar zu wehren, um einen Kampf zu führen, der uns
befreit von solchen Elementen.
Sedanfeier, 2. September 1895 im Weißen Saal
des Schlosses zu Berlin.
*■) Am 11. April 1894 hatte sich an dem zu Ehren des neugewählten
liberalen Bürgermeisters Dr. G r ü b 1 veranstalteten Bankett der Wiener
Korpskommandant Feldzeugmeister Baron v. Schönfeld beteiligt und dort
eine Rede gehalten, daß das Militär zum Schutze des Bürgertums da sei.
(„Sie können versichert sein, daß Sie uns hinter Ihrer Front finden werden,
wenn Sie im ersten Treffen stehen, wenn die Existenz der Gesellschaft,
der Genuß des sauer erworbenen Besitzes bedroht sind...
Wenn der Bürger in erster Linie steht, eilt der Soldat zu Hilfe. Nur ein
fest geschlossenes Bürgertum vermag derartige Gefahren abzuwenden.")
Darauf sagte am 18. April im Parlament in der Debatte über die Melde-
pflicht der Landsturmpflichtigen Dr. Lueger:
Ich erkläre, daß das österreichische Militär nicht dazu da ist, um
diejenigen zu schützen, die ihr Vermögen auf Kosten des Volkes er-
worben haben, und wenn diese Pflicht verletzt wird, dann ist das kein
österreichisches Militär, dann möge es sich Rothschild-Militär
nennen, aber nicht kaiserlich österreichisches Militär.
Übrigens hat Lueger auch noch im Mai, als von Gendarmen in F a 1 k e n a u
drei Bergarbeiter getötet und acht verwundet und in Polnisch-Ostrau vier-
zehn getötet und zwanzig verwundet wurden, in der Beratung des Perner-
storferschen Dringlichkeitsantrages gesagt: „Spielen Sie nicht mit dem
Militär! Es besteht aus dem Volke und ist nicht zu dem Zwecke da, einige
Kohlenbarone gegen ausgehungerte Arbeiter zu verteidigen, sondern viel-
leicht eher dazu, ausgehungerte Arbeiter gegen die Kohlenbarone zu
schützen." Bald danach ist er aber sehr militärfromm geworden.
Der Deutschmeisterrummel. 24f>
nur die Flinten und Kanonen im Schweiße ihres Angesichts erzengen
müssen, zum Heile des Qeldsacks anderer, sondern daß sie sie
auch dann noch drei Jahre tragen und bedienen müssen, zum
Schutze des (ieldsacks jener anderen gegen sich seihst. Man wirft
uns vor, daß wir das Volk wehrlos machen wollen, und d a s
( i e g ; e n t e i 1 davon ist richtig. Wenn es eine E i n T i ch-
t u n g g i b t, die das Volk w e h r I o s m a c h t, s o i s t e s d e r
Militarismus. Wir wollen das Volk aus seiner
Wertlosigkeit erheben, und unsere Forderung der allge-
meinen Wahrhaftigkeit bedeutet nicht die Heranziehung eines
Volkes von Schwächlingen, die nicht wissen, wie eine Waffe aus-
sieht, sondern eines Volkes von Männern, die die Waffe zu ge-
brauchen verstehen zum Schutze ihres Rechtes. Manche Seiten
des Militarismus ließen sich sehr wohl verwerten für die körper-
liche und hygienische Erziehung des Volkes*), aber losgelöst vom
Prinzip des Militarismus, unter dessen Fuchtel diese körperliche
und hygienische Ausbildung ebenso einseitig ausfällt wie die
Geistesbildung des Volkes unter dem Einfluß der heutigen Schule.
Der Redner bespricht nun das Verhältnis des österreichischen
Parlaments zum Militarismus, die Ohnmacht und die Feigheit der
bürgerlichen Parteien allen Anforderungen des Militarismus gegen-
über, wie sie es aber trotz ihrer Schwäche verstanden hätten, für
das Bürgertum das Privileg des Einjährigendienstes zu ergattern.
Sodann erörtert der Redner den Deutschmeisterrummel, den eine
verächtliche Presse im Verein mit den Parteien, die früher das
Bürgertum mißbrauchten, und mit den Parteien, die es jetzt miß-
brauchen, entfacht habe, um die gedankenlose Menge zu be-
rauschen, um sie zu verleiten, alles das zu vergessen, was jedem
einzelnen seine Erfahrung über den Militarismus lehrt, und, statt
nachzudenken, nachzulaufen — der Burgmusik**). Dem Militarismus
könne niemand ernstlich zu Leibe als allein die Sozialdemokratie.
Die ehrlichen bürgerlichen Ideologen samt denen, die mit ihrer
gespielten Feindschaft gegen den Militarismus Reklame zu machen
verstehen, werden wider ihn nichts ausrichten. Man weiß das oben
auch sehr gut, und es wäre gar nicht so inkonsequent, wenn man
den Reklamebedürfnissen gewisser Friedensfreunde entgegenkäme
und die Orden für die Militärfreunde durch Orden für die
Friedensapostel ergänzte. Die Leute tun ja dem Militarismus
nichts. Diese Sueß, Pirquet***) und andere haben noch jedes
Kriegsbudget bewilligt, sogar ohne die sonst übliche Zere-
*) Siehe auch die Rede Adlers auf dem Parteitag 1903, abgedruckt
unter dem Titel: „Militarismus und Demokratie" im Band IX
dieser Schriften, Seite 11 f.
**) Jeden Vormittag spielte im inneren Hof der Hofburg eine Militär-
kapelle. Sie zog schon unter großem patriotischem Lärm unter Begleitung
der schwarzgclben Nichtstuer auf und war eines der üblichen Mittel der
Da trio tischen Beeinflussung.
'*) Liberale Abgeordnete, von denen Professor Eduard Sueß der be-
kannte große Geologe und Erbauer der Wiener Wasserleitung, aber ein
engstirniger Politiker war.
246 Militarismus und Krieg.
monie des Augenverdrehens. Wir wissen, daß die Arbeiter
solange für fremde Zwecke das Gewehr werden tragen müssen,
solange sie nicht gründlich gelernt haben werden, für eigene
Zwecke einzutreten. Wir können gegen den Militarismus nichts
anderes tun, als gute Sozialdemokraten erziehen, rastlos zu orga-
nisieren. Wenn Sie bedenken, unter welchen Umständen Sie sich
drei Jahre lang für andere organisieren lassen mußten, so
werden Sie begreifen, wie geringfügig die Opfer sind, die Ihre
eigene Organisation Ihnen auferlegt. Durch Bekämpfung des Kapi-
talismus entziehen wir auch dem Militarismus seine Lebens-
bedingungen, und er wird in absehbarer Zeit zusammenbrechen.
Das wissen wir, und deshalb brauchen wir auch keine Propaganda
in den Kasernen zu machen. Sie ist überflüssig, denn die Propa-
ganda für uns macht sich gerade in den Kasernen von selbst,
nirgends ist der Kapitalismus mehr sein eigener Totengräber als
gerade dort, wo er seine immer wachsende Massenanhäufung
arbeitender Proletarierarmeen durch ebenso stetig wachsende
Konzentration bewaffneter Proletariermassen ergänzt.
Haubitzen und Volksvertretung.
Versammlung am 13. Mai 190 2*).
Dieses Lokal hier ist eine Erinnerung für viele von uns. Wir
sind hier so eng beisammen, weil daneben das Assentierungslokal
ist. Wir müssen uns drängen, es fehlt uns an Raum, wir müssen
eben dem Militarismus Platz machen. So wie es uns hier in diesem
Saale ergeht, ergeht's uns überhaupt. Wir wissen aber auch, ein
Klassenstaat braucht die Gewalt. Er braucht die Gewalt zum
Schutze des Ausbeutungssystems, und er braucht sie im Verhältnis
zu den anderen Staaten. Dieselben Ursachen, die die großen
Fabriken geschaffen haben, haben auch die großen Armeen, die
kolossalen Geschütze, die enormen Festungen geschaffen. Es gibt
sanftmütige Leute, die den Krieg abschaffen wollen, weil sie das
viele Blut nicht sehen wollen. Aber an der Spitze dieser Friedens-
*) Bei der Beratung des Heeresbudgets in den Delegationen wurde die
Frage der neuen Haubitzen vornehmlich erörtert. Die Regierung hatte zu-
nächst einen Betrag von 38 Millionen Kronen für die Aufstellung von
Haubitzendivisionen und zur Reorganisation der Gebirgsartillerie als erste
Rate in das Budget eingestellt, doch waren die gesamten Kosten der Um-
gestaltung der Artilleriegeschütze mit 200 Millionen veranschlagt. Im Ab-
geordnetenhaus brachten Daszynski und P ernerstorfer im Namen
des sozialdemokratischen Verbandes einen Dringlichkeitsantrag ein, die
Regierung solle sich rechtfertigen, wie sie dazu ihre Hand bieten konnte.
Am 14. Mai wurde der Antrag eingebracht. Am 13. Mai sprach Adler
darüber in einer Massenversammlung beim Dreher.
Auf eine Anfrage erklärte der Finanzminister Böhm-Bawerk im
Parlament, er beabsichtige die Kosten durch eine tilgbare Anleihe aufzu-
bringen. Siehe darüber und über dieses Finanzkunststück Adlers Rede vom
24. Mai 1904. Über die Institution der Delegationen sagt Adler alles
Nötige selbst.
Haubitzen und Volksvertretui -47
freunde steht der Herrscher im Reiche des Massenmordes. (B
wegung.) Derselbe Zar* der seine Russen totprügeln läßt und in die-
Bergwerke verschickt, wenn er sie nicht hängen kann, wird von
den Friedensfreunden und der anmutigen Baronin Suttner als ein
gebenedeiter Friedensenge] angebetet. Durch P r e dig te n
k a n n a her der Militari s m n s nicht beseitigt w e r-
den. (Zustimmung.) Solange es Klassenherrschaft gibt, wird es
Militarismus geben.
Heute führt uns ein besonderer Anlaß zusammen, In allen euro-
päischen Staaten machen die Militärforderungen den Hauptanteil
des Budgets aus. Diese Lasten, nicht nur die Blutlast, sondern auch
die Steuerlast, werden von den Massen des Volkes getragen* die
indirekten Steuern, die Zölle, die Verzehrungssteuern dienen zur
Fütterung dieses Molochs. Aber in anderen europäischen Ländern
sind wir doch so weit, daß die Völker da doch etwas dreinzureden
haben. Ich überschätze das nicht, was der deutsche Reichstag, die
französische Kammer, das englische Parlament in dieser Hinsicht
leisten, der Volkswille kommt auch dort nicht zum Ausdruck. Aber
in anderen Ländern muß die Regierung um jede
Militärforderung wenigstens bitter kämpfen! Da-
durch kommt in alle Schichten der Bevölkerung bis in die ent-
legenste Bauernhütte das Bewußtsein von den stets wachsenden
Forderungen des IViilitarismus. In Österreich redet kein
Mensch von den Militärforderungen! Wir haben ein
Parlament, aber mit dieser wichtigen Funktion hat es nichts zu
tun. Ja, das Parlament ist wichtig, es kann wegen einer slowenischen
Parallelklasse Regierungen stürzen (Heiterkeit), wenn die Regie-
rung sich nämlich stürzen lassen will. (Neuerliche Heiterkeit.) Aber
in diese wichtigen Dinge dürfen die Abgeordneten nichts dreinreden.
Bei uns gibt es keine ernste Debatte über unsere äußere Politik,
keine ernste Debatte über Militärforderungen, denn das alles sind
ja „gemeinsame Angelegenheiten" mit Ungarn ! Was
sind denn das, diese „gemeinsamen Angelegenheiten"? Wir zahlen
alle in gleicher Münze Steuern, wir werden alle in gleich an-
gestrichene Arreste eingesperrt, das sind in Österreich die gemein-
samen Dinge. (Heiterkeit.) Mit Ungarn haben wir gemein-
sam — dasselbe Bajonett. (Lebhafte Zustimmung.)
Zur Erledigung der gemeinsamen Angelegenheiten haben wir die
Delegationen. Das Parlament wählt einen Ausschuß von vierzig
Mitgliedern, das Herrenhaus zwanzig Mitglieder. Sie sehen, wie
demokratisch da unsere Verfassung ist. (Gelächter.) Diese sechzig
Herren entscheiden über die wichtigsten Fragen. Wäre das Ab-
geordnetenhaus ein Volkshaus, so könnte in der Delegation eine an-
ständige Volksmajorität sein. Die Wahl erfolgt, wie Sie wissen, nach
Kronländern. Wären die zehn Sozialdemokraten nur die Vertreter
eines Volkes, so bekämen sie vermutlich in der Delegation einen
Sitz. Weil die Sozialdemokraten aber alle Völker
Österreichs vertreten, deshalb wird keiner von ihnen in
die Delegation gewählt. Jeder Großgrundbesitzer, der von sechs,
248 Militarismus und Krickr.
sieben Herren gewählt wurde, hat da mehr Rechte als die großen
Massen des arbeitenden Volkes. (Pfui!) Nun sollte man denken, so
ein Kavalier, der den anderen als Vertreter aufgedrängt wurde,
werde es, da er für anderer Wohl und Wehe zu entscheiden hat,
sehr genau nehmen. Wie werden diese Dinge aber in Wirklichkeit
erledigt?
Vor vierzehn Tagen sind die Delegationen in Pest zusammen-
getreten. Sie hatten 2 0 7 V2 Millionen für den normalen Militär-
etat, 12 0 Millionen für den außerordentlichen Militäretat zu
bewilligen und neue 38Millionen Kronen für Neuforderungen
aus Anlaß — aus einem Anlaß (Heiterkeit) — der Anschaffung
neuer Feldhaubitzen zu bewilligen. Haubitzen sind, ich
kann Ihnen das rasch nicht anders erklären, Kanonen, mit denen
man ums Eck schießen kann. (Heiterkeit.) Das sind Ge-
schütze, die man so aufstellen kann, daß die Geschosse sehr hoch
hinauffliegen und dann über einem Hindernis sinken und enden. Sie
sehen ein, das haben wir nötig. (Gelächter.) Dabei ist der Kriegs-
minister sehr sparsam. An Geschützen und Munition kann er nicht
sparen, so spart er wenigstens an — Papier. Auf einem ein-
zigen Blatt steht die „Begründung" für die 38 Mil-
lionen. (Bewegung.) Auf diesem Blatte ist aber gleichzeitig an-
gekündigt, daß noch Forderungen für das Drei- und Vier-
fache kommen werden. Wir haben neue Gewehre, jetzt müssen
wir auch neue Kanonen, die weiter tragen, bekommen. „Die Steige-
rung der Infanteriewirkung bedingt auch die Steigerung der
Artilleriewirkung", heißt es da. „Rationellere Geschosse'*
müssen angeschafft werden. Aber damit nicht genug, es heißt
weiter: „Erst mit neuen Feldgeschützen kann allen Bedingungen des
Feldkrieges entsprochen werden." (Hört! Hört!) Die neuen Feld-
geschütze werden aber diesmal noch gar nicht verlangt, sie werden
erst noch probiert, man kündigt uns das nur nebenbei an. Heute
werden nur die neuen „Hinterdeckungsgeschütze" verlangt! 1903
wird ein neuer Betrag angesprochen werden, der wird aber nicht
mehr als — 40 Millionen kosten. (Sehr bescheiden. — Ge-
lächter.) Sie sehen, das alles ist nur ein Anfang!
Die Forderungen für heuer wurden in einer Sitzung be-
willigt. (Bewegung.) Vergebens fragen wir: Welche Anstrengungen
wurden gemacht, um diese Mehrforderungen abzuwehren? Es
wurde gar kein Widerstand geleistet! Die Groß-
grundbesitzer und Herrenhäusler waren für alles zu
haben. Aber auch zwei bürgerliche Abgeordnete, die Herren Per-
gelt (Pfuirufe) und To Hing er*) (Pfuirufe) haben, ohne zu
mucksen, dafür gestimmt. Herr Pergelt hätte das nicht nötig gehabt.
*) Der Liberale Dr. Pergelt aus Deutschböhmen und der Klerikale
Dr. T 0 1 1 i n g e r aus Tirol sind auch in den Kämpfen um das Wahlrecht
in den Jahren 1905 und 1906 als die ärgsten Volksfeinde aufgetreten,
worüber in den bezüglichen Kapiteln des zehnten Bandes ja berichtet wurde;
namentlich Tollinger hat dem berüchtigten Pluralitätsantrag seinen
Namen gegeben.
[aubitzen und Volksvertretung. 24!)
Diese Liberalen prostituieren sich seit Jahren, ohne zur Regierung
zu kommen! Schlimmer noch ist's, daß sich ein Klerikaler, der
Herr Trolljnger, dafür gefunden hat. Der gehört zu einer wirklichen
Volkspartei, denn wir haben deren nur zwei in Österreich,
Sozialdemokraten und Klerikale. Aber haben denn die Hauern ein
Interesse am Militarismus? Wenn ein Klerikaler für den Militaris-
mus stimmt, dann begeht er Verrat an den eigene n
Klassengenossen ! (So ist's !)
Man hätte erwartet, daß in der Delegation wenigstens die Forde-
rungen an den Militarismus zur Sprache kommen. Die zwei-
jährige Dienstzeit, in Deutschland längst bewährt, ist selbst
von Militärs empfohlen worden. Dann hätte man der Heeresverwal-
tung ihr Sündenregister vorhalten sollen! Die Soldaten-
mißhandlungen sind eine ständige Zeitungsrubrik, und dabei
gelangt kaum ein Tausendstel dieser Mißhandlungen an die Öffent-
lichkeit. Selbst wir in der „Arbeiter-Zeitung" können vieles nicht
bringen, weil wir oft den Leuten sagen müssen: „Du, wenn wir das
morgen veröffentlichen, kommen sie übermorgen über dich!" Wir
haben ja viele sehr vernünftige, sehr anständige, humane Offiziere
in der Armee. Aber leider, sie bleiben nicht immer so, weil es oben
nicht genügend anerkannt wird. Der Herr Galgotzy*) (minuten-
lange erregte Zwischenrufe) ist vom Kriegsminister als edle Natur
hingestellt worden. Kein Abgeordneter hat darauf die nötige kräftige
Antwort gegeben. Auch für's „Anbinden" durfte Herr Krieghammer
ohne Widerspruch schwärmen. Es waren eben nur Leute dort, die
selbst das Anbinden kommandierten, aber noch nie angebunden
wurden. (Zwischenruf: Man sollt's probieren!) Von der Affäre
Mattach ich**) und dem Militärstrafprozeß überhaupt
war nicht die Rede. In anderen Ländern wäre nach den Enthüllungen
der „Arbeiter-Zeitung" ein Sturm der Empörung durch die Presse
und die Abgeordneten gegangen. Bei uns hat — außer unserem
*) Über die Soldatenmißhandlungen und namentlich über die
schändlichen Strafen der Spangen und des Anbindens an eine Säule,
die noch im Militärstrafprozeß vorgesehen waren, wurde immer wieder im
Parlament und in den Delegationen gesprochen und der Landesverteidigungs-
minister Graf Zeno Welsersheimb mußte immer wieder die aufgeregten
Abgeordneten beruhigen, so wieder in den Debatten über das Rekrutenkontin-
gent im Februar 1902, wo krasse Fälle von Soldatenmißhandlungen vorgebracht
wurden. Die ärgsten Fälle von Soldatenmißhandlungen wurden aus dem
Armeekorps von Przcmysl berichtet, wo der Feldzeugmeister Galgotzy
die Soldaten, aber auch die Offiziere rücksichtslos behandelte. Da Galgotzy
aber damals als Generalissimus in einem Kriege gegen Rußland angesehen
wurde, erfreute er sich der Gunst des Hofes und wurde vom Kriegsminister
Krieghammer geschützt, obwohl sogar in Preßprozessen skandalöse
Fälle von Soldatenmißhandlungen in seinem Korps bewiesen wurden.
**) Es handelt sich um den Oberleutnant Geza M a 1 1 a c h i c h, der
wegen seines Verhältnisses zur Prinzessin Luise v. Coburg von der
Militärjustiz verfolgt wurde. Man hatte Mattachich angeklagt, die Unter-
schrift der Prinzessin auf Wechseln gefälscht zu haben, obwohl er es mit
250 Militarismus und K:
Daszynski — selbst im Parlament niemand ein Wort darüber ge-
funden.
Es wurde aber auch nicht davon gesprochen, wer das alles
/ a h 1 e n s o 1 1 ! Die Diurnisten läßt man warten, der Finanzminister
verlangt erst eine Fahrkartensteuer. Aber wegen dieser 38, eigent-
lich 280 Millionen regt sich der Herr F i n a n z m i n i s t e r nicht
auf. Die Sozialdemokraten werden im Parlament
den Versucli machen, den Finanz minister darüber
zu befragen, wo er denn das nötige Geld her-
nehmen will? Wir werden sehen, wer im Abgeordnetenhaus
die Courage haben wird, mit uns zu gehen! (Lebhafter Beifall.)
Diese Militärforderungen haben auch ihre andere Seite. Hätten
wir ein Volksparlament, dann wären diese Bewilligungen nicht so
einfach! Aber die Herren vergessen: Der Kampf ums Wahl-
rechtistnurunterbrochen! (Brausende Zustimmung.) Die
Stunde kommt, wo wir Sie wieder rufen werden! Solche Dinge wie
die heute besprochenen führen diese Stunde herbei. Ich weiß, Sie
sagen: „Wenn's nur bald wäre!" (anhaltender Beifall), ich sage
Ihnen: Wir wTarten nur auf den Moment, der uns paßt! Rüsten Sie
sich für diese Stunde! Wir werden Sie rufen! (Stürmischer Beifall.)
Militarismus und Geschäft.
Versammlung am 2 4. Mai 190 4*).
Als die Delegierten nach Budapest kamen, da erfuhren sie zu
ihrer größten Überraschung, daß man diesmal statt der üblichen
ihrer Zustimmung tat. Er wurde vom Kriegsgericht zu Kerkerstrafe ver-
urteilt, Luise Coburg auf Veranlassung ihres Gatten, des Herzogs Philipp
v. Coburg, in eine Irrenanstalt gesteckt. Doch gelang es ihr mit Hilfe von
Mattachich, zu flüchten. Wegen dieser Affäre hat seinerzeit die „Arbeiter-
Zeitung" einen energischen Feldzug geführt und Daszynski hat in Inter-
pellationen und Reden die Verurteilung von Mattachich als Justizmord
gebrandmarkt.
*) Nachdem in den Jahren 1902 und 1903 einige Dutzend Millionen
Kronen — zusammen 53 Millionen — für neue Geschütze bewilligt worden
waren, verlangte im Jahre 1904 die Heeresverwaltung auf einmal 391 Mil-
lionen an außerordentlichen Ausgaben und im Heeresausschuß der öster-
reichischen Delegation erschien der Finanzminister Böhm-Bawerk
— ein Professor der Nationalökonomie — und entwickelte folgenden Plan
der Finanzierung der Rüstungen: Man solle die geforderten 391 Millionen
bewilligen und die Heeresverwaltung werde durch 25 Jahre jährlich 27 Mil-
lionen aus dem Budget zurückzahlen. Dabei tat er so, als ob dafür die
Heeresleitung auf weitere Ansprüche in den nächsten Jahren verzichten
würde. Da aber der Leiter der Marinesektion dann ausdrücklich erklärte,
das sei nicht richtig, mußte im Oktober der Herr Professor von seinem
Amte als Finanzminister zurücktreten. In neun Protestversammhingen
protestierten die Wiener Arbeiter gegen diese unerhörten Forderungen des
Molochs. In der Versammlung, die am 24. Mai im Arbeiterheim stattfand,
sprach Adler.
Militarismus mul Geschäft.
Portion von Millionen nocli einige hundert Millionen mehr verlang!
hat. Nicht einmal so viel Respekt Imt man vor den Abgeordneten
gehabt, ihnen, ehe man sie wegschickte, mitzuteilen, was man plant.
Die Delegierten waren anfangs sehr aufgeregt, aber bald haben sie
sich beruhigen lassen, und so ist heute die große Sorge der Staats-
lenker nur die, in welcher Form man die Anlehen aufbringen soll,
da doch nicht einmal dazu der Reichsrat zu brauchen ist. Wir
stehen einfach vor der Tatsache, daß die paar Merren, die in Buda-
pest Volksvertretung spielen, die verbrecherische Kühn-
heit haben werden, diese ungeheuerlichen Mehrforde-
rungen ohne weiteres zu bewilligen. (Pfuirufe.) Wir
brauchen angeblich die Kanonen sehr dringend. Ein Staat, der durch-
aus hohl und innerlich zerrüttet ist, nicht imstande ist, seine einfach-
sten Lebensfunktionen zu verrichten, dessen Unterricht von oben bis
unten Mangel an den notwendigen Mitteln leidet, der nicht einmal
imstande ist, das Geld aufzubringen für das bißchen Altersversiche-
rung der Arbeiter, wie sie in Deutschland schon lange besteht, ein
Staat, der nach außen nicht die geringste Macht entfalten kann, vor
dem sich niemand fürchtet, den auch niemand bedroht, weil sich
jeder scheut, auch nur die Hand nach ihm auszustrecken, der
draußen nur Mitleid und Hohn, aberkeinen Haß erzeugt
und der keinen Feind hat — seine Regierung ganz allein aus-
genommen. Aber Kanonen brauchen wir unbedingt! Wir haben
kein Geld, um unseren Greisen und Invaliden ein Stück Brot zu
geben, aber was man für Kanonen und Unterseeboote von uns ver-
langt, das zahlen wir.
Aber man sagt uns doch, das wird alles ohne Mehrbelastung
durchgeführt werden. (Heiterkeit.) Das verstehen Sie nicht. (Rufe:
Nein!) Das kommt nur davon, daß Sie ganz ungebildet sind. Wenn
Sie zum Beispiel Herrenhausmitglieder oder Großgrundbesitzer
wären, dann hätte Ihnen Gott mit dem Amt auch den nötigen Ver-
stand gegeben und Sie würden das sofort verstehen. Das ist doch
auch sehr einfach. Wenn ein Mann, der eine große Familie, aber
ein schmales Einkommen hat, die Lust hat, Champagner zu trinken,
so ist das nicht sehr vernünftig. Nun hat der Mann schon zwei
Jahre lang Champagner getrunken und er will noch 23 Jahre lang
Champagner trinken. Wie ihm nun seine Frau Vorwürfe macht,
sagt er: Das kostet mich doch nichts; das steht einmal im Budget
und ich leihe mir jetzt auf einmal die 2000 Gulden aus, die ich in den
nächsten 23 Jahren versaufen werde, und dafür refundierst du mir
aus dem Budget alle Jahre das, was ich an Zinsen zu zahlen habe.
(Heiterkeit.) Genau so macht es der Kriegsminister, der sagt: Ich
habe schon früher 15 Millionen bekommen und jetzt wollte ich
wieder 25 Millionen nehmen, deshalb nehme ich mir gleich auf ein-
mal 400 Millionen für die nächsten 25 Jahre. Das ist doch keine
Mehrbelastung, denn ich habe euch das ja ohnedies schon aus der
Tasche genommen. Das ist natürlich ein ganz gewöhnlicher
Schwindel, mit dem man sich's ersparen will, jedes Jahr z u
verlangen, was man den Leuten auf einmal
252 Militarismus und Krickr.
n e li m e n ka n n, und der es ermöglichen soll, später wieder
ungestört neue Forderungen zu stellen, obzwar man
diese Forderungen vorweggenommen hat.
Und. für diese Militärvorlage ist dank der Zusammensetzung der
Delegationen schon von allem Anfang an die Majorität bestimmt. Die
Großgrundbesitzer und die lierrenhäusler bilden die Mehrheit und
die Vertreter der bürgerlichen Parteien brauchten also bei diesem
Akt der Selbstkastrierung gar nicht mitzutun. Sie könnten sich in
die Brust werfen und Opposition machen, weil ja die Majorität auch
ohne sie da ist. Aber es scheint, daß man ihnen nicht einmal dazu
die Erlaubnis geben will, Mannhaftigkeit auch nur zu heucheln. S i e
werden über den Stock springen, sie werden die Mil-
lionen bewilligen, weil sie für einen Gnaden blick von
oben jede Würde, jede Mannhaftigkeit und jede
politische Überzeugung preiszugeben bereit
sind. Sie erinnern sich noch, wie sie die letzte Wehrvorlage durch-
gepeitscht haben, damit sie dem Kaiser zum Frühstück schon bereit-
stehe, und sie werden die Millionen, die man jetzt fordert, bewilligen,
wahrscheinlich noch vor dem großen Empfange . . . Sie wissen, daß
die Delegierten immer abgefüttert werden. Sind sie brav, so kriegen
sie die Fütterung nach der Abstimmung; sind sie aber widerhaarig,
dann müssen sie zuerst gefüttert werden und hernach gehen sie
zur Abstimmung. (Lebhafte Zustimmung.)
Aber wenn sie die Militärforderungen bewilligen, so tun sie das,
wie sie sagen, aus Opferwilligkeit, aus Patriotismus.
Aber wir meinen, dieser Patriotismus ist Verrat am Vaterland, das
sie zu lieben vorgeben. Wir lieben unser Land und unser Volk mehr
als die Herren oben, wir lieben es, weil wir es selbst sind, während
sie das Volk nur als Weide für ihr Parasitentum benützen, als ein
Objekt für ihre Geschäfte brauchen. Für sie ist die ganze Volks-
vertretung ein Geschäft, und Geschäft ist ihnen der Patriotismus,
Geschäft ihre Opferwilligkeit. Bei den Uniformen und bei den
Patrontaschen beginnt das Geschäft und beim Zwieback wird es
fortgesetzt. S i e machen natürlich kein Geschäft dabei, denn Sie
haben die Uniformen nur zu tragen und die Gewehre nur auf die
Schulter zu nehmen, und wenn es zum Schießen kommt, so sind
Sie entweder bei denen, die schießen, oder bei denen,
die erschossen werden. (Lebhafter Beifall.) Sie müssen
die Gewehre machen und sie bezahlen, aber den
Profit am Militarismus haben die anderen. Aber
neben dem reellen Geschäft gibt es noch eines, das ebenso gut ist,
aber schmutzig. Da gibt es nämlich Makler, Vermittler, Agen-
ten, die Provisionen machen; das ist ein ganzes Gewebe von höchst
einflußreichen Leuten, die Bestellungen und Liefe-
rungen zuschanzen ... Ehe die Millionen ausgegeben wer-
den, bevor auch nur ein Soldat ein Stück Zwieback davon ißt,
haben schon Tausende von Leuten sich satt daran gefressen. Jetzt
begreifen Sie, woher der Patriotismus dieser Leute kommt.
Die Triester Konferenz.
Die Triester Konferenz.
Am 21. M a i I 905*).
Das Referat Pittonis, das sich durch unübertreffliche Klar-
heit und Sachlichkeit auszeichnete, kann ich vorn ersten bis /um
letzten Wort unterschreiben. Was unsere italienischen Genossen
\cii uns verlangen, das kann die österreichische Sozialdemokratie
um so leichter erfüllen, als sie damit nur ihr eigenes Programm
konsequent verfolgt. Aber die Autonomie von Welschtirol und die
Erfüllung kultureller Forderungen ist nicht alles und vielleicht nicht
das Wichtigste, was wir dem italienischen Proletariat zu bieten
haben. Die österreichische Sozialdemokratie selbstverständlich
unter Mitwirkung unserer italienischen Genossen - - führt seit Jahr-
zehnten einen Kampf gegen die österreichische Unterdrückung und
Bevormundung und führt ihn mit solchem Erfolg, daß sie die poli-
tische Atmosphäre in diesem Lande vollständig umgestaltet hat.
Daß ihr italienischen Genossen von hüben und drüben hier in
diesem Triest diesen euren Kongreß abhalten könnt, daß sich eure
Presse heute frei bewegen kann, daß das italienische Proletariat
die Möglichkeit hat, sich zu organisieren, daß es nicht mehr, in
mancher Beziehung vielleicht weniger behindert ist als unsere
Brüder in Italien, ist das Verdienst der österreichischen Sozial-
demokraten, und ich wage zu sagen, allein ihr Verdienst. Aber es
ist notwendig, zu sagen: Wie wir mit euch sind in allen euren
Kämpfen, so müssen wir verlangen, daß ihr auch mit uns
seid! Wir müssen verlangen, daß ihr euch bewußt seid der Tat-
sache, daß eure Geschicke mit den unseren auf unabsehbare Zeit
verknüpft sind, und daß es ein Unrecht gegen euch selbst wie gegen
uns wäre, wenn ihr euch durch Zukunftsträume von den Aufgaben
der lebendigen Gegenwart ablenken ließet. Ich verwahre mich aus-
drücklich dagegen, daß ich in dieser Beziehung einen Vorwurf zu
erheben hätte, aber es ist notwendig, daß das ausgesprochen wird.
Was den Irredentismus anlangt, so weiß jedermann, daß nicht nur
die Italiener Irredentisten sind. Alle wollten weg von diesem Staat,
wenn sie es nur könnten. Wir alle leiden unter Österreich, aber
diese Sehnsuchten gehören auf das Gebiet der Hoffnungen, viel-
leicht des Glaubens und auch hier ist der Glaube — Privatsache.
Politisch kann diese Stimmung nicht in Betracht kommen. Politisch
"/") Am 21. Mai 1905 wurde im Hafen von Triest ein neues öster-
reichisches Kriegsschiff vom Stapel gelassen, wobei die Spitzen der offi-
ziellen Welt Österreichs aufmarschierten. Zu gleicher Zeit versammelten
sich wenige Schritte von dort die Vertreter des italienischen und des öster-
reichischen Proletariats, um gegen die in beiden Staaten betriebene Kriegs-
hetze zu protestieren. Das Referat auf dieser Konferenz erstattete Valentino
Pittoni, der Redakteur des Triester „Lavoratore" und nachmalige Ab-
geordnete, nach dem Umsturz zuerst in Mailand, dann Administrator der
Wiener „Arbeiter-Zeitung". Nach ihm spracli der Redakteur des „Lavora-
tore" CiCCO t ti, dann der Slovene ritbin K r i s t a n (Laibach). Dann kam
Adler zu Worte.
-54 Militarismus und Krieg.
haben wir die Pflicht, uns in den gegebenen Verhältnissen einzu-
richten und dafür zu sorgen, daß für die in Österreich lebenden
Völker, insbesondere die Arbeiterklasse, die Bedingungen ihrer Ent-
wicklung heute geschaffen werden. Der Irredentismus, dessen
Unernst Pittoni so treffend dargestellt hat, ist aber eine Gefahr,
weil er den Vorwand bildet für dynastische Intrigen und militari-
stische Exzesse. Wenn unsere Genossen in Italien wünschen, daß
wir gegen den Militarismus auftreten, wie sie das so glänzend ge-
tan, so können wir darauf hinweisen, daß unsere ganze Politik gegen
den Militarismus gerichtet ist, daß sie aber auch darauf hinwirkt,
allen aggressiven Expansionsgelüsten zu Leibe zu gehen, indem
sie dazu beiträgt, dem Großmachtsschwindel von Österreich-Ungarn
ein Ende zu machen. Die Sozialdemokratie hat das größte politische
Interesse daran, daß die Lostrennung Ungarns von Österreich, die
für das Proletariat beider Staaten eine Wohltat ist, sich vollziehe,
und sie wirkt in dem Bewußtsein, daß sie damit jeder entfernten
Möglichkeit einer kriegerischen Abenteurerpolitik ein definitives
Ende bereitet. Die italienischen Sozialisten, deren Energie und Auf-
opferung wir bewundern, können versichert sein, daß wir das natio-
nale Recht der Italiener in Österreich schützen werden, wo es ver-
kürzt ist, und daß wir uns so wie sie allen militaristischen Plänen
mit aller Kraft widersetzen werden. Wenn in der italienischen
Parteipresse der Vorschlag gemacht wurde, für den Fall eines
Krieges den Generalstreik zu proklamieren, so möchten wir vor
einem solchen Beschluß warnen. Schon der internationale Sozia-
listenkongreß in Zürich 1893 hat einen derartigen Antrag abgelehnt.
Wir wollen nicht mit Dingen drohen, von denen wir wissen, daß
wir sie nicht machen können. Wir müssen unser Äußerstes daran-
setzen, um zu verhindern, daß es überhaupt zu einem Kriege
komme; eine Eventualität, die ich übrigens als völlig ausgeschlossen
betrachte. Wäre aber das Unmögliche einmal geschehen, dann wäre
es zu spät für unser Eingreifen.
Adler*): Wenn Genosse Piscel die Anerkennung der Auto-
nomie Welschtirols verlangt, so können wir diese Forderung mit
um so mehr Entschiedenheit vertreten, als sie genau in die Linie
der Politik unseres Programms fällt. Die Organisation der natio-
nalen Autonomie findet in Österreich ihre größte Schwierigkeit an
dem Rest der Feudalzeit, an den sogenannten „historischen Indivi-
dualitäten", an den Kronländern. Die Kronlandsorganisation aufzu-
lösen, an ihre Stelle national abgegrenzte Territorien zu setzen,
*) Nach Adler sprach Dr. Wilhelm Ellenbogen (Wien), dann Enrico
F e r r i (Rom), am Montag den 22. Mai erstattete Dr. Antonio Piscel,
der Redakteur des „Popolo" in Trient, ein Referat über die Forde-
rungen Welschtirols: dann sprachen B i s s o 1 a t i (Rom), L a z z a-
r i n i (Albona), dann kam wieder Adler zu Worte. An der Konferenz
hatten auch Vertreter der tschechischen und der ungarischen Partei
teilgenommen. (Die Resolution, die da beschlossen wurde, ist im Bd. VIII,
Seite 304, in der Fußnote zu Adlers Rede in der Budgetdebatte vom
15. Dezember 1908 über das Standrecht in Prag abgedruckt, wo Adler sich
mit der italienischen Frage beschäftigt.)
Die neuen Dreadnoughts.
das ist der Weg:, den wir für notwendig halten. Der erste und
leichteste Fall, ein Präjudiz für die zukünftige Gestaltung ist die
Abtrennung Welschtirols, und wenn irgendeine Nation in Österreich
ein Lebensinteresse geradezu an der Abgrenzung nationaler Terri-
torien hat, SO sind das neben den Italienern die Deutschen. Wir sind
schon darum von jeher für diese Forderung eingetreten. Die
Rüstungen, von denen Piscel und andere Genossen erzählten, sind
nicht sehr aufregend. Die militärische Bürokratie folgt eben der
Mode, und seit dem Russisch- Japanischen Kriege traut sich der Mili-
tarismus ohne Stacheldrähte nicht auf die Straße. An den Krieg
glaubt aber kein Vernünftiger und der Genosse Bissoläti
scheint die Sachlage ziemlich zu verkeimen, wenn er an eine solche
Gefahr glaubt. Insbesondere wenn er an die Gefahr eines Krieges
denkt, der Deutschland und Österreich gegen Italien und Frankreich
einigen würde. Sollte die Bestialität eines solchen Krieges jemals
wirklich werden, dann kann man sicher sein, daß Österreich seine
beiden Verbündeten, Italien und Deutschland, wieder gegen sich
sehen wird. Wir österreichische Sozialdemokraten machen nicht
gern solche Ausflüge in Konjekturalpolitik und bescheiden uns, uns
auf jene Dinge zu beschränken, die wir selbst beeinflussen können.
Dem Genossen L a z z a r i n i, der es für überflüssig hält, daß
wir uns mit der Rekonstruktion Österreichs beschäftigen, ist zu
sagen: Man mag Österreich so wenig lieben wie wir alle, doch von
den Wünschen nach seiner Destruktion kann das Proletariat Öster-
reichs nicht leben. Wir machen nicht eine Politik für Österreich,
sondern eine Politik für die Arbeiter, deren wirtschaftliche und
kulturelle Entwicklung eines staatlichen Rahmens bedarf und die
nicht verdammt werden dürfen, auf dem Trümmerfelde, das heute
dieses Österreich darstellt, zu verkommen. Darum setzen wir alle
unsere Kraft daran, den Boden frei zu machen für ein neues Öster-
reich der Völker.
Die neuen Dreadnoughts,
Versammlung am 7. Februar 1911*).
In unserer letzten Versammlung haben wir verhandelt über die
Not, die in Wien und in allen größeren Städten Österreichs
herrscht, und die nicht nur durch die Teuerung der Nahrungs-
*) Am 9. .Jänner 1911 wurde die neue Regierung Bienerth ernannt.
An Stelle des Polen Bilinski wurde Sektionschef Dr. Meyer Finanz-
minister, an Stelle von Wrba wurde der Pole Dr. Glombinski Risen-
bahnminister; S t ü r g h blieb Unterriehtsminister, Hochenburger
Justizmirrister, Weiskirchner Handelsminister.
Ende Jänner hatte der Marinekommandant Montecuccoli im
ungarischen Delegationsausschuß mitgeteilt, daß die Marineverwaltung
vier große Schlachtschiffe (Dreadnoughts) mit den dazugehörigen
Kreuzern, Torpedos und dergleichen mit einem Kostenveranschlag von
312 Millionen Kronen bauen wolle, um es so auf 13 Schlachtschiffe zu
bringen. So nebenbei hatte er angedeutet, daß auch das nicht geniige.
256 Militarismus und Krieg.
mittel, sondern auch durch eine immer empfindlicher werdende
Wohnungsteuerung hervorgerufen wird. Weit über die proletari-
schen Schichten hinaus wird diese Not schwer empfunden, und
im Reichsrat, im Landtag und in den Gemeindevertretungen wurde
sie erregt behandelt. Sie erinnern sich der Debatten über die
Fleischnot, über die hohen Zölle und die Wohnungsnot. Jetzt sehen
wir, daß es in Österreich auch noch andere Sorgen gibt als um
Brot und Luft. Wenn wir an die Regierung herangetreten sind.
um für die Forderungen des Volkes Erfüllung zu verlangen, wenn
wir Spitäler, Schulen, sozialpolitische Einrichtungen, und sei es
auch nur die Gewerbeinspektion, forderten, so hat es immer ge-
heißen: „Wir haben kein Geld!" Als man einen Wohnungsfonds
gründete, hat der Minister geknapst und geknapst und den Betrag
beschnitten, wo er -nur konnte, mit der Begründung: Wir haben
kein Geld! — Aber heute haben wir Geld, viel Geld. (Zwischen-
ruf: Für Schiffe!) Heute handelt es sich nämlich nicht um das
Leben der Menschen, heute handelt es sich um das Morden der
Menschen. (Erregte Rufe: Nieder mit dem Moloch und seinen
Knechten!) Es handelt sich heute, wo Forderungen erhoben wer-
sondern daß man noch weitere drei Schlachtschiffe samt Zugehör brauche,
die weitere 300 bis 350 Millionen kosten würden. Am 1. Februar begann
nun der Heeresausschuß der österreichischen Delegation seine Beratungen,
und da erfuhr man vom Kriegsminister Dr. Schönaich, daß auch das
alles noch nicht genüge. Der Chef des Generalstabes habe ein Operat
über die Ausgestaltung des Heeres ausgearbeitet, wonach an „fort-
laufenden Mehrauslagen", die auf acht Jahre aufzuteilen wären, 120 Mil-
lionen und an „einmaligen Mehrauslagen", auf zehn Jahre verteilt,
355 Millionen, zusammen also 475 Millionen in Aussicht genommen wären,
wobei aber wieder die Flottenvermehrung nicht eingerechnet war.
Um aber die erschreckten Abgeordneten wieder zu beruhigen, erzählte
Schönaich, die gemeinsame Ministerkonferenz habe im November 1910
beschlossen, statt der 475 Millionen „bloß" 200 Millionen für die Aus-
gestaltung des Heeres bis zum Jahre 1915 zu verlangen; über 1915 hinaus
könne er aber keine Verpflichtung übernehmen. Als Entgelt für alles das
bot der Minister bloß die zweijährige Dienstzeit, ratenweise eingeführt
innerhalb von fünf Jahren. Bis zum Krieg gab es in Österreich nämlich
noch die dreijährige Dienstzeit.
Und dann kam der Finanzminister Dr. Meyer, der bisher Präsident
der Statistischen Zentralkommission gewesen war, und dieser hatte den
Abgeordneten vorzurechnen, daß er die halbe oder gar ganz Milliarde
ja gar nicht verlange, sondern nur 79 Millionen im heurigen Jahre, wovon
auf Österreich etwa 50 Millionen kämen. Aber auch diese 50 Millionen
verlange er gar nicht, sondern die wolle er durch eine Anleihe verschaffen,
wofür an Zinsen nur 2'2 Millionen oder, da die Anleihe erst im zweiten
Halbjahr aufgenommen werde, in diesem Jahre gar nur Fl Millionen zu
zahlen wären. So hatte er die Kosten der Dreadnoughts, die in Wirklich-
keit eine Milliarde oder eine halbe Milliarde betrugen — Hokuspokus, eins,
zwei, drei — , umgerechnet auf eine Zinsenzahl von rund einer Million . . .
Und die bürgerlichen Abgeordneten klatschten Beifall!
Natürlich protestierten die Arbeiter in Massenversammlungen gegen
diesen Schwindel. In der Versammlung, die am 8. Februar im Favoritner
Arbeiterheim stattfand, sprach Adler.
Die neuen Dreadnoughts. 257
den, nicht um die Produktion zu liehen und die kulturellen Kräfte
des Volkes zu entwickeln, um das Bedürfnis des Großstaates
Österreich-Ungarn, eine große, mächtige Armee und eine große,
mächtige Marine zu haben. (Rufe: Pur unsere kleine Küste! Schiffe
für Breitensee*)! — Heiterkeit.)
Wir haben immer in Österreich schwere Lasten durch den
Militarismus, schwere Lasten, die dadurch nicht leichter werden,
daß man sie vergleicht mit den Lasten anderer Staaten und uns
nachweist, daß diese noch mehr Millionen ausgeben. Wir haben
Lasten, die für unsere Schultern noch zu schwer waren, weil wir
schwache Schultern haben. Es ist wahr, daß Deutschland, Frank-
reich und England pro Kopf noch mehr Geld für die Marine und
das Militär ausgeben. Es ist auch ein Verbrechen draußen, daß es
geschieht, und auch dort leidet die Bevölkerung darunter und
wehrt sich dagegen geradeso wie bei uns. Das Verbrechen der
anderen ist noch keine Entschuldigung und keine Entlastung für
die Verbrechen, die vom Militarismus an uns begangen werden.
(Lebhafter Beifall.) Wir haben alle Lasten des Militär- und Groß-
staates und haben keinen einzigen Vorteil des Großstaates. Die
Herren dürfen nicht vergessen, daß die Industrie da draußen frei
ist von den lächerlichen Fesseln und Hemmungen, die wir in
Österreich haben, und auch nicht vergessen, daß weite Gebiete
unseres Reiches in der wirtschaftlichen Entwicklung so weit
zurückgeblieben sind, daß die ganze wuchtige Last des Militaris-
mus auf einigen industriellen Zentren ruht. Jetzt kommt man mit
der Forderung von fast einer halben Milliarde, sage fünfhundert
Millionen, für Kriegsschiffe und militärische Rüstungen. (Allgemeine
große Erregung.) Wenn wir eine Volksvertretung hätten, die über
militärische Dinge sprechen kann, so müßte jetzt ein Aufschrei von
ihr ausgehen, der gehört würde im ganzen Lande. Sie wissen aber,
daß Österreich, wie es wirtschaftlich rückständig ist, auch politisch
rückständig ist bis zum Äußersten und daß wir zwar eine Ver-
tretung haben, die die Steuern bewilligen muß, daß aber die Lasten
und Ausgaben für Militär und Marine nicht bewilligt werden von
der Volksvertretung, sondern von jener Delegation, die nur ein
schwächlicher Ausschuß ist, der seinen Willen niemals äußern
kann, weil er nullifiziert wird durch die Vertreter des Herren-
hauses. Damit mache ich freilich der Mehrzahl der bürgerlichen
Parteien ein ganz unverdientes Kompliment. Wir hören auch bei
ihnen nichts von diesem entschiedenen Nein, das dem Kriegs-
minister und dem Marinekommandanten jetzt entgegengerufen
werden sollte. (Entrüstete Rufe: Die tun ja selber mit! Die
schinden uns dafür selber die Steuern heraus!)
Der merkwürdige Finanzminister.
Wir haben seit einigen Wochen eine funkelnagelneue Regie-
rung: das Ministerium Bienerth im dritten Aufguß. (Heiterkeit.)
*) Breitensee ist ein ehemaliger Vorort von Wien, jetzt ein Teil des
13. Wiener Bezirkes.
Adler, Briefe. XI. Bd. 17
258 Militarismus und Krieg.
Da ist uns in der Budgetdebatte auch der neue Finanzminister vor-
gestellt worden. Dr. Meyer, Professor Dr. Meyer, früher Sektions-
chef, ein Gelehrter, ein tüchtiger Statistiker und vor allem ein
tüchtiger Beamter — das wird niemand leugnen — , aber ein sehr
merkwürdiger Finanzminister. (Heiterkeit.) Das ist nicht sein
Fehler, sondern der Fehler seines Geschäfts. Es
wäre sehr schwer, einen zu finden, der dieses Geschäft so führte,
wie es vernünftig geführt werden sollte. In seiner ersten Rede
hat er uns gesagt, daß wir die Tugend des Sparens üben müssen,
und uns an die Lebensregel erinnert, daß man das, was man aus-
gibt, auch einnehmen muß. Man hat ihm aus den Kassen zuviel
herausgenommen. Damit hat er aber nicht gemeint, daß man die
Kassen ausgeleert und umgedreht hat, um die Gelder für die
Annexion Bosniens, für die Renovierung der Armee unter dem
trügerischen Vorwand einer Kriegsgefahr zu verwenden. Davon
hat er nicht gesprochen, daß hiedurch unsere Kassen leer wurden,
sondern leer sind sie geworden durch die Verbesserung einiger
Beamtengehalte, leer sind sie geworden durch den bloßen
Gedanken, daß eine Alters- und Invalidenversicherung kommen
werde. (Lebhafte Heiterkeit.) Das ist einer der größten Schwindel.
die man jetzt aufführt. Sooft von österreichischen Finanzen die
Rede ist, weist man immer auf die „kolossalen Kosten" hin, die
die Sozialversicherung verursachen wird. Es ist deshalb schon
Schwindel, weil ihre Kosten in der ersten Zeit gleich Null sein
werden und es Jahre dauern wird, bis für sie im österreichischen
Budget eine überhaupt empfindliche Last zu tragen sein wird. Die
ersten Jahre werden drei, vier, fünf Millionen für sie notwendig
sein, dann wird es sehr lange dauern, bis die Sozialversicherung
soviel erfordern wird wie die Herstellung eines Kreuzers, und so
hoch wie die Kosten eines Dreadnoughts wird dem Staate wahr-
scheinlich die ganze Alters- und Invalidenversicherung im Jahre
nie kommen. In Budapest hat nun der Finanzminister wieder ge-
sprochen, und ausgerechnet derselbe Mann, der uns in Wien be-
lehrt hat, daß man einnehmen muß, was man ausgibt, hat uns in
Budapest nicht ausgerechnet, wie man die halbe Milliarde herein-
bringt, sondern nur, wie man die Zinsen zahlen kann, die im —
ersten halben Jahre fällig sind. (Stürmische Erregung.) Sie dürfen
das dem Manne nicht persönlich anrechnen. Das ist das Schicksal
eines österreichischen Finanzministers, daß er ein Schwächling
sein muß für die Forderungen, die von oben kommen, und mich
wundert nur, daß es noch Leute gibt, die das Metier übernehmen.
Wozu brauchen wir eine Armee und eine Marine?
Nun sagt man uns, die Armee sei rückständig. Wir fordern
allerdings auch, daß jeder waffenfähige Mann die Waffe trage,
aber wir fordern die Bewaffnung des Volkes, damit es fähig sei,
sich gegen seine Feinde zu wehren (Zwischenrufe: Den wirklichen
Feind!), mögen sie kommen woher immer. Auf dem Wege zu
diesem Ziele verlangen wir auch die zweijährige Dienstzeit. Der
Kriegsminister aber erklärt uns: Die Herabsetzung der Dienstzeit
Die neuen Dreadnoughts. 2W
auf zwei Jahre gehl nur bei der Infanterie und nicht bei der
Kavallerie und Artillerie, und er benutzt die zweijährige Dienst-
zeil, um wieder ein Geschäft ZU machen durch die Erhöhung des
Präsenzstandes. Wir brauchen eine Armee und eine Marine, sagt
man uns. Warum brauchen wir eine Marine? Weil wir unsere
Küsten schützen müssen gegen Angriffe von Italien. (Schallende
Heiterkeit.) Ich freue mich, daß Sie auch darüber lachen und daß
Sie das nicht glauben. Aber in den offiziösen Zeitungen wird uns
das jetzt immer erzählt und gewisse Leute sagen es mit geheimnis-
voller Miene und glauben es oder tun so, als ob sie es glaubten,
und „beweisen" damit, daß die Hunderte von Millionen bewilligt
werden müssen. Nun sagt der Kriegsminister: Ein Krieg kostet
mehr Milliarden als die Rüstungen Millionen. Durch Rüstungen hat
man noch keinen Krieg verhindert; aber die richtige Antwort ist
die : Wir wollen ja keinen Krieg führen. Welche Not-
wendigkeit, welchen Zwang oder Anlaß hat Österreich, einen
Krieg zu führen? Österreich hat wirklich zu Hause genug zu tun,
und wenn der Staat Österreich Eroberungen machen will, so möge
er seine eigenen Völker für diesen Staat erobern. Es fehlt noch sehr
\ iel. daß diese Völker diesen Staat lieben. Die Aussicht auf einen
Krieg wäre das Schlimmste, das passieren könnte; aber kein
Mensch denkt im Ernst an einen Krieg, bei uns nicht und in Italien
nicht. Warum spricht man denn von Beunruhigungen zwischen
Österreich und Italien — hüben und drüben? Nicht wegen der
Beunruhigung rüstet man, nicht weil man den Krieg fürchtet, baut
man Schiffe, sondern man erfindet Beunruhigung, streut Gerüchte
aus über die Kriegslüsternheit beim anderen Staate, gewissenlos
und verbrecherisch, um rüsten zu können. So macht man es nicht
nur bei uns, sondern auch in Italien. Mit diesen Mitteln will man
die bürgerlichen Parteien zusammentreiben, daß sie für die wahn-
sinnigsten Militärforderungen stimmen. Als die kolossalen Forde-
rungen des Kriegsministers und des Marinekommandanten bekannt
wurden, da waren sie auch den bürgerlichen Parteien zuviel Da
ist nun der Kriegsminister gekommen und hat eine lange Rede
gehalten, deren Inhalt war, nicht daß es weniger kostet, sondern
daß sich die Herren nicht einbliden sollen, daß das schon das Ende
ist. es sei erst der Anfang. (Hört! Hört!) Da stand der Oberkurator
Steiner von den Christlichsozialen, die heute die Führer des
Bürgertums sind, auf und sagte, die Rede des Herrn Ministers
habe eine Entspannung bei ihm hervorgerufen. (Heiterkeit.) Zuerst
war er überspannt, jetzt ist er entspannt und es ist ihm schon
leichter. Diese bürgerlichen Parteien — die Christlichsozialen und
die Herren, die sich im Deutschen Nationalverband zusammen-
gefunden haben - werden also für die Militär- und Marinekosten
stimmen. Sie klammern sich in ihrer Kritik deshalb jetzt schon
nur an Kleinigkeiten. Die paar Millionen, die die zweijährige
Dienstzeit kostet, die drücken sie; gerade die tun es ihnen an; die
Hunderte Millionen für Rüstungen und Schiffe machen ihnen
nichts. Aber es kommen auch wieder einmal Wahlen und eine
17*
260 Militarismus und Krieg.
Agitation mit der halben Milliarde für Rüstungen auf dem Buckel
ist ein bißchen schwer (Heiterkeit), und sie wissen, daß sie sich
zu viel demaskiert haben, die Lust, alles zu bewilligen, unvor-
sichtig preisgegeben haben. Und darüber denken sie nach. Nicht die
Tatsache, daß der Bevölkerung neue Lasten auferlegt werden,
bedrückt sie, sondern was sie bedrückt, ist die bittere Notwendig-
keit, daß sie für alles stimmen müssen und dann dafür die Prügel
bekommen. Ihre eigene Not ist es, die sie quält, die Enthüllung
ihrer niederträchtigen Demagogie, die sie als Demokraten ausgibt
und bei der ersten Gelegenheit zusammenbricht, wenn der Hof
anschafft, möge die Last noch so groß sein. Und darum unter-
stützen die christlich soziale Presse und ein
Teil der deutschnationalen Presse diese nieder-
trächtigen Gerüchte und Ausstreuungen, als wären
wirklich Reibungen zwischen Österreich und Italien da, die zu
einem Kriege führen könnten.
Die Lüge von der Kriegslüsternheit.
Alles von dieser Kriegslüsternheit ist nur eine Lüge, die er-
funden wird, um die Geschäfte des Militarismus zu besorgen, und
daß es eine Lüge ist, dafür werden die Proletarier beider Länder
in kurzer Zeit den glänzendsten Beweis liefern. Vor einigen Tagen
sind einige Genossen von uns in Triest mit den Genossen von
Italien, Vertretern großer Gewerkschaften, zusammengekommen
und haben darüber beraten, wie man dem niederträchtigen Schwin-
del von der Kriegslust ein Ende machen kann; denn was bei uns
erzählt wird von der Kriegslüsternheit der Italiener, das wird in
Italien erzählt von der Kriegslüsternheit der Österreicher. Wir
wollen ejne große Manifestation
veranstalten, die dieser Lüge ein Ende macht. In Florenz oder Rom
werden am Palmsonntag die Delegierten Österreichs, Ungarns und
Italiens zusammenkommen, um zu manifestieren, daß die arbei-
tenden Massen in Österreich-Ungarn und Italien
keinen Krieg wollen. (Lebhafter Beifall.) Wir haben be-
schlossen, einen Aufruf in Österreich und in Italien
zu verbreiten und an einem Tage in beiden Ländern in jedem
Zentrum große Versammlungen abzuhalten, in denen die Arbeiter
erklären, wie sie über Krieg und Frieden denken und wie sie
denken über den mordenden Militarismus, der uns im Frieden fast
mehr mordet als im Kriege. (Stürmischer, sich immer wieder er-
neuernder Beifall.)
Der Gedenktag der Internationale.
„Arbeiter-Zeitung", 27. September 1914*).
Morgen jährt sich zum fünfzigstenmal der Tag der Gründung
der Internationalen Arbeiterassoziation. Am
*) Der Krieg war vor wenigen Wochen ausgebrochen und Adler be-
nutzte den Gedenktag der Internationale, um unter dem Schein eines
Der Gedenktag der Internationale. 261
js. September iw>4 hal zu London in St. Martins Hall ein Massen«
meeting, woran niclit nur Engländer, sondern auch besonders zahl-
reich Deutsche, Franzosen, Italiener und Polen teilnahmen, die
Gründung einer Internationalen Vereinigung beschlossen, um die
Arbeitergemeinschaft zu fördern. In das Komitee, das dieser Ver-
einigung das Programm und das Statut geben sollte, wurde neben
einer Anzahl von Leitern der englischen Gewerkschaften, neben
Vertretern der vorgeschrittensten Arbeitergruppen aller Länder
auch Karl Marx gewählt, der bald bestimmend wurde für den
(ieist und das Werk der neuen Organisation. Zum erstenmal fand
die internationale Solidarität der Arbeiterklasse einen klar be-
wußten Ausdruck, wurde internationale proletarische Politik
lebendige, wirkende Tatsache. Das Wachsen und die Leistung
dieser internationalen Arbeiterassoziation ist ein ruhmreiches
Stück der Geschichte des Proletariats. Der Rahmen der alten
Assoziation wurde gesprengt durch das Gelingen ihres Werkes,
durch das Anwachsen der proletarischen Organisationen zu großen
Parteien, die nicht mehr in der zu eng gewordenen Form eines
Vereines zusammengehalten werden konnten. Fünfundzwanzig
Jahre nach der Gründung der ersten wird auf dem Pariser Kon-
greß die zweite Internationale gegründet, die nunmehr eine Zu-
sammenfassung aller proletarischen Parteien und Gewerkschaften
ist, welche auf prinzipiell gemeinsamem Boden stehen, auf dem
Boden des mit klarem Bewußtsein in internationaler Solidarität
geführten Klassenkampfes; mit dem Ziele der ökonomischen Be-
freiung der Arbeiterklasse durch das Mittel der Erringung der
politischen Macht. Jahr um Jahr werden die Beziehungen zwischen
den Arbeitern der verschiedenen Länder enger und inniger; deut-
licher und lebendiger wird das Bewußtsein, daß die internationale
Gemeinschaft eine Notwendigkeit ist, die dem Proletariat nicht
etwa nur aus seinem menschlichen Empfinden, sondern aus seinem
Lebensbedürfnis entspringt. Die internationale Herrschaft des
Kapitals hat den internationalen Kampfesbund des Proletariats zur
naturnotwendigen Folge. Die Aufgabe der Internationale war es.
diese eiserne Notwendigkeit wirksam zu machen, wirksam im
Bewußtsein der Arbeiterschaft, wirksam in der Organisation und
wirksam in der planmäßigen Geltendmachung der wachsenden
Kraft und Macht des international geeinigten Proletariats.
Vor allem ist das Objekt des Klassenkampfes die Lebenshaltung
des Proletariats, der Kampf gegen die Ausbeutung. Aber der
Kapitalismus hat noch ein anderes Gesicht als das des privaten
Ausbeuters. Er ist auch Beherrscher der Staaten und der eigent-
liche Herr über Krieg und Frieden. Darum mußte die Internatio-
nale, und das wußten schon ihre Stifter ganz genau, sich auch um
die äußere Politik kümmern, die, wie es in der ersten Adresse der
Internationale heißt, „frevelhafte Zwecke verfolgt, mit National-
vorurteilen ihr Spiel treibt und in piratischen Kriegen des Volkes
historischen Rückblickes so daß die Krie^szensur nichts einwenden
konnte Über die Internationale und den Krieg zu schreiben.
262 Militarismus und Krieg.
Blut und Gut vergeudet". Und gerade heute lesen wir mit beson-
derem Verständnis in dieser vor fünfzig Jahren nach der Nieder-
werfung des polnischen Autstandes geschriebenen Adresse die
Worte: „Der schamlose Beifall, die Scheinsympathie oder idiotische
Gleichgültigkeit, womit die höheren Klassen Europas dem Meuchel-
mord des heroischen Polen und der Erbeutung der Bergfeste des
Kaukasus durch Rußland zusahen; die ungeheuren und ohne Wider-
stand erlaubten Übergriffe dieser barbarischen Macht, deren Kopf
zu St. Petersburg und deren Hand in jedem Kabinett von Europa,
haben den Arbeiterklassen die Pflicht gelehrt, in die Geheimnisse
der internationalen Politik einzudringen, die diplomatischen Akte
ihrer Regierungen zu überwachen, ihnen, wenn nötig, entgegen-
zuwirken, wenn es aber unmöglich, ihnen zuvorzukommen, dann
sich zu vereinigen in gleichzeitigen Anklagen und die einfachen
Gesetze der Moral und des Rechtes, welche die Beziehungen von
Privatpersonen regeln sollten, als die obersten Gesetze des Ver-
kehrs von Nationen geltend zu machen. Der Kampf für eine solche
auswärtige Politik ist eingeschlossen im allgemeinen Kampf für
die Emanzipation der Arbeiterklasse."
Redlich und tapfer hat die Internationale während dieser fünfzig
Jahre ihre Pflicht erfüllt und das klassenbewußte Proletariat hat
in allen Ländern mit Aufgebot aller seiner Kraft für die Verständi-
gung unter den Völkern und für den Frieden zwischen den Staaten
gewirkt und gekämpft. Aber noch hat es nirgends die Macht, noch
ist ungebrochen die Gewaltherrschaft des Kapitalismus, der als
kriegerischer Imperialismus die nationalen Gegensätze benützt, zu
blutigem Haß aufpeitscht und schließlich die Staaten fast ohne
ihren Willen, ja vielleicht gegen ihren Willen in jene ungeheure
Katastrophe hineingetrieben hat, deren entsetzte Zeugen und wehr-
lose Opfer die Völker Europas sind. Das Proletariat konnte die
Katastrophe des Weltkrieges nicht hindern, noch mehr: Auch die
Proletarier jedes Landes sind verpflichtet, zu kämpfen, ihr äußerstes
zu tun, um sich den Boden und die Bedingungen ihres Lebens zu
erhalten; und die sich als Brüder gefühlt haben und heute noch
fühlen, sind durch ein furchtbares Verhängnis gezwungen, einander
mit der Waffe in der Hand gegenüberzustehen. Aber das Bewußt-
sein der proletarischen Solidarität kann in den Strömen von Blut
und in dem nervenzerreißenden Grauen dieses Krieges nicht er-
stickt werden. Um auch noch in diesem Meer von Ungeheuerlich-
keit das gemeinsam Menschliche, wo immer nur möglich, zu retten,
zu stärken, zu erhalten, sind alle sozialistisch Denkenden unermüd-
lich am Wrerk. Und die Internationale? Ihre Stimme ist heute vom
Donner der Kanonen übertönt, ihre Hand gelähmt, ihr Band un-
sichtbar und unwirksam geworden. Aber die Internationale ist
keineswegs tot, wie höhnende Feinde und kleinmütige Freunde
meinen. Sie wird sich geltend machen als Wille zum Frieden
und sie wird wieder zum Wirken und zur Tat erwachen. Denn
wenn dieser Krieg die Tatsache der Klassenherrschaft nicht aus
der Welt schafft, so wird es auch dann ein Proletariat geben, das
I [offnuaKsschimtner.
nur leben, kämpfen und siegen kann in jener weltumfassenden
Solidarität, in deren Zeichen die Arbeiterklasse endlich ihren
Krieg führen und ihren Sieg erfechten wird, im Zeichen der
Internationale.
Hoffnungsschimmer.
„A r b e i t e r - Z e i t u n g", 1 4. F c b mar 1915 I.
Was alle Völker, alle die Hunderte von Millionen, die unter dem
unsagbaren Entsetzen dieses Krieges leiden, bewegt, ist der Friede.
Ein dauernder Friede ist das tägliche Gebet aller, /weitellos
derer, die in bewundernswertem Heldenmut dem Tode und allen
unerhörten Strapazen die Stirn bieten, aber nicht minder derer, die
schmerzvoll und fast beschämt nur mitleiden, aber nicht mitkämpfen
können. Wir alle wollen durchhalten; aber wir wollen nicht
nur durchhalten in der Abwehr des Feindes und in der Erhöhung
der Widerstandsfähigkeit unseres Landes und unseres Volkes bis
auf den letzten Rest unserer Kraft, sondern auch durchhalten in
jeder Bemühung, die uns dem Ende dieses grenzenlosen Leidens für
die Kulturwelt näherbringt. Darum muß jedes Anzeichen, das dafür
spricht, daß dieses Empfinden von Tag zu Tag allgemeiner wird,
in allen Ländern und in allen Klassen sorgfältig verzeichnet, geprüft
und erwogen werden.
Die Sozialdemokratie in Deutschland und Österreich hat es an
dem Rufe nach dem Frieden niemals fehlen lassen, und während das
klassenbewußte Proletariat alle seine Entschlossenheit und Tüchtig-
keit aufwendete, um das Land vor einer Niederlage zu bewahren,
und zur Einschränkung der dem Kriege entspringenden Nöte alle
seine Ausdauer und Organisationserfahrung einsetzte, hat es jede
Gelegenheit benützt, um neben dem Willen zum Siege auch mit der-
selben Leidenschaft dem Willen zum Frieden Ausdruck zu geben.
Es sei rühmend und dankbar festgestellt, daß die Sozialdemokraten
Serbiens unter ganz besonders schwierigen Verhältnissen von jeher
und bis zur Stunde eine opfervolle Agitation für den Frieden führen.
In England hat die bedeutendste sozialistische Partei, die Unab-
hängige Arbeiterpartei unter Führung des tapferen Keir Hardie, nicht
aufgehört, gegen die chauvinistischen Kriegshetzer einen erbitterten
Krieg zu führen, wie er in anderen, weniger demokratischen Ländern
ganz unmöglich wäre. In Rußland haben — von den im Ausland
lebenden Vertretern einzelner Gruppen sei in diesem Zusammen-
*) Dieser Artikel erschien als Leitartikel der „Arbeiter-Zeitung" mit der
Namensnennung Adlers am 14. Februar 1915. In dem noch erhaltenen, im
Besitz des ehemaligen Metteurs der „Arbeiter-Zeitung" Karl Keller befind-
lichen Manuskript des Artikels ist als Titel des Artikels zuerst „E i n
Hoffnungsstrahl" angegeben. Dieser wurde dann gestrichen und dar-
über der Titel „Auf dem Wege zum Ende" geschrieben. Der Anfang
des Artikels ist in der Handschrift Adlers im Faksimile im Anhang ab-
gedruckt.
264 Militarismus und Krie«.
hang abgesehen — die offiziellen Vertreter der sozialdemokratischen
Partei, ihre Abgeordneten in der Duma, gegen den Krieg protestiert,
an der Abstimmung nicht teilgenommen und büßen ihre heroische
Haltung in den Kerkern der zarischen Regierung, die ihre Immunität
mit Füßen tritt; sie warten auf ihr Urteil, das in den nächsten Tagen
gesprochen werden soll. Von den Belgiern sei nicht gesprochen,
so wenig wie von den Polen. Der himmelschreiende Jammer, der
über Belgien gekommen ist, der Kampf für die ganze Zukunft eines
Volkes, den die Polen führen, dieser Kampf, in dem alle geschicht-
lichen Hoffnungen neben der Verzweiflung wohnen, ihr Land von
Millionenheeren zerstampft zu sehen, gibt Belgiern und Polen eine
besondere Stellung.
Anders war, soviel wir wissen, bisher die Haltung der franzö-
sischen Sozialisten, deren Redner und Zeitungen sich gegen jeden
Frieden aussprachen, der nicht die völlige Niederwerfung Deutsch-
lands und Österreichs abschließen würde. Seit einigen Monaten ist
nun auch da eine Änderung eingetreten, die sich in den letzten Tagen
zu einer Reihe von Anzeichen verdichtet hat, die hoffen lassen, daß
sich ein gewisser Wandel in den Gedankengängen und Stimmungen
der sozialistischen Gruppen der Ententestaaten zu entwickeln be-
ginnt. Vor allem in Frankreich. Die französischen Sozialisten haben
sich von der ersten Minute des Krieges an, selbstverständlich wie
wir Sozialdemokraten alle in allen Ländern, auf den Boden der Ver-
teidigung ihres Landes gestellt. Das war nicht nur ihr Recht, son-
dern ihre Pflicht, wie es Recht und Pflicht der deutschen Sozial-
demokraten war, bei den Abstimmungen im Deutschen Reichstag
am 4. August und 2. Dezember mit der größten Wucht und Feier-
lichkeit zu bekennen, daß sie, da der Krieg, den sie verdammen,
nun einmal da, ihre volle Kraft und ihren letzten Tropfen Blut an
die Verteidigung des deutschen Bodens und des deutschen Volkes,
das als uns wertvollstes Glied die deutsche Arbeiterklasse umfaßt,
setzen. Und die sozialdemokratische Fraktion in Berlin hat auch für
uns Österreicher gesprochen, die das Schicksal freilich in weit
weniger einfache Verhältnisse gestellt hat und denen überdies jede
Möglichkeit, zu sprechen, entzogen war. Wir haben also hüben wie
drüben ein gutes Gewissen als Sozialdemokraten wie als
Glieder der Internationale, die immer mit aller Leidenschaft gegen
den Krieg und für den Völkerfrieden eingetreten ist, die aber niemals
und für niemand die Landespreisgebung als proletarische Pflicht
vorgeschrieben hat. Jeder von uns hat in jenen furchtbaren August-
wochen die erdrückende Schwere des tragischen Konflikts empfun-
den, aber keiner, der nicht die proletarische Politik als ein Gedanken-
spiel im luftleeren und vor allem menschenleeren Räume ansieht,
konnte eine andere Entscheidung treffen oder auch nur erwarten.
Wenn von einzelnen Genossen trotzdem an der Entscheidung der
deutschen Sozialdemokraten und, wohlgemerkt, nur an dieser, nicht
etwa auch an der der Franzosen, gemäkelt wird, so wird man das
bei allem Respekt vor jeder ehrlichen Überzeugung nur entweder
als Äußerung eines naiven Doktrinarismus oder, was noch schlimmer
i [offnungsschimmer.
wäre, als demagogische Ausnützung des Grauens ansehen müssen,
das angesichts des Entsetzlichen, das uns der Krieg gebracht, nicht
nur uns alle, sondern auch die leidenden Massen täglich mehr be-
herrscht Dieses Spiel wäre lange ZU Ende, wenn nicht mancherlei
und in diesen Zeiten noch mehr als sonst unvermeidliche Ent-
gleisungen einer böswilligen Kritik erwünschten Stoff Rehen würden
und wenn nicht die gründliche Abwehr solcher Demagogie durch die
Einschränkung der Presse mehr behindert wäre als die Demagogie
selbst, die sich mit halben Worten begnügt, durch keinen Sinn für
Verantwortung gehemmt ist und schließlich in die ausländische,
völlig urteilslose Presse flüchten kann.
Unsere französischen Genossen haben die Verteidigung ihres
Landes mit gewohnter Leidenschaft aufgenommen, sie haben sie als
eine Sache des gesamten Volkes angesehen und haben, wie das in
einem demokratischen Lande fast selbstverständlich ist, auch die
Verantwortung mitübernommen, indem sie zwei Mitglieder in das
Ministerium delegierten. Das war aber nicht alles. Wenn wir
Deutschen uns redliche Mühe gaben, die Franzosen zu verstehen,
wenn wir erst recht die furchtbare Lage der belgischen Genossen,
deren unglückliches Land der Schauplatz des Entsetzlichsten ge-
worden war, zu begreifen suchten, so hat man es drüben an jedem
Versuch, die deutschen Sozialdemokraten mit einiger Objektivität
und Gerechtigkeit zu beurteilen, fehlen lassen. Eines der schlimmsten
Übel ist ja freilich, daß der Krieg alle Verbindung zwischen uns zer-
stört und uns auf zum Teil sehr trübe Quellen angewiesen hat. Noch
heute ist es ungemein schwer, sich die französische und englische
Parteipresse zu verschaffen, und die offiziellen und nichtoffiziellen
Depeschenbüros verbreiten mit größtem Behagen Nachrichten, die
geeignet sind, die Sozialdemokraten der verschiedenen Länder
gegeneinander zu hetzen. Daß sie dabei vor Entstellung und blanken
Lügen nicht zurückschrecken, wird niemand überraschen, der über-
legt, daß das nicht nur zu den Methoden moderner Kriegführung
gehört, sondern daß auch die Vergiftung der internationalen Be-
ziehungen der proletarischen Parteien und womöglich die Behinde-
rung des Wiederaufbaues der Internationale ein den herrschenden
sowie den kapitalistischen Interessengruppen erwünschtes Neben-
produkt ist. Sich dadurch irreführen zu lassen ist für erfahrene Leute
unerlaubte Naivität und es muß als ein gemeinschädliches Beginnen
entschieden zurückgewiesen werden, wenn man kindlich-gläubig
gegenüber allen Übertreibungen und Lügen sogar des berüchtigten
.,Matin", hingegen ohne genaue Kenntnis der bekanntesten Tat-
sachen des Lebens der Internationale zügellose Anklagen gegen die
„Tripelententesozialisten" erhebt, die jedes Maß übersteigen und
an sich ein ebenso großer Exzeß, ein ebenso großes Vergehen gegen
die in Zukunft noch mehr als je notwendige Verbindung des Prole-
tariats sind wie die mit Recht oder Unrecht denunzierten Exzesse
der anderen selbst.
Leider ist die gegenwärtig festzustellende Wahrheit bisher un-
erfreulich genug gewesen. Das Verhalten der deutschen und seihst-
266 Militarismus und Krickr.
verständlich auch der österreichischen Sozialdemokratie wurde von
der französischen Parteipresse als Verrat an der Internationale be-
zeichnet, ohne jeden Schatten des Verständnisses dafür, daß wir
nichts anderes getan, als was die französischen Sozialisten selbst tun
mußten. Von allen französisch sprechenden Genossen war es, soviel
wir wissen, der einzige Vandervelde, der sowohl in einer Rede in
Amerika als wiederholt in Versammlungen, die er in England hielt,
auseinandersetzte, daß die deutsche Sozialdemokratie, insbesondere
angesichts der russischen Gefahr, am 4. August wohl nicht anders
entscheiden konnte, als sie tat. Man legt Vandervelde sehr viel un-
gereimtes Zeug in den Mund und er wird wohl auch manches ge-
sagt haben, was er vor der Vernunft nicht verantworten kann und
was erst recht nicht mit der Rücksicht vereinbar ist, die ihm sein
Amt als Vorsitzender des Internationalen Büros auferlegte. Aber
man begreife die Lage eines Belgiers: was, wie die deutschen Stra-
tegen erklärten, Lebensnotwendigkeit für Deutschland war, war
Todesnotwendigkeit für Belgien und erst recht für die belgische
Arbeiterklasse. Es ist in jenen Wochen, da uns das Entsetzen, mit
dem wir heute vertraut sind, noch neu war, auch von anderen
Leuten, die weniger im Feuer standen als er, hüben und drüben,
manches Törichte gesagt und geschrieben worden. Wenn wir diese
Zeit der Ungeheuerlichkeiten überstanden haben wrerden, wird es
erste Pflicht sein, einander nicht beim Wort zu nehmen.
Aber die Franzosen ließen es bei diesem Mangel an Objektivität
nicht bewenden, sondern auch die Besten unter ihnen führten eine
Sprache, die mit den wildesten Chauvinisten und Revanchepolitikern
wetteiferte. Sembat, der, es ist noch kein Jahr her, ein Buch ver-
öffentlichte, das wahrhaft ein Wunder des Verständnisses für
deutsche Dinge und vor allem von mutiger Kritik des eigenen
Landes ist, konnte sich, wenn die Berichte nicht lügen, nicht genug-
tun an leidenschaftlicher Wut gegen die Deutschen. Er und Guesde
haben es nicht geleugnet, daß sie die Sozialdemokraten Italiens und
Rumäniens veranlassen wollten, gegen die Neutralität ihrer Länder
aufzutreten und für den Krieg zu wirken, eine Taktik, die unmöglich
ist für einen Sozialisten, selbst wenn er Minister der nationalen
Verteidigung ist. Und unser alter, verehrter Vaillant, der mit
deutscher Bildung gesättigt ist wie wenige Franzosen, schrieb
Artikel von so zügelloser Wildheit in der „Humanite", daß dieser
Rückfall des greisen Kämpfers in alle Exzesse des jugendlichsten
Blanquismus mehr noch erstaunlich als empörend war. Beherrscht
von dem Wahne, daß die Sache der Entente die Sache der Demo-
kratie und des Sozialismus sei, die Sache der Zentralmächte aber
nur die der Reaktion und Völkerunterdrückung, vermochten sie es
schließlich, sich in den Glauben an zarische Manifeste und die
völkerbefreiende Mission Rußlands hineinzuleben. Jedes schüchterne
Wort, das für die Ermöglichung des Friedens gesprochen wurde,
hat zu jener Zeit, etwa bis Weihnachten, leidenschaftliche Zurück-
weisung erfahren. Deutschland, der „Imperialismus", ein Wort, das
dort nicht in unserem Sinne gebraucht wird, sondern „Kaiserismus"
I [offnungsschimmei 207
bedeutet, „muß niedergeworfen werden". Dem Militarismus, den sie
nur in Deutschland sahen und nicht auch in Frankreich wo sie
ihn bis zum Juli SO tapfer bekämpft und nicht einmal in Rußland
und England, „muß durch die Tripelentente ein Ende gemacht
werden, Deutschland gedemütigt, Österreich vernichtet, früher kein
Friede".
Das ist anders geworden. Wahrscheinlich hat der Zar ein großes
Verdienst daran; mit einer gewissen Beschämung entdeckten die
französischen Sozialisten, als sich die neuesten Schandtaten des
zarischen Regiments gegen die Sozialisten nicht mehr verhüllen
ließen, an der Seite welches Alliierten sie kämpften, sie, die diese
Allianz immer bekämpft hatten als die Todsünde der Demokratie.
Und dann kamen, soviel man sehen kann, aus der Masse des Prole-
tariats, aus den politischen Organisationen einzelner Bezirke, Mah-
nungen zur Besinnung. Ein weiterer Anstoß zur Wendung kam von
den Gewerkschaften, deren Aufruf wir gestern veröffentlicht haben.
Das gegenwärtig politisch Wichtige darin ist nicht eigentlich der
positive Vorschlag, eine internationale Konferenz zur Zeit und am
Orte der Friedensverhandlungen einzuberufen, sondern wichtig ist
das Bekenntnis zum Frieden, und trotz aller Anerkennung der Not-
wendigkeit, das Land zu verteidigen, das Fehlen jedes gehässigen
oder auch nur feindseligen Wortes gegen die Deutschen. Es sind
also nicht ganz ungünstige Vorzeichen, unter denen morgen in
London eine Konferenz von Delegierten der sozialistischen Parteien
von Frankreich, England, Belgien, Rußland und Serbien zusammen-
treten wird. Wir wollen diese Anzeichen durchaus nicht über-
schätzen, wir wissen selbst am besten und spüren es am eigenen
Leibe, wie dieser Krieg den Verstand der Verständigsten umnebelt,
das Gemüt der Besten vergiftet und allen Denkenden die Gedanken
verwirrt hat, insofern sich ihr Denken nicht einzig auf die Forderung
des Tages beschränkt: vom eigenen Volke die Niederlage abzu-
wehren. Aber es gibt ein Morgen, muß es für die Menschheit geben,
und heilige Pflicht ist es auch, dieses Morgen vorzubereiten. Selbst-
verständlich setzen sich die, die vom Frieden reden, der Verleum-
dung aus, daß sie ihr Land in Nachteil setzen, indem sie Schwäche
verraten, und selbstverständlich hat das Wiener Organ der christ-
lichsozialen Kriegshetzer, über dessen Verantwortlichkeit für alles
Übel man noch später einmal reden wird, sofort die französischen
Sozialisten gehöhnt, daß sie nun wohl „mürbe" werden. Solche
Reden sind nicht nur töricht, sondern auch verbrecherisch. Die
französische Hetzpresse würde ihr Geschäft schlecht verstehen,
wenn sie sich solche Äußerungen nicht telegraphieren ließe, um sie
gegen die erwachende Vernunft auszunützen. In Wahrheit ist die
„Kriegsmüdigkeit" in Frankreich nicht größer als überall, und was
wir als hoffnungsvolles Vorzeichen vorsichtig und zögernd zu be-
zeichnen wagen, ist nicht ein Ausfluß des Schwächegefühls und der
verminderten Siegeszuversicht und Entschlossenheit zum Kampfe,
sondern eine erste, leider noch leise Regung menschlicher Vernunft
und proletarischen Empfindens.
268 Militarismus und Krieg.
Die Sozialdemokratie und die
Friedensvorschläge.
Friedensversammlung am 2 8. Dezember 191 6*).
lEs ist jetzt das drittemal, daß wir das Fest der Menschenliebe
gefeiert haben mit Menschenmord, das drittemal, daß wir in ein
neues Jahr eintreten, während draußen unsere Söhne und unsere
Brüder, ja unsere Väter in Eiseskälte, in Sümpfen eingegraben, aus-
gesetzt sind der Pestilenz und ausgesetzt allen menschenmorden-
den Instrumenten, die die fortschreitende Technik ausdenken kann.
Neunundzwanzig Monate
dauert schon dieser Krieg und so viele blutige Tränen sind ge-
flossen, daß sie jenes Meer bilden könnten, von dem ein englischer
Staatsmann dieser Tage gesagt hat, daß auch ein Meer nicht ab-
*) Am 21. Oktober 1916 war Graf Stürgkh von Fritz Adler erschossen
worden und der Kaiser Franz Josef hatte nun Körber an die Spitze der
Regierung berufen. Aber als am 21. November Franz Josef starb und Karl
Kaiser wurde, war dessen Bleiben nur provisorisch. Am 12. Dezember
trat Körber zurück und nach einem vergeblichen Versuch einer Re-
gierung Spitzmüller, wurde am 21. Dezember der tschechische Feudale
Graf Heinrich Clam-Martinic, seinerzeit ein Vertrauensmann des
Erzherzogs Franz Ferdinand, mit der Regierungsbildung betraut, der sich
bereit erklärte, ohne Parlament weiterzuregieren. Tatsächlich blieb das
Parlament bis zum 30. Mai 1917 ausgeschaltet. Während Kaiser Karl zu-
gleich Tisza die ganze Macht überließ, spielte er nach außen den Friedens-
freund.
Am 12. Dezember hatten die Regierungen der Mittelmächte an den
am 7. November wiedergewählten nordamerikanischen Präsidenten
Wilson das Ersuchen gerichtet, Friedensverhandlungen einzuleiten. Aller-
dings wurde darin ängstlich vermieden, die Bedingungen der Mittel-
mächte anzugeben. Es wurde nur gesagt, daß die Bedingungen bei der
Beratung aufgestellt werden und eine geeignete Grundlage für die Her-
stellung des Friedens bilden würden. Dieser Vorschlag wurde von allen
Regierungen des Vierverbandes in öffentlichen Kundgebungen abgelehnt,
am 19. Dezember von England, wo am 7. Dezember an Stelle von
Asquith Lloyd-George die Leitung der Regierung übernommen
hatte. Am 19. Dezember trat auch Wilson an die Kriegführenden mit
dem Verlangen heran, ihn wissen zu lassen, unter welchen Voraus-
setzungen sie Frieden schließen würden, er werde dann prüfen, ob die
Möglichkeit einer Annäherung schon gegeben sei. Am 21. Dezember, an
dem Clam-Martinic die Regierung in Österreich übernommen hatte, wurde
auch an Stelle des Grafen Burian Graf Ottokar C z e r n i n, auch einer
vom Kreise Franz Ferdinands, zum Minister des Äußern ernannt.
Am 21. Dezember trat auch der Klub der deutschen sozialdemokrati-
schen Abgeordneten zusammen, um zur neuen Lage Stellung zu nehmen.
Es wurde da eine Resolution beschlossen, in der von der Regierung Be-
weise verlangt wurden, daß es ihr voller Ernst sei mit dem Bestreben,
das Ende dieser zwecklosen Schlächterei herbeizuführen. Sie dürfe sich
durch eine kühle oder sogar in der Form ablehnende Haltung der gegne-
rischen Diplomatie nicht abschrecken lassen, auf dem eingeschlagenen
Die Sozialdemokratie und die Friedensvorschläge. 269
waschen könnte die Schuld des Mannes, der x\c\\ Krieg verlängern
würde. Aber es geht zu linde. Diese Empfindung haben heute alle.
Es geht zu Ende, weil die Völker erschöpft sind, weil die Zweck-
losigkeit, der Wahnsinn der Fortsetzung dieser Schlächterei endlich
auch begriffen wird von jenen, die allein die Macht haben, zu ver-
fügen über Leben und Tod von Millionen Menschen in allen
Ländern*).]
Wir Sozialdemokraten haben nicht erst diesen furchtbaren
Krieg gebraucht, um der Mahnung zu bedürfen, für den Frieden zu
arbeiten. Wir haben damals, als die Kriegsgefahr bedrohlich wurde,
so gut wir konnten, unsere Pflicht getan, uns mit dem Aufwand
unserer ganzen Kraft gegen den Krieg zu stellen, und mehr Macht
haben wir nicht. Wer schuld ist an dem Kriege, darüber wird später
die Rechnung aufgemacht werden und wenn diese Rechnung auf-
gemacht wird, wird man finden, daß es nichts nützt, zu erforschen,
wer „angefangen" hat. I Nicht einer ist schuld, alle sind schuld,
die geherrscht haben. Wenn man heute noch nicht untersuchen
darf, wer angefangen hat, soviel ist heute schon sicher, daß jene
Klasse von Herrschenden, die in allen Staaten verhüllt in eine Ge-
heimkunst der Diplomatie die Fäden zieht, gemeinsam die Schuld
trägt. Es wird die Sache jedes Volkes sein, abzurechnen mit
Wege weiterzuschreiten und müsse durch eine klare Darlegung ihrer
Friedensbedkigungen den Gegnern jeden Vorwand nehmen, sich dem
einzigen Wege, der zum Frieden führen kann, dem Wege der Verhand-
lungen, zu entziehen. Die Abgeordneten würden dafür sorgen, daß womöglich
allerorts die Arbeiterschaft Gelegenheit finde, auch in Versammlungen
ihren Friedenswillen zu bekunden.
Der Passus über den Frieden wurde in der „Arbeiter-Zeitung" zunächst
unterdrückt und konnte erst am 23. Dezember gebracht werden.
Bezeichnend ist auch das Schicksal, das die Note Wilsons zunächst in
Österreich hatte. Sie wurde in Berlin den Zeitungen am 22. Dezember zu-
gestellt und konnte also am 23. Dezember veröffentlicht werden. In Öster-
reich wurde sie den Zeitungen erst am Sonntag den 24. Dezember zuge-
stellt und da Montag die Weihnachten begannen, konnte sie erst am
27. Dezember in den Zeitungen erscheinen.
Die Versammlung, die am 28. Dezember im Favoritener Arbeiterheim
stattfand, war massenhaft besucht. Das Referat Adlers fand natürlich
stürmischen Beifall, besonders als Adler noch folgenden Gruß an Wilson
vorschlug:
Die heutige Versammlung der Sozialdemokraten Wiens begrüßt
die erleuchtete und energische Initiative des Präsi-
denten der Vereinigten Staaten, die in gleicher Linie wirkend wie das
beachtenswerte Friedensangebot der Mittelstaaten, den Weg öffnet zur
Beendigung der zwecklosen und kultur mordenden Schläch-
terei des Weltkrieges. Die Versammlung wünscht aus vollem
Herzen, daß dem hohen Streben Wilsons voller Erfolg werde und
daß sein Eingreifen der blutenden Welt den Frieden
näherbringe.
*) Die eckigen Klammern bezeichnen die von der Kriegszensur bean-
standeten Stellen, an deren Stelle bloß weiße Flecke in der Zeitung
erschienen. Fs sind in dieser einen Rede nicht weniger als sechzehn
solche weiße Flecke gewesen.
270 Militarismus und Krieg.
seinen eigenen Schuldigen. Aber seien wir nicht Pharisäer, auch
wir tragen Schuld, wir haben vielleicht nicht alles getan, was wir
hätten tun können seit Jahren und Jahrzehnten, um die Macht zur
Macht zu machen, die allein den Krieg hätte hindern können. Viel-
leicht, wenn wir in allen Ländern mit noch größerem Eifer
aus dem Proletariat eine Macht gemacht hätten,
wenn wir unsere Organisation schneller und intensiver und viel-
leicht mit mehr Klugheit ausgebaut hätten, vielleicht wären wir
dann in jenem entscheidenden Moment, den wir herannahen ge-
sehen haben, doch imstande gewesen, ein Halt zu gebieten dem
hereinbrechenden Unheil.] Es war nicht möglich — in keinem Lande
— , und nun konnte nichts anderes geschehen, als was in allen
Ländern allen Völkern aufgedrängt war, ob sie wollten oder nicht,
ob sie es mit klangvollen Worten begründeten oder nicht. Es
konnte nichts geschehen, als was automatisch jedem Volke inne-
wohnt: sich zu verteidigen, zu verteidigen gegen den Feind nach
außen, zu verteidigen gegen die Not und gegen das Elend im
Innern. Man kommt mit theoretischen Erwägungen, ob die Ver-
teidigung des Landes eine Pflicht sei, nicht hinweg darüber, daß
die Verteidigung automatisch eintritt. Schlimmer als der Krieg, das
wußten wir,
ist für jedes Land die Niederlage
und die Menschen jener Gegenden, die zu Schlachtfeldern ge-
worden sind, wissen zu erzählen, was das heißt. Wir hatten aber
außer dieser Pflicht der Verteidigung noch eine andere Pflicht,
nämlich die Pflicht, das Proletariat durchzuhalten, den einzelnen
Proletarier, die einzelne proletarische Familie durchzuhalten, aber
auch unsere Organisation. Darum haben wir versucht, so viel als
möglich von dem Elend, das über uns hereingebrochen ist, abzu-
wenden, und unsere Parteigenossen waren überall die ersten, die
zur Hilfstätigkeit bereitstanden, die ersten, weil wir geschulter
sind in der Organisation und auch die Mittel und Wege, um zu
helfen, besser kennen. In weitestem Umfang haben wir auch diese
Pflicht erfüllt. Die Pflicht aber, die uns unsere Kongresse seit Jahr-
zehnten auferlegt haben, die Pflicht, die wir selbst als die wichtigste
und heiligste erkannt haben, die Pflicht, dem Kriege ein Ende zu
machen, sie konnten wir nicht erfüllen, [denn wir waren die
Schwächeren zu der Zeit. Aber wie wir wissen, daß für alle unsere
Gedanken die Zeit kommen wird,
so ist auch für diesen Gedanken des Friedens die Zeit gekommen.
Wir waren geknebelt durch mehr als zweieinhalb Jahre. Wir
durften den Mund nicht öffnen, um auszusprechen, was auf jedes
Menschen Zunge, in jedes Menschen Herz war. Welche Wandlung!]
Heute hören Sie die Worte, daß die Fortsetzung des Krieges, daß
das Anzünden des Krieges ein Verbrechen sei, [aus dem Munde
aller zünftigen Diplomaten.]
Heute endlich hören Sie, daß es „sinnlos ist, den Krieg weiterzu-
führen", weil einer den anderen nicht überwinden kann, und daß
Die Sozialdemokratie und die Friedensvorschlä 271
„ein weiteres Blutvergießen ein Verbrechen Ist44. Nichl nur der
deutsche Reichskanzler sagt es, sondern auch die österreichische
Regierung, die sich rühmt, den Anstoß zum Friedensangebot ge-
geben zu haben, versichert, daß der /weck des Krieges für sie
nicht in Eroberungsabsichten lag was wir zur Kenntnis nehmen
, und sie sagt weiter, daß eine Fortsetzung des Krieges eil)
zweckloses Vernichten von Menschen und Gütern, ein unmensch-
liches Verbrechen an der Zivilisation wäre. [Spät kommt die Er-
kenntnis; aber seien wir froh, dal.» sie endlich kommt. Es liegt mir
fern, zu erzählen, daß wir schwach sind, daß wir allein ausgeblutet,
ausgehungert sind. Genau so ausgeblutet und ausgehungert wie
wir, sind auch die anderen. I
Kuropa ist ausgeblutet und es ist beinahe wie bei einem
Brand, der ausgetobt hat und kein Objekt mehr findet, um weiter
zu wüten. Europa ist zu Rande, der Krieg brennt ab, erlischt, weil
nichts Brennbares mehr da ist.
Sie werden sich wohl denken: der alte Optimist, der den
Schrecken zu Ende wähnt! Gewiß, ich zweifle nicht daran, daß es
zu Ende geht. Wie lange und unter welchen einzelnen Phasen das
noch dauern kann, das weiß heute noch niemand. Aber gewiß
ist, daß
das Friedensangebot der Mittelmächte
eine Initiative war, die gewirkt hat [und sie hätte noch ein Gutteil
wirksamer sein können, wenn die Form den Feinden etwas mehr
goldene Brücken gebaut hätte.] Heute bringen die Blätter die
Nachricht, der deutsche Botschafter Graf Bernstorff in Neuyork
habe erklärt, Deutschland verlange kein fremdes Gebiet, sondern
nur die künftige Sicherheit gegen Angriffe und feindliche Bündnisse.
I Wenn wir sagten, daß wir den Frieden ohne Annexion verlangen,
so sind wir nicht verhöhnt, sondern einfach ausgekratzt worden
(Heiterkeit und Beifall), die Stimme ist nie an die Oberfläche ge-
kommen. I Nun sagt das der Graf Bernstorff in Amerika! Hoffen wir,
daß das Wort morgen nicht etwa schon abgeschwächt oder ab-
gestritten wird . . . Hätte Bethmann-Hollweg das Wort in seiner
Note an die Mächte gebraucht oder wäre es gar schon vor einem
Jahre gesprochen worden, so hätte das den Erfolg des Friedens-
angebots beträchtlich erhöht. Aber wir haben gelernt, bescheiden
zu sein, und begrüßen mit aller Freude und Leidenschaft das
Friedensangebot der Mittelmächte, weil es endlich ausspricht, daß
wir verhandeln wollen, Iwenn es uns auch lieber gewesen wäre,
daß dieses Angebot anders instrumentiert gewesen, daß nicht so
viel Posaunen und Trommeln dabei gewesen wären, weil es den
gegnerischen Staatsmännern dann unmöglich gemacht wäre, so ab-
fällig zu antworten, wie sie es zunächst getan haben.] Aber wenn
wir die Reden Bethmanns wie auch Lloyd-Georges und Briands
richtig würdigen wollen, so dürfen wir nicht vergessen, daß sie
nicht nur zum Ausland sprechen, sondern auch zum Inland, |zu
jenen Klassen und Parteien,
272 Militarismus und Krieg.
die die Nutznießer des Krieges sind
und bleiben wollen. Für diese waren die Trommeln und Posaunen
berechnet, durch die wieder die Wirkung nach außen gelitten hat]
Trotzdem und trotz alledem, was in Petersburg und Paris gesagt
wurde, glaube ich fest daran, daß sich die Wirkung von Tag zu Tag
verstärken wird und daß auch in den gegnerischen Ländern die
Überzeugung da ist, daß sie nicht lange mehr dem Frieden werden
widerstehen können.
Das ist die wichtigste Wirkung des Friedensangebotes, die wich-
tigste Wirkung des Eingreifens von Wilson, daß diejenigen, die den
Frieden wollen, in allen Ländern — und das ist die große Masse,
die überall leidet — ermutigt werden, daß sie Kräfte gewinnen, Ibis
endlich eine Macht aus ihnen wird, der nicht mehr Widerstand ge-
leistet werden kann.] Die Sehnsucht nach dem Frieden war ja
immer da, aber etwas anderes ist es, aus der Sehnsucht einen
Willen zu machen, aus dem Wunsche eine bewegende Kraft.
[Da sagt man nun, diese Anregung hätte den richtigen psycho-
logischen Moment erfordert. Ich glaube, für eine Anregung zum
Frieden war immer der psychologische Moment da. Die Psycho-
logie zum Frieden war in diesen neunundzwanzig Monaten immer
da. Wenn man eine Urabstimmung in den Schützengräben aller
Völker vorgenommen hätte, so hätte man ein klares Votum, einen
klaren Ausdruck der Psychologie aller Völker in allen Staaten be-
kommen. (Beifall.) Aber sie wollten nicht, und was sie am meisten
gefürchtet haben — in allen Staaten — , war die Furcht, schwach
zu erscheinen. Das ist nun vorbei. Es besteht aber noch eine große
Gefahr, die Gefahr der Rechthaberei — hüben wie drüben — , die
Gefahr, daß man sich verbeißt auf seinem Wege. Wir haben in
einem Beschluß des Klubs betont, die Regierung dürfe sich durch
eine kühle oder sogar in der Form ablehnende Haltung der
gegnerischen Diplomatie nicht abschrecken lassen, auf dem ein-
geschlagenen Wege weiterzugehen, und müsse durch eine
klare Darlegung ihrer Friedensbedingungen
den Gegnern jeden Vorwand nehmen. In allen Ländern gibt es noch
Kräfte, die Grund haben, sich vor dem Frieden, vor der Ab-
rechnung zu fürchten, und diesen darf man nicht den Weg ebnen,
indem man sich an irgendeine Form, an irgendeinen Weg
klammert.]
Es ist notwendig, daß mit aller Schärfe ausgesprochen werde:
Wir wollen das Ende des Krieges, aber Friede bedeutet nicht nur,
daß kein Krieg mehr ist, sondern wir wollen, daß auch die Vor-
bedingungen geschaffen werden,
daß der Friede bleibe,
und es war bedeutungsvoll, als am 12. November zum erstenmal
Bethmann-Hollweg im Deutschen Reichstag davon sprach, daß, über
den Krieg hinaus, Deutschland das Interesse habe, an einem neuen
Völkerrecht mitzuwirken. Wir wollen einen Zustand der Völker, der
Die Sozialdemokratie und die Prledensvorschlä WS
ein Zusammenleben für die Zukunft ermöglicht und im Friedens-
schluß schon die Ursachen weiterer Kriege vermeidet.
iWir wollen mit einem Worte ein neues Völkerrecht.
das das Recht der Völker zur Grundlage hat. Das werden wir er-
reichen, wenn nicht nur die Kanonen schweigen, s o ädern a u c h
die Völker wieder sprechen können. Denn wir sind
überzeugt, daß die Völker deutlicher und kräftiger sprechen werden.
als sie je gesprochen haben, daß heute niemand einen künftigen
Krieg mehr will nach all dem Elend und all der Verwüstung, die
wir miterlebt haben.]
Wenn wir der Gefahr ausweichen, daß man sich an Formen
klammert, wenn man gerade in dem Bewußtsein, daß man der
Stärkere oder mindestens, daß man unbezwinglich ist, dem Feinde
goldene Brücken baut, [wie es jeder ehrliche und vernünftige Sach-
walter des Friedens tun würde,] dann glaube ich, wird Friede
werden. Vorläufig aber stehen wir noch im Kriege und keiner von
uns kann sagen, wie viel Blut noch fließen wird, I Jeder Tag bringt
neue Ströme von Blut, jeder Tag mehrt das Flend. Die Herren
hätten allen Grund, sich zu beeilen.] Wir aber haben die Pflicht,
jedes Stück Möglichkeit im Willen des Proletariats auszudrücken,
auszunützen, um zu sagen: Wir wollen den Frieden! In diesem
Sinne haben wir unsere Anstrengungen zu vermehren und wir
wissen, daß auch auf der anderen Seite der Wille zum Frieden in
den Massen wächst. Wenn wir so oft mit unserer Regierung in
Fehde liegen müssen, Iwenn wir uns nicht wehren konnten gegen
den Krieg, den sie uns auferlegt haben, den sie glaubten uns auf-
erlegen zu müssen,] so haben wir heute wiederum die Pflicht,
sie zu bestärken auf dem guten Wege,
den sie jetzt betreten haben, und wir wollen nur unsere Forderung
aussprechen, daß sie auf dem Wege zum Frieden bleiben. Allen
denen, die im Ausland ebenfalls diesen Frieden fordern und diesen
Weg zum Frieden, wollen wir demonstrativ unsere Anerkennung
aussprechen und wollen ihnen demonstrativ zurufen: „Ihr alle, deren
Stimmen draußen gehört werden, die ihr einen Druck ausübt für
den Frieden, ihr könnt sicher sein, daß wir euch Erfolg wünschen
und daß ihr die Begeisterung der Proletarier aller Länder hinter
euch habt!" Und so wollen wir auch anerkennen, was der Präsident
der Vereinigten Staaten jetzt unternommen hat, und wir dürfen die
Hoffnung haben, daß der Schrei nach dem Frieden, der aus allen
Völkern kommt, endlich so mächtig wird, daß er nicht mehr über-
hört wird. Um aber überallhin und deutlich zum Ausdruck zu
bringen, daß auch das Proletariat mit jedem Pulsschlag das Be-
mühen der Neutralen und insbesondere des Präsidenten Wilson
um den Frieden verolgt, möchte ich mir von der Versammlung die
Ermächtigung erbitten, in ihrem Namen dem Präsidenten Wilson
telegraphisch unseren Gruß und unseren Dank zu entbieten, daß
auch unsere Stimme nicht fehle in dem Chor, der dem Präsidenten
Wilson Dank zollt. (Lebhafter Beifall.)
Adler, Briefe. XI. Bd. 1«
274 Militarismus und Krieg.
Mit unserer Kundgebung wollen wir der Welt noch einmal sagen.
daß das einzige, was wir wollen, der Friede ist.
IWir wollen alle wieder unsere Väter haben, unsere Kinder,
unsere Brüder, und schließlich wollen wir unsere Mütter und Frauen
und unsere Töchter aus Beschäftigungen heraus haben, die nicht
für sie sind! Wir wollen wieder einmal für uns arbeiten und nicht
für die anderen! Was wir verloren haben, was uns dieser Krieg
gekostet, das wissen wir heute noch nicht ganz, das werden wir
erst wissen, wenn die zurückkommen, die übriggeblieben sind. Aber
eines wissen wir heute schon: diejenigen, die glauben, daß die
Sozialdemokratie in allen Ländern in diesem Kriege die Besiegte
war, die irren sich. Das Proletariat war nicht mächtig genug, den
Krieg zu verhindern, aber der Krieg hat neben allem Elend, das er
über uns gebracht hat, die eine Wirkung gehabt,
daß er alle Herzen festgemacht und alle Gehirne erleuchtet hat,
und die nächste Generation und diejenigen, die von der heutigen
Generation übriggeblieben sind, werden wissen, daß die Welt nicht
wert ist, daß sie fortbesteht, wie sie heute ist ... Der Gedanke, der
uns zusammenhielt, wird immer mehr geistiges Eigentum aller
Menschen, die leiden, und wer leidet heute nicht! In jedes Herz ist
eingegraben die Aufgabe, den Krieg zu bekämpfen, zu bekämpfen
erst recht nach dem Kriege! Hoffen wir, daß wir nach der Arbeit
für den Frieden bald' zu einer kommen, zum Kampfe gegen den
Krieg für eine menschliche, für eine sozialistische Zukunft.] (Leb-
hafter Beifall.)
Die russische Revolution und die Wiener
Arbeiter.
Versammlung im Arbeiter heim, 2 7. März 19 17*).
Lln dem Meer von Blut, in dem die Menschheit seit fast drei
Jahren zu ertrinken droht, zeigt sich zum erstenmal wie ein
Lichtblick aus weiter Ferne ein großes Geschehen, das
die größte Bedeutung hat für alle Völker dieser Erde. Erinnern wir
uns, wie vor zwölf Jahren in diesem Saale, wo wir gerade unseren
Parteitag hielten, die Nachricht von dem Oktobermanifest des
Zaren kam, mit dem ein Parlament auf Grund des allgemeinen
Wahlrechtes in Rußland gewährt wurde. Aber das Wort des Blut-
zaren hat sich als Lüge erwiesen und die blutigste Reaktion hat
das Volk um die Früchte der Revolution betrogen**).] Aber wenn
unsere russischen Genossen, von denen wir in diesen Jahren der
*) Am 14. März 1917 hatte die Revolution in Rußland begonnen. Am
16. März mußte Zar Nikolaus abdanken und wurde am 21. März in Haft
genommen. Rußland war Republik. Die Wiener Arbeiter versammelten sich
am 27. März im Favoritner Arbeiterheim, wo Victor Adler sprach.
**) Die eingeklammerten Stellen wurden von der Kriegszensur ge-
strichen. Sie waren in der Zeitung durch weiße Flecken ersetzt.
Die russische Revolution und die Wienei \rbeiter. 275
Gegenrevolution so viele hier begrüßen konnten, verzweifeln
wollten, suchten wir sie immer wieder aufzurichten, indem wir
ihnen sagten, daß die Revolution und ihre Früchte aus der (ie-
SCllichte Rußlands und der Menscliheit nicht mehr zu streichen
seien. Wie bei der Flui Welle um Welle kommt und zurückgehl
und jede neue Welle doch ein neues Stück Hoden erobert, so voll-
zieht sich eben der Portschritt der Geschichte nicht geradlinig,
sondern mit Rückschlägen, mit Sieben und Niederlagen. Und so
ist es auch gekommen. Aus dem, was wir jetzt in Rußland sehen
soweit wir es aus den Nachrichten erfahren können, die man ja mit
Vorsicht aufnehmen muß, wie man denn überall nur das durchläßt,
was für Kinder gut und nützlich ist, und auch deshalb, weil die Lüge
heute überall als patriotische Tugend gilt, erscheint doch das eine
sicher, daß der Zarismus unter dem Druck der vereinigten Macht
der oppositionellen Parteien zusammengebrochen ist, wie ein
Kartenhaus zusammenbricht. Zwei Parteien wirkten da zusammen,
die Partei des imperialistisch-liberalen Bürgertums, die die zari-
schen Regierungen anklagte, daß der Zarismus den Krieg zu führen
durch seine Korruptheit unfähig war. und die Partei der Arbeiter-
schaft, die den Zarismus anklagte, nicht daß er den Krieg nicht
richtig führt, sondern daß er ihn führt, und als die Duma
davongejagt wurde, da vereinigten sich die beiden Strömungen. Die
Strömung, die den Krieg wollte, aber ein bürgerlich freies Rußland,
die konnte natürlich den Kampf nicht allein führen; gekämpft und
die Schlacht gewonnen haben die proletarischen Massen in den
großen Städten Rußlands, vor allem Petersburgs, und die zarische
Regierung, die weder Frieden zu halten vermochte, noch den Krieg
zu führen verstand, war im Nu weggefegt. Aber diesmal ist es tiefer
gegangen als vor zwölf Jahren und man hat den Zarismus mit der
Wurzel ausgerissen. Was nun kommen wird, das wissen wir nicht,
und sich darüber in Prophezeiungen zu ergehen, wäre eine Tor-
heit; was wir wissen, ist, daß die Revolution, die zunächst gesiegt
hat, keine einheitliche ist, daß sich zwei Klassen zu ihr verbunden
haben, | denen nur eines gemeinsam ist, daß sie ein modernes Ruß-
land wollen, daß sie das alte, korrupte, blutbedeckte zarische Regi-
ment beseitigen wollen. Auch das wissen wir, wer das Verdienst
an diesem Siege hat; es sind unsere Brüder, die Prole-
tarier Rußlands, die ihr Blut und ihr Leben dafür
in die Schanze geschlagen habe n.]
Wenn die bürgerliche Presse aller Länder nun meint, daß die
„Unordnung", die nun in Rußland eintrat, Rußlands Kraft gebrochen
hat, so scheint das doch übertrieben. Wir haben nie geglaubt, daß
der Zarismus, daß die Unterdrückung und die Allmacht der Büro-
kratie ein Moment der Kraft eines Staates ist, denn wir wußten, daß
gerade die schwachen Staaten alle diese Laster haben, daß Q e-
w a 1 t und Absolutismus eine Q u e 1 1 e d e r Schwäche
eines Staates ist. und deshalb erscheint es uns sicher, wie
immer man über die Zukunft denken mag: Rußland wird nicht
schwächer, wenn es seine Tyrannen los wird und seine korrupte
Bürokratie zum Teufel gejagt hat, es wird nicht schwächer, wenn
18*
276 Militarismus und Krieg.
die tüchtigsten und begabtesten Kiemente des Bürgertums und der
Arbeiterschaft das Heft in die Hand bekommen. Außerdem wird
uns auch erzählt, daß das eine „englische Revolution" sei, um den
Krieg fortzuführen. Ich weiß es nicht, es ist wohl möglich, daß die
englische Regierung in der Tat diese Entwicklung beschleunigt hat,
weil ihr Bundesgenosse schuldig geblieben ist - nicht Geld, das
er ja immer schuldig war (Heiterkeit), aber schuldig geblieben ist
die militärische Machtentfaltung und den Erfolg im Kriege. Aber
wenn das wahr sein mag, so viel ist sicher, daß der Erfolg weit über
das hinausgegangen ist, was sie wollten, und daß die Revolution
heute keine englische Revolution mehr ist, sondern eine
richtig gehende russische Revolution, von der wir nicht
sagen können, wohin sie führt, die aber die Geschicke Rußlands
wendet, und eine Revolution, in der das führende, vorläufig sieg-
reiche Element das ist, das die Revolution nicht macht für den
Krieg, sondern für die Freiheit und für den Frieden.
(Lebhafter Beifall.)
Wir meinen also, daß Rußland durch die Revolution nicht
schwächer geworden ist und wir wissen, daß wir uns gegenüber
nicht mehr das Rußland haben, das repräsentiert war durch das
verhaßteste Regime, durch den Zaren, gegen den unser Land zu
verteidigen auch für uns, die wir wirklich den Krieg nicht wollten,
ein Grund war, uns zu wehren. Heute haben wir nicht mehr den
russischen Zaren drüben, sondern Rußland ist das russische
Volk, dem wir nicht Haß, sondern Liebe entgegen-
bringen, Liebe und Solidarität (lebhafter Beifall), das
russische Volk, das nichts anderes als wir, nichts
sehnlicher wünscht als den Frieden. Aber nicht nur
für uns, sondern für alle Staaten ist diese russische Revolution das
wichtigste geschichtliche Ereignis, jedenfalls das wichtigste Ergeb-
nis dieses furchtbaren Krieges. Bisher war Rußland der böse Geist
für Europa, die brennende Schande, die jeder fühlte, und das Bünd-
nis mit Rußland war selbst für seine getreuesten Alliierten ein
Makel, den sie spürten trotz aller Kriechereien der Herrschenden
vor dem Zaren. Sie krochen vor ihm, weil er der Besitzer der
großen „Dampfwalze" war, die alles vor sich niederwerfen konnte,
unerschöpflich an Mitteln und unerschöpflich vor allem an Kanonen-
futter. Deshalb stellten sie alle Hoffnung auf ihn, aber sie hatten
kein gutes Gewissen dabei. Heute steht es anders: Ein freies Ruß-
land ist nicht der Schrecken für Europa, insofern als man gewissen-
lose Eroberungspolitik von ihm erwarten könnte, ein freies Ruß-
land ist aber mächtiger geworden, kräftiger, wirtschaftlich und
politisch entwicklungsfähiger und hört damit auf, eine Ge-
fahr für Europa zu sein. Andere Bündnisse, andere Freund-
schaften werden entstehen müssen, denn ein liberales oder gar
republikanisches Rußland wird eine ganz andere Anziehung in
Europa ausüben und Europas Staatsmänner werden sich rüsten
müssen, die Konkurrenz mit ihm aufzunehmen, und auch ein
erneutes Österreich, von dem man soviel hört, wird sich kon-
kurrenzfähig machen müssen.
Die russische Revolution und die Wiener \rbeitei ~?7
I Als B e i li mann-Hollwe g sagte: „W c li e d e m Staat s-
m a n 11, der die Z e i c li e n der Zeit nicht verstellt !'
war die russische Revolution noch nicht da. Das allerkhirste Zeichen
der Zeit, SO klar, daß den Herren die Augen heilten müssen, ist die
glorreiche russische Revolution, und wenn die Staatsmänner dieses
Zeichen nicht zu deuten wissen, dann ist ihnen nicht zu helfen.
Jeder weiß, daß Revolutionen nicht gemacht weiden, und die Fnt-
Wickhing der Völker kennt auch andere Formen als diese akuteste,
schnellste, deutlichste, auf einen Moment zusammengedrängte Form
der Umwälzung. Schon das ist Revolution, wenn Zersetzung eintritt,
die nicht mehr aufzuhalten ist, wenn die Hindernisse für das staat-
liche Leben größer werden. 1
Aber noch ein anderes Zeichen ist es, das die Staatsmänner
sehen müßten, das ist, daß jetzt derMoment ist, Frieden
zu machen! (Lebhafter Beifall.) Der Zar konnte vielleicht nicht
Frieden machen, weil er für den Thron fürchten mußte. Die Völker
Rußlands aber — bis auf eine kleine, allerdings mächtige Schicht -
wollen den Frieden. Man sagt uns mit Recht, die Arbeiterschaft
ist keine zahlreiche Klasse in Rußland, das Wesentliche ist die
Bauernschaft. Aber kann jemand ernsthaft glauben, daß die Bauern-
schaft den Krieg will? Daß eine Gegenrevolution in Rußland
kommen kann, das leugne ich nicht, aber daß sie mit dem Ziele,
den Krieg weiterzuführen, sich auf die Bauernschaft stützen kann,
das glaube ich nicht. Umgekehrt kann es sein, daß man in die
Bauernschaft die Lüge trägt, daß der Zar gestürzt wurde, weil er
ein Friedensfreund sei. Und wieweit diese Lüge Verbreitung findet,
ob sich nicht die Geistlichkeit einer solchen Lüge bemächtigt, das
weiß ich nicht. Aber ausgeschlossen ist, daß man die Bauernschaft
zur Fortsetzung des Krieges aufrufen könnte. Noch ein Moment ist
da, von dem man nicht weiß, was für eine Rolle es spielt: das ist
die Armee. Man hat geglaubt, daß die Armee die Gegenrevolution
machen könnte. Es wäre ja möglich gewesen, daß irgendein Groß-
fürst oder ein General ein Armeekorps gegen Petersburg führt und
die Revolution im Blute erstickt, aber es scheint, daß die Zeit dafür
vorbei ist.
[Daß aber die Armee — die Soldaten, das Kanonenfutter — für
die Fortsetzung des Krieges und gegen den Frieden die Waffen
ergreifen sollte, das glaube ich nicht. Man kann nicht annehmen,
daß die Menschen jenseits der Schützengräben so ganz anders ge-
artet sind als wir selbst. (Beifall.)]
Nun handelt es sich darum, daß der Friede ermöglicht und nicht
gewalttätig verhindert werde durch die Staatsmänner, es handelt
sich darum, daß sich unsere Staatsmänner vor der siegreichen
Revolution weniger fürchten als vor dem derzeit unterliegenden
Rußland, daß sie erkennen, daß wenn — wie sie uns so oft gesagt
haben — wir den Krieg nur für unsere Verteidigung und
nicht um zu erobern führen, daß dann unsere besten Ver-
bündeten die kämpfenden Proletarier Rußlands
278 Militarismus und Krieg.
sind (lebhafter Beifall), die gewiß nicht die Zertrümmerung Ruß-
lands wollen, so wenig wie wir die Zertrümmerung unseres Staates
wollen, die aber den Frieden wollen ohne Eroberung und ohne
Demütigung, so wie wir. (Beifall.) Und wie die Mittelmächte vor
drei Monaten aufrichtig ihre Hand zum Frieden geboten haben, so
wäre jetzt der Moment, nochmals und deutlicher zu fragen. Wir
sind nicht schwächer geworden seitdem, wir sind stärker geworden
und wir haben den ungeheuren Trost, daß nun auch die drüben
hungern und leiden, und wir und die anderen sind reif für das
Ende des Krieges. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß auch die
anderen endlich daraufgekommen sind.
Donnerstag wird der Kanzler des Deutschen Reiches sprechen
— bei uns haben die Völker, aber damit freilich auch die Minister
auf die Tribüne verzichten müssen*) — , aber Bethmann wird sprechen
und ich halte es für bedeutungsvoll, daß unser Minister des Äußern
vorgestern nach Berlin gefahren ist; hoffen wir, daß sich an die
vernünftige Rede, die Bethmann vor wenigen Tagen über die innere
Politik gehalten hat, ein vernünftiges und entschlossenes Wort über
die äußere Politik anschließen wird. Er muß sich jetzt sagen:
Wehe dem Staatsmann, wehe den Völkern, deren
Staatsmänner die Zeichen der Zeit nicht er-
fassen können und die nicht tun, was das eiserne
Gebot der Zeit ist!
[Unsere Gedanken aber wenden sich an die Proletarier in allen
Ländern, wenden sich an jene Internationale, die zersprengt
ist und die zum erstenmal in diesem Kriege in einem Ge-
danken einig ist, beherrscht von einem gemeinsamen Gefühl,
dem Gefühl des Dankes, der Ehrfurcht und der Liebe für die
russischen Proletarier, die mit ihrem Blute einen Schritt nach vor-
wärts getan haben, zum Frieden nicht nur, sondern zu
einer Neugeburt Europas und seiner Geschichte.
(Lebhafter Beifall.) Wir haben unseren Gruß durch Vermittlung
des Internationalen Büros im Haag unseren russischen Brüdern
geschickt**), und wenn er auch hier nicht gedruckt werden durfte,
so wissen wir doch alle, daß ein Gedanke uns beseelt: Es lebe
das revolutionäre, neugeborene Proletariat Ruß-
lands, es lebe die Friedenspartei drüben und
hüben, die einzige echte und wahre und kampf-
bereite, die es gibt. (Stürmischer Beifall.)]
*) Das österreichische Parlament ist erst am 30. Mai zusammen-
getreten.
**) Am 22. März beschloß der sozialdemokratische Parteivorstand, den
russischen Genossen durch Vermittlung des Internationalen Sozialistischen
Büros eine Erklärung zu übermitteln, die der Sozialdemokratie Rußlands
den Sieg wünscht und die ernste Erwartung ausspricht, daß die Regie-
rungen der Zentralmächte ihre Friedensbereitschaft offen bekunden und
wirksam betätigen werden. Diese Erklärung durfte in Wien erst am
17. April veröffentlicht werden.
I in Demokratie und Frieden! 27')
Für Demokratie und Frieden!
Erste L e s i! ii g des Staatsvoranscfrl a g e s,
2 6. Septe m ber I 9 l 7().
Die neue Arbeitsperiode des Abgeordnetenhauses ist gestern
mit einer Rede des Ministerpräsidenten eröffnet worden, die uns
alle dureh ihre Reichhaltigkeit fasziniert hat. Vom ganzen Herzen
muß man wünschen, daß ein gewisser Prozentsatz der von ihm
ausgesprochenen Wünsche in Erfüllung geht. Den guten Willen der
Regierung in Ehren; aber der gute Wille ist nicht alles. Die Rede
des Ministerpräsidenten war nicht nur ein Verzeichnis der Dinge,
die anzustreben sind, sondern vor allem ein Verzeichnis der
Rückständigkeiten, unter denen wir leiden. Sie war nicht
nur ein Katalog unserer Hoffnungen, sondern ein
Katalog der Sünden Österreichs.
Wir stehen i n m itteneines Leichenfeldes. Ich spreche
da nicht von den Hunderttausende^ die in den Schützengräben ge-
blutet haben, nicht von dem Verlust an Volkskraft, der allen
Völkern zugefügt wurde, sondern von dem Leichen- und
Trümmerfeld, das in unserem Innern durch die unverant-
wortlichen Exzesse des Kriegsabsolutismus ge-
schaffen wurde. Ich will nicht die S c h u 1 d f r a g e in bezug auf
die Veranlassung des Krieges aufwerfen, weil uns das dem Frieden
nicht näherbringt. Darum aber verzichten wir nicht für die Zu-
kunft auf die Untersuchung der Frage der Schuld an dem
Kriege auch hier. Ich will aber doch hier daran erinnern, daß
die sozialistischen Abgeordneten ein Jahr vor Ausbruch des Krieges
auf der
*) Am 15. Juli 1917 war das am 30. Mai zusammengetretene Parlament
in die Sommerferien gegangen und am 25. September trat es wieder
zusammen. Die Regierung Seidler, die am 23. Juni als provisorische
Regierung eingesetzt worden war, versuchte nun definitiv zu werden,
indem man ein Korizentrationsministerium zu bilden suchte. Selbst den
Sozialdemokraten bot der Ministerpräsident Seidler Ende Juli den
Eintritt in eine Koalitionsregierung an; die Sozialdemokraten lehnten selbst-
verständlich ab. Am 30. August wurde ein „definitives" Ministerium
Seidler ernannt, dem eine Anzahl von Beamten und Professoren und
auch vier Minister ohne Ressort angehörten. Als am 25. September das
Abgeordnetenhaus zusammentrat, war die Situation ganz ungeklärt. Klar
war nur, daß der Deutsche Nationalverband am 24. September in einer
Resolution gegen die „pazifistischen Kreise der Mittelmächte" auftrat
und den Verständigungsfrieden, aber auch „grundstürzende Änderungen
in der Regelung des Verhältnisses unter den Nationalitäten" ablehnte. In
der ersten Sitzung hielt Dr. v. S e i d 1 e r seine Programmrede, die eine Fülle
von Reformen in leeren Phrasen ankündigte, aber über die eigentlichen
Probleme des Staates, über die Demokratisierung und über den Frieden
kein ernstes Wort sagte.
In der ersten Lesung des Staatsvoranschlages sprach Adler, der dem
Wunsch nach Demokratie und Frieden Ausdruck gab.
280 Militarismus und Kric«.
Konferenz in Basel
eine Friedensresolution beschlossen, deren Teile bis ins einzelne
eigentlich die Zielpunkte der heutigen Friedens-
bewegung bilden, und als wir von Basel zurückkehrten, da
konnten wir in diesem Hause unseren Beschluß nicht ein-
mal den Arbeitern zur Kenntnis bringen. Wir
konnten vor den Arbeitern Österreichs nicht einmal aussprechen,
was sie selbst durch die Delegierten in Basel ausgesprochen haben.
Das war ein Jahr vor dem Kriege. Wir haben gekämpft bis zur
letzten Minute, mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung gestanden
sind. Sie wissen, wer unsere Gegner waren, Sie wissen, wie man
uns bekämpft hat. Dann ist der Krieg gekommen und wir haben
getan, was wir tun mußten, wir haben uns angepaßt den Verhält-
nissen und von der Arbeiterklasse zu erhalten gesucht, was sich
durch unsere Mitarbeit erhalten ließ. Aber darum haben wir die
Abrechnung nicht aufgegeben!
Aber so wie die eigentliche Schuldfrage heute lautet, wer sich
dem Frieden widersetzt, so muß man heute fragen, wer
und was ist in Österreich schuld daran, daß wir innerhalb des
Krieges nicht zu friedlicher Arbeit, zu gemeinsamem
Zusammenwirken kommen. Das ist die
innere Schuldfrage.
Wenn wir in Österreich nicht dazu kommen werden, das ein-
zige, das dieser Krieg für uns günstiger gestaltet hat, zu benützen
und eine Neugestaltung des Zusammenlebens der Völker durchzu-
setzen, so werden alle wirtschaftlichen Programme uns nicht helfen.
Brot ist wichtig, es war nie wichtiger als jetzt, wo es so viele ent-
behren müssen; aber nicht vom Brot allein lebt der Mensch. Wir
müssen den Moment benützen, wo die Dinge endlich in Fluß
gekommen sind. Was durch Jahrzehnte und Generationen un-
beweglich war, ist heute flüssig geworden. Es sind Möglichkeiten
eröffnet, die nach abwärts und zur hilflosen, impotenten Verwirrung
führen können, die aber, richtig erfaßt, zu einem Neubau führen,
der unser und der Zukunft würdig ist.
Die Regierung hat dabei gewiß eine schwere Aufgabe. Diese
Aufgabe wird aber nicht erfüllt dadurch, daß sie im Verfassungs-
ausschuß ein paar Leitsätze für die nationale Abgrenzung oder die
Kreiseinteilung vorlegt, die ja als Substrat und Anknüpfung sehr
notwendig sind; aber das, was wir von einer Regierung brauchen,
ist die suggestive Kraft, die Vertreter dieser Völker zu-
sammenzuführen und sie in einer Diskussion zu vereinigen. (Leb-
hafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Nicht als ob ich
meinen würde, daß das Parlament, das so viel kann, in diesen
Dingen alles kann. Dieser „parlamentarische Kretinismus" liegt mir
völlig fern. Ich weiß, daß es sich darum handelt, was in den Völkern
draußen vorgeht, und diejenigen, die sich einbilden, daß es sich hier
nur um Couloirabmachungen handelt und auf Ausschußabstimmun-
gen ankommt, die geben sich groben Täuschungen hin. Aber was
wir brauchen, ist
f im Demokratie mui Frieden! ^Bi
das Bewußtsein, daU die alte Zeit vorbei ist
und dali wir mit dem, was war, brechen müssen. Nicht das Ge-
wesen e ist das Substrat des historischen Weiter-
a r b e i t e 11 s, sondern das (ie wordene - und geworden
sind die Dinge ganz anders, das hat der Krieg nicht bewirkt, son-
dern enthüllt. Geworden ist, daß sich die Völker nicht mehr durch
den Korporalstock und aus dem Bürokraten/immer, aber auch nicht
durch den Galgen kommandieren lassen. (Lebhafter Beifall.) Wir
haben zu viel Blut gesehen, als daß noch ein Volk Blut
fürchten würde. Wir haben zu viel Elend gesehen, als daß
ein Volk sich noch schonen würde im Kampfe um sein Höchstes,
um seine Existenz. (Beifall.) Wir müssen an unsere Arbeit gehen,
durchdrungen von dem Gedanken, daß wir ein neues Öster-
reich aufbauen müssen; aber je weniger dieses neue Öster-
reich dem alten gleich schauen wird, um so besser wird es
sein. (Lebhafter Beifall.) Wir haben vom Ministerpräsidenten ge-
hört, die Regierung halte an dem alten österreichischen Staats-
gedanken fest. Von den Reden österreichischer Ministerpräsidenten
allein kann der österreichische Staatsgedanke nicht leben, mögen
sie noch so warm und ehrlich gemeint sein. (Zustimmung bei den
Sozialdemokraten.) Der österreichische Staatsgedanke ist ein
schönes Wort, mit dem aber im Laufe der Entwicklung der Völker
verschiedene Dinge verbunden wurden. Für uns Sozialdemokraten
zum Beispiel ist der Staatsgedanke nicht der Volksstaat, auch nicht
der freie Volksstaat, sondern der
freie Völkerstaat!
Die Förderung der Entwicklung der Völker, nicht die Opfer, die
die Völker für diese Entwicklung bringen müssen, das ist der
Staatsgedanke.
Wir haben vom Abgeordneten Zahradnik eine sehr tempera-
mentvolle Rede gehört, der die Souveränität des tschechi-
schen Volkes gewünscht hat und überzeugt ist, daß sie das Resultat
des Friedens sein werde. Die Sozialdemokraten empfinden alle
Sympathien für die Bestrebungen des tschechischen Volkes nach
selbständiger Entwicklung und Betätigung aller seiner Kräfte. Aber
die Tatsache können alle diese Wünsche nicht aus der Welt
schaffen, daß wir zusammen leben müssen, und da macht sich das
Wort „Souveränität" ein bißchen zweideutig. Wir Sozialdemo-
kraten waren die ersten, die
die Ideen von 1848,
die Idee der nationalen Autonomie aufgegriffen und auf die Tages-
ordnung gesetzt haben, zunächst ungehört und verhöhnt.
Heute ist das ein Schlagwort geworden. Wir sind von der
Vorstellung durchdrungen, daß die Völker Österreichs nicht anders
leben können als bei Gewährung der Selbständigkeit an jede
Nation, ich möchte sagen, der Personalität an die Nation,
und wir wollen darin so weit gehen, als es möglich ist, ohne
Dinge unmöglich zu machen, die gemeinsam gemacht werden
282 Militarismus und Krieg.
müssen. Wenn aber die deutschen Sozialdemokraten den anderen
Nationen — nicht als Spende oder Gnade — ihr Recht auf Selb-
ständigkeit und freie Entwicklung innerhalb dieses Nationen-
verbandes anerkennen, so sind wir andererseits nicht geneigt,
uns nehmen zu lassen, was wir den anderen ge-
währen. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)
Ebenso wie es für die Deutschen und für das Reich nicht von Vor-
teil ist, irgendeiner Nation eine Fremdherrschaft aufzudrängen
— auch der tschechischen nicht — , ebenso wollen wir auch für
unser Volk freie Entwicklung und wollen uns
keiner Fremdherrschaft in keinem Teile dieses Reiches
unterstellen. Das müssen die tschechischen Politiker aller Parteien
begreifen und darin werden sie wohl eine Grenze finden müssen,
wenn sie nicht Utopien nachjagen wollen, die sie nicht erreichen
können, weder hier noch an irgendeinem Konferenztisch der Welt.
Lassen Sie die gegenseitige Vergiftung, den Groll, der sich während
der drei letzten Jahre angesammelt hat, nicht so weit gehen, daß
es unsere Zukunft völlig unmöglich macht und
ruiniert! Seien wir uns dessen bewußt, daß wir neu, sehr neu
anfangen müssen, sehr tief die neuen Fundamente legen müssen.
Der irrt sich sehr, der glaubt, daß er auf dem Alten nur ein
Scheingebäude aufrichten kann. Lassen wir Deutschen den
alten Traum fallen von der Mission, der wir entweder nicht ge-
wachsen sind oder die wir vielleicht nicht haben, die aber keines-
falls geeignet ist, uns ein Recht auf Herrschaft irgendeiner Art zu
geben.
Die Slawen, insbesondere die tschechischen Parteien, mögen
alte Dinge ruhen lassen. Wir können nicht davon leben, was die
Ahnen gemacht haben, sondern müssen bedenken, daß wir
selbst Ahnen sind, und daß es von unserer Kraft, Weisheit
und Entschlossenheit zur Gerechtigkeit, auch wenn manches alte
Vorurteil dabei bluten muß, und von unserer Opferwilligkeit als
Einzelnes und Ganzes abhängt, ob wir auf dem Boden, auf den wir
nun einmal unweigerlich gestellt sind, ob wir wollen oder nicht, zu-
sammen leben können.
Dr. Sylvester hat gemeint, die nationale Gerechtigkeit solle im
Inland anfangen. Die Menschen halten leider die Gerechtigkeit für
einen Exportartikel, der nur im Ausland zu verwerten ist (Heiter-
keit), aber für den inländischen Konsum nicht passe. Es ist aber so,
daß es keinen Staat gibt, der durch die nationale Frage so bis in
sein Zentrum leidet wie Österreich. Wenn wir das Problem der
nationalen Gerechtigkeit damit von uns schieben wollen, daß wir
sagen, die anderen mögen anfangen, so versündigen wir uns
nicht nur an dem Frieden, sondern vor allem an uns. selbst.
Der Ministerpräsident hat natürlich auch von Ernährungsfragen
sprechen müssen und hat sehr gute Worte für die städtische Be-
völkerung gewählt. Die schönsten Worte können aber nicht darüber
hinwegtäuschen, daß in der Praxis gerade in der letzten Zeit eine
Im Demokratie und Prieden! '^',
g e w i s s e S c h w ä c h 1 i c h k e i 1 g e g e n ii h c r d e n A g r a-
riern sich gezeigt hat. Ich hätte auch gewünscht, daß der
Ministerpräsident ein Wort darüber gesprochen hätte, was auf dein
Gebiet des Arbeiter Schutzes nachzuholen ist, am dem wir
eine Periode, wenn nicht der Reaktion, so doch des Still-
standes hinter uns haben, Es gibl Anzeichen dafür, daß man
jetzt unter dein vermeintlichen Druck des Krieges
an der Arbeiterschaft und ihren Organisationen
Vergewaltigungen ausüben will, die in W i d er s p r uch z u der
Anerkenn u n g stehe n. die man den Arbeitern überall gezollt
hat. Wir brauchen keine Militarisierungen. Wenn irgendeine Gesell-
schaftsschieht mit dem Säbel zu regieren ist, die Arbeiterschaft ist
es nicht. (Lebhafte Zustimmung und Beifall bei den Sozialdemo-
kraten.) Das mögen die Herren sehr ernstlich zur Kenntnis nehmen.
Wir sind durchaus nicht gesonnen, einen erheblicheren Teil der
Verantwortung auf unsere Schultern zu nehmen, als uns für die
ganze Ernährungsorganisation trifft, wir sind gesonnen, alle die
Dienste zu verrichten, die wir für das Volk verrichten, aber
wenn man uns wie Kulis behandeln will, wie Soldaten
von Anno dazumal, da sagen wir : Nein, datunwirnichtmit!
Das ist nicht unsere Pflicht; im Gegenteil, dadurch, daß wir unsere
Mithilfe verweigern, retten wir das Ganze. (Lebhafter Beifall bei
den Sozialdemokraten.)
Die neuen Ministerien, die gegründet werden, sind ja sehr schön,
ich hätte vielleicht die Zusammensetzung aller Arbeiterdinge in ein
Arbeitsministerium gewünscht, denn es wird jetzt wieder
eine Zersplitterung herauskommen, aber es ist besser als es
war, und es wird sich vieles bessern. Insbesondere das Gesund-
heitsministerium wird endlich unser Sanitätswesen
aus seiner Aschenbrödelstellung befreien, und ich
hoffe, daß die Sozialpolitik nicht vollständig ersäuft werden wird in
diesem Fürsorgeministerium. Das wird von den Personen abhängen,
und was an uns liegt, wird geschehen, wir werden schieben und
arbeiten soviel als möglich. Das nur vorläufig, denn wir werden
darüber noch sprechen.
Die Voraussetzung für alle Arbeit, die Voraussetzung für die
Entwicklung unseres Lebens ist, daß wir zum Frieden
kommen. Das sozialistische Proletariat hat die Not von Anfang
an ganz besonders empfunden. Als im Frühjahr der Ruf „Stock-
holm" erging, ist ein Sturm durch die Massen gegangen: Jetzt ist
es zu Ende! Das Signal dafür war
die russische Revolution.
Wenn dieser Krieg das Eingangstor zu Umwälzungen
und neuen Dingen ist, die wir heute noch gar nicht ermessen
können, ist die russische Revolution ein Ereignis von vielleicht noch
einschneidenderer Bedeutung. Der Zarismus war der Unterstützer
und die Grundlage aller reaktionären Dinge in der Welt. Für uns
284 Militarismus und Kric«.
und Deutschland hatte Rußland noch eine spezitische Bedeutung.
Der Zarismus war der dunkle Hintergrund der Reak-
tion, auf dem sich unsere Zustände zwar nicht hell, aber ein
bißchen lichter ausgenommen haben. Diesen Hintergrund haben -wir
verloren. Das Dunkelste, das es heute in Europa gibt, das sind leider
wir. (Heiterkeit und Beifall.) Es wird nun niemand unseren Fort-
schritt an etwas messen, was tiefer steht, sondern daran, daß
nicht nur im Westen, sondern auch im Osten der
Tag angebrochen ist und daß es trotz allem nicht mehr
dunkel werden wird.
Wir dürfen nicht mehr zurückbleiben, wir müssen vor-
wärts. Mögen der russischen Revolution Wechselfälle bevor-
stehen, die Revolution ist unbesiegbar, sie ist eine Tat-
sache, die nicht mehr aus der Weltgeschichte gelöscht werden kann,
und wir sind verpflichtet, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Wir
Sozialdemokraten waren sehr befriedigt, daß bei Ausbruch der
russischen Revolution unser Auswärtiges Amt und auch Deutsch-
land erklärten, daß es ihnen fernliege, reaktionäre Versuche in
Rußland zu begünstigen oder die russische Revolution zurück-
dämmen zu wollen. Das ist selbstverständlich und ich wünsche nur.
daß man dabei bleibe. Die Politik unseres Auswärtigen Amtes wird
verdächtigt, als ob sie ihre Stellung in dieser Beziehung geändert
hätte, als ob sie aus konterrevolutionären Strömun-
gen Profit ziehen zu können glaubte, als ob sie mit dem
Trugbildeines Separatfriedens ihr Spiel treiben wollte.
Ich bin überzeugt, daß Graf Czernin nicht daran denkt. Es ist durch-
aus notwendig und nützlich, daß wir gegenüber der russischen
Revolution auf dem Standpunkt stehen bleiben, den
die österreichisch-ungarische Politik vom Anfang an eingenommen
hat.
Der Ruf zum Frieden
ist überall vernehmbar, auch bei unseren Gegnern im Kriege. Die
Sozialdemokraten leiden unter der physischen Schwierigkeit, sich
zu verständigen, ferner unter der zu Kriegszwecken aufgepeitschten
Leidenschaft der Massen, sie leiden aber vor allem unter den
Schlagworten, die hinausgegeben und als Friedensbedingungen in
die Welt hinausgerufen werden. Eines jedoch ist sicher und das hat
sich immer mehr durchgerungen: die Völker und auch unser Volk
wollen nicht umsonst geblutet haben, das heißt d i e
Völker wollen ausrotten mit der Wurzel, was
diesen Krieg herbeigeführt hat. (Lebhafter Beifall bei
den Sozialdemokraten.) Darum kann die Voraussetzung eines
Friedens nur sein der feste Entschluß der Staatsmänner und Völker,
ein neues Völkerrecht zu schaffen. Es ist eine wahre Genugtuung
und eine große Hoffnung für uns, daß beinahe mit denselben Worten,
mit denen sich vor fünfzig Jahren Karl Marx an die Internationale
gewendet hat, um die Linien zu kennzeichnen, die für ein Zu-
sammenleben der Völker möglich wären, der Papst in seiner letzten
Kundgebung das Ziel ausgesprochen hat, daß nämlich die großen
Für Demokratie und Frieden! 28f>
Prinzipien der Gerechtigkeit, der L i e b e und der
Moral, die im Privatleben im Verhältnis der einzelnen zueinander
maßgebend sind, mich maßgebend werden im Verhältnis der Staaten
zueinander.
Die Voraussetzung des Frieden? und von Friedensverhandlungen
ist, daß dieses Ziel vorerst im Auge behalten wird. Man wird
leichter einander näherkommen können, wenn man früher fest-
gestellt hat, am Ende soll nicht sein eine Absperrung
und gegenseitige Bedrohung, sondern ein ver-
trägliches Zusammenleben zu gemeinsamer
Kulturarbeit aller Völker. Darüber läßt sich auch un-
schwer eine Einigkeit erzielen. Schwerer ist es natürlich mit den
Einzelheiten. So sehr wir nun anerkennen, was vom deutschen
Reichskanzler und vom Grafen Czernin zum Lobe des Friedens
und an Wünschen des Friedens gesagt wurde — es genügt
nicht. Wir leben in einer Zeit, wo man
deutlich und klar sprechen muß.
Heute reden die Staatsmänner zur Welt und sie sollten in
solchen Worten reden, die man im Ausland nicht ver-
schweigen, nicht verdrehen und n i c h t f a 1 s c h i n t e r-
pretieren kann. (Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) So-
wohl in der wirklich weitgehenden warmen Antwort, die der Kaiser
an den Papst gerichtet hat, die wir rückhaltlos anerkennen als wirk-
lich herzliche und offenbar empfundene Äußerung, die ein Friedens-
bekenntnis ist, als auch noch mehr in der Antwortnote des
deutschen Reichskanzlers fehlt das Wort: Wir wollen keine
Eroberung machen! So wie drüben das Wort Belgien, so
fehlt bei uns das Wort Serbien und Rumänien. Wir wissen, daß
das kein Vernünftiger will, aber man sollte esauchnachaußen
sagen, daß wir es wissen.
Es ist ein wichtiges Moment dafür, daß wir zum Frieden kom-
men. Daß es fehlt, ist eine Unterlassung. Meine Pflicht hier ist es,
dafür zu sorgen, daß die Massen in England und in Frankreich
den Mut bekommen, sich dazu zu bekennen, daß der
Friede möglich ist, ohne Verletzung und Unter-
drückung eines Volkes, daß der Friede möglich ist, weil
bei den Zentralmächten nicht, wie sie meinen und wie man ihnen
einredet, Sklaven leben, sondern daß auch da freie Menschen
sind, die die Demokratie wollen und die die Freiheit
durchsetzen werden und den Frieden. (Lebhafter Bei-
fall bei den Sozialdemokraten.) Es ist furchtbar, was wir erlebt
haben; aber so furchtbar es ist, tun wir unsere Pflicht. Dazu ist
notwendig, nicht nur für die einzelnen, auch für die Parteien und
für die Völker ein wenig Selbstverleugnung und sehr viel Mut, sehr
viel Überzeugung, daß die alte Zeit vorbei ist, daß die neue Zeit
kommen muß, die mit dem Frieden beginnt und zur
Freiheit führt. (Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)
286 Militarismus und Krieg.
Die Vertagung des Reichsrates.
Obmännerkonferenz am 3. Mai 191 8*).
Die Sozialdemokraten warnen auf das ernsteste vor dem
Schritt, den der Ministerpräsident in Aussicht gestellt habe. Jedes
Parlament, das sich respektiert und seiner Aufgabe bewußt ist,
würde nicht eine Verschiebung, sondern eine Permanenz des
Hauses beschließen. Eine Zerschlagung des Hauses, die befürchtet
wird, würde von niemandem anders angedeutet außer als Folge,
wenn Schritte zur Ausschaltung des Hauses gemacht werden
sollten. Wenn man das Haus auf vier oder sechs Wochen vertage,
dürfe man sich nicht der Hoffnung hingeben, daß man den
Debatten, die jetzt befürchtet werden, entgehen könne. Was heute
unangenehm wäre, könnte später unter dem Drucke des Termins
noch viel unangenehmer sein. Die Hoffnung, daß sich
bis dahin die Parteien beruhigen werden, könne man nur als eine
beneidenswerte Naivität ansehen. Von der Regierung
werde nun eine Maßregel geplant, die den Deutschen nichts gibt
und die Tschechen reizt. Nach vier Wochen werde durch diese
Maßregel ein Gegenstand mehr zur Debatte stehen.
Aus dem Komplex der nationalen Fragen werde sachlich und
territorial eine Frage herausgerissen. Es gehe auch nicht an, von
Hetzagitation zu sprechen. Seine nationalen Interessen geltend zu
machen sei das gute politische Recht jedes Volkes. Die sozial-
*) Der Staat zerfiel, aber die Regierung Seidler glaubte, ihn mit der
Vogel-Strauß-Politik retten zu können. Um die Rebellion der Nationen zu
verschleiern, wurde der Reichsrat vertagt. Das war nun schon das be-
liebteste Rezept.
Am 15. März war das österreichische Abgeordnetenhaus in die Oster-
ferien gegangen; Mitte April sollte es wieder zusammentreten, nachdem
die Ausschüsse vom 7. April an die Verhandlungsgegenstände vorbereitet
hatten. Statt dessen wurde das Haus am 3. Mai vertagt, da sich der Präsi-
dent weigerte, dem Wunsche der Regierung gemäß die Sitzungen gegen
den Willen der Parteien neuerlich zu verschieben. Die Vertagung wurde
vom Ministerpräsidenten damit begründet, daß er Verhandlungen pflegen
wolle, um „die politischen Knäuel zu lösen" und „über die momentane
Situation hinwegzukommen". Diese Situation bestand darin, daß nun alle
Nationen, außer den Tschechen, Polen und Südslawen schließlich auch
die bisher ruhigen Deutschbürgerlichen aufgeregt waren.
Noch vor einer Woche schien es. als ob die Regierung des Herrn
v. Seidler zurücktreten werde, um dadurch eine Lösung der Staats-
krise zu erleichtern. Aber Seidler hatte das Vertrauen des Kaisers Karl,
also wurde nicht er weggeschickt, sondern das Parlament, obwohl es
jedem klar sein mußte, daß sein glorreiches Regieren den Staat zugrunde
richtete. Seit dem ukrainischen Frieden, der den Ukrainern das von den
Polen in Anspruch genommene Chelm gab, waren die Polen von Öster-
reich abgefallen und nun hatten auch die Tiroler Deutschbürgerlichen in
der „Meraner Resolution" erklärt, daß die Deutschen keine Ursache haben,
sich weiter für den Staat einzusetzen, und die Enthüllungen über die Ver-
handlungen des Kaisers mit der Entente und sein Brief an seinen Schwager
Sixtus, worin er das Verlangen Frankreichs nach dem Elsaß als berechtigt
Die Vertagung des Reichsrates. 287
demokratische Partei habe seit Jahren immer wieder darauf ge-
drängt, eine Verfassungsrevision und eine Schaffung der neuen
nationalen Ordnung in die Wege zu leiten. Die Spannung sei wohl
auf das höchste gestiegen, aber weil dies der Fall ist, soll das
Parlament ausweichen und fortgehen? (iegcn ein solches Vor-
gehen erhebe seine Partei die allerentschiedenste Einsprache. Er
hedaure es, daß die slawischen Parteien in der Obmännerkonferenz
nicht erschienen seien, er hedaure es aber auch, dal.» mau ihnen
dies so leicht gemacht habe. Pinnen vierundzwanzig Stunden dürfe
man nicht eine so wichtige Sitzung wie die heutige Obmänner -
Konferenz einberufen. Was die Erage der Kreiseinteilung betrifft,
sei diese für die Tschechen sogar ein Vorteil. Warum gebe man
also das Pfand aus der Hand, warum präjudiziere man den natio-
nalen Ausgleich und warum gebe man das, was für die anderen
ein Vorteil sein sollte, womit sie auch einverstanden sein müßten,
in einer Form hinaus, die wie ein Hieb empfunden wird? Er ver-
weist schließlich auf die Wirkungen einer Vertagung des Parla-
ments im Ausland und erklärt, die Sozialdemokraten erheben
von den gekennzeichneten Gesichtspunkten ihre Einsprache und
ihre Warnung gegen eine solche Maßregel.
erklärt (allerdings selbst auf kein Gebiet, selbst nicht auf das besetzte
Serbien verzichten wollte!), regten die Deutschbürgerlichen noch mehr auf.
Um die Deutschen zu versöhnen, erließ Dr. v. Seidler eine Verordnung,
die den Schein eines Entgegenkommens an sie vorspiegeln sollte. Statt der
von ihnen verlangten Zweiteilung Böhmens in ein deutsches und ein
tschechisches Kronland ernannte er für national abgegrenzte Kreise zwölf
Kreishauptleute, richtiger: er beförderte zwölf Bezirkshauptleute zu Kreis-
hauptlenten als Gehilfen des Statthalters. Es war eine Verordnung, die
den Tschechen nichts nahm, den Deutschen nichts gab,
eine echt österreichische Lösung. Aber die Form, in der sie den Deutschen
als nationales Zugeständnis gegeben wurde, regte die Tschechen auf, die
ja jeden Anlaß zur Entrüstung über die Regierung begierig ergriffen, und
die Deutschen wieder freute an der Verordnung nichts mehr, als daß sie
die Tschechen aufregte.
Die Aufregung der Tschechen war übrigens auch für Seidler die Haupt-
sache, denn sie gab ihm den Vor wand, das Parlament zu ver-
tagen, da die Tschechen in ihrer ersten Aufwallung bereit schienen, das
Parlament zu zerschlagen.
Als die Vertagung schon mit den Deutschbürgerlichen vereinbart war,
berief Seidler für den 3. Mai noch eine Obmännerkonferenz ein, um den
Schein zu erwecken, daß er konstitutionell handle. In dieser erschienen die
Tschechen und Südslawen nicht mehr. Die Deutschbürgerlichen billigten
die Vertagung.
Daran! sprach Adler.
Seidler regierte noch bis rinde Juli und mußte dann Hussa rek Platz
machen, der wieder im Zusammenbruch der Regierung Lammasch Platz
machte, Dann war es aus.
288 Nationalismus und Internationalismus.
Nationalismus
und Internationalismus.
Das Verbot tschechischer Versammlungen.
Drei Versammlungen am 2 8. Jänner 189 4*).
Adler erinnert an die heftigen nationalen Kämpfe in Böhmen
und an jene Episode, wo in Österreich nichts wichtiger war als die
Entscheidung über die Amtssprache bei einem Bezirksgericht in
Böhmen. Auch in Wien wiederholte sich alljährlich im Qemeinderat
und Landtag eine heftige Szene bezüglich der Komensky-
Schule**) im zehnten Bezirk, die vom Grafen Ha r räch pro-
tegiert wird. Die Herren tschechischen Grafen nehmen sich ihrer
nationalen Genossen in Favoriten an, wenn es ihnen in den Kram
*) Die niederösterreichischen Behörden hatten die Organisation der
tschechischen Arbeiter dadurch zu behindern versucht, daß sie ihre Ver-
sammlungen mit der Begründung verboten, sie hätten keine Beamten, die
tschechisch verstehen, so daß sie also die Versammlungen nicht zu über-
wachen vermöchten. Gegen ein solches Verbot erhoben nun die Einberufer
einer Versammlung in I n z e r s d o r f, wo die Ziegelarbeiter der Wiener-
berger Ziegelwerke vornehmlich Tschechen waren, Beschwerde beim
Reichsgericht, weil sie in ihrem staatsgrundgesetzlich gewährleisteten
Versammlungsrecht verletzt seien. Am 12. Jänner 1894 wurde diese Be-
schwerde abgewiesen und das Reichsgericht erkannte, daß durch das Ver-
bot eine Verletzung des Versammlungsrechtes nicht stattgefunden habe.
Es könne in der Bestimmung, daß der Gebrauch einer anderen als der
deutschen Sprache untersagt sei, keine Verletzung des Gesetzes erblickt
werden. Damit der behördliche Abgeordnete das Überwachungsrecht üben
könne, müsse er auch die Sprache verstehen, woraus folgt, daß die Ver-
handlung in der Sprache erfolgen muß, deren Kenntnis von den Beamten
nach den bestehenden gesetzlichen Vorschriften gefordert werden kann,
derjenigen Sprache, deren sich die mit dem Aufsichtsrecht betraute poli-
tische Behörde erster Instanz im Verkehr mit Parteien als Amtssprache
bedient. Für die Bezirkshauptmannschaft Hietzing-Umgebung sei diese
Amtssprache das Deutsche, womit sich die von dieser Behörde gemachte
Einschränkung bezüglich der Verhandlungssprache als gesetzlich be-
gründet darstelle.
Für den 28. Jänner waren nun drei Protestversammlungen der Wiener
Arbeiter gegen diese Verbote tschechischer Versammlungen und gegen die
Entscheidung des Reichsgerichtes einberufen. Von diesen Versammlungen
war eine tschechisch, zwei deutsch. In der Versammlung in Favoriten
sprach auch Adler.
**) Die tschechische Privatschule, die der „Komensky-Verein" errichtet
hatte.
Das Verbot tschechische! Versammlung 280
paßt Wo es sich aber um das unzweifelhafte Recht tschechischer
Arbeiter in Wien und Umgebung handelt, die von den Staatsgrund-
gesetzen Gebrauch machen wollen und daran gehindert werden.
da schweigen sie, die feudalen Grafen. Freilich, die Komensky-
Seliule hat den /weck, ein Mittelpunkt tschechisch-nationaler Agi-
tation im Sinne von Harrach und Konsorten zu sein, die tschechi-
schen Arbeiter als Schwanz der tschechischen Parteien zu erhalten
und für diesen Zweck sind die Herren Grafen bereit, sogar (ield
zu opfern. In dem Moment aber, wo die tschechischen Arbeiter sich
auf eigene Füße stellen, Sozialdemokraten werden, da sind sie nicht
mehr die Nationsgenossen der Grafen Harrach usw., da. sind sie
Proletarier, die geschurigelt werden müssen und die Herren
klatschen dann Beifall dazu.
Hier handelt es sicli nicht um eine eigentliche natio-
nale Frage im Sinne der nationalen Zwistigkeiten, sondern um
eine Frage der Klasse, des Klassenkampfes, da man den
tschechischen Arbeitern das Recht verkürzen will, sich als klassen-
bewußte Arbeiter zu bewegen. Und das ist der Grund, warum wir
verpflichtet sind, diesem Attentat mit aller Energie entgegenzu-
treten.
Die Gefahr, die in der letzten Entscheidung des Reichsgerichtes
liegt, ist die, daß sie als prinzipieller Beschluß von Bezirkshaupt-
leuten und Polizeidirektionen zitiert werden wird, um das Ver-
sammlungsrecht einzuschränken. Reichsgerichtliche Entscheidungen
sind aber absolut nicht von gesetzlicher Wirkung begleitet; im
Gegenteil, es gibt zu Dutzenden reichsgerichtliche Entscheidungen,
die einander widersprechen; wenn aber schon das Reichsgericht in
solchen Dingen eine Autorität hätte, dann möchten wir die löblichen
Bezirkshauptmannschaften und Polizeidirektionen ersuchen, daß sie
auch jene Urteile des Reichsgerichtes, welche mit dem Geiste des
Staatsgrundgesetzes übereinstimmen, respektieren. So hat das
Reichsgericht wiederholt erklärt, daß es eine Verletzung des Staats-
bürgerrechtes ist, wenn man Arbeiter oder sonstige Personen aus-
weist, abschubiert, weil sie im Streik stehen und augenblicklich
ohne Arbeit sind.
Das Reichsgericht hat seit Jahren sich damit beschäftigen
müssen und trotzdem kommt es fast bei jedem Streik in Böhmen
und Steiermark vor, daß der Herr Bezirkshauptmann die u n-
bequemen Arbeiter einfach abschieben läßt. • Was
aber diesen speziellen Fall anlangt, so wird bei nächster Gelegen-
heit ein neues reichsgerichtliches Urteil provoziert und eine solche
Reihe von Argumenten und Tatsachen vorgeführt werden, daß es
unmöglich sein wird, in demselben Sinne zu urteilen wie heute.
Es ist übrigens bezeichnend für die Koalitionsregierung,
die unter Offenheit und Wahrheit die möglichste Reaktion verbirgt,
daß sie nun auch zur nationalen Frage offen Farbe bekannt hat, in
einer Zeit, wo für die Tschechen in Österreich eine schlechte Zeit
herrscht. So zeigt auch der Gang des Oml adina-Proz esse s*),
) Siehe Bd. VIII, Seite 45.
Adler, Briefe. XI. Bd. 19
290 Nationalismus und Internationalismus.
über den die ParesSe nur spärliche Berichte bringt, daß das Gericht
bemüht ist; einen Zusammenhang der radikal-nationaltschecliischen
Partei mit der Sozialdemokratie herzustellen; namentlich die
deutsch-liberale Presse sucht ihn darzulegen. Um den natio-
nalen Streitigkeiten ein Ende zu machen, gibt es nUr ein
Mittel : die ehrliche De m o k r a t i e, wie sie in der Schweiz
besteht, wo drei Nationen friedlich nebeneinander leben. Ohne aber
den Weg der Freiheit zu betreten, ist eine Beilegung des Streites
unmöglich, er wird nur verewigt; die Regierer leben davon.
Wir werden ihnen diese Möglichkeit benehmen. Das deutsche
und das tschechische, das polnische und ruthenische, das slowe-
nische und das italienische Proletariat, das in chauvinistischen Vor-
stellungen auferzogen und befangen war, wird dem ein Ende be-
reiten. So wird die Sozialdemokratie nicht nur die Rettung für
ökonomische und freiheitliche Interessen sein-, sondern auch die
Rettung für berechtigte nationale Interessen.
Die Völker haben ein Recht zu leben wie die Individuen; heute wird
dieses Recht nur*, hervorgehoben, zum Schutze der Ausbeutung, um
dem Ausschuß der. Ausbeuter die Verfügung über die Geschäfte zu
wahren, um die Völker abzulenken von den wirklichen Interessen,
welche einzig und allein die Sozialdemokratie vertritt. Wir sind der
Überzeugung, daß die heutigen Protestversammlungen in Wien und
im ganzen Reiche bei den Behörden werden verstanden werden.
(Beifall.)
National und antinational.
Tschechische W ä h 1 e r v e r s a m m 1 u n g,
2 8. Februar 18 97*).
Man wirft uns vor, daß wir antinational sincj, und wie wir von
den verlogenen Deutschnationalen beschimpft werden, genau so
fallen die Tschechischnationalen über uns her. Wenn es wahr wäre,
daß die deutschen Sozialisten die deutsche Nation verraten und
den Tschechen nützen, dann müßten ja die „Närodni Listy" ihre
Freude an uns haben, aber die schimpfen über uns und verleumden
uns. Und wenn es wahr wäre, daß unsere tschechischen Genossen
die tschechische Nation verraten und den Deutschen nützen, wie
es die Jungtschechen behaupten, dann müßte ja wieder die
„Deutsche Zeitung" sich darüber freuen, aber diese schimpft über
sie. Das Ganze ist eben nur ein Schwindel, der jetzt gerade vor
den Wahlen wieder aufgewärmt wird, um das Volk zu spalten. Der
Badeni ist eben ein durchtriebener Mensch, ein Mittelstück
zwischen einem polnischen Juden und einem polnischen Scillaen -
zizen. Aber die Arbeiterschaft fliegt nicht auf diesen Schwindel.
Wir stehen auf dem Standpunkt, - daß es für jeden Arbeiter not-
*) An dem gleichen Tag, an dem Adler in der Wahlbewegung über
christliche und jüdische Ausbeutung und über die sozial-
demokratischen , W a h 1 k pst e n sprach (siehe im Kapitel von den
christlichsozialen Wahlargumenten), sprach er auch in einer
Versammlung der tschechischen Arbeiter. ;
I tu lidatur im Wienei Wahlbezirk Favorit« [I. 2$M
wendig ist, daß er sich nicht beschränkl aui die Kenntnis seiner
Muttersprache, Welcher Arbeiter weiß denn heute, ob er nicht
morgen unter Arbeitern wird arbeiten müssen, deren spräche
nicht seine Muttersprache Ist. Wir legen Jäher ein besonderes
Gewicht auf Sprachkenntnisse. Die tschechischnationalen Groß-
mäuler lassen ihre Kinder Deutsch lernen und die deutschnationalen
Großmäuler die ihren Tschechisch. Aber die Herren wünschen,
daLi die Arbeiter so wenig als möglich die andere Landessprache
lernen, damit sie so wenig als möglich von den Unternehmern
bleiben. Diesen Schwindel hat aber die Arbeiterschaft sehr gut
durchschaut, und darum gehen das tschechische und das deutsche
Proletariat geschlossen vor.
Die Kandidatur im Wiener Wahlbezirk
Favoriten IL
„A r b e i t e r - Z e i t u.n g", 10. Februar undlü. Märzl90 7*).
I.
Die Aufstellung der sozialdemokratischen Kandidaturen für
Wien hatte eine Vorgeschichte, deren Inhalt eine bedauerliche
Meinungsverschiedenheit zwischen der deutschen und der tschechi-
schen Organisation in Wien war. Wir waren der Ansicht und es
war stets Tradition der Partei, solche interne Vorgänge, . die
zwischen den kompetenten Korporationen der Partei ausgetragen
werden, nicht ohne Not an die Öffentlichkeit zu bringen und es zu
vermeiden, den Gegnern Anlaß zu absichtlicher Mißdeutung zu
geben. Da es aber unsere tschechische Bruderpresse für angezeigt
gehalten hat, diese Angelegenheit ausführlich zu erörtern, so fällt
für uns jedes Bedenken weg, auch unsererseits darüber zu
sprechen.
Die Wiener „Delnicke Listy" erzählen in einem Leitartikel vom
5. d. ausführlich die Geschichte des Konflikts. Die Landeskonferenz
der tschechischen Sozialdemokraten in Niederösterreich stellte
schon im Oktober die Forderung auf, es sei im oberen Favoritner
Wahlbezirk (zwanzigster Wiener Wahlbezirk) ein tschechischer
Genosse als gemeinsamer Kandidat der deutschen und tschechi-
schen Organisation aufzustellen. Die deutsche Parteivertretung
erklärte schon damals, auf diese Forderung zu ihrem Bedauern
*) In dem zehnten Wiener Bezirk Favoriten, in dem auch tschechische
Arbeiter in größerer Zahl wohnen, hatten bei den ersten Wahlen
unter dem allgemeinen Wahlrecht die tschechischen Sozialdemokraten
den Anspruch erhoben, daß eines der beiden Mandate des Bezirkes
ihnen überlassen werde und sie hatten gerade den proletarischeren Teil
des Bezirkes, in dem Adler kandidierte, während in dem anderen Teil
Reumaini aufgestellt war, in Anspruch genommen. Da das Parteiblatt
der Wiener tschechischen Sozialdemokraten, die „Delnicke" Listy"
(Arbeiterblatt), den Konflikt öffentlich erörterte, hat Adler in zwei Artikeln
darüber auch öffentlich geschrieben.
19*
292 Nationalismus und Internationalismus.
nicht eingehen ZU können, und in demselben Sinne äußerten sich die
Mitglieder der Gesamtexekutive, wie aucli die deutsche Lander-
exekutive, die Reichskonferenz der deutschen Sozialdemokratie und
schließlich die Bezirkskonferenz für Favoriten selbst zu dieser Ent-
scheidung kamen. Bei allen diesen Beratungen wurde eine höchst
eingehende, zum Teil sehr lebhafte, aber durchaus sachliche Dis-
kussion geführt, gelangte jedoch immer wieder zu demselben Er-
gebnis. So wurde denn die Kandidatur des Genossen Dr. Victor
Adler definitiv aufgestellt. Die tschechischen Genossen, die in ihrer
Konferenz am 27. Jänner neuerdings beschlossen hatten, an ihrer
Forderung festzuhalten, erklärten nunmehr in der Bezirkskonferenz
für Favoriten, daß sie über ihr weiteres Verhalten endgültig in einer
in nächster Zeit abzuhaltenden Konferenz schlüssig werden wrürden.
Das sind die dürren Tatsachen, an die die Brünner „R o v n o s V
anknüpft in der Form eines offenen Briefes an Genossen
Adler. Da dieser Brief die Argumentation der tschechischen Ge-
nossen wiedergibt und auch von ihrem Wiener Organ abgedruckt
wird, wollen wir ihn in vollem Umfang mitteilen; er lautet:
Genosse Dr. Adler!
Sie entschuldigen, daß wir uns direkt an Sic wenden in einer An-
gelegenheit, die die tscheehischen Genossen allerorten in höchstem Maße
in Aufregung hält. Wozu sollen wir einen allgemeinen Artikel schreiben
und von den deutschen Genossen und der deutschen Partei schreien,
wenn Ihre Person in diesem neuesten Streite im Vordergrund steht und
Sie auch der Genosse sind, der in unseren Reihen von allen deutschen
Genossen das größte Ansehen genießt.
Die „Delnicke Listy" haben am Dienstag die Geschichte Ihrer Kan-
didatur im 20. Wiener Wahlkreis dargestellt. Sie konstatieren, daß das
Verlangen der tschechischen politischen und gewerkschaftlichen Organi-
sationen, die in Wien an 18.000 Mitglieder zählen, außer den Tausenden,
die in deutschen Organisationen sind, daß ihr Verlangen, es möge in
diesem tschechischesten und zugleich arbeiterreichsten Bezirk irgend-
ein tschechischer Genosse kandidiert werden, abgelehnt wurde. Warum?
Die Wiener Mandate sind zum deutschen Besitzstand gerechnet und die
deutschen Genossen befürchten, daß die Kandidatur eines tschechischen
Sozialdemokraten einen ungünstigen Einfluß auf die anderen Wiener
Bezirke, vielleicht auch auf Deutschböhmen ausüben würde. Ein anderer
Grund besteht nicht, und wir meinen, daß auch die deutschen Genossen
ihn nicht anführen können. Also bloß „taktische" Rücksichten.
Es konnte auch keine anderen Gründe geben. Die tschechischen Ge-
nossen in Wien bilden einen numerisch und moralisch so wichtigen und
ansehnlichen Teil der Wiener Bewegung, daß man über sie nicht still-
schweigend hinweggehen kann. Eine Organisation, die in der fremd-
sprachigen Stadt mit größtem Erfolg ihr Tagblatt herauszugeben ver-
mag, die imstande war, soviel Beispiele genössischer Opferfreudigkeit
und Liebe zur proletarischen Sache zu geben, kann nicht nullifiziert
werden. Die tschechischen Arbeiter bilden in Wien einen der wichtig-
sten Pfeiler unserer Wiener Bewegung und tausende tschechische
sozialdemokratische Stimmen werden in einer ganzen Reihe von Wahl-
kreisen den Erfolg oder Mißerfolg unserer gemeinsamen Sache ent-
scheiden. Auch die Vergangenheit spricht für die Forderung unserer
tschechischen Genossen. Die Kandidatur des Genossen Nemec gegen
Die Kandidatur Im Wiener Wahlbezirk Favoriten II. 293
Lueger im Jahre 1897 war, was das Verhältnis der Stimmen bei ienen
Wahlen betrifft, für unsere Partei prozentuell am günstigsten. Die
deutschen Genossen haben also die Forderung der tschechischen Q<
nossen vollständig anerkannt.
Gründe der Vernunft und der Parteigenossenschafl sind also vor-
handen. Tausende von tschechischen Arbeitern, von Genossen, die ihre
Parteipflichten erfüllen, sind da es gebührt ihnen also das Recht der
Vertretung. Man gibt ihnen nichts umsonst; ihre Stimmen und ihre
Arbeit werden diese eine Vertretung reichlich aufwiegen.
Aber die Gründe haben nicht entschieden, auch nicht die Prinzipien,
die einem jeden eine Vertretung zuerkennen, sondern die Taktik,
taktische Rücksichten! Die Partei muß, insofern sie eine poli-
tische Partei sein und politische Macht erringen will, gewiß auch tak-
tische Rücksichten beobachten. Aber wir haben es uns immer zur Ehre
angerechnet, daß bei uns die Parteigrundsätze über taktische Rück-
sichten gestellt wurden.
Sicherlich ist Ihnen wohl bekannt unser rücksichtsloses Auftreten
gegen das Staatsrecht, unser Verhalten in Prag und anderen Orten im
Jahre 1897 bei den nationalen Krawallen — damals kannten die tsche-
chischen Genossen keine taktischen Rücksichten. Die Prinzipien
Hingen voran! Unsere Genossen im Reiche haben auch lieber Man-
date geopfert, ehe sie den „Mitläufern" Zugeständnisse machten.
Die deutschen Genossen in Wien aber haben am Beginn der neuen
Zeit, die in Österreich angebrochen ist, bei ihrem ersten Schritte der
„Taktik" der Partei eine bedenkliche Konzession gemacht. Und der
Grund, warum wir Sie, Genosse Adler, apostrophieren, ist der, daß
gerade Sie von der deutschen Partei als Kandidat in jenem strittigen
Bezirk aufgestellt wurden, und der Grund, warum wir uns gestatten,
auf diesem in der Partei ungewöhnlichen Wege zu sprechen, ist der,
daß Sie im vorigen Jahre der Schiedsrichter bei den Parteizwistigkeiten
in Brunn waren.
Sie kamen nach Brunn, um Frieden in der Partei zu schaffen, um
den Streit beizulegen, der deshalb entstanden war, weil die deutsche
Minorität in allen Institutionen, die die Partei verwaltet, herrschen
wollte. In einem Institut, wo von 25.000 Mitgliedern kaum ein Viertel
deutsch ist, wollten sie herrschen und in einem zweiten, wo das Ver-
hältnis dasselbe ist, herrschen sie noch jetzt.
Mit Rücksicht auf den Eindruck draußen, mit Rücksicht auf die poli-
tischen Verhältnisse stimmten wir damals einem Frieden zu, der, das
gestehen wir offen, die Verhältnisse noch lange nicht gerecht regelte.
Damals haben Sie sich auf die Gerechtigkeit unserer Majo-
rität, auf die Gerechtigkeit einer Minoritätsvertre-
tung berufen. Wir als prinzipielle Leute sind auf diesen Grundsatz
eingegangen. Heute können wir aber in Konsequenz dessen verlangen,
daß mit gleicher Elle auch der Minorität der tschechischen Genossen
in Wien gemessen werde. Die „Taktik" kann doch nicht unsere Grund-
sätze in den Staub treten! Unsere „Taktik" in Österreich
bedeutet nicht, daß man alles Deutsche in der Partei
so begünstigen muß, wie es im Staate Österreich ge-
schieht!
Sie sind aber selbst als Kandidat der deutschen
Genossen im 2 0. Wahlkreis aufgestellt. Gewiß deshalb,
weil die deutschen Genossen damit rechnen, daß sich Ihre Person
großer Beliebtheit bei den tschechischen Genossen erfreut. Sie haben
immer als n a t i o u a 1 g e r e C h t gegolten. Sie waren immer der Vcr-
294 Nationalismus und Internationalismus.
mittler bei allen Streitigkeiten in der Partei und haben mehr als einmal
uns reeht gegeben.
Nun aber ist gerade Ihre Person in den Vordergrund dieses Streites
gestellt, und das trifft uns um so schmerzlicher, als wir gerade in
Ihnen immer einen Genossen gesehen haben, der
streng auf den Grundsätzen der Partei steht, einen
Genossen, der immer und allein auf die Interessen
unserer österreichischen Internationale Rücksicht
nimmt. Das ist Ihr Lebenswerk, das man im Ausland bewundert, daß
Sie (allerdings unter der tätigen Mitwirkung unserer älteren Genossen)
es vermocht haben, das Proletariat aller Nationen dieses
sonderbaren Staates zu gemeinsamer Aktion zu ver-
einigen. Und gerade wenn dieses Werk damit gekrönt werden soll,
daß das österreichische Proletariat sich rüstet, ein einflußreicher Faktor
im Staate zu werden, gerade in diesem Augenblick kommen Sie selbst
und versetzen durch Ihr Auftreten der Einigkeit unserer Partei einen
schweren Schlag.
Niemand von uns wünscht, daß das gemeinsame Vorgehen der öster-
reichischen Arbeiterschaft gefährdet werd«, aber es gibt viele bedenk-
liche Zeichen, die uns zwingen, daß wir uns für die Zukunft vorbereiten.
Wir können nur als Gleiche neben Gleichen gehen, als v o 1 1-
berechtigte Faktoren der sozialistischen Inter-
nationale, aber ganz entschieden werden wir nicht dulden, daß aus
„taktischen" Rücksichten unsere prinzipiellen Anschauungen nieder-
getreten werden. Hinzutreten und hier ein entschiedenes Wort zu sagen,
sind wir unseren Grundsätzen und unserer Zukunft schuldig, selbst
Wenn wir unseren eigenen Weg gehen sollten.
Wir hoffen, daß Sie alles erwägen werden. Sie haben immer zur
rechten Zeit den rechten Weg gefunden.
Briin n, 7. Februar 1907.
Die Redaktion der „R ovnos V.
Der Brief der „Rovnost" wendet sich an mich persönlich, und so
muß ich wohl auch selbst darauf antworten. Allerdings finde ich,
daß die Adresse dieser Erörterung durchaus nicht richtig gewählt
ist. Denn die Aufstellung dieser Kandidatur in Favoriten II ist nicht
meine persönliche Angelegenheit, sondern der Wille und das Werk
der deutschen Sozialdemokratie in Wien und Niederösterreich und
ist der Beschluß der Vertrauensmänner jenes Wahlbezirkes selbst.
Persönlich kommt nur das einzige Moment in Frage, daß ich in
Favoriten stets kandidiert habe, solange sich die Partei überhaupt
an Wahlen beteiligt. Da ich aber annehmen darf, daß auch die
tschechischen Genossen mich nicht als einen ungeeigneten Kandi-
daten überhaupt ansehen, sich ihr Widerspruch also nicht gegen
meine Person, sondern gegen die Ablehnung ihrer Forderung
richtet, kann und muß alles Persönliche aus der Erörterung aus-
scheiden.
Und nun zur Sache. Nichts ist uns deutschen Sozialdemokraten
begreiflicher, als daß unsere tschechischen Genossen in Niederöster-
reich den Wunsch hegen, als nationale Organisation eine politische
Vertretung in den parlamentarischen Körperschaften zu erreichen.
Sie haben sich zu unserer Freude eine achtunggebietende Organi-
sation aufgerichtet, haben Seite an Seite mit uns alle unsere Kämpfe
Dil- Kandidatur im Wienei Wahlbezirk Favoriten 11.
geführt, haben sich ein heute durchaus lebensfähiges lagblatl ge-
schaffen, und wir deutschen Sozialdemokraten haben, diese1, Zeug
nis werden sie uns nicht Versagen wollen, sie- dabei nicht nur nicht
gehindert, sondern, so weit unsere Kräfte reichten, auch pflicht-
gemäß unterstützt. Wenn es, wie unvermeidlich, gelegentlich* zu
Schwierigkeiten und Reibungen gekommen ist, haben die ältesten
und erfahrensten Genossen alles getan, um sie zu beseitigen und den
Frieden aufrechtziihalten. Die nationale Scheidung der Organisation
war am wenigsten die Sehnsucht der deutschen Sozialdemokraten:
aber wir haben uns der Notwendigkeit ohne Widerstand gefügt und
sie ehrlich durchzufüreu geholfen. Als es noch Hindernisse gab für
die öffentliche politische Betätigung der tschechischen Arbeiter, als
man tschechische Versammlungen verbot, haben wir geholfen, diese
Vergewaltigung zu beseitigen.' Wir glauben also in aller Bescheiden-
heit, unsere Pflicht internationaler Solidarität stets redlich erfüllt
zu haben. Wir sind weiter gegangen und daraus wollen merk-
würdigerweise unsere tschechischen Genossen eine Waffe gegen
uns mächen: wir haben bei den Wahlen im Jahre 1897 im dritten
Wiener Wahlkreis einen Kandidaten tschechischer Nationalität auf-
gestellt, den Genossen Nemec, und wir haben auch sonst gelegent-
lich tschechische Genossen als Zählkandidaten in einzelnen Be-
zirken nominiert. Aber die tschechischen Genossen sind im Irrtum,
wenn sie insbesondere aus der Kandidatur Nemec' ein Präjudiz ab-
leiten wollen. Damals (1897) war die Trennung der Partei in natio-
nale Gruppen kaum noch angedeutet, geschweige durchgeführt wie
heute; Genosse Nemec war Redakteur eines tschechischen Partei-
blattes, aber er arbeitete in der Wiener Gesamtorganisation und,
was das Wichtigste ist, seine Aufstellung war nicht das Ergebnis
einer tschechischen „Forderung", wie sie heute aufgestellt wird, er
sollte keineswegs Vertreter einer tschechischen Minorität, sondern
der sozialdemokratischen Gesamtheit sein.. Damit fällt dieses Argu-
ment in sich zusammen und es bleibt davon nichts übrig als die Tat-
sache, daß für die deutschen Sozialdemokraten die Zugehörigkeit
des Genossen Nemec zum tschechischen Volke kein Hindernis war,
ihn, den sie als einen tüchtigen und zum Abgeordneten wohlbefähig-
ten Mann erkannten, in den Reichsrat zu schicken. Hoffentlich wird,
was damals in Wien nicht gelungen, jetzt in Böhmen geschehen.
Aber aus jenem Vorgang einen Vorwurf gegen uns zu schmieden,
wird nicht sehr aussichtsvoll sein.
Die ,-,Rovnost" behauptet, daß wir das „P r i n z i p" verletzen
und der „Taktik" unterordnen. Da. dürfen wir zunächst fragen:
Welches ist das „Prinzip", das wir verletzt haben sollen? Die neue
Wahlordnung hat in schweren Kämpfen dazu geführt, daß die Wahl-
bezirke möglichst national abgegrenzt wurden. Es wurden nicht nur
für die Deutschen, sondern, ebenso für die Tschechen und alle
anderen Völker möglichst national einheitliche Wahlbezirke ge-
schaffen. Ob die. Zuteilung der Mandate an die einzelnen Nationen
gerecht ist oder nicht, ist eine Erage, die hier nicht mitspielt; jeden-
falls ist die Wählerschaft außerstande, das (iesetz zu ändern, was
doch nur das Parlament kann. Zuzugeben ist, daß in einzelnen Wahl-
296 Nationalismus und Internationalismus.
kreisen trotz alledem mehr oder minder beträchtliche nationale
Minoritäten existieren, die in der andersnationalen Majorität aufzu-
gehen verurteilt sind; das ist nicht nur in Niederösterreich und in
Wien, sondern auch in Böhmen, in Dux wie in Pilsen, in Hudweis,
m Prag der Fall; das passiert den Deutschen auch in Kärnten, den
Slowenen in Steiermark und so fort. Diese letzten Ungenauigkeiten
nationaler Abgrenzung könnten nur durch ein Proportionalwahl-
system oder durch den nationalen Kataster, wie in Mähren, be-
seitigt werden, jedenfalls nur auf dem Wege eines neuen Ge-
setzes. Heute gibt es in Österreich von Gesetzes wegen nur
national abgegrenzte Wahlkreise und die Wählerschaft L s t a u 8 er-
stand e, eine Minoritätenvertretung zu schaffen,
ohne der Majorität ihre Vertretung zu nehmen. Ob
in Zukunft eine gesetzliche Minoritätsvertretung
auch zugunsten der Tschechen in Niederösterreich in Wien anzu-
streben ist und wie sie aussehen soll, darüber möge die sozialdemo-
kratische Fraktion und unser gemeinsamer Parteitag beraten. Heute
besteht die Tatsache, daß es auch in Wien nur deutsche Wahl-
bezirke gibt, in demselben Sinn, wie Budweis ein tschechischer
Wahlkreis, Ferlach in Kärnten ein slowenischer Wahlbezirk ist.
trotz ihrer deutschen Minoritäten. Auch Favoriten II ist im Sinne
des bestehenden Gesetzes ein deutscher Wahlkreis trotz seiner
nicht unbeträchtlichen tschechischen Minorität.
Die Tatsache, daß die große Majorität der Wählerschaft von
Favoriten deutsch ist, wird kaum bestritten werden, und ebenso-
wenig die weitere, für uns sehr wichtige Tatsache, daß auch die
Majorität der Arbeiterschaft deutsch ist und daß die Zahl
der organisierten deutschen Arbeiter in diesem Bezirk
mindestens dreimal so groß ist wie die der organisierten tsche-
chischen Arbeiter. Wir fragen nun: welches „P r i n z i p" ist es, das
die tschechischen Genossen anrufen können, um die Forderung zu
begründen, daß in einem vom Gesetz den Deutschen zugeteilten und
wirklich seiner überwiegenden Majorität — der Bevölkerung wie der
Sozialdemokraten — nach deutschen Bezirk ein der tschechischen
Organisation angehöriger Genosse zum Abgeordneten gewählt
werde? Daß die Minorität berechtigt ist, eine gesetzlich garantierte
Vertretung zu fordern, geben wir gern zu, aber wenn es ungerecht
ist, die Minorität nicht vertreten zu lassen, um wie viel ungerechter
wäre es, der Majorität ihre Vertretung zu nehmen? Welches
„P r i n z i p" verlangt von uns, so frage ich noch einmal, die Ver-
tretung der deutschen Sozialdemokratie um einen Mann zu ver-
kürzen und die Vertretung der tschechischen Sozialdemokratie um
einen Mann zu vermehren? Wir wünschen der tschechischen Sozial-
demokratie ausgiebigste Erfolge und was an uns liegt, um ihr dazu
zu helfen, soll ebenso freudig geschehen, wie wir von den tschechi-
schen Genossen solidarische Hilfe erwarten dürfen. Aber die tsche-
chischen Genossen werden selbstverständlich ihre Mandate, wie wir
alle, von den Gegnern erkämpfen müssen, nicht von den Freunden.
Wir deutschen Sozialdemokraten werden überall, wo wir in der
Minorität sind — und es gibt Bezirke, wo diese Minorität beträcht-
Die Kandidatin im Wiener Wahlbezirk Favoriten II. 297
Meli ist und entscheidend werden kann wie ein Mann für den
anderssprachigen Genossen eintreten und das scheint mir dieein-
zigePraxiszu sein, die das Prin / i p d e r i n t e r n a t i o-
n a 1 e n Solidarität z u I ä ß t.
Nim könnte man die Saclie vielleicht anders beurteilen, wenn
dadurch, daß der in seiner Majorität deutsche Bezirk durch einen
deutschen Sozialdemokraten vertreten wird, irgendein Interesse
der tschechischen Minorität unvertreten bleiben würde. Aber auch
das scheint uns nicht der Fall zu sein: die gemeinsamen prole-
tarischen Forderungen wird der deutsche Genosse, mag er sein,
wer er will, ebenso kräftig und wirksam zu vertreten in öi:r Lage
sein, wie es ein tschechischer Genosse könnte, und die der Ver-
tretung speziell nationalen Forderungen der tschechischen Sozial-
demokraten werden die von ihnen in Böhmen und Mähren ge-
wählten Abgeordneten gewiß nicht schlechter besorgen, als es ein
in Favoriten gewählter zu tun vermöchte. Also auch nach dieser
Richtung ist kein Grund da, auf eines der den deutschen Sozial-
demokraten zukommenden Mandate zu verzichten, wobei auch der
Umstand erwogen werden wolle, daß wir von der Wahlbezirks-
einteilung sehr stiefmütterlich behandelt worden sind und, auch
wenn wir vom Wahlglück begünstigt sein sollten, nicht annähernd
die der deutschen Arbeiterschaft gebührende Vertretung haben
werden.
Nun klagen uns die tschechischen Genossen an, daß wir das
„Prinzip", dessen Nichtexistenz wir soeben nachgewiesen, den
„taktischen Rücksichten" geopfert hätten, der Rücksicht, nicht
unseren Erfolg in einer Anzahl anderer, niederösterreichischer und
böhmischer Wahlkreise zu gefährden. Es war kein Prinzip zu
opfern, das sei wiederholt; aber ohne weiteres sei ganz offen zu-
gestanden, daß bei den deutschen Genossen neben den soeben dar-
gelegten Gründen auch die Einsicht obwaltete, daß es eine Torheit
wäre, unseren deutschnationalen Chauvinisten eine Waffe in die
Hand zu geben, mit der sie die indifferente Masse aufpeitschen und
als Stimmvieh gegen uns werben könnten. Ob dadurch Wahlkreise
verlorengehen könnten, wissen wir nicht. Wenn es aber eine solche
Gefahr gäbe, dann, glaube ich, müßten auch die tschechi-
schen Genossen eine solche Gefahr zu vermeiden suchen und
solche „taktische Rücksicht" gelten lassen. Oder nicht? Wie viele
Mandate deutscher Sozialdemokraten ist es wert, den Wunsch zu
verwirklichen, in Favoriten anstatt eines deutschen Genossen einen
tschechischen Genossen gewählt zu sehen? Nein! Ich, der ich seit
zwanzig Jahren mit den tschechischen Genossen in engster Fühlung
stehe, mit ihnen in guten und in schlechten Zeiten gemeinsam ge-
arbeitet habe, ich kann nicht glauben, daß sie bei ruhiger Über-
legung sich der Einsicht verschließen können, daß wir deutschen
Sozialdemokraten gehandelt haben, wie wir handeln
m u ß t e n.
Es ist uns nicht leicht geworden, den Herzenswunsch der tsche-
chischen Genossen unerfüllt zu lassen. Wir verstehen sehr gut. daß
sie den schweren Mangel unseres Wahlgesetzes, das ihnen keine
Nationalismus und Internationalismus
Minoritätenvertretung zugesteht, schwer empfinden. Aber sie
werden schließlich begreifen, daß dieser Mangel der Gesetzgebung
nicht auf dem Wege gutzumachen ist, den sie sich ausgedacht
haben, nicht von einer einzelnen Partei, gewissermaßen in eigener
Regie, ausgeglichen werden kann. Sie werden begreifen, daß wir
sie, die tschechische Sozialdemokratie, darum nicht minder „als
Gleiche, als vollberechtigtes Glied der Internationale" betrachten,
weil wir ein Verlangen nicht erfüllen, das prinzipiell und
praktisch gleichermaßen unerfüllbar ist. Mag heute
manche Bitterkeit daraus erwachsen, mag es den tschechischen Ge-
nossen schwer werden, die durch die Diskussion aufgeregten Leiden-
schaften zur Ruhe zu bringen, mag auch das Schüren der bürger-
lichen Hetzpresse auf manche weniger durchgebildete Kreise nicht
ohne Wirkung sein: schließlich wird die Einsicht siegen, daß wir
der deutschen und damit auch der tschechischen
Sozialdemokratie einen schlechten Dienst er-
wiesen hätten, würden wir uns ihrem Wunsche gefügt haben.
Denn jede Schädigung eines Zweiges der Internationale wirkt auf
alle ihre Zweige zurück.
Wir dürfen ruhigen Gewissens sagen : Wir haben alles er-
wogen und sind uns bewußt, daß wir den rechten Weg gehen.
Victor Adler.
II.
Die Frage der tschechischen Kandidatur in Favoriten hat durch
den Beschluß der Landeskonferenz der tschechischen Genossen
einen vorläufigen Abschluß gefunden und ist, soweit praktisch die
bevorstehenden Wahlen in Betracht kommen, erledigt. Die be-
schlossene Resolution zeigt deutlich die Spuren der Erregung
unserer tschechischen Genossen darüber, daß ihr Wunsch nicht er-
füllt wurde und, wie wir hinzufügen, nicht erfüllt werden konnte;
aber sie ist auch ein Zeugnis dafür, daß in ihnen, trotz mancher
Meinungsverschiedenheit im einzelnen, das Bewußtsein der prole-
tarischen Solidarität lebendig ist. Es war uns auch nicht einen
Moment lang zweifelhaft, daß die Hoffnungen unserer Gegner, aus
dem Streite über das Favoritner Mandat zum Schaden der Sozial-
demokratie Profit ziehen zu können, an dem gesunden Sinn der
tschechischen Arbeiterschaft zuschanden werden würden.
Unter diesen Umständen erscheint eine nochmalige theoretische
Auseinandersetzung gegenwärtig weder notwendig noch ersprieß-
lich. Unsere tschechischen Bruderorgane „Prävo Lidu", „Delnicke
Listy" und „Rovnost"*) haben an meine Ausführungen über diesen
Gegenstand eine ziemlich umfangreiche und zum Teil recht heftige
Polemik geknüpft, auf deren wesentlichen Inhalt in ruhigeren Zeiten
zurückzukommen sein wird. Es wäre ebenso unklug wie ungerecht,
jedes, erregte Wort, das in der Hitze dieser Diskussion gefallen ist,
auf die (ioldwage zu legen, und nur um festzustellen, wie hoch der
*) „Prävo Lidu" (Volksrecht) in Prag, „Delnicke Listy" (Arbeiter-
Zeitung) in Wien und „Rovnost" (Gleichheit) in Brunn. Alle drei Blätter
erscheinen noch immer; die „Rovnost" ist aber kommunistisch.
indidatur in I n il n II.
Qrad dieser Hitze gelegentlich gestiegen, soll angeführt werden, daß,
um ein Beispiel herauszugreifen, die „D&lnicke Listy" die deutschen
Sozialdemokraten beschuldigen, daß sie „um Mandate das Prinzip
in i\v\\ Staub treten". Mit diesen Starken Worten ist nichts ;mderes
bezeichnet als die Tatsache, dal.» in einem seiner großen Majorität
nach deutschen Wahlkreis ein deutscher Sozialdemokrat aufgestellt
wird: Ms ist selbstverständlich ganz unmöglich-, im gegenwärtigen
Moment die tschechischen Genossen zu überzeugen, daß eins
„Prinzip", das sie sich zurechtgelegt haben, um ihren Anspruch auf
ein tschechisches Mandat in Favoriten zu begründen, nichts weniger
als ein Prinzip sei. Aber wenn sie meinen, daß die deutschen Sozial-
demokraten die Verpflichtung hätten, nicht nur die fehlende Minori-
tätsvertretung aus eigenem beizustellen, sondern auch die Ver-
kürzung, die die Tschechen überhaupt bei Feststellung der Mandats-
ziffern erfahren haben, gutzumachen, so überschätzen sie doch ein
wenig unsere Macht und unseren Reichtum an Mandaten. Wenn dem
tschechischen Volke zu wenig Mandate zugebilligt wurden, ist das
etwa zugunsten der deutschen Arbeiter geschehen? Oder sind
diese nicht vielmehr noch weit stärker verkürzt worden, als das
tschechische Volk in seiner Gesamtheit? Das „Prävo Lidu" hält uns
vor, daß die Deutschen auf 39.363 Einwohner, die Tschechen erst
auf 55.118 Einwohner ein Mandat erhalten haben. Das ist ein durch
nichts gerechtfertigtes politisches Unrecht, überdies ein politischer
Fehler, und der sozialdemokratische Vertreter im Wahlreformaus-
schuß ist den übergreifenden Ansprüchen der deutsch'böhmischen
Chauvinisten nach Kräften entgegengetreten. Aber was beweist das
für den Favoritner Fall? Gehören die deutschen Arbeiter oder gar
erst die Wiener Arbeiter zu den Bevorzugten? Wieviel Mandate
müßten Favoriten und Ottakring haben, wenn für diese proletari-
schen Bezirke die Durchschnittsziffer 39.363 maßgebend wäre? Es
ist also ein Mißverständnis, wenn uns zugemutet wird, daß wir ein
Unrecht, das an uns selbst in mindestens ebenso starkem Maße ver-
übt wurde, im eigenen Wirkungskreise gutmachen sollen oder auch
nur können. Das Gesetz muß eben, so bald als nur möglich, geändert
werden, darum haben alle Proletarier, deutsche wie tschechische,
das gleiche Interesse, und daran werden sie gemeinsam arbeiten.
Damit erledigt sich auch der Vorwurf, daß wir das ungerechte
Gesetz „anerkennen". Wenn ein Gesetz „anerkennen" heißen soll,
es für gut halten, dann sind wir weit davon entfernt es anzu-
erkennen; wenn „anerkennen" aber bedeutet, mit dem . Gesetz als
einer jetzt und bis auf weiteres bestehenden Tatsache rechnen und
sich darauf einrichten, dann allerdings „anerkennen" wir die Tat-
sache, daß das Gesetz den Deutschen eine Anzahl von Mandaten zu-
gemessen hat, wovon eine möglichst große Zahl für die deutsche
Sozialdemokratie zu erobern unsere Pflicht ist.
Auf eine Bemerkung der Brünner „RovuosT muß noch ein-
gegangen werden, um einer Legendenbildung vorzubeugen. Die
,,'Rovnost" schreibt: „Die tschechischen Genossen in Wien haben
eine gesetzliche Vertretung angestrebt; aber es war gerade Doktor
A dl e r, der von dieser Forderung abriet, damit die Wahlrefonn
300 Nationalismus und Internationalismus.
mein gefährdet werde. Man ging schließlich noch weiter. Der
Widerstand der tschechischen Bürgerlichen gegen die Wahlreform
wurde durch die Versicherung von sozialdemokrati-
scher Seite verringert, daß die tschechischen Sozialdemokraten
in Wien eine Vertretung erhalten werden. Darum wurde die
Forderung einer Vertretung der tschechischen Minorität in Wien
nicht bis zum Äußersten verteidigt. Vielleicht ist das genügend..."
Der erste Teil dieser Erzählung ist durchaus richtig. Als es sich
in einem sehr frühen und sehr kritischen Stadium der Wahlreform
darum handelte, oh die Wiener tschechischen Genossen die Forde-
rung einer tschechischen Minoritäten Vertretung in Niederösterreich
zum Gegenstand einer Aktion und eventuell von Demonstrations-
versammlungen machen sollen, mußte ihnen pflichtgemäß gesagt
werden, daß es unklug und gefährlich wäre, die Schwierigkeiten für
die Wahireform auf diese Weise zu erhöhen und den sich gegen sie
sträubenden deutschen Parteien billige Vorwände zu geben. Dagegen
ist der zweite Teil der Geschichte völlig frei erfunden und
wird von der „Rovnost" in offenbar gutem Glauben weitererzählt.
Wer ist der „m a n", der „weiter gegangen" ist, und wer hat wem
was „versichert"?? Daß diese angebliche Versicherung als Grund
dafür aufgeführt wird, daß die Tschechischbürgerlichen die Forde-
rungen der Tschechen nicht bis zum Äußersten verteidigten, läßt auf
die eigentliche Quelle des ßrüuner Märchens schließen; in Wien hat
man den tschechischen Genossen wieder vorerzählt, die deutschen
Sozialdemokraten hätten das Zugeständnis des zweiten Favoritner
Mandats nur gegen das Versprechen erhalten, es werde dort kein
Tscheche gewählt werden. Selbstverständlich sind beide Be-
hauptungen gleichermaßen erlogen und damit ist
diese Sache ein für allemal abgetan, die nur zeigt, wer ein Inter-
esse daran hat, Unfrieden und Mißtrauen zwischen deutschen und
tschechischen Sozialdemokraten zu säen.
Der Streit um das Favoritner Mandat ist nun zunächst erledigt
und die tschechischen Genossen, die in ihrem Unmut meinen, sie
hätten ihr „Recht" der „Macht" der Deutschen unterordnen müssen,
werden hoffentlich bald zur Überzeugung kommen, daß sie sich nicht
der Macht, sondern der Notwendigkeit und der Logik der Dinge ge-
fügt haben. In Wien und Niederösterreich werden wir, wie im ganzen
Reiche, gemeinsam in den Kampf gegen den gemeinsamen Feind
des Proletariats eintreten. Damit aber sollen diese taktischen und
organisatorischen Schwierigkeiten, für die das Favoritner Problem
nur ein kleines Symptom ist, weder vertuscht noch umgangen wer-
den. Die Durchführung der nationalen Autonomie ist auch in unserer
Parteiorganisation keine leichte und keine einfache Sache und wir
werden ernst zu arbeiten haben, um sie zu bewältigen. Dabei die
Einheit und vor allem die Einigkeit der Sozialdemokratie aller
Nationen aufrechtzuerhalten, ist das wichtigste Interesse des Prole-
tariats ohne Unterschied der Nation. An dieser Einheit und Einigkeit
haben alle nationalen Organisationen des Proletariats das gleiche
Interesse, die Deutschen nicht mehr wie die Tschechen, die Tsche-
chen nicht minder wie die Deutschen. Wenn diese alte, einfache aber
Internationale Vei bi Liderung, 301
entscheidende Wahrheit in der Hitze der Polemik mitunter ver-
gessen zu werden scheint, ist das Unglück nicht groß; würde sie im
Tun vernachlässigt, dann würde sieh das freilich bitter rächen. Aber
dafür, daß das nicht geschieht, wird die Einsicht in die lebendigen
Notwendigkeiten des Proletariats sorgen. Nielit wechselnde Laune
bestimmt das Verhältnis /.wischen deutscher unil tschechischer
Sozialdemokratie, sondern die eiserne Not. des gemeinsamen
Kampfes erzwingt und wird erzwingen unsere unzerreißbare Soli-
darität. V. A.
Internationale Verbrüderung.
Da s Fest a m 13 od en see, ü. Juli I 905*).
Jeder ihü.u sich prüfen, ob er das Beste und
Letzte bereits getan für unsere S a c h e, o b e r b e-
r e i t ist, nicht nur i m letzten Kampf e, sonder n
li e u t e, täglich und. stündlich auf dem weiten Wege,
den das Proletariat zu seinem Ziele zurücklegen
muß, sich selbst in i t j e d e in N e r v, mit jedem Blut s-
tropfen zu opfern!...
Ich beneide die deutschen Sozialdemokraten darum, daß sie eine
noch dümmere Regierung haben als wir. (Heiterkeit.) Schlimm
genug, daß ein Österreicher, dessen Staatsmänner doch gewiß das
Pulver nicht erfunden haben, das sagen muß! (Heiterkeit.) Eine
europäische Blamage ist's, was in Berlin und Konstanz ge-
schehen ist. (Laute Zustimmung.) Aber diese Blamagen sind nur
die Folge der A n g s t der Herrschenden. Die Furcht ist ein
schlechter Ratgeber und mit der Vernunft können sie es nicht
mehr richten. (Heiterkeit.) Sie fürchten nicht unsere Arme — alle
Gewalt haben ja noch s i e. Aber sie fühlen instinktiv, daß an der
sieghaften Macht der Idee, deren Verkörperung die Sozialdemo-
kratie ist, ihre Waffen zersplittern werden. Gerade die letzten Mo-
*) Für den 9. Juli 1905 hatten die Sozialdemokraten der am Bodensee
liegenden Staaten, Deutschland. Österreich und die Schweiz, ein inter-
nationales Verbrüderungsfest nach Konstanz einberufen. Die badische
Regierung hatte das Militär in den Kasernen konsigniert und jedem Sol-
daten 25 scharfe Patronen gegeben, als ob die internationale Revolution
drohte. Ja vom Festplatz war zur Kaserne eine eigene Telephonleitung
gelegt worden. Noch vor Beginn des Festes überbrachten zwei Polizisten
den Einberufen] Adler und Greulich einen Erlaß des großherzoglich
badischen Bezirksamtes, daß den ausländischen Sozialdemokraten das Auf-
treten in der Versammlung verboten sei. Nachmittags kam auch noch ein
Telegramm der badischen Regierung, das für den Fall der Zuwiderhandlung
die Ausweisung androhte. Nachmittag sollte am Hussenstein, wo Johannes
fi u ß verbrannt worden war, die Versammlung stattfinden.
Dort sprach zunächst August B e b e 1. Nach seiner Ansprache zogen die
Massen, da auch der geschlossene Zug verboten war, in losen Gruppen zu
einem zehn Minuten entfernten Haus, das bereits zu dem Schweizer Dorfe
Kreuzungen gehörte. Auf einer Wiese am Haus fand nun die Ver-
sammlung statt. Nachdem Hermann Greulich kurz die Erschienen be-
grüßt hatte, sprach Adler.
302 Nationalismus und Internationalismus.
nate mit den entsetzlichen Todeszuckungen des Zarismus gemahnen
sie an ihr eigenes Schicksal, das sich erfüllen wird. Wir wollen i n
Friedet! Revolution machen — nicht etwa aus prinzipieller Ab-
neigung gegen die Gewalt. Wüßte einer, daß die Anwendung der
(iewalt den Kapitalismus beseitigen koante und übte nicht Gewalt
- es wäre ein Verbrechen angesichts des Meeres von Blut
und Tränen, in dem der Kapitalismus watet, angesichts der un-
geheuerlichen Verbrechen, die er täglich um sich häuft. Wir aber
wissen, daß der ein Tor ist, der an die Gewalt appelliert, ohne daß
er sie hat, und daß sie nur angewendet werden kann, wenn eine
Klasse in ihrer Gesamtheit sich ihres Willens und ihrer Kraft bewußt
geworden ist. Darum lehnen wir ihre Anwendung heute ab. Ist's
aber einmal so weit, dann wird ihre Anwendung hoffentlich über-
flüssig sein. Den Unterdrückten, den Geknechteten, denen, die am
Boden liegen — wir geben ihnen Menschenwürde, Hoffnung, einen
Willen zu gemeinsamem Handeln. Aus der Ohnmacht der einzelnen
Proletarier schaffen wir den festen, unbesiegbaren Gesamtwillen
des Proletariats. (Laute Zustimmung.)
Wir Österreicher kommen so gern über die Grenze — wir haben
ein Land, aber ein Vaterland haben wir nicht. Es gibt keinen
Staat Österreich. Ein deutscher Dichter hat zwar einmal gesagt:
Der Österreicher hat ein Vaterland, er liebt's und hat auch Ursaclv,
es zu lieben. Aber, Genossen, der das gesagt hat, war kein Öster-
reicher und war — ein Dichter. (Stürmische Heiterkeit.) Ihr
Deutschen habt es gut! Ihr könnt den Staat untergraben! Wir öster-
reichischen Sozialdemokraten aber müssen aus dem jammervollen
Chaos Österreichs erst schaffen, was wir untergraben
wollen. (Stürmische Heiterkeit.) Wenn ihr von Österreich wahn-
witzige Dinge hört, die ihr nicht versteht — glaubt, es gibt auch
dort vernünftige und einsichtsvolle Leute, sie stehen in der Sozial-
demokratie! In dem wahnwitzigen Hader der Nationalitäten in
Österreich ist es eine ruhmvolle Tatsache, daß ich heute hier
sprechen darf nicht nur im Namen der Tschechen, Italiener, Slo-
wenen, die in Reih und Glied stehen im brüderlichen Heere der
Sozialdemokratie. Sie haben durchaus ihr nationales Bewußtsein
nicht aufgegeben; aber derlei Torheiten, wie der Streit, ob auf den
Fahnen ein doppelköpfiger Adler oder eine andere Mißgeburt
(Heiterkeit) stehen soll, sind ihnen fremd. Die Arbeiterklasse Öster-
reichs kennt ihr Banner — es ist das rote Banner der Befreiung!
Was wir ersehnt, seit wir denken, die russische Revolution, ist
endlich Tatsache geworden. In Rußland sind Kräfte lebendig ge-
worden, die ankündigen, daß wir vor großen Dingen stehen. Wohl
wissen unsere Gegner, wie unsere Kader sich füllen — nicht aber
wissen sie, was noch fehlt. Lang und breit ist die Straße, die wir
gehen müssen: aber wir werden sie gehen bis ans Ende, so gewiß
die Zukunft der Arbeiterklasse und das Heil der Menschheit davon
abhängen . . .*)
;*) Nachdem Adler geschlossen hatte, zogen die Teilnehmer wieder
zurück nach Konstanz, wo das Fest der Verbrüderung stattfand.
I >m s; 23 des östei i eii hisi heu I *i eßgi ■ ■ tzi
Der Kampf um die Preßfreiheit.
Der § 23 des österreichischen Preß-
gesetzes.
Von Dr. Victor Adler,
Herausgeber der „A r b e i t e r- Z e i t u n g"*).
Einleitung.
Wieder einmal steht die Reform der P r e ß g e s e t z-
g e b u n g auf der Tagesordnung. Eine Reihe von Anträgen liegt
dem Abgeordnetenhaus vor, ein eigener Ausschuß ist mit ihrer
Vorberatung beschäftigt, und die Herren Politiker tun so, als
*) In der von L. A. Bretschneider herausgegebenen „Wiener Politischen
Volksbibliothek'', in der später auch die im zehnten Band abgedruckte
Broschüre über das allgemeine Wahlrecht als viertes Heft herauskam,
erschien im Jahre 1891 als zweites Heft Adlers Broschüre „Der § 23 des
österreichischen Preßgesetzes". Der § 23, der das .Verbreiten von Druck-
schriften außerhalb der hiefür bestimmten Räume verbot, war von allen
Beschränkungen der Preßfreiheit die drückendste. Wohl wurde er meist
ganz offen übertreten und wohl kam der geklagte Übertreter meist
mit zwei bis drei Gulden Geldstrafe davon, aber schon deshalb, weil nicht
jedes Bezirksgericht für Preßübertretungen zuständig war, sondern nur
das am Sitze des Kreisgerichtes, das sogenannte delegierte Bezirksgericht
(in Wien nur das des neunten Bezirkes), so daß also der Angeklagte
stundenweit fahren mußte, war die Prozedur sehr beschwerlich. Auch
war die Agitation behindert, da Flugschriften nur geheim verbreitet Werden
konnten und nach jeder Flugschriftenverteilung Gendarmen in voller
Adjustierung in die Wohnungen der bekannteren Sozialdemokraten ein-
drangen, als ob es sich um gefährliche Verbrecher handelte, und die "Ent-
wicklung der Arbeiterpresse war durch das Verbot des Straßen Verkaufs
behindert. Dazu kam noch, daß auch der Verkauf in geschlossenen
Räumen an eine Verkaufslizenz gebunden war, die oft ohne jede Be-
gründung verweigert wurde. Von den weiteren Beschränkungen der Preß-
freiheit, die in der Broschüre erwähnt werden, seien folgende angeführt:
Vor allem das objektive Verfahren, wonach sich der Staats-
anwalt „damit begnügte", statt den Verfasser eines Artikels oder den ver-
antwortlichen Redakteur zu klagen — worüber das Schwurgericht zu
entscheiden hatte — , die Zeitung bloß „objektiv" zu verfolgen, das [heißt
sie zu konfiszieren und ihren Verkauf zu verbieten. Wohl hatte .auch
darüber dann das Gericht zu entscheiden, aber nicht die Geschwornen.
sondern ein Senat des Gerichtshofes und dieser entschied fast ausnahmslos
im Sinne des Staatsanwalts: dann die Kaution, die für häufiger er-
304 Der Kampf um die Preßfreiheit.
wollten sie ernstlich einen Schritt nach vorwärts machen. Unter
solchen Umständen erscheint es erwünscht, daß auch wir Sozial-
demokraten sagen, was wir wollen und was wir erwarten.
In unseren Hainf eider Beschlüssen ist es allerdings
deutlich genug gesagt, was wir wollen. Dort wird verlangt:
,,1) i e Aufhebung aller Beschränkungen der P r e ß-
freiheit durch die verschiedenen Formen der Zensur und Auf-
scheinende Zeitungen erlegt werden mußte, und der Zeitungs-
s t e m p e 1, der einen Kreuzer für jede Nummer einer Zeitung betrug. AUc
diese Beschränkungen wurden allmählich aufgehoben: die Kautionspflicht
fiel 1894 (wo auch die Verschleißbedingungen [§ 35] gemildert wurden),
der Zeitungsstempel 1899, aber der § 23 erhielt sich bis nach dem Um-
sturz. Erst das Preßgesetz vom 7. April 1922, das am 1. Oktober 1922 in
Kraft getreten ist, hat im § 9 bestimmt: „Zeitungen dürfen auch auf der
Straße . . . vertrieben werden."
Die Unfreiheit der Presse wurde auch von der oppositionellen bürger-
lichen Presse um so drückender empfunden, als die Regierung Taaffe mit
Hilfe ihres geheimen Dispositionsfonds eine offiziöse Presse aushielt, der
sie vielfach sogar die Freiheit von den Einschränkungen des Gesetzes ver-
schaffte. So wurde im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von Anträgen
auf Reform des Preßgesetzes eingebracht, die aber alle am Widerstand
der Regierung und an dem geringen Interesse der bürgerlichen Parteien
scheiterten.
Die Sozialdemokratie entschloß sich daher, ihre Kraft auf die Abschaf-
fung des § 23 und des § 3, Absatz 5, der die Bestimmungen über die Not-
wendigkeit der Verkaufslizenz enthielt, zu konzentrieren, um durch einen
Druck auf das Parlament wenigstens diese Reform durchzusetzen. In ihrem
Auftrag brachte Pernerstorfer, der zwar offiziell der Partei nicht
angehörte, aber sich als ihr Vertreter im Parlament fühlte, folgenden An-
trag im Abgeordnetenhaus ein:
§ 1. Der § 23 sowie Absatz 5 des § 3 des Preßgesetzes sind auf-
gehoben.
§ 2. Wer gewerbsmäßig Druckschriften oder Bildwerke öffentlich
ausrufen, verteilen, feilbieten oder mit ihnen hausieren will, bedarf
dazu einer Legitimation der Ortsbehörde. Diese Legitimation kann nur
solchen Personen verweigert werden, welche wegen eines gewinn-
süchtigen Verbrechens oder Vergehens ihrer bürgerlichen Rechte ver-
lustig oder mit einer ansteckenden Krankheit behaftet sind.
Wenn die Verteilung von Druckschriften nicht gewerbsmäßig ge-
schieht, ist eine Legitimation dazu nicht erforderlich.
§ 3. Alle Bestimmungen der Gewerbeordnung und des Gesetzes über
de)) Hausierhandel, welche den gewerbsmäßigen Vertrieb von Druck-
schriften weiter einschränken als dieses Gesetz, treten außer Wirk-
samkeit.
Außerdem lagen dem Parlament folgende Anträge vor:
Ein Antrag des Deutschnationalen Dr. Foregger auf Abschaffung
der Kaution, Einschränkung der Pflicht zur Ablieferung von Pflicht-
exemplaren an die Staatsanwaltschaft, Einschränkung des Rechtes auf
Beschlagnahme ohne richterliche Verfügung, Beseitigung des § 23 und des
Zeitungsstempels, Reform des Strafgesetzes, soweit es die fre'ie Meinungs-
äußerung einschränkt.
Antrag des Jungtschechen Dr. P a c a k, daß die Bewilligung zu ge-
werbsmäßigem Verkauf von Druckschriften unbescholtenen Personen nicht
Der § 23 des österreichischen PreßKeset/.es.
hebung des Preßmonopols i n r die Besitzenden du
Kaution, Stempel und das Verbot der Kolporl.r
Aber gibt es denn in Österreich eine Zensur? Qlbt es ein
Preßmonopol für die Besitzenden? Haben wir nicht ein Staats-
grundgesetz und in demselben einen Artikel 13, welcher
lautet:
.,.! e d e r ttl a n n li a t das R e e li t, d u r e h W 0 r t, S e h r i f t.
Druck oder durch bildliche I ) a r s t e 1 1 u u g seine M e i-
i! ll n g i n n e r h a I b d er gesetzlichen S e h r a n k e n frei Z U
ä u ß c r n.
Die Presse darf weder unter Zensur gestellt HOC h
durch das K o n z e s s i o n s w e s e n beschränkt w e r d e u.
A d m inistrative P o s t v e t b o t e finden auf i n 1 ä n d i s c h e
Druckschriften keine A u w e n d u n g."
Das klingt doch außerordentlich freisinnig, und da es ein
Grundgesetz ist, in welchem die Freiheit der Presse fest-
gestellt wird, könnte ein Fremder, welchem die spezifisch öster-
reichische Methode der Gesetzesfabrikätion unbekannt ist, zur
Meinung verleitet werden, in Österreich bestände wirklich etwas,
was der Freiheit der Meinungsäußerung halbwegs ähnlich sieht.
Aber unser Staatsgrundgesetz ist nicht nur ein Prunkmöbel, son-
dern auch ein Raritätenkasten mit geheimen Fächern und
doppeltem Boden. Es enthält ja auch andere Prachtstücke: die
Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, die unbeschränkte
Freizügigkeit, die Unverletzlichkeit des Eigentums, des Haus-
rechtes und des Briefgeheimnisses, die Freiheit der Wissenschaft
und ihrer Lehre usw., aber jedes dieser Grundrechte trägt seine
eigene Verneinung an sich, und in bezug auf die Rede- und Preß-
freiheit sind es die Worte : „innerhalb der gesetzlichen
Schranke n", welche den eigentlichen Wert und Gehalt dieses
Grundrechtes bestimmen oder vielmehr auf nichts reduzieren.
Die gesetzlichen Schranken des Preßgesetzes wurden auf-
gerichtet schon lange vor dem Staatsgrundgesetz in dem Preß-
gesetz vom 17. September 1862, in jener ersten Periode des öster-
reichischen Liberalismus, welche durch den Namen Schmerling in
ihrer ganzen Beschränktheit genügend gekennzeichnet wird. Die
Aufstellung des Artikels 13 der Staatsgrundgesetze, die prin-
zipielle Anerkennung des Rechtes der freien Meinungsäußerung
untersagt, daß einzelne Druckschriften nicht ausgeschlossen werden dürfen.
daß das Hausieren mit Druckschriften, ihr Verteilen an öffentlichen Orten
nicht untersagt werden darf.
Wir lassen eine Übersicht folgen über den
Inhalt der Broschüre:
Einleitung 3Ö0
A. Die Kaution KH
B. Der Zeitun.^sstempcl 304
C. Das objektive Verfahren 306
i» Die Verschleißlizenz 300
Das Verbot der Kolportage; § 23 des Preß^esetzes 310
Die Aussichten der Preßreform und unsere Taktik 11 s
Adler. Briefe. XI. Bd. 20
^06 Der Kampf um diu Preßfreiheit.
hätte, so sollte man glauben, logischerweise zu einer gründlichen
Reform oder besser zu einer Beseitigung jenes Preßgesetzes führen
müssen. Aber die politische Logik in Österreich hinkt stets auf
beiden Füßen, und so wurde im Jahre 1868 nichts weiter getan, als
daß einige der ärgsten Schärfen des Gesetzes beseitigt wurden.
Wurde ja doch auch durch die Staatsgrundgesetze jenes Erzeugnis
der ärgsten Reaktionszeit, die kaiserliche Verordnung
vom 2 0. April 185 4*), welche die staatsgrundgesetzlich garan-
tierte freie Meinungsäußerung unter polizeiliche Aufsicht stellt.
keineswegs beseitigt.
Es würde uns zu weit führen, bei dieser Gelegenheit wieder
einmal deutlich zu machen, welches der eigentliche Grund der so-
genannten „Halbheit" unserer liberalen Gesetzgebung ist, aber
andeuten wollen wir, was sich umständlich beweisen und durch
Tatsachen belegen ließe, daß der entscheidende Grund der Zwei-
züngigkeit und Zwieschlächtigkeit unserer gesamten politischen
Gesetzgebung nicht nur in der Furcht nach oben, sondern viel-
mehr und vor allem in der Furcht nach unten zu suchen ist. Das
österreichische Bürgertum hat die Resultate der Revolution von
1848 erst nach der Schlacht bei Königgrätz einheimsen können.
Nicht seine eigene Stärke hat ihm zum Siege verholfen. sondern
die Schwäche der anderen. Als es aber in den Jahren 1867 und
1868 daranging, seiner Herrschaft gesetzlichen Ausdruck zu geben,
war es längst nicht mehr erfüllt von den Idealen des „tollen'4
Jahres. Im Jahre 1848 war es für die Gleichberechtigung aller
Menschen auf die Barrikaden gestiegen oder hatte vielmehr er-
laubt, daß die Proletarier dieses gefährliche Geschäft besorgen.
Aber 20 Jahre später war das Bürgertum nicht mehr jener
schlanke, freiheitsbegeisterte Jüngling, dessen Herz alle Menschen
mit gleicher Liebe umfaßt; es hatte Fett angesetzt und war
„vernünftig" geworden; es hatte vom Baume der Erkenntnis
gegessen und entdeckt, daß die Gleichberechtigung aller Staats-
bürger eigentlich zu bedeuten habe: die Gleichberechtigung aller
Besitzenden. Der Legionär war zum Mastbürger geworden. Die
alles umfassende Menschenliebe hatte dem Klassenegoismus Platz
gemacht. In jenen 20 Jahren hatte in Österreich nämlich eine öko-
nomische Umwälzung begonnen, welche eine Industrie und mit ihr
ein Proletariat schuf, und aus den Vorgängen im benachbarten
Deutschland sowie aus den ersten Anfängen einer proletarischen
Bewegung in Österreich selbst entsprang für die Gesetzgeber das
deutliche Bewußtsein, daß die liberale Bourgeoisie nicht mehr
allein auf der Welt sei und daß die politischen Freiheiten, welche
sie schaffe, nicht nur ihrem eigenen Privatgebrauch in Handel und
Wandel dienen, sondern auch, und zwar in sehr ausgiebiger Weise,
von der Arbeiterklasse ausgenützt werden würden. Das ist der
*) Das sogenannte „Prügelpatent" — die Verordnung über das Straf-
recht der Polizeibehörden, die damals noch die Prügelstrafe vorsah und
deshalb auch, nachdem die Prügelstrafe längst abgeschafft war, im Volks-
mund noch den Namen des Prügelpatents behielt.
Der § 23 des österreichischen Preßgesetzi 3CH
(inniU, warum der Liberalismus den Mut nicht fand, gegenüber den
dynastischen und feudalen Bedürfnissen mich Reaktion eine ganze
Tat zu tun. Der Liberalismus selbsl fürchtete sich; er fürchtete jene
Freiheiten, die er schaffen sollte, und auf Schritt und Tritt ist es
sein Bestreben, dieselben „vor Mißbrauch ZU schützen", das heißt
aus ihnen ein Monopol für die Besitzenden zu machen.
Vielleicht ist dieser für die liberale Gesetzgebung charak-
teristische Zur' auf gar keinem (iebiet deutlicher aufzuzeigen als
auf dem der Preßgesetzgebung.
A. Die Kaution.
Da haben wir zunächst die schöne Institution der Kaution
für Zeitschriften, die öfter als zweimal im Monat erscheinen. Jeder
Mensch, der eine Zeitung herausgeben will, wird im vorhinein als.
verdächtig angesehen, strafbare Handlungen begehen zu wollen;
es scheint, daß der Gesetzgeber selbst einsieht, es sei schwer,
öffentliche Verhältnisse in Österreich zu besprechen, ohne „zu Haß
oder Verachtung aufzureizen"*). Nur „anständige Leute" sollen Zei-
tungen herausgeben, wie nur „anständige Leute" das Wahlrecht
haben sollen. Der Befähigungsnachweis für die politische Be-
tätigung liegt — im Geldbeutel. Wer nicht einmal einige tausend
Gulden Kaution aufbringen kann, ist ein Lump, der das Maul zu
halten hat. Das sind die „gesetzlichen Schranken" für das im
Artikel 13 der Staatsgrundgesetze „jedermann" gewährleistete
Recht der freien Meinungsäußerung.
B. Der Zeitungsstempel.
Noch empfindlicher als die Kaution ist der Z e i t u n g s-
Stempel. Dem Finanzgenie österreichischer Gesetzgeber war es
vorbehalten, Mittel zu finden, sowohl die Dummheit als die Auf-
klärung zu besteuern; neben dem kleinen Lotto steht würdig der
Zeitungsstempel. Jedermann hat das „Recht, seine Meinung frei zu
äußern", wer aber von dieser Meinungsäußerung allwöchentlich
Kenntnis nehmen will, hat jedesmal einen Kreuzer, gewissermaßen
als Strafe, zu zahlen. Denn der Leser zahlt den Stempel, nicht
der Herausgeber. Die Preise der österreichischen Zeitungen
würden ohne Stempel 3 bis 8 Kreuzer betragen. Der Stempel be-
lastet den Leser also mit einer indirekten Steuer von 1 2% Pro-
zent, einem Achtel, für die größeren Blätter und
3 3 V» Prozent, also einem vollen Drittel, für die
kleineren Blätter. Das ist so das richtige Ideal einer pro-
gressiven Steuer; je weniger einer hat, je weniger er konsumiert,
desto mehr muß er im Verhältnis zahlen. Der Leser der „Neuen
Freien Presse" zahlt für Morgen- und Abendblatt zusammen,
welche ohne Stempel 8 Kreuzer kosten würden, 1 Kreuzer
*) Der § 300 des Strafgesetzbuches, der wegen Vergehens der
„Aufwiegelung" den strafte, der „öffentlich oder vor mehreren Leuten
... zum Haß oder zur Verachtung oder zu grundloser Beschwerde-
führung gegen Staats- oder Gemeindebehörden oder gegen einzelne Organe
der Regierung... aufzureizen sucht".
20*
308 Der Kampf um die Preßfreiheit.
Stempel, also 12% Prozent; der Bauer oder Arbeiter muß für sein
Wochenblättchen 3&]t Prozent entrichten, also im Verhältnis fast
dreimal soviel. Daß die Verteuerung durch den Stempel die Ver-
breitung der Zeitungen (und Kalender) beeinträchtigt und dadurch
sie auch wieder mittelbar teurer macht, ist selbstverständlich und
eine schätzenswerte Nebenwirkung dieser famosen Einrichtung.
Der Zeitlingsstempel trägt heute 1,300.000 Gulden: was er dem
Staate einbringt, ist also eine wahre Lappalie im Vergleich zu dem
ungeheuren Schaden, welchen er der geistigen und politischen Ent-
wicklung des Volkes zufügt. Das hindert aber nicht, daß dieselben
Leute, welche auf den leisesten Wink der Regierung Millionen
nach Millionen für die Militärauslagen bewilligen, genaue
Rechner werden und haarscharf beweisen, der Staat würde
bankrott werden ohne die „elende Million'4, welche für den
Zeitungsstempel eingeht. Gerade der Umstand, daß diese „g e i-
stige Verzehrungssteuer" wenig empfindlich ist für die
Besitzenden, eine schwere Last aber für die Besitzlosen, gerade
dieser Umstand verursacht, daß der Kampf gegen den Zeitungs-
stempel trotz allen schönen Worten im letzten Moment stets jenem
geduldigen und ergebenen Opfermut Platz macht, mit dem unsere
„Volksvertreter" die Lasten, welche sie dem Rücken des Volkes
aufladen, zu bewilligen gewohnt sind. Der Zeitungsstempel ver-
dankt seine Einführung in der heutigen Form nicht einem Gesetz,
sondern einer Verordnung, welche 1857 erlassen wurde, zur
reaktionärsten Konkordatszeit; sie war eine politische Maß-
regel zur Niederhaltung der Presse; das fiskalische Interesse war
bei der Geringfügigkeit des Ertrages zu jener Zeit gewiß ganz
nebensächlich. Der liberale Schwung der neuen Ära aber reichte
nicht einmal dazu aus, dieses Hemmnis zu beseitigen. Unzählige
Petitionen wurden im Laufe der Jahre eingebracht, ganze Ballen
von Papier sammelten sich in den Papierkörben der verschiedenen
Preßausschüsse. Umsonst! Es geschah, was immer im öster-
reichischen Abgeordnetenhaus geschieht. Sooft eine freisinnige
Maßregel in der harmlosen Form der „R e s o 1 u t i o n" der Regie-
rung empfohlen werden sollte, fand sie eine große, begeisterte
Majorität. Sobald über dieselbe Sache ein Gesetzentwurf
vorlag, welcher mehr bedeuten konnte als Sand in die Augen des
Volkes, wurde er auf einen Wink der Regierung gehorsam ab-
gelehnt. Am 18. Juni 1872 wurde eine Resolution angenommen,
„die Regierung werde ersucht, die Aufhebung des Zeitungsstempels
in die reiflichste Erwägung zu ziehen". Am 20. Februar 1874 hat
das Parlament selbst Gelegenheit, das zu tun, um was es die
Regierung vor zwei Jahren ersucht hat. Der Antrag F u x auf Ab-
schaffung des Zeitungsstempels kommt zur zweiten Lesung; eine
Reihe großer Reden wird gehalten, der Kultur, der Wissens-
verbreitung, der Aufklärung, der Presse werden sehr hübsche
Komplimente gemacht, aber der Finanzminister Pretis
erklärt, auf die Million nicht verzichten zu können, und mit 129
gegen 114 Stimmen lehnt das Haus die Erfüllung seines eigenen
Wunsches ab. Kronawetter hatte die namentliche Ab-
Der § 23 des österreichischen Preßgesetzi 309
Stimmung beantragt, und diesem Umstand ist es zu danken, daß
wir es heute annageln können, daß auch Leuchten des Liberalismus
und des Portschrittes, wie Eduard Sueli und Ernst
\ . Plener gegen die A u Mi e b un g des Z e i t u n g s-
S t e m p e I s g e s t i in in t li a h e n.
Seitdem ließ man es nicht mehr ZU einer Diskussion über diesen
Gegenstand kommen. Alle diesbezüglichen Anträge kamen ent-
weder nicht einmal zur ersten Lesung oder verendeten still in
irgendeinem Ausschuß. Dagegen ist es sehr bezeichnend, daß die
Inseratensteuer, welche früher bestand, längst aufgehoben ist. Auch
sie war drückend, insbesondere für die großen Zeitungen, die
„Weltblätter", deren größte Rinnahme neben der „Texteinschaltung"
dem Inseratenteil entspringt. Sie störte vor allem das Geschäft;
sie war eine Last für die Besitzenden, darum ist sie schon 1874
gefallen. Der Zeitungsstempel hindert „nur" die politische Bildung,
er fällt „nur" für die besitzlosen Volksklassen ernstlich ins Oewicht;
darum besteht er noch heute*).
C. Das „objektive Verfahren".
Aber nach dem Staatsgrundgesetz darf die Presse auch „nicht
unter Zensur gestellt werden", und das bedeutet in der Praxis
&oit fixiert !
Und das nennt sich „liberale" Gesetzgebung**)!
D. Die Verschleißlizenz.
Wenn von „Meinungsäuljerung" die Rede ist, steht deren „r/rei-
heit" in bezug auf ihren Inhalt erst in zweiter Linie; wie es mit ihr
aussieht, haben wir kurz angedeutet. Noch wesentlicher ist aber die
„Äußerung" an sich. Der Artikel 13 des Staatsgrundgesetzes ge-
währleistet die Freiheit, seine „Meinung durch D ruck frei zu
äußern". Was heißt das? Doch nicht etwa nur das Recht, seine
Meinung drucken zu lassen! Damit wäre, wenn selbst alle die
Zwangsanstalten nicht beständen, von denen bisher die Rede war,
gar nichts geboten. Das Recht der Meinungsäußerung schließt:
das Recht der Verbreitung der Drucksache in sich. Eine
Meinung, die gedruckt ist, ist darum noch lange nicht „geäußert".
Das ist sie erst, wenn sie auch dem Leser durch den Druck mit-
geteilt wird. Die schönste Preßfreiheit ist ganz wertlos, wenn.
die Verbreitung gehindert wird, wie die schrankenloseste Rede-
freiheit absolut nichts nützt, wenn niemand zuhören darf; es ist
das Recht — Monologe zu halten.
Der geneigte Leser ist, an dieser Stelle angelangt, vielleicht
geneigt, den Verfasser wegen Khrenbeleidigung zu belangen, weil
) F. v. Lil.it, Lehrbuch des österreichischen Preürechts, Leipzig, 1878„
S. 381. (Anm. von v. a.)
') Der konfiszierte Text ist in seinem Wortlaut nicht bekannt; wir
geben daher die Stelle so, wie sie in der Broschüre aussieht.
310 Der Kampf um die Preßfreiheit.
er ihm Dinge auseinandersetze, die nicht einmal einem Botokuden
unklar sein können. Aber der Leser erwäge gefälligst, daß es sicli
liier um die österreichische „Preßfreiheit" handelt, bei deren Er-
forschung man daran irre wird, daß man seine Muttersprache ver-
stehe. Denn wenn wir bis jetzt darlegen mußten, daß unsere Preß-
freiheit dem berühmten Messer ohne Klinge gleiche, so kommen
wir nunmehr zu dem Nachweis, daß dem Messer auch der Stiel
fehle.
Das Recht auf Verbreitung einer Druckschrift ist nämlich nach
österreichischem Gesetz durchaus nicht ein selbstverständlicher,
integrierender Teil des Rechtes auf Freiheit der Meinungsäußerung
durch den Druck, welche durch das Staatsgrundgesetz „jede r-
mann" gewährt ist. Das Recht auf Verbreitung ist nämlich n i e-
mand gewährt, dem sie nicht ausdrücklich gestattet ist. Durch
diesen Umstand werden die Fesseln der Verbreitung der Meinung
noch drückender als diejenigen, welche den Inhalt der Meinung be-
treffen.
Nämlich — „die Presse darf nicht durch das Konzessions-
wesen beschränkt werden", heißt es im Staatsgrundgesetz: das
bedeutet in der Praxis : Kaution und Verschleißlizenz.
Von der Kaution haben wir oben gesprochen; die Verschleißlizenz
bedeutet aber ein ganz anders einschneidendes Ding.
§ 3 des Preßgesetzes lautet:
Das Recht zur Erzeugung, zum Verlag von Druckschriften und zum
Verkehr mit denselben wird durch die Gewerbegesetze geregelt.
Es steht aber jedermann frei, von ihm allein oder unter Mitwirkung
anderer, jedoch nach einem von ihm entworfenen selbständiger Plan
verfaßte Schriften in Selbstverlag zu nehmen und in seiner Wohnung
oder einem anderen ausschließlich dazu bestimmten Lokal für eigene
Rechnung zu verkaufen.
Von der Eröffnung eines solchen Lokals ist jedoch der Sicherheits-
behörde vorläufige Anzeige zu erstatten. Die Nichtbeachtung dieser
Vorschriften ist als Übertretung mit einer Geldstrafe von zehn bis
hundert Gulden zu ahnden.
Das Recht zur Herausgabe einer periodischen Druckschrift (§ 10)
schließt auch das Recht zum Verlag derselben in sich.
Absatz 5.
Übrigens kann die politische Landesstelle den
Verkauf periodischer Druckschriften, die Sicherheits-
behörde des Ortes aber den Verkauf von Schulbüchern, Kalendern.
Heiligenbildern, Gebeten und Gebetbüchern bestimmten Per-
sonen für einen zu bezeichnenden Bezirk auf Wider-
ruf bewilligen.
Wenn man also für eine Zeitung Kaution erlegt, den Stempel
gezahlt hat und sie vom Staatsanwalt sündenfrei erkannt wurde,
dann hat man das Recht, sie „in seiner Wohnung oder einem
anderen ausschließlich dazu bestimmten Lokal" zu ver-
kaufen; außerhalb dieser „ausschließlich dazu bestimmten Lokale"
darf nicht einmal der Redakteur oder Herausgeber selbst sein
Blatt zum Verschleiß bringen. Aber freilich, neben der Peitsche
Der § 23 des österreichischen Preßgesetzes. Hl
gibt es auch das Zuckerbroi Für die Kinder wenn sie brav sind.
Die politische Landesstelle darf den Verkauf von Zeitungen be-
stimmten Personen „auf Widerruf bewilligen"; und wirk-
lich werden gewisse Zeitungen ganz allgemein in Tabaktrafiken,
Papierhandlungen usw. zum Einzelverschleiß 'zugelassen. Die
Regierung hat den Schlüssel zum Eingang in das Paradies des
Einzelverkaufs, und sie Öffnet nur, wem sie wohl will. I)ie Ver
schleißlizenz ist ein Machtmittel in der Hand der Regierung,
welches noch weit wirksamer ist als das „objektive Verfahren".
Mau lernt schließlich schreiben; der Leser lernt zwischen den
Zeilen lesen. Die Übung hat die Technik in der Expedition von
Zeitungen so vervollkommnet, daß bei Blättern, welche häufig der
Konfiskation verfallen, die Staatsanwaltschaft selten viel „er-
wischt". Oder aber es wird der Zensur die Maske vom Gesicht
gerissen und der Staatsanwaltschaft ein bloßer Bürstenabzug als
Pflichtexemplar überreicht, an welchem sie ihren „objektiven"
Gelüsten ohne Schaden für das Blatt frönen kann; mit dem Druck
aber wird erst begonnen, bis das Blatt die Zensur passiert hat. Eine
erniedrigende, beschämende Methode allerdings, aber unver-
meidlich gegenüber gewissen Staatsanwälten. Was soll man aber
gegenüber dem Verbot des Verschleißes tun?
Qanz einfach, ist die Antwort, so viele „ausschließlich dazu
bestimmte Lokale" errichten, als man für notwendig hält; von der
Eröffnung aber der Behörde vorläufige Anzeige erstatten. Von den
vielfachen Schikanen, die mißliebigen Blättern bei solchen Anzeigen
zugefügt werden, wollen wir ganz schweigen. Der wichtigste Punkt
ist. daß kleine und billige Tagesblätter nicht die ungeheuren Kosten
für solche Verkaufslokale zu tragen imstande sind, daß die gesamte
heute noch verschleißfähige Presse vor der Zuchtrute der Ent-
ziehung zittern muß und daß so die Regierung dieselben sicher im
Zaume hält. Ohne Anklage, ohne Richterspruch, ohne Urteil ist die
Regierung in der Lage, über jedes Blatt eine Geldstrafe zu ver-
hängen, welche es ruiniert. Und vor allem kann sie das — ohne
Verantwortung. Sie will es. das genügt. Sie steht niemand Rede,
und niemand hat das Recht zu fragen. Wie bequem ist das!!
Freilich ist seit dem Jahre 1883, wo den beiden Blättern der
Steyrermühlgesellschaft („Neues Wiener Tagblatt" und „Öster-
reichische Volkszeitung") der Verschleiß entzogen wurde*), gegen
*) Am 21. .(äiiner 1883 hatte die niederösterreiclhsche Statthaltern unter
Berufung auf § 3, Absatz 5, des Preßgesetzes, den Zcitungsvcrsehleißern
die Erlaubnis zum Verschleiß des „Neuen Wiener Tagblattes" und der
..Konstitutionellen Vorstadt-Zeitung" (der späteren „Österreichischen
Volkszeitung" und nachmaligen „Volkszeitung") untersagt. Der liberale
Abgeordnete und ehemalige Justizminister Dr. Herbst interpellierte des-
halb am 30. Jänner 1883. Darauf erwiderte Graf Taaffe am 16. Februar
18H3. indem er die oppositionelle Presse angriff, die Landesregierung könne
den Verkauf von Druckschriften bestimmten Personen gegen Widerruf
bewilligen, demnach auch den Widerruf aussprechen und diese Befugnis
sei an keine besondere Bedingung geknüpft. Wenn Blätter mit einer
eraumer Zeit wahrgenommenen Beharrlichkeit durch tendenziöse
312 Der Kampf um die Preßfreiheit.
kein anderes in derselben Weise vorgegangen worden. Aber es
wurde auch keinem neuen Blatte der Verschleiß bewilligt und da-
durch ein Monopol geschaffen, dessen Wert geradezu un-
berechenbar ist.
Wen aber trifft auch diese famose Einrichtung am härtesten?
Die besitzlosen Volksklassen. Die wohlhabenden Leser
der großen Bourgeoisblätter sind sehr wohl imstande, den
Abonnementsbetrag für ein Quartal, für einen Monat zum min-
desten, auf einmal bar auf den Tisch zu legen und sich das Blatt
durch den Austräger auf den Früh stückstisch legen zu lassen.
Anders der Arbeiter, der kleine Beamte, der kleine Handwerker,
der zur Not sich täglich für seine Zeitung 3 bis 4 Kreuzer abkargen
kann, aber selten einen ganzen Gulden dafür ausgeben kann. Dazu
kommt, daß natürlich die Kosten für die Verschleißlokale ebenso
wie für den Stempel der Leser trägt, nicht etwa das Zeitungs-
unternehmen. Das Blatt wird um so teurer, je kostspieliger seine
Herstellung und Administration, je beschränkter seine Verbreitung
ist. Und die Last trägt der Konsument. Wie die Hauszins-
steuer mit allen ihren verschiedenen Zuschlägen, welche angeblich
eine direkte Steuer ist, nicht den Hausbesitzer belastet, sondern den
Mieter, und zwar um so drückender und härter, je ärmer dieser
Mieter ist, genau ebenso wird diese ganz besondere Belastung der
Presse nur dem kleinen Mann empfindlich.
Die Verschleißlizenz steht also nicht allein im Widerspruch mit
der Preßfreiheit, mit dem Staatsgrundgesetz, sie ist auch ein
Machtmittel in der Hand der Regierung, ein Hebel der politischen
Korruption, und sie befördert ganz außerordentlich jede andere Art
von Preßkorruption. Die Blätter, welche „öffentliche Meinung" ver-
schleißen, wie der Selcher Würste, erhalten durch die Verschleiß-
lizenz und ihre willkürliche Handhabung entweder den Antrieb,
sich der Regierung zu verkaufen, oder, im Falle sie glauben, mit
einer oppositionellen Haltung ein besseres Geschäft zu machen,
sich um so schamloser der Bestechung durch Banken und Börsen-
gruppen preiszugeben, um so schamloser ihre Existenz auf der
Schilderung von Vorgängen auf dem Gebiete des öffentlichen und privaten
Lebens die Leidenschaften der großen Menge aufregen, wenn Presseerzeug-
nisse geradezu Anstoß erregende Ankündigungen und Darstellungen, die
geeignet seien, auf das sittliche Gefühl weiter Kreise der Bevölkerung
schädigend einzuwirken, verbreiten, so sei die Regierung nicht nur be-
rechtigt, sondern sogar verpflichtet, die ihr zur Verfügung stehenden
Mittel in Anwendung zu bringen. Herbst beantragte darauf, diese Ant-
wort an den Ausschuß zur Prüfung zu überweisen und eine authentische
Interpretation des § 3, Absatz 5, zu schaffen. Der Antrag wurde aber
abgelehnt.
In der Debatte verwies der Alttscheche Dr. Zeithammer darauf,
daß auch Herbst als Justizminister vor elf Jahren vier tschechischen
Blättern in Prag den Einzelverschleiß entzogen habe. Darauf erwiderte
wieder Herbst, das sei geschehen, weil diese Blätter die kaiserlichen
Beamten „k. k. Lumpe n" nannten und das kaiserliche Patent auf weiches
Papier druckten und als Flugschriften in die Anstandsorte werfen ließen . . .
Der § 23 des österreichischen PrcUgesctzcs, 113
Pflege von Seh windelinse raten, Anpreisung von üeheimmitteln usw.
aufzubauen. So zahlt das Volk doppell die Zeche: die Verfälschung
seiner geistigen Nahrung wird systematisch und offiziell gezüchtet.
und diese verfälschte Nahrung muß es teuer kauten.
Die Praxis, die Gewährung der Verschleißlizenz zu einer
„Gnade" ZU machen, hat es so weit gebracht, dal» kein Blatt,
welches Parteiinteressen ernstlich vertritt, auch nur darum ein-
schreiten darf. Das Gesuch wäre aussichtslos, gewiß; wenn aber
durch einen unerhörten Zufall ein Blatt die Verschleißlizenz erhielte,
dann wäre es noch ärger daran: es wäre gebrandmarkt als ver-
kauft au die Regierung, als Verräter au seiner Partei. Das sind die
Zustände, welche unser Preßgesetz mit sich führt.
E. Das Verbot der Kolportage: $ 23 des Preßgesetzes.
In Österreich wird also die Presse behandelt wie ein wut-
verdächtiger Hund: sie unterließt nicht nur dem Maulkorbzwang,
sie wird auch au der Leine geführt.
Dieses Mißtrauen gegen alles, was gedruckt ist. dieser Wider-
wille gegen das Lesen bezieht sich durchaus nicht nur auf die
Zeitungen, auf die periodischen Druckschriften. „Man" wünscht
überhaupt nicht, dal.» viel gedruckt werde, und läßt sich das
Drucken schon nicht verhindern, so soll doch wenigstens so wenig
als möglich gelesen werden. Das ist der Geist, von dem unsere
Preßgesetzgebung erfüllt ist. Seine erste Fleischwerduug erlebte er
bezeichnenderweise unter der Ägide des Feldmarschalls Fürsten
W indisc hg r ä t z. Noch während der Belagerungszustand in
Wien herrschte, am 20. Dezember 1848, dekretierte der Minister
des Innern: „Das öffentliche Anschlagen von Plakaten und Flug-
schriften, das Austeilen. Ausrufen und Verkaufen derselben au
öffentlichen Orten und auf der Straße sowie das Hausieren mit
denselben ist für jedermann unbedingt verböte n." Und nach
dem heiteren Zwischenspiel der „Reichsverfassung" vom 4. März
1849, in welcher natürlich „jedermann" das Recht erhält, „seine
Meinung frei zu äußern", und ebenso natürlich Gesetze „gegen den
Mißbrauch der Presse" in Aussicht gestellt werden, erschien
endlich am 27. Mai 1852 die berühmte „Preßordnung". Dieses
während der Herrschaft der ärgsten Reaktion entstandene Gesetz
enthält schon voll und ganz unsere noch heute geltenden Be-
stimmungen über die Kolportage; die liberale Gesetzgebung der
Jahre 1862 und 1867 hat an den Prinzipien, welche Windischgrätz
und Bach auf die Presse anwendeten, nicht gerüttelt. Ja, es liegen
Äußerungen vor, welche klar beweisen, daß die Erzväter des
Liberalismus in diesem Punkte nicht anders denken als die Helden
der „finsteren Reaktion", welche sie sonst nicht genug verdammen
können.
Sehen wir uns einmal das Ding an. Vor allem ist zu bemerken,
daß, wenn der periodischen Presse gegenüber die im Staatsgrund-
gesetz ausdrücklich aufgehobene Zensur unter der Verkleidung
des „objektiven Verfahrens" erscheint, sie in bezug auf die nicht-
periodische Presse jede Verhüllung verschmäht. § 17 des Preß-
314 Der Kampf um die Preßfreiheit.
Gesetzes bestimmt, es sei „von jeder anderen (nichtperiodischen)
Druckschrift, welche nicht mehr als fünf Hosen im Drucke beträgt,
wenigstens 2 4 Stunden vor der Austeilung oder
Versendung bei der Sicherheitsbehörde des Ausgabeortes und
an Orten, wo ein Staatsanwalt seinen Sitz hat, auch bei diesem ein
Exemplar zu hinterlegen". Der Staatsanwalt und die Polizei haben
also 24 Stunden Zeit, zu überlegen, ob sie die Druckschrii'
passieren lassen oder mit ihr „objektiv verfahren" wollen!! Und d^
behauptet man, in Österreich gäbe es keine Präventivzensur'
Worauf stützt sich diese Behauptung? Einzig und allein auf den
Artikel 13 der Staatsgrundgesetze; es gibt auf der ganzen Welt
kein geduldigeres Papier als jenes, auf welchem diese Staatsgrund-
gesetze gedruckt werden. Natürlich kann auch da die Behörde
milde Praxis üben und die Austeilung und Versendung auch vor
Ablauf der Frist gestatten. Diese echt österreichische Methode
macht die Sache natürlich nicht besser, sondern schlechter und
erlaubt die Protegierung „anständiger" Personen und „anständiger"
Parteien.
Dazu kommt, daß für die pünktliche Ausführung dieser Be-
stimmung nicht der Verfasser oder Herausgeber der Flugschrift
oder Broschüre, sondern der Drucker derselben haftbar ist, daf>
er nicht einmal dem Besteller und Eigentümer der Druckschrift die-
selbe vor Ablauf von 24 Stunden abliefern darf. Diese Bestimmung
ist es, welche verursacht, daß es kein Land gibt, in welchem so
wenig Broschüren erscheinen als in Österreich, daß man bei uns
die Flugblattliteratur einfach nicht kennt. „Um so besser!" sagen
natürlich die Mandarine mit zwölf Knöpfen.
Nun aber kommt jene Beschränkung der Presse, welche für
Österreich ganz besonders auszeichnend ist. Den Zeitungsstempel
hat noch ein anderer „Kulturstaat" — nämlich die Türkei; das
Verbot der Kolportage existiert nur in Österreicr
einzig und allein.
In Frankreich, Italien, England, Deutschland, ja in Rußland
werden Zeitungen an jeder Straßenecke ausgerufen und feilgehalten.
In Österreich ist das eine Übertretung, die mit Geldstrafe von 5 bis
200 fl. bestraft wird.
Die bezügliche Bestimmung lautet:
§ 23 P.-G.
„Das Hausiere n mit Druckschriften, das A u s rufe n, Ver-
breiten und Feilbieten derselben außerhalb der hiezu
ordnungsmäßig bestimmten Lokalitäten und das S a in-
nre I n von Pränumeranten oder Subskribenten durch
Personen, welche nicht mit einem hiezu von der Sicherheitsbehörde
besonders ausgestellten Erlaubnisschein versehen sind, ist ver-
boten. Ebenso ist das Aushängen oder Anschlagen von Druck-
schriften in den Straßen oder an öffentlichen Orten ohne beson-
dere Bewilligung der Sicherheitsbehörde untersagt.
Dieses Verbot bezieht sich jedoch nicht auf Kundmachungen von
rein örtlichem oder gewerblichem Interesse, als: Theaterzettel, An-
kündigungen von öffentlichen Lustbarkeiten, von Vermietungen. Ver-
\)>j\- S 23 des österreichischen Preßgesetzes.
kaufen und dergleichen. Doch dürfen auch solche Ankündigungen nui
an den von der Behörde hiezu bestimmten Plätzen angeschlagen wer-
den. Die Verletzung dieser Vorschriften wird an dem Schuldtragenden
als Übertretung mit einer Geldstrafe von Efi.nl bis zweihundert
Gulden bestraft. Die bei urlgesetzlicher Verbreifung
ergriffenen und die verbotswidrig angeschlagenen Druckschriften
unterliegen dem V e r f al I.
Zwei. Bestimmungen sind liier fixiert. Erstens der S t:r a ß e n-
verkauf von I )ruckseliriften ist u n beding t verboten und
damit auch das Hausieren mit den Zeitungen (nicht nur in den
Häusern, sondern ebenso in öffentlichen Lokalen, in Gast- und
Kaffeehäusern). Zweitens zum Sammeln von Abonnements*) ist
eine besondere polizeiliche Erlaubnis nötig, eine Erlaubnis, welche,
wohlgemerkt, nicht ein für allemal und allgemein, sondern für jede
einzelne Druckschrift besonders erworben werden muß. § 12 der
bezüglichen „Amtsinstruktion" sagt außerdem, daß, wenn
es sich um „ausländische Druckschriften handelt, die Sicherheits-
behörde an den politischen Landeschef Bericht zu erstatten und
dessen Erledigung abzuwarten habe". Wie aus einer Petition des
Wiener Buchhändlergremiums an den Reichsrat hervorgeht, lassen
diese „Erledigungen" oft so lange warten, bis das ganze Lieferungs-
werk längst erschienen, wenn nicht längst veraltet ist. Außer-
gewöhnlich vorsichtige „politische Landeschefs" verlangen, daß
man ihnen vor der Bewilligung zur Sammlung von Pränumera-
tionen auf ein Lieferungswerk — das ganze Buch vorlege, was sich
zum Beispiel bei Meyers Konversationslexikon und derlei größeren
Werken als besonders praktisch empfiehlt!
Wir betreten nämlich jetzt ein Gebiet, auf welchem der Scharf-
sinn aller Behörden die höchsten Triumphe feiert. Der § 23 des
Preßgesetzes ist eine unerschöpfliche Quelle denkwürdiger Richter-
sprüche und kostbarer Entscheidungen. Es ist ja ganz natürlich, daß
ein solcher Paragraph dem Belieben oder sagen wir der — Einsicht
des Beamten den weitesten Spielraum gewährt. Doch davon später;
jetzt sei nur festgestellt, daß der § 23 von allen Ketten, die unsere
Presse fesseln, die schwerste ist und daß auch diese a m
härtesten die Presse der Arbeiter, der besitz-
losen V o 1 k s k 1 a s s e n überhaupt belastet.
Billige Literaturerzeugnisse sind eben nur möglich
durch Massenabsatz. Massenabsatz ist aber wieder nur
möglich, wenn die Verbreitung auf alle Weise erleichtert wird. Der
Arbeiter, der Bauer hat nicht Zeit und Gelegenheit, in die Buch-
handlung zu gehen und ein Buch, eine Broschüre, eine Zeitung zu
kaufen. Er erfährt gar nicht, daß die Literatur, für welche er
Interesse hat, existiert. Ja sein Bedürfnis kommt ihm nicht einmal
zum Bewußtsein, wenn es noch so dringend ist, wenn er aber nie
*) Wenn § 23 vom „Sammeln von Pränumeranten und Subskribenten"
spricht, ist das Amtsstil und nicht wörtlich zu nehmen. So weit hat sich
die Sammelwut wohl noch niemals vergessen, daß sie gleich die prä-
iiumerierenden Personen selber mitnimmt; auch dem eifrigsten Verleger
handelt es sich nur um ihr Qeld. (v. a.)
316 Der Kampt um die Preßfreiheit.
die für ihn nützlichen, ja notwendigen Schriften zu Gesicht
bekommt. Es gibt gar kein besseres Mittel, um ein Volk in Dumm-
heit zu erhalten, es politisch wehrlos, seine Interessen zu verfolgen,
ja auch nur zu verstehen, unfähig zu machen, als wenn man ihm
die Literatur, Presse, Broschüren und Bücher systematisch fern-
hält. Das aber erreicht der § 23 in ganz ausgezeichneter Weise. Es
ist gar keine Übertreibung, wenn wir erklären, daß für einen sehr
großen Teil unseres Volkes in Österreich die Erfindung Gutenbergs
einfach nicht existiert. Unser Landvolk verlernt das Lesen, weil es
keine Gelegenheit hat, es zu üben; das Gebetbuch, dessen Ver-
breitung erlaubt ist, wissen sie auswendig. Aber gerade das wird ja
gewünscht. Man will auch solche Druckschriften, an denen der
scharfsinnigste Staatsanwalt nichts Gefährliches finden kann, nicht
unter die Leute kommen lassen. Die „Intelligenz" der wenigen soll
herrschen, nicht die „brutalen Instinkte" der Massen. Es ist sehr
charakteristisch, daß nicht einmal die Gesetzbücher in billigen
Volksausgaben existieren, und gäbe es dergleichen, § 23 würde mit
Erfolg ihre Verbreitung hindern. Für öffentliche Dinge ist der
Beamte da, für „wissenschaftliche" der Lehrer und für religiöse der
Pfarrer; wenn der Bauer die Steuerexekutionsbollette lesen kann.
ist das genügend; und deren Verbreitung steht kein § 23 im Wege.
Am schwersten trifft natürlich der §23 die Arbeiter-
presse. Für Druckschriften sozialdemokratischer Tendenz von
der Sicherheitsbehörde einen Erlaubnisschein zur Sammlung von
Abonnements erwirken zu wollen, wäre natürlich purer Unsinn. Die
Behörde ist an Gründe nicht gebunden, und keinesfalls braucht sie
dieselben mitzuteilen. Der § 12 der „Amtsinstruktion" sagt aus-
drücklich, es sei bei der Erteilung jener Scheine „auf die
Beschaffenheit jener Druckschriften", welche verbreitet werden
sollen, zu sehen; und das genügt vollkommen. Was folgt daraus?
Zunächst, daß die Verbreitung der Volksliteratur, insbesondere der
Arbeiterpresse, in Österreich eine sehr geringe ist. Das erhellt
schon aus folgenden Ziffern, die wir aus den Angaben der Hübner-
schen Tafeln berechnet haben. Die Zahl der Zeitschriften,
welche auf eine Million Einwohner entfallen,
beträgt in:
England (im Jahre 1865) 90
Frankreich („ .. 1885) 114
Deutschland („ „ 1891) 129
Belgien („ „ 1888) 145
Schweiz („ „ 1886) 231
Vereinigte Staaten von Nordamerika . ( „ „ 1889) 259
Dänemark („ „ 1884) 400
Österreich 70
Und das sind Ziffern, welche nur die Zahl der Zeitschriften an-
geben; wenn wir die Zahl der gedruckten und verbreiteten
Exemplare kennen würden, wäre mit noch viel größerer Sicherheit
zu erkennen, daß Österreich das politisch am meisten
rückständige Land ist. Bei den Ziffern für England und
[)ei $ 23 des österreichischen PreßKesetzcs. MI
Frankreich insbesondere ist ins Auge zu lassen, daß Zeitungen,
welche Auflagen von ioo.ooo und 200.000 Exemplaren haben, dort
durchaus nicli( selten sind, wahrend es kaum zwei bis drei öster-
reichische Blätter gibt, die 90.000 Exemplare an ein/einen 'lauen
erreichen oder gar übersteigen.
Aber ein Zweites ist noch die Folge dieser gesetzlichen Be-
stimmungen. Insoweit die Volksliteratur und insbesondere die
Arbeiterpresse in Österreich Verbreitung findet, geschieht
das in g a n z b e w u ß t e r u nd p I a n m a ß i g e r Li m g e h u n g
des § 23 des Preßgesetze s. Wir erklären ganz offen, daß
die vielen Tausende von Zeitungsexemplaren, welche die Sozial-
demokratie allwöchentlich unter die Massen wirft, zum allergrößten
Teil mit Übertretung des Verbotes der Kolportage verbreitet
werden; wir erklären weiter, daß jede andere Partei, welche ihre
Presse wirklich in den Massen verbreitet, vor allem die klerikale
Partei, genau dasselbe tut und tun m u ß.
Solange der § 23 des Preßgesetzes besteht, wird er von uns
systematisch umgangen werden; wir müssen es tun
und werden es tun. Ein Gesetz, welches einer politischen Partei
verbietet, ihre Schriften zu verbreiten, muß es sich eben gefallen
lassen, tagtäglich verletzt zu werden, genau wie eine Verordnung,
die einem Menschen verbieten würde zu atmen. Und was wir da
sagen, ist keineswegs ein Geheimnis, am allerwenigsten den
Behörden. Im Polizeibezirk Wien allein haben die Bezirks-
gerichte alljährlich über zirka 300 Übertretungen des § 23 P.-G. ab-
zuurteilen, und es ist der Staatsanwaltschaft sehr wohl bekannt, daß
das lange noch nicht ein P r o z e n t der Fälle ist, in welchen diese
„Übertretung" wirklich begangen wird. Die Herren Gesetzgeber
und ihre Exekutivorgane haben die Wahl, entweder die öffentliche
Kolportage zu gestatten respektive den § 23 P.-G. a u f-
zuheben - oder zu sehen, daß das Gesetz täglich und stündlich
auf jede mögliche Weise übertreten wird. Wenn die Herren glauben,
daß auf diesem zweiten, dem bisherigen Wege „die Achtung vor
dem Gesetz" in der Bevölkerung wirksam erhalten und verbreitet
wird, mögen sie es ruhig dabei belassen. Unsere Sache ist es ja
nicht, uns darüber zu echauffieren. Für uns, für die Arbeiterpresse.
ist es einfache Pflicht und Existenzbedingung, uns mit diesem
Gesetz abzufinden. Wir tun es, indem wir die Strafgelder auf das
— Spesenkonto schreiben.
Eines wird allerdings erreicht; es wird verhindert, daß die
Arbeiterblätter öfter als wöchentlich erscheinen. Dahin wirken ja
schon Kaution und Stempel, aber noch entschiedener der 8 33. Denn
die ungesetzliche Kolportage erfordert eine gewisse Zeit zur
Durchführung und läßt sich beim besten Willen und trotz der
bewundernswerten Aufopferung unserer Parteigenossen nicht leicht
öfter als wöchentlich einmal veranstalten. Dabei konstatieren wir
ausdrücklich, daß diese Verbreitung n i c h t et w a g e h e i m i s t,
wohl aber ungesetzlich!
Es ist nämlich „ungesetzlich" und „verbotene Kolportage", wenn
ein Mann in unser Expeditionslokal kommt, dort zehn Exemplare
■"HB per Kampf um die Preßfreiheit.
kauft und sie an zehn Arbeitsgenossen in der Werkstatt weitergibt
Vielleicht wird ein Freispruch möglich sein, wenn er beweisen
kann, daß jeder der zehn Mann ihm im vorhinein sechs Kreuzer
gegeben und ihn mit der Abholung beauftragt habe. Aber unter zehn
Richtern werden sicher sechs entscheiden, selbst wenn dieser oft
schwer zu erbringende Beweis geliefert wäre, unser Mann habe
„ohne Erlaubnisschein Pränumeranten gesammelt" und sei schuldig
der Übertretung des § 23. Wird der Beweis aber nicht erbracht,
dann hat der Angeklagte Druckschriften „außerhalb der hiezu
ordnungsmäßig bestimmten Lokalitäten verteilt oder feilgeboten"
und ist um so sicherer schuldig.
Wir behaupten entschieden: erstens, daß keine Behörde, von der
Polizei aufwärts bis zum Reichsgericht, weiß, wie der § 23 aus-
zulegen sei; zweitens, daß eben darum jede Behörde in jedem ein-
zelnen Falle ihn auslegt, wie es ihr gerade paßt; und drittens, daß
es keinen Menschen in ganz Österreich gibt, der nicht den § 23
schon übertreten hätte.
Als klassischen Zeugen für die erste Behauptung gestatten wir
uns, einen k. k. Polizeikommissär zu zitieren, Dr. A. R o s e n-
b a u m, der jahrelang im Preßbüro der Wiener Polizeidirektion
tätig war und eine eigene Broschüre') über den § 23 geschrieben
hat, in welcher die Konfusion sämtlicher Behörden sehr zart und
respektvoll, aber nicht minder erbaulich geschildert ist. Man denke,
wie weit es gekommen sein muß, wenn ein k. k. Polizeikommissär
findet, daß diese Dinge „einer tief eingreifenden Reform
dringend bedürftig sin d", wenn man „den immer lauter
werdenden Forderungen des gewerblichen, geselligen und geistigen
Lebens gerecht werden will".
Für unsere zweite Behauptung werden wir einige Fälle aus
unserer eigenen Praxis anführen, um sie aber zu beglaubigen,
zitieren wir wieder eine unanfechtbare Autorität. Ein öster-
reichischer Richter, der k. k. Landesgerichtsrat Dr. O. Granich-
städten, hat vor kurzem eine höchst verdienstvolle Sammlung
von gerichtlichen Entscheidungen in Preßsachen**) herausgegeben,
welche eines Ehrenplatzes in jedem Raritätenkabinett würdig ist.
Es ist geradezu ein kulturhistorisches Monument, das da enthüllt
wird. Man greift sich an den Kopf und sucht vergebens, sich den
Qehirnzustand von heute lebenden Menschen vorzustellen, in deren
Kopf solche Erwägungen Platz haben, wie sie in den meisten der
186 abgedruckten Urteile als „Gründe" angeführt werden. Auch
zum § 23 ist einiges Material zu finden, allerdings nicht sehr viel.
In Nr. 109, 110 und 111 wurden uns Erkenntnisse mitgeteilt, welche
dartun, daß es eine Übertretung des Verbots der Kolpor-
tage ist, wenn Broschen mit eingefügten Nachbildungen ver-
kleinerter Staatsnoten oder Schnupftücher mit dem Bilde des
*) Über den nicht buchhändlerischen Vertrieb von Preßerzeugnissen.
Wien 1888. Manz. (v. a.)
**) Das Urheberrecht, Preßgesetz und das objektive Verfahren, erläutert
durch gerichtliche Entscheidungen. Wien 1892. C. Konegen. (v. a.)
Der <$ 23 des österreichischen Preßgesetzes, 319
Kaisers oder Zigarrenspitzen mit dem Bilde Schönerers verkauft
werden; das sind nämlich lauter „Preßerzeugnisse" oder „Druck-
schriften"! Nach dieser Auffassung macht sich jeder Bierwirt,
dessen Deckelgläser die Aufschrift führen: „Wer nicht liebt Wein.
Weih und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang" oder ähn-
liches, der Übertretung des § 23 schuldig, Aber die ältesten Richter
und Staatsanwälte trinken unbedenklich aus solchen Glasern. Jeder
richtet eben, wie es jedem jedesmal einfällt.
Recht nett ist auch der Fall Nr. 77. Am 21. November 18K0 wurde
bei einem Feste beim Schwender ein Programm verteilt, da
scherzhaft abgefaßt war und auf dem als „v e r a n t w o r 1 1 i c h e r
Redakteur Niemand Will es" angegeben war. Der
Drucker A. wurde von der Anklage, er habe „wissentlich einen
falschen Namen angegeben", freigesprochen, weil das Programm ja
gar keine periodische Druckschrift sei. Hingegen der B., der dieses
Programm in 300 Exemplaren an die Mitglieder der Festsektion
behufs Verteilung an die Gäste übergeben, wurde wegen Über-
tretung" des § 23 v e r u r t e i 1 1. Und dann heißt es weiter: „Der
von der Verteidigung ausgesprochenen Ansicht, daß im vor-
liegen den. Falle die oberwähnten Restaurations-
lokalitäten zur Verteilung der Druckschriften
ordnungsmäßig bestimmte waren, weil ein Pflicht-
exemplar der k. k. Staatsanwaltschaft drei Stunden früher über-
geben worden sei, bevor die Verteilung der Druckschriften statt-
fand, hatsichderGerichtshofnichtangeschlossen,
da das Hinterlegen eines Pflichtexemplars bei der Staatsanwalt-
schaft allein noch nicht hinreicht, um eine Lokalität als zur Ver-
teilung dieser Druckschriften ordnungsmäßig bestimmt erscheinen
zu lassen."
Wie kann man auch glauben, daß zur Verbreitung eines Fest-
programms der Festsaal „die ordnungsmäßig bestimmte Lokalität"
sei!!
Selbstverständlich aber ist, daß auch diese absurde Kautschuk-
bestimmung des § 23 gegen verschiedene Leute verschieden an-
gewendet wird, das heißt die politische Tendenz bei ihrer
Handhabung die Hauptrolle spielt. Wir möchten zunächst einmal
wetten, daß der zuletzt erwähnte Fall (der Name ist nicht genannt)
einen Arbeiterverein betroffen habe. Der „Wiener Männer-
gesangsverein" hingegen oder eine ähnliche Heilanstalt für Knopf-
lochschmerzen hat gewiß nie einen ähnlichen Anstand gehabt. Dafür
ist uns ein Fall bekannt, wo ein Genosse, der Zettel verteilte, in
welchen nichts als die bloße Ankündigung eines Arbeiterfestes ent-
halten war, verhaftet wurde und wegen Übertretung des § 23
zwölf Stunden brummen mußte, obwohl „Ankündigungen von öffent-
lichen Lustbarkeiten" ausdrücklich erlaubt sind. Aber es stand
darauf: „Genossen, erscheint zahlreich!" und nicht „Herein-
spaziert, meine Herren und Damen!!" und das war die Begründung.
Denn wenn unsere Genossen sich versammeln, sei das mehr als
eine öffentliche Lustbarkeit, und das ist freilich wahr.
320 Der Kann'? um die Preßfreiheit.
Ein anderer Fall: Kein gewerbliche Drucksorten werden vom
§ 23 nicht getroffen, zum Beispiel gedruckte Rechnungen, Quit-
tungen usw., ebensowenig wie Fahrkarten und dergleichen. Da fiel
es dem Brünner „Volksfreund4' ein, zur Deckung seines Defizits
(welches dem Verbot der Kolportage geschuldet ist) eine Sammlung
einzuleiten und kleine Marken als Quittung auszugeben, von denen
jede auf 5 Kreuzer lautet. Nebenstehend ein ziemlich «—
genaues Faksimile in Größe und Form. Sofort war die
ßrünner Polizei bei der Hand, beschlagnahmte alle
Quittungsmarken und klagte die Herausgeber wegen
„verbotener Kolportage von Druckschriften, § 23 P.-G." l
an; vom Polizeikommissär wurden sie auch wirklich ver-
urteilt; das Bezirksgericht sprach sie frei; das Gericht zweiter
Instanz, an welches der Staatsanwalt appellierte, hat noch nicht
gesprochen!! Alle aber, Richter, Staatsanwälte, Polizisten, selbst
der Polizeikommissär Dr. R u e b e r, wissen ganz genau, daß eine
Unzahl Vereine, zum Beispiel der „Deutsche Schulverein", seit
Jahren solche Marken ausgibt, daß ein „Schneeballen" für das
Deutsche Haus in Brunn sich ähnlicher Drucksorten bediente;
aber — „gerade wo die Paragraphen fehlen, da stellt der § 23 zur
rechten Zeit sich ein!"
Minder harmlos ist es auch, wenn jemand angeklagt wird, das
Verbot der Kolportage übertreten zu haben, weil er die beim
Bergarbeiterkongreß vorgeschlagenen Resolutionen in
hektographierten Abzügen an die Mitglieder des Kongresses ver-
teilt habe, ein Vorgang, der in jedem Klub, in jeder wissenschaft-
lichen oder politischen Gesellschaft unter den Augen der Behörde
tagtäglich vorkommt. Der Freispruch erfolgte, weil sich nicht er-
weisen ließ, daß der Angeklagte der Täter sei; daß die Tat selbst
jedoch die Übertretung des § 23 involviere, stellte der Richter aus-
drücklich fest.
Am deutlichsten wurde aber die politische Bedeutung des
§ 23 bei den letzten Wahlen. Die Verbreitung des Wahlauf-
rufes der Sozialdemokraten hat unsere Partei viele
Hunderte von Gulden an Geldstrafen und viele Monate an Arrest
gekostet. Die Antisemiten dürften auch einiges von Geldstrafen zu
erzählen wissen, vielleicht auch die Klerikalen. Jede Partei, welche
sich wirklich an die Massen wendet, also in erster Linie die Sozial-
demokraten, muß den § 23 fortwährend als Hindernis vorfinden
und — umgehen. Freilich, die Parteien der Geldprotzen, die geniert
er gar nicht. Sie sind in der Lage, ihre Kolportage zu be-
zahlen, und wer bezahlen kann, der darf alles, für den existiert
auch der § 23 nicht. Die Parteien, die Geld haben, stecken einfach
ihren Wahlaufruf in einen Umschlag, kleben eine Zweikreuzermarke
auf und lassen von Diurnisten die Adressen schreiben. Die k. k. Post
übernimmt die Kolportage; die Wahlflugblätter kommen den Wäh-
lern pünktlich zu und wandern ebenso pünktlich in den nächsten
Papierkorb. Die Verbreitung der Million Wahlflugblätter allein in
deutscher Sprache hätte uns. wäre sie auf diesem Weg überhaupt
Der $ _;.< des österreichischen Preßgesetzes. 321
möglich, mehr als 20.000 El.*) gekostet! Da ist die Übertretung des
§ JA entschieden noch immer billiger. In Wien und an anderen
Orten wurden einzelne Genossen verhaftet und verurteilt; dagegen
läßt sich schließlich nichts anderes einwenden, als daß das Gesetz
nicht für alle Parteien gleich angewendet wird, daß hei Sozial-
demokraten bestraft wird, was „braven" Leuten erlaubt ist.
Wenige Wochen nach den Wahlen zum Beispiel wurde in ganz
Wien auf allen Straßen und Plätzen der Text der Thronrede, mit
der der Reichsrat eröffnet wurde, unter den Augen der Behörde
verkauft. Und gelegentlich des Todes des Kronprinzen Rudolf
feierte die Kolportage geradezu Orgien; Extraausgaben aller
Zeitungen wurden zu Tausenden am Graben und Stephansplatz
verkauft. Die Wächter der Sicherheit waren blind, und uns loyalen
Menschen lief es kalt den Rücken hinunter, als wir so schnöde
Gesetzesverletzung ohne jede Sühne sahen!
Aber es gibt noch ganz andere Auffassungen. In Nordböhmen,
im Reichenberger, Gablonzer, Friedländer Bezirk, da schickten
Bezirkshauptmann und. Gemeindevorsteher ihre Gendarmen und
Gemeindediener von Wirtshaus zu Wirtshaus, aber auch von
Privathaus zu Privathaus, und den Leuten wurde das Wahlflugblatt
der Sozialdemokraten ohne jeden Schatten eines gesetzlichen
Grundes einfach gewaltsam weggenommen. Der Respekt vor der
„Heiligkeit des Privateigentums" ist auch seitdem mächtig ge-
wachsen bei den hungernden Hauswebern und Glasarbeitern da
oben in Nordböhmen!
Das Verbot der Kolportage greift tief ein in das politische, ja
das gesamte öffentliche Leben, und wirkt so lähmend wie keine
andere Bestimmung unseres Knebelungsapparates. Der § 23 ist der
Feind der Verbreitung von Wissen, von Bildung an sich; ohne
jede Rücksicht darauf, welche Meinung geäußert wird, hindert
er jede Meinungsäußerung, die Meinung der „Gutgesinnten" in
der Praxis freilich etwas weniger als die der „Aufwiegler" und
„Hetzer". Aber schließlich gibt es denn doch keine Partei, die nicht
wenigstens vorgibt, sich an das Volk wenden zu wollen, welche
nicht gern volkstümlich werden möchte, und die nicht An-
strengungen macht, es zu sein. Darum kann es keine politische
Partei geben, die nicht für die Aufhebung des § 23 eintreten müßte
und keinen Politiker, der es wagen könnte, ihr zu widersprechen.
Die Aussichten der Preßreform und unsere Taktik.
Nachdem wir das Labyrinth unserer Preßgesetzgebung flüchtig
durchstreift, bleibt uns noch übrig zu fragen, was von der nächsten
Zukunft zu erwarten sei. Sicher ist, daß es keinen Menschen, und
sei er selbst Staatsanwalt oder Justizminister, in ganz Österreich
gibt, der es wagen würde, sich auf der Gasse zu zeigen, nachdem
er von unserem Preßgesetz auch nur ein gutes Wort gesagt. Alle
sind darüber einig, daß es nichts gibt, was mehr absurd und be-
") fl. war die Bezeichnung für dulden (ehemals Florin). Ein üulden war
soviel wert wie bei Einführung der Kronenwährung zwei Kronen, also
etwa drei Schilling.
Adler, Briefe. XI. Bd. 21
-■522 Der Kampi um die Preßfreiheit.
schämend wäre als unsere Preßzustände, nichts, was mehr den
geistigen Fortschritt der Massen hindert, nichts, was mehr das
Niveau der politischen Bildung herabdrückt und niedrig erhält. Die
in Furopa beispiellose Versumpfung unseres öffent-
lichen Lebens hat, soweit nicht tiefere historische Ursachen
wirken, zwei Hauptgründe: Die Beschränkung des Wahl-
rechtes und die Beschränkung der Verbreitung der
Presse. Das fühlt jedermann, der jemals die politischen Ver-
hältnisse des Auslandes kennengelernt und sie mit denen Öster-
reichs verglichen hat. Was das Wahlrecht angeht, scheitert zu-
nächst jeder Schritt nach vorwärts an der Feigheit der besitzenden
Klassen, an der Angst, mit welcher sie sich an ihr Monopol klam-
mern und an dem Wunsche der Regierung — bequem zu regieren.
In Österreich ist eine Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechtes,
wie sie Bismarck in Deutschland vornahm, nicht zu erwarten. In
der Psychologie österreichischer Staatsmänner fehlt jeder Zug, der
irgendwie nach Mut aussehen würde; ihre Kunst erschöpft sich
im Durchfretten und Fortwursteln*). Das Wahlrecht wird darum
vom Proletariat im ernsten Kampf errungen werden
müssen.
Und nur um wenig besser steht es mit der Preßreform;
aber doch immerhin besser. Unter unseren Preßzuständen leiden
freilich am meisten die besitzlosen Volksklassen, aber die Be-
sitzenden doch auch. Jeder, der im öffentlichen Leben steht und
nicht geradezu eine neunzackige Feudalkrone im Wappen führt
oder einen faustdicken altliberalen Zopf mitschleppt, leidet emp-
findlich darunter, daß er seine Meinung nicht verbreiten kann. Jede
politische Partei, ausgenommen die in jedem Sinne beschränktesten
Aristokratien der Geburt, des Beamtentums und des Qeldsackes,
will auf die Stimmung des Volkes wirken, und jede findet an
unserem Preßgesetz ein schier unüberwindliches Hindernis. Daher
tauchen in jeder Session des Parlaments eine ganze Reihe von
Anträgen zur Preßreform auf, welche in mehr oder minder gründ-
licher Weise alle geschilderten Übelstände beseitigen wollen. Stets
werden sie mit größter, allseitiger Sympathie aufgenommen und
stets bleiben sie unerledigt. Sie scheitern schließlich immer an der
Feigheit der herrschenden Parteien, welche den Widerstand
der Regierung als Sündenbock benützen. Jawohl, es ist
den „Liberalen" aller Nationen ein sehr bequemer Vorwand, daß
die Regierung nicht will; es ist eine ihnen außerordentlich an-
genehme und vorteilhafte Pose, wenn sie vor die Bevölkerung hin-
treten können und pathetisch erklären: „Seht, wir sind ja die
Männer des Fortschrittes, w i r wollen ja vorwärts — aber leider,
die böse Regierung will nicht, sie will nicht!" Dabei blinzeln sie
während ihrer schönsten Reden ängstlich nach der Regierungsbank,
ob dort doch nur ja die Energie zu finden sein werde, ihren Reform-
eifer zu dämpfen. „Halts mich, sonst geschieht etwas!!" Das ist
ihre Stimmung.
*) Die Devise des Ministerpräsidenten Grafen Taaffe. (Siehe Bd. X.
S. 13*).
Der § 23 des österreichischen Preügesctzi 323
Darum sind wir um so mißtrauischer gegen jeden Antrag aui
Reform des Preßgesetzes, je umfassender, je weitgehender er ist.
Wir wissen ans Erfahrung, daß alle solche Anträge stets mit gul
gespielter Resignation begraben wurden, daß jeder Scheingrund,
den ein Minister vorbrachte, als Vorwand genügte, um hinter den
fadenscheinigsten Erwägungen den feigen Rückzug zu verbergen.
Es ist kein Zweifel, dal.» uns auch diesmal eine neue Aufführung
der alten Komödie bevorsteht. Eine Reihe umfassender Preß-
anträge sind eingebracht. Her Antiag Foregger*) bringt nur
eine Anzahl von „(i r u n d s ä t z e n" zum Ausdruck, ist also
nicht mehr als eine Resolution und mithin der unverbindlichen
Sympathien aller Parteien des Hauses sicher; er bedeutet die —
Verschleppung. Der Antrag des Jungtschechen Pacäk ist
ernster zu nehmen; er legt eine Reihe von fertigen Gesetzentwürfen
vor, welche Kaution und Stempel sowie das objektive Verfahren
aufheben, die 24stündige Frist für Einreichung der Pflichtexemplare
nichtperiodischer Druckschriften, die Beschränkungen der Ver-
schleißlizenz und der Kolportage aufheben**). Diese Anträge sind
einem Preßausschuß übergeben worden, nachdem eine
Generaldebatte bei der ersten Lesung stattgefunden, bei welcher
sich niemand gegen die Reform erklärte. Und doch
wird aus der umfassenden Reform nach unserer festen Über-
zeugung nichts werden.
Wir haben den Vorgang, wie er kommen wird, in der „Arbeiter-
Zeitung" geschildert und erlauben uns zu zitieren: „Eine Preß-
reform aus dem Vollen, dafür ist unser Abgeordnetenhaus nicht
reif. Das »o b j e k t i v e V e r f a h r e n« ist gewiß eine böse Sache,
aber wenn daran gerührt wird, so steht der Justizminister
feierlich auf und erklärt, er sei auch nicht entzückt davon, aber die
Reform des Strafgesetzes, des Strafprozesses müsse in einem
Stücke geschehen, also — müsse gewartet werden. Sämtliche
Abgeordneten, die was von der Sache verstehen, das heißt Juristen
sind, zwinkern verständnisinnig und bleiben sitzen bei der Ab-
*) Siehe in der Fußnote am Anfang der Broschüre (Seite 301).
**) Außerdem enthalten diese Anträge aueh Bestimmungen über das
•ßerichtigungsverfahren. Wir gehen darauf ebensowenig ein wie
auf die verschiedenen Vorschläge der Antisemiten, welche der Presse das
Lügen abgewöhnen wollen. Alle diese Dinge sind kindisch; solange der
Kapitalismus herrscht, wird de kapitalistische Presse ein Geschäft
sein und auch dem Geschäft dienen. Das Geschäft bringt aber mit sich,
daß in politischen Artikeln und in Inseraten gleichermaßen gelogen wird.
Daran wird kein Gesetz etwas ändern, sondern jede Beschränkung wird
eine Fessel für die Ehrlichen sein, ohne die Lügen auch nur im geringsten
zu behindern. Gegen die Lüge gibt es nur ein gründliches Mittel: laut,
deutlich und unaufhörlich die Wahrheit zu sagen und sie sagen zu
dürfen, also volle „Preßfreiheit". Alle kleinbürgerlichen Spielereien sind
nur darauf berechnet, Gimpel zu fangen und sich selbst auf den Tugend-
hold hinauszuspielen. Wollen die Antisemiten das Lügen in der Presse
ernstlich einschränken, dann haben sie „im eigenen Wirkungskreis" ein
weites Feld der Betätigung: sie mögen nämlich nur einmal selber aufhören,
so konsequent und ungeheuerlich zu lügen wie bisher, (v. a.)
21*
324 Her Kampf um die Preßfreiheit.
Stimmung. Wird der Zeitungsstempel angegriffen, so wird
der Finanz minister sich erheben und mit vibrierender
Stimme versichern, auch er sei ja wie jeder Gebildete gegen diese
Besteuerung der geistigen Nahrung des Volkes, aber — leider -
er könne die Million nicht entbehren, die sie einbringt; übrigens
wolle er »reiflich erwägen« und »seinerzeit« selbst die Abschaffung
beantragen, etwa zugleich mit der der kleinen Lotterie. — Und
wieder wird der Opfermut des ganzen Hauses auch diese Million
aus den Taschen des Volkes auf den Altar des Vaterlandes nieder-
legen."
Wir fügen hinzu, daß, wenn die Aufhebung der Kautions-
pflicht beantragt zur Sprache kommt, der Justizminister haar-
klein nachweisen wird, daß der Kautionsverfall heute ein inte-
grierender Teil unseres Preßstrafrechtes sei, daß also die Kaution
ebensowenig „einseitig" aufgehoben werden könne als das „ob-
jektive Verfahren".
Weil aber alle diese Reformpläne in einem Antrag miteinander
verknüpft sind, werden sie alle miteinander fallen, und die Herren
Abgeordneten werden ihre Feigheit w i e bisher hinter einem Wall
von mutigen Redensarten und leeren Ausflüchten verbergen
können.
Einen Punkt der Preßreform aber gibt es, bei welchem gar
keine Ausrede auch nur gedacht werden kann: das ist die Auf-
hebung des Verbotes der Kolportage. Es gibt absolut
kein noch so fadenscheiniges Argument, das dagegen vorgebracht
werden könnte. Im Gegenteil, der Finanzminister wird reichere
Stempelerträge haben, der Justizminister seine Richter von den
albernen Kolportageprozessen entlasten. Es gibt nur einen einzigen
Grund dagegen, und diesen auszusprechen wird man nicht die
Frechheit haben : man will nicht, daß gelesen werde.
Es wird ein stummer, passiver Widerstand geleistet werden, den
zu überwinden wir aber selbst unserem Abgeordnetenhaus zu-
trauen.
Denn alle Parteien haben ein Interesse an der freien Ver-
breitung ihrer Druckschriften. Zwei Ausnahmen gibt es allerdings:
die Großgrundbesitzer (darunter vor allem die pol-
nischen Magnaten, welche sich damit trösten können, daß
sie mit Glück ihre armen Hörigen gehindert haben, lesen zu
lernen) und die A 1 1 1 i b e r a 1 e n, deren Typus der alte Herbst
ist, welcher als Justizminister im Jahre 1868 sich ausdrücklich
gegen die Aufhebung der Kolportage erklärte in folgenden denk-
würdigen Worten: „Es würde dies nicht einmal im Interesse
der bedeutenderen Journalistik liegen und würde viel-
mehr die Besorgnis eintreten, daß es mit dem, ich möchte sagen,
berechtigten Ansehen und der Würde der Jour-
nalistik nicht recht vereinbar wäre, wenn die Zeitungen auch
auf öffentlicher Straße zum Verkauf angeboten würden!"
Herbst hat damit aufgedeckt, in wessen Interesse die Be-
schränkung der Kolportage wirkt. Es sind die großen „Weltblätter",
die Organe der Plutokratie, welchen sie ein Monopol verschafft.
Der § 23 lies österreichischen Preügesetz«
Die „bedeutendere Journalistik" verliert auch heute kein Wort für
die Freigebung der Kolportage und die ..Nene Freie Presse"
schweigt sich darüber in SO auffallender Weise ans, daß auch dein
Harmlosesten ihre Motive klar werden müssen. Das sind die
„Fackelträger l\cv Aufklärung".
Trotz dieses Widerstandes, trotz der Macht und des Einflusses
der Protzenpresse aber meinen wir, daß es nicht möglich ist, daß
das Parlament dieser Reform ans dem Wege geht, wenn sie
isoliert vor dieselbe gestellt wird: wird die Frage klar und rein-
lich gestellt: „soll das Kolportageverbot aufrechtbleiben oder be-
seitigt werden?" wird jede Möglichkeit Flausen und Faxen zu
machen beseitigt dann muß selbst unser rückständiges Parlament
sich für die Beseitigung aussprechen.
Die Taktik der Sozialdemokratie in der Frage der Preisreform
mußte also, wenn ein praktischer Erfolg erzielt werden soll, darauf
hinausgehen, den herrschenden Parteien jede Gelegenheit zum Aus-
kneifen zu nehmen, ihnen den erwünschten Rückzug abzuschneiden.
Das haben wir getan, indem wir die Freigebung der Kolportage
von allen anderen Fragen abtrennten und als besonderen, allein zu
behandelnden Punkt aufstellten. Wir vergeben uns dadurch gar
nichts: daß wir von unseren Forderungen auch nicht ein Jota
preisgeben, weiß jedermann. Wir müssen aber hinabsteigen bis zu
dem Niveau unseres Parlaments, wollen wir einen Fortschritt
durchsetzen. Wir müssen die Schönredner aller „fortschrittlichen"
Parteien zwingen, endlich einmal Farbe zu bekennen. Darum haben
wir die Frage der Kolportage allein auf die Tagesordnung
gesetzt, und der Abgeordnete Pernerstorfe r*) hat einen dies-
bezüglichen besonderen Antrag eingebracht, welcher dem
Preßausschuß vorliegt. Er enthält die Beseitigung der Verschleiß-
lizenz (§ 3, Absatz 5, P.-G.) und die Aufhebung des § 23 Pr.-G.
Der Antrag will durchaus nichts Unerhörtes; er ist den Be-
stimmungen, welche im Deutschen Reiche durch die Ge-
werbeordnung festgesetzt sind, nachgebildet, und es gehört nicht
der geringste Aufwand von Mut für unsere Abgeordneten dazu, daß
sie ihn annehmen. Was in dem Deutschland der Bismarck und
Puttkamer möglich ist, sollte doch der „Freiheit wie in Österreich**)
nicht unerschwinglich sein.
Noch eine Bemerkung: Es liegt dem Abgeordnetenhaus auch
ein Antrag der deutschnationalen Antisemiten vor, welcher nur den
§ 3, Absatz 5, P.-G., also die Verschleißlizenz aufhebt, den
Zeitungsverschleiß aber dafür den Bestimmungen unserer Ge-
werbeordnung unterstellt. Dieser Antrag ist vielleicht gut gemeint,
aber halb und wertlos. Aus dem Regen unseres Preßgesetzes
kämen wir damit unter die Traufe der Gewerbeordnung, deren
*) Über diese Anträge siehe die Fußnote oben (Seite 301).
) über diese Phrase siehe N ä h eres in der Fußnote beim Bericht an
den Internationalen Sozialistenkongreß in Brüssel im Jahre 1891 in dem
zehnten Band dieser Sammlung:, der vom K a m p f u rn das W a h 1 r e c h t
handelt. (Seite 81.)
326 Der Kann»! um die Preßfreiheit.
S 15 aus dem Handel mit Preßerzeugnissen ein „konzessioniertes
Gewerbe" macht, das dem „Befähigungsnachweis" unterliegt. Im
Antrag Pernerstorfer ist mit gutem Vorbedacht ausdrück-
lich bestimmt, daß alle Einschränkungen, welche Gewerbe-
ordnung und Hausier Handelsgesetze dem Vertrieb
von Druckschriften auflegen, aufgehoben sind. Das ist wichtig, denn
die Fußangeln unserer sauberen Gewerbeordnung sind nicht um
ein Haar besser als die Fallgruben des Preßgesetzes.
Der Antrag Pacäk sagt, daß die Bewilligung zur Kolportage
„unbescholtenen" Personen nicht versagt werden darf. Der
Ausdruck „unbescholten" ist durchaus zu verwerfen, weil er viel-
deutig ist und von verschiedenen Behörden verschieden aufgefaßt
wird. Zum Beispiel gibt es nach Ansicht mancher Leute überhaupt
keine „unbescholtenen" Sozialdemokraten oder ist doch jeder, der
irgendeines der zahllosen politischen „Verbrechen" sich hat zu-
schulden kommen lassen oder als Arbeitsloser mit dem Vaga-
bundengesetz in Konflikt gekommen ist, nicht mehr
„unbescholten".
Der Antrag Pernerstorfer vermeidet darum diesen zwei-
deutigen und schielenden Ausdruck und macht nur gewinn-
süchtige Verbrechen und Vergehen zu einem Ausschließungs-
grund.
Wie gesagt, die Zumutung, welche wir an unser Parlament
stellen, ist eine sehr bescheidene. Aber nicht unsere Forderungen
sind so bescheiden, sondern unsere Erwartungen von diesem Parla-
ment. Der Antrag Pernerstorfer ist die bequemste Eselsbrücke, mit
der je schwächlichen Politikern unter die Arme gegriffen wurde!
Und doch ist es nur wahrscheinlich, aber keineswegs sicher, daß das
Abgeordnetenhaus sich auch nur dieser so sehr erleichterten Auf-
gabe gewachsen zeigen wird. Wenn nicht, dann wird das Urteil
des Volkes über diese Herren an Klarheit nichts zu wünschen
übriglassen. Sie wissen genau, was wir wollen, die Resolution,
welche wir zum Schluß abdrucken, ist jedem einzelnen von ihnen
mitgeteilt worden. Sie mögen sich selbst die Folgen zuschreiben,
wenn sie auch den allerbescheidensten Anforderungen an ihren
Mut und ihren Verstand nicht genügen. Wenn es aber gelingt,
wenn die Beschränkung an der Verbreitung von Druckschriften
fällt, dann werden wir einen Fortschritt zu verzeichnen haben, der
für die gesamte geistige und politische Entwicklung Österreichs
entscheidend sein wird. Nicht am wenigsten aber wrird davon
profitieren unsere Partei, die Sozialdemokratie. Daraus erklärt sich
der Eifer und die Begeisterung, mit der allerorts unsere Partei-
genossen diesen Kampf führen. Sie sind sich sehr wohl bewußt,
daß es keine sozialdemokratische Forderung ist, die wir
vertreten; daß wir jedoch die traurige, aber dringende Pflicht
haben, das Bürgertum zu zwingen, wenigstens seine eigenen
Forderungen durchzusetzen; daß wir durch den gewaltigen Druck
der Bewegung des Proletariats ersetzen müssen, was ihnen an
Mut fehlt. Und wir tun das nicht um ihretwillen, sondern um
unsertwillen. Auf der Arbeiterpresse lastet das Verbot der
Der Zeitungsstempel imii das Parlament.
Kolportage am allerschwetsten; sie wird sich ganz anders großartig
entfalten, und mit ihr unsere Bewegung, wenn es Wegfällt.
Die Resolution, welche eine Volksversammlung, einberufen vom
politischen Verein „(ileichheit" in Wien, beschloß, faßt unseren
Standpunkt klar und präzis zusammen, und mit ihr wollen wir
unsere Ausführungen schließen:
R es ol u t i o ii.
„In Erwägung, daß unter allen Einschränkungen der politischen Frei-
heit in Österreich unsere durchaus reaktionäre und kulturwidrige Preß-
gesetzgebung die drückendste ist:
daß insbesondere das Verbot der Kolportage im 8 2 3 d i e s e s
Gesetzes die Verbreitung von Zeitungen und Büchern zu einem
Monopol der Besitzenden macht;
in Erwägung, daß von einem Parlament, welches weil entfernt davon
ist, eine Volksvertretung zu sein und nur einige Interessenkreise privi-
legierter Schichten vertritt — weder der ernste Wille noch der Mut zu
erwarten ist, einen entscheidenden Fortschritt auf dem Gebiet der poli-
tischen Freiheit durch Aufhebung jeder Preßknebelung zu machen;
daß voraussichtlich alle diesbezüglichen Anträge an dem Widerstand
der Regierung scheitern werden, dem das Parlament sich gewohnheits-
mäßig gehorsam fügt,
erklärt die heutige Volksversammlung: eine gründliche Reform der
Preßgesetzgebung durch Beseitigung von Kaution, Stempel und jeder Form
der Zensur ist allerdings eine politische Notwendigkeit, aber von dem
reaktionären Abgeordnetenhaus nicht zu erwarten;
es ist zu befürchten, daß wie üblich unter dem Vorwand mehr zu
wollen, das Parlament auch jene Reform unterlassen wird, welche auch
den reaktionärsten Parteien als selbstverständlich erscheinen muß: die
Freigebung der Kolportage, die Beseitigung des § 23 P.-G., welche im
Interesse aller Parteien, welche nicht direkt und ausschließlich groß-
kapitalistische Interessen vertreten, liegt;
fordert die heutige Volksversammlung darum die Abgeordneten ins-
gesamt und jeden einzelnen insbesondere auf, einen selbständigen Dring-
lichkeitsantrag, der nur die Freigebung der Kolportage enthält, zu stellen
und zu unterstützen und so alle Vorwände, Ausflüchte und Intrigen gegen
diesen kleinen, aber bedeutungsvollen Fortschritt zu beseitigen.
Sollte das Parlament sich unfähig erweisen, auch nur diesen kleinen,
selbständigen Schritt zu machen, dann würde es sich in den Augen de^
gesamten Volkes als bar jeden guten Willens und jedes
Funkens von politischem Mute bloßgestellt habe n."
Der Zeitungsstempel und das Parlament.
Versammlung im Hern aiser Brauhaus am
2 5. Jänner 1899*).
Wir sind eine revolutionäre Partei, das heißt eine Partei, die
die Gesellschaft vom Grund aus umgestalten will, und wir werden
deshalb oft Utopisten genannt. Zugleich aber sind wir die prakti-
*) Am 1. Juni 1898 hatte die Regierung eine Vorlage über die Auf-
hebung des Zeitungs- und Kalenderstempels eingebracht. Aber sie hatte
es ebensowenig eilig wie das Abgeordnetenhaus. Auch ein Dringlichkeits-
328 Der Kampi um die Preßfreiheit.
scheste von allen Parteien, die Partei der kleinen Reformen. Wir
kennen unser letztes Ziel sehr genau, auf dem Wege dahin sind
aber noch eine Menge Dinge zu erledigen, die gar nicht soziali-
stisch sind, die aber wir machen müssen, weil die anderen sie nicht
machen. (Beifall.) Wir leben in einem kulturell und wirtschaftlich
rückständigen Land, aber noch weit hinter der wirtschaftlichen
Entwicklung ist die politische Entwicklung zurückgeblieben. Die
Aufgabe unserer Vertrauensmänner ist es, den günstigen Augen-
blick ausfindig zu machen, wo wir wieder einen Schritt vorwärts-
machen können, wo wir am leichtesten in den alten festen Wall
der Vorrechte, des Unrechts und des bürokratischen Zopfes eine
Bresche schlagen können. Da handelt es sich gar nicht darum,
was das Wichtigste ist, sondern um das, was das Möglichste ist.
Und dieselben Leute, die uns sonst Utopisten und Wolkenkuckucks-
heimer nennen, die schreien dann, daß wir Opportunisten sind.
Wenn wir heute gegen den Zeitungsstempel mit solcher Wucht los-
gehen, so sind wir nicht blind dafür, daß auch andere Dinge ge-
ändert werden müssen. Aber wir meinen, daß der Zeitungsstempel
jetzt schon reif ist; nicht reif für uns, für uns ist er schon lange
reif, aber reif für die anderen, so daß er selbst jenen, die ihn ver-
treten, lächerlich geworden ist. Die Frucht ist reif, und darum
schütteln wir den Baum. Der Redner besprach hierauf die Ent-
wicklung der politischen Verhältnisse in der letzten Zeit, besonders
das Wiederaufleben der Obstruktion, an der sich die Sozialdemo-
kraten nicht beteiligten. Wir sagten den beiden Parteien: Wir
mischen uns nicht in eure Streitigkeiten; aber das verlangen wir
von euch, daß ihr den Zeitungsstempel, der euch allen beim Hals
herauswächst, erledigt. Wir dachten, wir würden dabei auf keinen
Widerspruch stoßen. Aber wir hatten uns gewaltig geirrt. Da stand
der Graf Dzieduszycki auf, ein alter, weiser Herr, der in
seinem Vaterland dafür berühmt ist, daß er viel Bücher gelesen
hat, ich glaube sogar, er hat viele geschrieben, aber die sollen
nichts nutz sein (Heiterkeit), er gilt so gewissermaßen als der
Philosoph unter den galizischen Grafen. (Heiterkeit.) Und dieser
Mann stand nun auf und hielt eine weise Rede, die in dem Schluß
gipfelte, es wäre eine Beleidigung der Presse, wenn man den
Zeitungsstempel zu schnell abschaffen würde. Nun mußte man er-
warten, daß nicht nur die Linke, sondern auch die Rechte, zu-
mindest aber die Jungtschechen, die eine Unmasse Anträge gegen
den Zeitungsstempel eingebracht haben, energisch für unseren
antrag des sozialdemokratischen Abgeordneten R e s e 1, auf Aufhebung des
Kolportageverbotes und des Zeitungsstempels, vom 3. Oktober 1898 blieb
unerledigt, ebenso ein Antrag des Jungtschechen Dr. P a c a k auf Ab-
änderung der die Presse betreffenden Gesetze und ein christlichsozialer
Antrag auf Aufhebung des Zeitungsstempels. Am 25. Jänner 1899 ging
der Presseausschuß wieder daran, die Anträge über die Presse zu
beraten. Er beschloß neuerlich die Aufhebung des Zeitungsstempels. An
demselben Tag fand abends im Hernalser Brauhaus eine Versammlung
statt, in der Adler über das Thema „Der Zeitungsstempel und das Parla-
ment" sprach.
I >ci /.i itungsstemp« i und das I '.i i lameut.
Antrag eintreten würden. Aber die Opposition, die froh sein sollte,
der Regierung ein Bein zu stellen, hat gesagt: Wir können nicht
den Zeitungsstempel als ersten Punkt erledigen, wir sind gebunden
durch den Schwur von Eger!*) Mas Argument ist verblüffend: Die
Herren sind SO begeistert für die „heiligsten Güter der Nation", wie
Herr Schönerer sagt, verabscheuen die Regierung so sehr, daß sie
ihrer Sache das Opfer bringen, ^\cv Regierung die Kastanien aus
dem Feuer zu ziehen. (Richtig!) Wenn der Schönerer nur so viel
Übuilg im politischen Nachdenken hätte, dal! man ihm mit Argu-
menten kommen könnte, dann müßte er sich doch sagen, dal.», wenn
die Regierung einen Grund hat, l\c\\ Zeitungsstempel nicht abzu-
schaffen, es der ist, dal.-) sie die oppositionelle Presse nicht groß
werden lassen will; dann müßte er sich doch sagen, daß der natio-
nalen Opposition die Aufhebung des Zeitungsstempels zwanzigmal
mehr nützen würde als hundert namentliche Abstimmungen. (Hei-
fall.) Und wenn der Herr Wolf gerufen hat: „Das ist ein Trinkgeld
für die Sozialdemokraten!" (Rufe: Eine schurkische Verleumdung!)
Nein, das ist nicht schurkisch, denn Herr Wolf hat damals wahr-
scheinlich wieder einmal nicht gewußt, was er redet, sondern dumm
ist das! Wir wollen den Zeitungsstempel aufheben, und die Regie-
rung will das nicht zugestehen. Und der Wolf nennt das ein Trink-
geld. (Gelächter.) Über dem Streit der nationalen Parteien steht
für uns das sachliche Interesse des Volkes. Wir können nicht
warten, bis die Herren ausgerauft haben, und während dieser Zeit
Österreich im Dreck ersticken lassen. Der Spaß hört sich auf, wenn
es sich um ernste, in das ganze Kulturleben tiefeinschneidende
Fragen handelt. Dieselben Herren Obstruktionisten, die jetzt so
wild sind, daß sie von ihrer Obstruktion nicht lassen können, haben
früher gegenüber anderen Gegenständen, die ihnen am Herzen
lagen, ein weiches Herz bewiesen. Jetzt plötzlich beim
Zeitungsstempel geht es nicht. Ich glaube nicht, daß
es aus Schlechtigkeit geschieht, die Leute sind einfach zu dumm.
Ihr Gehirn ist so verklebt mit diesen nationalen Phrasen, daß sie
für andere Dinge blind sind. Genosse Adler bespricht sodann die
weiteren Reden, die im Preßausschuß gehalten wurden, vor allem
die des Abgeordneten P a c a k. Diese ist so recht ein Beispiel für
jene Reden, bei denen man glauben könnte, nur ein Idiot oder ein
Schurke könne so sprechen. Aber es stellte sich heraus, daß e s
nur ein Politiker ist, multipliziert mit einem
Juristen; ja, da findet man das Ganze begreiflich. (Lebhafte
Heiterkeit und Beifall.) Gegenüber den Ausführungen des Abgeord-
neten Rutowski**) bemerkt der Redner: Wir reißen uns wahr-
*) Am 12. Juli 1897 fand im Rathaus in H^er ein „Volkstag" statt, auf
dem der heftigste Kampf gegen Badeni und seine Sprachenverordnungen
beschlossen wurde. Der deutschfortschrittliche Abgeordnete Dr. Funke
ließ die Anwesenden schwören, im Kampfe nicht zu wanken. Das war der
berühmte „Schwur von Eger". Als die Versammelten das Rathaus
verließen, wurden sie von Polizei auseinandergetrieben, da die Versamm-
lung trotz des Verbotes abgehalten worden war.
'*) Dr. Thaddäus Rutowski, ein Pole.
330 Der Kampf um die Preßfreiheit.
haftig nicht um den Ruhm, den Dreck wegzuräumen; bei uns ist
es noch keine Großtat, wenn man den alten Zopf, der stinkt vor
Alter und vor Moder, abschneidet; das bringt der Dzieduszycki
auch zusammen. Aber das Geheimnis ist eben das, daß er es nicht
tut, wenn er auch weiß, wie dringend notwendig das wäre. Es ist
gar nicht wahr, daß diese Reform uns am meisten nützen würde.
Von den 2lA Millionen, die der Zeitungsstempel einträgt, zahlt die
sozialdemokratische Presse höchstens 150.000 fl. Das ist sehr viel
für uns, aber blutwenig im Verhältnis zu den anderen. Wenn aber
die Aufhebung des Zeitungsstempels uns am meisten nützen würde,
so können ja wir nichts dafür. Das ist eben das Charakteristische,
daß man überhaupt keine Reform machen kann, die nicht der
Sozialdemokratie in allererster Linie Profit brächte. Im Grunde ge-
nommen beruht ja die ganze Siegessicherheit der Sozialdemokratie
darauf, daß jeder Fortschritt in der Welt ihr nützt, weil sie die
Partei jener Klasse ist, der die Zukunft gehört. (Stürmischer Bei-
fall.)
Das Herrenhaus und der Zeitungs-
stempel.
VierVolksversammlungenam2 0. Dezemberl89 9*).
Die Arbeiterschaft muß es als tief beschämend empfinden, daß
man über eine Sache, über die in der ganzen Welt nur gelacht
wird, unter ernsten Leuten noch ein Wort verlieren muß. (Stürmi-
*) Das Abgeordnetenhaus war obstruiert. Nachdem die deutsche Ob-
struktion das Ministerium Thun-Kaizl gestürzt hatte, obstruierten die
Tschechen wieder die Regierung C 1 a r y, die am 1. Oktober 1899 ins Amt
getreten war. Immerhin gelang es der Sozialdemokratie, durchzusetzen,
daß die Obstruktion den Gesetzentwurf über die Aufhebung des Zeitungs-
und Kalenderstempels, den die Regierung am 18. Oktober wieder ein-
gebracht hatte, zur Verhandlung ließ. Auch der sozialdemokratische Ab-
geordnete R e s e 1 und der polnische Abgeordnete Dr. v. L e w i c k i hatten
ihre Anträge wieder eingebracht. Am 17. November wurde das Gesetz
beschlossen. Nun setzte jedoch der Widerstand der Herrenhäusler ein. Am
14. Dezember hatte das Herrenhaus eine Sitzung. Aber der Präsident Fürst
Windischgrätz hatte gerade den Beschluß des Abgeordnetenhauses
nicht auf die Tagesordnung gestellt. Da setzte der Sturm der Sozialdemo-
kratie ein. Tag für Tag schrieb die „Arbeiter-Zeitung" einen Artikel —
bald beschwörend, bald drohend, bald an die Ehre der Herrenhäusler
appellierend — und zugleich veranstalteten die Arbeiter eine Versamm-
lung nach der anderen. Am 20. Dezember sollte die Budgetkommission des
Herrenhauses doch die Vorlage beraten. Aber die Mehrheit wollte sie
kurzerhand ablehnen. Da setzten die Anhänger der Vorlage durch, daß die
Minister geholt werden, um Aufklärungen zu geben, ob die Finanzen des
Staates die Aufhebung zuließen. Aber obwohl der Leiter des Finanzmini-
steriums R. v. Kniazolucki, ebenso auch die Minister des Innern
Dr. v. Koerber und der Justiz Dr. v. Kindinger sich für die Auf-
hebung aussprachen, vertagte sich der Ausschuß auf den nächsten Tag,
wo er kurz vor der Haussitzung noch einmal beraten wollte. Für den
Zehn fahl
sehe Zwischenrufe; Eine Schande, die wir nicht länger tragen!
Weg damit!) Durch unsere unermüdliche und kraftvolle Agitation
in Massenversammlungen und im Parlament haben wir es dahin
gebracht, daß es heute keinen Menschen in Österreich gibt, der
die Notwendigkeit der Abschaffung des Zeitungsstempels nicht be-
griffe. Seihst unser Parlament* das zu keiner Arbeit kommt, in dein
alles stockt, alles verstopft und erstarrt ist, seihst dieses Parla-
ment hat in dieser Sache einen ein s t i m m i k c ii Beschluß ge-
faßt. Das Herrenhaus aber hat gestern einen Beschluß gefaßt, nach
dem es ganz den Anschein hat, als sollte uns diese Schande er-
halten werden. (Stürmische Unterbrechung.) Ja, wenn die Herren
Kavaliere dazu beitragen wollen, daß man nicht bloß „Weg mit
dem Zeitungss tempel!", sondern auch „Weg mit dem
Herrenhaus!" ruft, dann mögen sie diese kleine Reform hinter-
treiben. (Lang anhaltender, brausender Beifall.) - - Dr. Adler*) be-
richtet dann in seinem Schlußwort, daß die Kommission des
Herrenhauses das Parlament bereits verlassen habe.
Ob die Herren und wie sie ihre Arbeit beendigt, das werden
wir erst morgen erfahren. Sie sollen es haben, wie sie es
wünschen. Ihre Namen sollen nicht vergessen werden. Das kann
unsere Presse schon leisten. Wenn sie die Herren Kavaliere nicht
gescheit mache, populär können sie durch uns sicher wer-
den. (Hundertstimmige Rufe: Pfui Stadnicki!) Die kleine.
Reform, die sie jetzt verhindern wrollen, kann der Ausgangspunkt
einer großen Bewegung werden. Die Arbeiter wrerden auch dann
ihre Pflicht tun, wie immer. (Rufe: „Weg mit, dem Zeitungs-
stempel!")
Zehn Jahre.
Von Viktor Adler.
„Ar beit er -Zeitung", 1, Jänner 1905.
Heute vor zehn Jahren**) haben wir den ersten Schritt auf einer
schweren Bahn gemacht. Die Sozialdemokratie Österreichs bedurfte
Abend wurden nun vier Versammlungen einberufen, in denen die
Arbeiter neuerdings energisch die Aufhebung des Zeitungsstemptls ver-
langten. In Favoriten sprach Adler.
Am nächsten Tag entschloß sich die Mehrheit der Kammer, unter dem
Druck der öffentlichen Meinung und der Erregung der Arbeiterschaft, doch,
der Vorlage zuzustimmen. Das Herrenhaus beschloß sogar die dringliche
Verhandlung. Als Kompensation hatten die Herrenhäusler verlangt, daß
dafür die Kompetenz der Geschwornen für Presseehrenbeleidigungen auf-
gehoben werde, begnügten sich aber schließlich mit einer Resolution, in
der das verlangt wurde.
Es war die höchste Zeit; denn au demselben Tag trat die Regierung
Clary zurück und es kam die Regierung W i 1 1 e k, die sofort mit dem
§-14-Regime begann.
Vom 1. Jänner 1900 an hörte der Zeitungs- und Kalenderstempel auf,
der nicht weniger als 110 Jahre die Presse bedrückt hatte.
*) Nach Adler hatte Schrammel gesprochen.
') Am 1. Jänner 1S05 ist die „Arbeiter-Zeitung'", die bis dahin dreimal
•W2 Der Kampf um die Preßfreiheit.
eines Tagblattes, sie war weit hinausgewachsen über die Zeit, wo sie
mit Wochenblättern das Werk der Agitation und Organisation ver-
richten konnte. Der Walilrechtskampf hatte aufgezeigt, daß die
klassenbewußte Arbeiterschaft zu einer der stärksten politischen
Triebkräfte emporgediehen war, dieser Kampf selbst entwickelte
lag für Tag mehr ihre Kräfte, die, sollten sie in lebendig wirksamen
politischen Einfluß umgesetzt werden, mit jener Waffe bewehrt
werden mußten, die die wirksamste ist im politischen Kampfe. Die
absolute Unmöglichkeit, ein sozialdemokratisches Tagblatt in Wien
zu gründen, war soeben erst beseitigt worden. Der jahrelange Feld-
zug, den die Sozialdemokratie für die Preßreform führte, hatte uns
zwar vom Stempel, Kolportageverbot Und objektiven Verfahren nicht
zu befreien vermocht, aber die karge Preßnovelle des Jahres 1894
beseitigte wenigstens jene Bestimmung, die die Erlaubnis, eine
Zeitung öffentlich zu verkaufen, von der Gnade der Regierung ab-
hängig gemacht hatte. An demselben Tage, an dem diese Preß-
novelle kundgemacht wurde, erschien der Aufruf der Parteivertretung
der Sozialdemokratie, der die Gründung des Tagblattes ankündigte.
„Weil nun ein tägliches Arbeiterblatt möglich ist, ist es unsere
Pflicht, es zu schaffen." Mit offenem Auge traten wir an die fast
verzweifelten Schwierigkeiten aller Art heran, die unserem, wir
wußten es nur zu genau, tollkühnen Unternehmen im Wege standen.
Wie wir sie überwinden würden, konnten wir nicht sagen; daß es
gehen werde, weil die Partei ein Tagblatt haben müsse, das war
unsere durch keine Schwierigkeit zu erschütternde Überzeugung.
Und heute, nach zehn Jahren, Jahren des heißen Ringens und
vielfach der bitteren Sorge, heute können wir vor unsere Partei-
genossen und Freunde hintreten und ihnen mit freudiger Genug-
tuung sagen, daß nun zum guten Teile geleistet ist, was unser Auf-
trag war, daß die „Arbeiter-Zeitung" das schwerste Stück des Weges
hinter sich hat und daß ihre Zukunft gesichert ist. Ein wahres Be-
dürfnis ist es uns heute, allen den Organisationen, allen den Hun-
derten, ja Tausenden von Genossen aus vollem Herzen zu danken,
die uns geholfen haben, unser Blatt zu dem zu machen, was es ge-
worden ist, und den Freunden im Inland wie im Ausland Dank zu
sagen, die uns in den schwierigsten Zeiten opferwillig mit Rat und
Tat zur Seite gestanden. Das aber sei unser Dank, daß wir dem
heiligen Amt, das wir zu verwalten haben, unsere ganze Kraft und
all unser Können hingeben, daß wir die „Arbeiter-Zeitung" immer
mehr würdig machen der verantwortungsvollen Ehre, Bannerträger
und Wortführer der österreichischen Sozialdemokratie zu sein.
Da wir aber beim Danken sind, Dank auch unseren Feinden. In
der Tat, so sehr wir Kämpfende der Liebe der Freunde bedürfen,
nicht mindere Wohltat ist es, daß uns die Feinde hassen. Stolz und
Genugtuung ist es uns, daß wir mit gutem Gewissen sagen können,
wöchentlich erschienen war, in ein Tagblatt umgewandelt worden. Ihre
Vorgängerin war die „Gleichheit" gewesen, die im Ausnahmszustand ein-
gestellt wurde, worauf vom 1. Jänner 18 0 an die „Arbeiter-Zeitung", und
zwar zunächst als Wochenblatt, herausgegeben wurde.
Zehn Jahre,
daß wir ihren Haß redlich verdient haben, denn wir führen einen
unerbittlichen und unversöhnlichen Kampf gegen die dumme Impotenz
und l\c\\ bornierten Übermut der Machthaber, gegen die eigen-
Süchtige Brutalität der Ausbeuter, gegen die lichtscheuen Teufeleien
der Heuchler, gegen alle Lüge und allen Selbstbetrug, der in diesem
Lande Trumpf ist; wenn die «eifernde Wut gegen uns aufzischt, so
nehmen wir das als Zeugnis dafür hin, daß wir unsere Pflicht getan.
Die sozialdemokratische Presse hat die Politik der Arbeiterklasse
zu machen, sie ist ein wichtiger Träger der Bewegung, aber sie muß
selbst von ihr getragen werden. Das unterscheidet ein wirkliches
Parteiblatt von den Zeitungsdruckunternehmungen, mögen sie ein-
gestandenermaßen bloße farblose Nachrichtenblatter sein oder ihr
Geschäft in den Mantel einer politischen Absicht hüllen: die Ge-
schäftspresse, auch die verbreitetste, redet im besten Fall in die
Leser hinein, die Arbeiterpresse spricht vor allem aus den Massen
heraus. Unsere Parteiorgane dienen gewiß der Verbreitung der
sozialistischen Idee, aber vor allem sind sie das Mundstück des
Willens und des Interesses der Arbeiterklasse. Der begabteste Jour-
nalist kann höchstens heute schreiben, was seine Leser morgen
lesen und, wenn er geschickt ist, vielleicht ihm glauben werden; der
sozialdemokratische Schriftsteller spricht aus, was Überzeugung,
mehr oder minder bewußtes Wollen von Hunderttausenden ist. In«
dem aber die Arbeiterpresse den Willen des Proletariats formuliert,
indem sie den Inhalt seiner Empfindungswelt ihm selbst zum deut-
lichen Bewußtsein und zum Ausdruck bringt, wirkt sie zurück auf
diesen Willen, auf diese Empfindungen. Weil aber die sozialdemo-
kratische Presse nicht zu irgendeinem amorphen Publikum ohne
inneren Zusammenhang spricht, weil sie zu einer organisierten Masse
redet, die zu geordnetem und planmäßigem Handeln fähig und bereit
ist, darum ist sie etwas wesentlich anderes und mehr als das Organ
irgendeiner öffentlichen Meinung, die selten zur Helligkeit eines ge-
meinsamen Bewußtseins anwächst. Weil dem aber so ist, so ruht auf
unserer Parteipresse auch eine um so höhere Verantwortung, deren
sie sich zu jeder Stunde voll bewußt sein muß. Wie ihre beste Kraft
aus den Tiefen quillt, so ist ihre Leistung ernster Wirkung sicher:
das ist die Würde der sozialdemokratischen Presse, das ist der Grund
des Ansehens, das ihr auch der Gegner nicht versagen kann.
Schwer hat oft diese Verantwortung auf uns gelastet in diesen
zehn Jahren. Es ist kein leichtes Stück Arbeit, die Politik der Ar-
beiterklasse in Österreich zu machen: in diesem Lande, das von
allen guten Geistern verlassen scheint, wo der Fuß bei jedem Schritt
in den Sumpf versinkt, dessen herrschende Schichten kurzsichtig
und feige den Staat im Chaos verkommen lassen, wo die mächtigen
Gegner der Arbeiterklasse fast mehr verächtliches Mitleid als leiden-
schaftlichen Haß herausfordern, wo alles weichlich und verludert, wo
Klarheit, Festigkeit und Konsequenz ganz unerhört und fremdartig
erscheinen. Trotzdem, oder noch mehr gerade darum: Wer dazu
verdammt ist, mit offenen Augen in Österreich zu leben, muß ver-
zweifeln, wenn er nicht Sozialdemokrat ist, wenn er nicht seine
334 Der Kampi uiii die Preßfreiheit.
Hoffnung setzt auf die Arbeiterschaft, das einzige, was gesund und
kräftig geblieben ist in diesem Lande. Der Adel verkommend in Un-
bildung und Aberglauben; das Bürgertum in nationale Gruppen zer-
rissen, bald von chauvinistischem Rausch gepackt, bald von leidigem
Katzenjammer niedergedrückt; die Bauern von bitterer Not ge-
schüttelt, aber unfähig, sich aufzuraffen, unfähig auch, sich ihren
klerikalen Ausbeutern zu entziehen: Nirgends Selbstvertrauen,
nirgends fester zielbewußter Wille, nirgends auch nur der Mut, den
Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Dabei die wirtschaftliche Entwicklung
gehemmt; die Verwaltung im Banne verzopfter Einrichtungen, die
abzuschütteln mehr noch als die Einsicht der Mut fehlt; ein Unter-
nehmertum, dessen Raubgierinstinkte nicht durch Einsicht, aber
durch Mangel an Wissen und Energie im Zaume gehalten werden;
ein Kleinbürgertum, das die Beute jesuitischer Demagogen geworden
ist und dessen einziger Fortschritt die beginnende Enttäuschung ist,
aber ohne die Kraft, sich zur Erkenntnis zu erheben: Will man ein
Gesamtbild haben, man sehe auf das Parlament hin, diese Stätte der
Verzweiflung und der Lächerlichkeit.
Und nun blicke man auf die Arbeiterschaft hin, auf die Entwick-
lung, die sie in den letzten zwei Jahrzehnten unter der Führung der
Sozialdemokratie genommen hat. Wir sind die letzten, die blind sind
gegen unsere eigenen Schwachen, wir empfinden es täglich mit
Schmerzen, wie auch wir mit allen Lastern und Erbübeln des öster-
reichertums geschlagen sind; das Proletariat ist keineswegs immun
gegen die Verseuchung, aber es ist kräftig genug, den Giftstoff aus-
zuscheiden, seine Entwicklung ist traurig gehemmt, aber nicht unter-
bunden. Diese Arbeiterschaft, die von der hohen Weisheit unserer
Regierenden mit dem Polizeistock geschurigelt, mit offener Gewalt
und mit allen Niederträchtigkeiten der Korruption systematisch am
Boden gehalten wurde, hat es vermocht, sich zu erheben und ihre
Aufwärtsbewegung wird einst als der einzige große, kulturelle Fort-
schritt, den Österreich in diesen Jahren gemacht hat, erkannt werden.
Aus Gedrücktheit und Verachtung hat sich der Arbeiter erhoben
zum stolzen Bewußtsein seiner Menschenwürde; er hat den Willen
gefunden, sein Recht in Anspruch zu nehmen und es in langem,
zähem, opfervollem Kampfe zu erobern. Die Mittel der politischen
Betätigung, Versammlungsrecht, Vereinsrecht, die man ihm vor-
enthielt, indem man das Gesetz mit Füßen trat, hat er sich erkämpft
und hat den alten Kautschukparagraphen jugendliche Elastizität, aber
nun zu seinen eigenen Gunsten zu geben gewußt. Die Fesseln der
Presse hat er gelockert, indem er sie verächtlich ignorierte, über die
Albernheit des Kolportageverbots hinwegschritt und den Preßver-
folgungen die Stirne bot. Das elende Minimum von Koalitionsrecht
hat er auszuweiten verstanden und sich eine umfassende gewerk-
schaftliche Organisation zu geben vermocht, die sein berechtigter
Stolz, wie die Stütze und die Hoffnung seiner Lebenshaltung ist.
Durch genaue Gesetzeskenntnis und unnachgiebigen Kampf für sein
Recht hat er die Willkür der unwissenden und frivolen Bureaukratie
gebrochen, für die er Freiwild gewesen, und hat sich den ihm schul-
Zehn Jahre.
digen Respekl in aller Ämtern erstritten. In diesem Österreich, d
an der Unfähigkeit zugrunde geht, den Nationen ihr Recht zu «eben
und ihr Zusammenleben vernünftig zu ordnen, hat die klassenbewußte
Arbeiterschaft eine große, geeinigte sozialdemokratische Partei auf-
gerichtet, die das Proletariat aller Zungen umfaßt, die nach einem
wohldurchdachten umfassenden Programm ihre politische Arbeit
planmäßig und gemeinsam verrichtet und die täglich mehr die Hoff-
nung und die Zuflucht aller ausgebeuteten Klassen wird. Diese Ar-
beiterschaft hat während dieser ganzen Zeit einen unausgesetzten,
opfervollen Kampf um ihr Wahlrecht geführt und hat jedes Zuge-
ständnis ausgenützt, um diesen Kampf wirksamer zu gestalten. Auf
diese sozialdemokratische Arbeiterschaft sind in Hoffnung oder
Furcht die Augen aller politisch Denkenden gerichtet; sie dringt
Schritt für Schritt, langsam aber unaufhaltsam vor, wird durch
keinen Sieg übermütig und durch keine Niederlage erschreckt.
Zugleich aber mit dieser Erhebung aus der Stumpfheit, mit dieser
Aufrichtung einer gewerkschaftlichen und politischen Organisation
geht eine vielgestaltige Entfaltung proletarischen Lebens. Eine an-
sehnliche Frauenbewegung wuchs empor, die proletarische Jugend
sammelt sich unter verständiger Führung und sucht sich ernst und
würdig auf die Aufgaben des erwachsenen Arbeiters vorzubereiten.
Ein wahrer Heißhunger nach Wissen, nach Kunst, nach den höchsten
und edelsten Schätzen der Kultur ist im Proletariat erwacht, und die
wenigen Männer der Wissenschaft, die guten Willens sind, diesen
Hunger in selbstloser Arbeit zu stillen, haben nicht Hände genug,
um ihre Gaben darzureichen. Und diese ganze gewaltige Bewegung
in allen ihren Formen ist beherrscht und geleitet von dem einen
großen Gedanken der Sozialdemokratie, von dem Gedanken der
Emanzipation der Arbeiterklasse durch ihre ureigene Tat.
Diese Tatsache der Erhebung der Arbeiterklasse ist der Trost,
ist die Hoffnung von uns allen. So sehr man das völkerverwüstende
Österreich hassen mag, die Völker, die auf diesem österreichischen
Boden leben, sie muß lieben, wer sie kennt, wer diese Fülle von
reichster Begabung, von Tapferkeit, von Fähigkeit zur Hingebung
erkannt hat. Ganz zu ruinieren vermochte auch Österreich seine
Völker nicht; sie sind unverwüstlich und sie werden emporblühen,
wenn sie erst die Galeerenfessel vom Fuße zu streifen vermocht.
Dieser österreichischen Arbeiterbewegung zu dienen, auf vor-
geschobenem Posten zu dienen und ihr die opferfordernde Bahn zu
brechen, das ist das Amt, ist die Ehre unserer Zeitung. Wir können
unserer Pflicht nur genügen, wenn wir das Vertrauen der organi-
sierten Arbeiterschaft Österreichs haben, wenn wir als Soldaten in
der internationalen Kampfreihe stehen. Den Wortführern des inter-
nationalen Sozialismus aber, die uns an diesem Tage des feiernden
Gedenkens ihre Grüße gesendet, danken wir herzlich. Und mag uns
auch manches ihrer Worte überschwenglicher Anerkennung fast
noch mehr beschämen als rühren, wir wissen ihnen Dank für dieses
Wort des Vertrauens, der Stärkung zu unserer harten Arbeit. Den
Genossen und Genossinnen aber diesseits wie jenseits der Grenz-
33ö Der Kampf um die Preßfreiheit.
pfähle, allen den armen, ausgebeuteten und gedrückten Menschen.
denen wir in Blutbruderschaft verbunden sind, ihnen erneuern wir
heute das Gelöbnis der Treue, der Hingebung an die Sache der welt-
umfassenden Kampfgemeinschaft, an die heilige Sache der internatio-
nalen Sozialdemokratie!
Nun aber, Genossen, hinein in den Kampf des zweiten Jahrzehnts.
Schwere Zeiten liegen hinter uns, härtere noch stehen uns vielleicht
demnächst bevor. Dieses sieche Österreich, das sich wie ein Tod-
kranker auf dem Lager wälzt, weil es nicht den Mut zu dem Ent-
schlüsse hat, gesund zu werden, scheint wieder einmal vor einer
neuen Wendung zu stehen, die, ach, so alt sein dürfte. Die sozial-
demokratische Arbeiterschaft hat allen Grund, fest zu stehen und alle
ihre Kraft zusammenzufassen, um der Forderung des Augenblicks
gewachsen zu sein. Das, was da kommt, wird kaum eine unserer
Hoffnungen erfüllen, kann aber neue Gefahren heraufführen. Und
unsere gefährlichsten Gegner machen sich bereit; alle schlimmsten
Mächte der Vergangenheit erheben sich, um die Quellen der Zu-
kunft unserer Völker zu verschütten. Der einzige Schutz, der einzige
kampffähige und kampfentschlossene Hort dieser Zukunft ist die
sozialdemokratische Arbeiterschaft, der wir als Neujahrsgruß zurufen :
Bereit sein ist alles! Rüstet euch!
Dem „Volksfreund" zu seinem Feste.
„Volksfreund", 189 1*).
Ein einziges Fest ist es, das heute in Brunn gefeiert wird. Der
„Volksfreund" hat eine Lebensdauer erreicht, die noch keinem poli-
tischen Arbeiterblatt in Österreich beschieden war. Zehn volle Jahre
dient er treulich dem sozialdemokratischen Gedanken, und es waren
sämtlich Kriegsjahre, welche doppelt zählen. Welcher Aufwand von
geistiger Arbeit, von unbezwinglichem Mute, von rastloser Zähigkeit
liegt in der Leistung dieser zehn Jahrgänge!
In jedem Lande ist die Leistung eines Arbeiterblattes unaus-
gesetzter Kampf: Kampf gegen die Ausbeuterklasse und ihre Organe,
Kampf gegen die Übergriffe einzelner Ausbeuter, Kampf gegen den
Feind, den wir am tiefsten hassen, gegen den systematisch gezüch-
teten, mit allen gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln aufrecht-
erhaltenen Unverstand der Massen.
*) Als der Brütiner „Volksfreund" im Februar 1891 das Fest seines
zehnjährigen Bestandes feierte, schrieb Victor Adler für die Jubiläums-
ausgabe des Blattes einen Aufsatz, der aber, .wie fast der gesamte Inhalt
der Festnummer des „Volksfreundes", konfisziert wurde. Der zehnte
Todestag Victor Adlers, an dem auch die deutschen Genossen der Tsche-
choslowakei dankbar seiner engen Verbundenheit mit der Arbeiterbewe-
gung der Sudetenländer gedachten, erschien der dortigen Parteipresse als
geeigneter Anlaß zur Veröffentlichung dieses bisher ungedruckten Auf-
satzes, der auch, nach mehr als siebenunddreißig Jahren, noch ungemein
zeitgemäß schien.
Dem „Volksfreund" zu seinem Feste. 337
In jedem Lande erforderl die Führung eines sozialdemokratischen
Blattes nicht nur Qeisl und Wissen, sondern auch Charakter und
Opfermut in einem Grade, welcher eben nur in unserer Partei zu
linden ist. Der Journalist, welcher seine Dienste der bürgerlichen
Presse widmet, genießt Ansehen und Einfluß. Vor ihm öffnen sich
alle Türen: mag seine Käuflichkeit und Ignoranz weltbekannt sein,
alles beugt sich vor dem „öffentlich Meinenden". Der Redakteur
eines Arbeiterblattes, der zumeist sich aus eigener Kraft hinauf«
gearbeitet hat zu Wissen und Urteil, der nichts sein nennt als das
warme Herz, welches die Leiden des Volkes empfindet, die unbe-
stechliche Überzeugung von der klar erkannten Wahrheit, den
stolzen Mut und die unüberwindliche Siegessicherheit, welche dem
Vorkämpfer der revolutionären Klasse Worte des schneidenden
Hohnes für die Mächtigen, Worte der Aufklärung und Ermutigung
für die Unterdrückten in den Mund legt — was bietet ihm die
heutige Welt? Ein Proletarierleben voll rastloser Arbeit und -
den Kerker, vielleicht die Verbannung.
Ein Arbeiterblatt in Österreich aber hat doppelte Lasten zu
tragen. Mitten unter Ruinen, die nicht fallen wollen, muß das Banner
der neuen Zeit aufgerichtet werden. Mitten unter der Verknechtung
und Knechtseligkeit muß das freie Wort in die Welt gerufen werden.
Wo es verpönt ist u n d b e s t r a f t w i r d, die Wahr-
heit zu sagen, muß die Wahrheit gesagt werden.
Die sozialdemokratischen Schriftsteller in Österreich müssen
nicht nur schreiben lernen unter polizeilicher Aufsicht, mit der
Kette des Galeerensklaven am Fuß — , sie müssen ihre Leser auch
das lesen lehren, was sie nicht schreiben dürfen.
Von den materiellen Schwierigkeiten, welche sich bei uns der
Arbeiterpresse entgegensetzen, wollen wir nicht erst reden. Es ge-
hört die ganze Opferfähigkeit, welche das Proletariat immer und
überall bewiesen hat, dazu, um sozialdemokratische Blätter in
Österreich möglich zu machen, um ihnen Bestand und Verbreitung
zu sichern.
Als vor zehn Jahren der „Volksfreund" in Brunn gegründet
wurde, war die österreichische Arbeiterbewegung im Ansteigen an
Ausdehnung und Bedeutung begriffen. Aber schon zeigten sich die
ersten Symptome jener unseligen Spaltung, welche alles, was
gewonnen war, wieder zerstörte. In weiterer Folge wurden alle
Organisationen vernichtet, Arbeiterblätter eingestellt und eine Reihe
von Jahren hindurch war der „Volksfreund" das einzige deutsche
sozialdemokratische Blatt in Österreich. In dem Kampf, welcher
unsere Partei zerfleischte, stand der „Volksfreund" auf der Se'te
der sogenannten „Gemäßigten". Nichts liegt uns ferner, als die Ge-
spenster jener bösen Zeit heraufzubeschwören, als alte, heute ver-
narbte Wunden aufreißen zu wollen. Aber wie immer man darüber
urteilen mag, auf welcher Seite damals Wahrheit und Recht waren,
jeder Genosse wird heute gerecht und objektiv anerkennen, der
„Volksfreund" hat, was er für recht hielt, mit Geschick und Über-
zeugung verfochten und, was die höchste, sehr oft aber die
Adler, Briefe. XI. Bd. 22
338 Der Kampf um die Preßfreiheit
schwerste Pflicht jedes Genossen ist, niemals hat er über dem Streite
der Meinungen im eigenen Lager den gemeinsamen Kampf, den
gemeinsamen Gegner vergessen. In der dann folgenden schweren
Zeit haben die Brünner Genossen das getan, was sie nach bester
Überzeugung für ihre Pflicht hielten, haben sie die Fahne nicht
sinken lassen, sie rein und unbefleckt erhalten.
Wie die Aufgabe der Arbeiterpresse in Österreich eine weit
schwierigere ist, als überall sonst, so ist auch ihre Bedeutung für
die Sozialdemokratie eine andere und größere. Denn nicht nur die
Vertretung unserer Prinzipien liegt ihr ob, nicht nur den politischen
Kampf hat sie zu führen, sie hat bei dem zurückgebliebenen Zustand
unseres Vereinsrechtes auch den Kern zu bilden für die Organi-
sationen. Und diese Aufgabe ist vielleicht die schwerste und ver-
antwortungsvollste von allen. Der „Volksfreund" hat gerade in der
trübsten Zeit, wo jedes Band fehlte, gehindert, daß die letzten Fäden
rissen, er hat sehr viel dazu beigetragen, daß die Anknüpfung wieder
möglich wurde, als die sozialdemokratische Bewegung aufs neue
überraschende und große Fortschritte machte.
So ist es denn kein Wunder, daß wir ihn lieben, den „Volks-
freund", und daß sie ihn hassen, die — anderen. Dankbare An-
erkennung, Zeichen inniger Freundschaft werden dem Jubilar von
allen Freunden des arbeitenden Volkes dargebracht werden, aber
die bittere Galle, die kläffende Verleumdung, die niedrige Scheel-
sucht der Feinde des Volkes wird nicht fehlen. Das eine ist zu Ehren
für ihn, wie das andere.
Zehn Jahre, welcher kleine Zeitabschnitt, aber welchen un-
geheuren Fortschritt umfaßt er! Die ökonomische Umwälzung geht
auch in Österreich in einem rapiden Tempo vorwärts. Die Dinge
werden reif. Und dafür, daß die Menschen reif werden, dafür hat der
„Volksfreund" wacker gearbeitet, unzählige Proletarierherzen hat
er erwärmt, unzählige Proletariergehirne erhellt und sie reif ge-
macht, Kämpfer zu werden. Kämpfer zu werben für die heilige
Sache der Menschheit, für die internationale Sozialdemokratie.
Und in diesem Sinne bringen wir österreichischen Sozialdemo-
kraten den Brünner Genossen heute unsere Glückwünsche dar, in
diesem Sinne wünschen wir, daß ihnen vergönnt sein möge, erfolg-
reich wie bisher den Kampf zu führen, in diesem Sinne hoffen wir,
daß der „Volksfreund" den Sieg des Volkes erlebe.
Dr. Victor Adler (Wien).
Das Jubiläum des „Vorwärts".
Berliner „Vorwärts, 31. März 1909*).
Das Jubiläum des „Vorwärts" stellt uns die ebenso über-
raschende wie unleugbare Tatsache vor Augen, daß ein volles
*) Dieser Artikel ist unter dem Titel „Vor fünfundzwanzig
Jahren" zum Jubiläum des Berliner „Vorwärts" erschienen. Alles Nähere
zum Verständnis enthält der Artikel selbst. (Siehe auch Eduard Bern-
stein. „Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung", Band II, Seite 120.)
I ).is Jubiläum des „Voi w äi ts".
Vierteljahrhunderf verflossen ist, seit wir die erste Nummer des
„Berliner Volksblatt" in Händen hielten. Das war ein Ereignis nicht
nur für Berlin, sondern auch für Wien! liier hatte wenige Wochen
vorher, linde Jänner, die Verhängung des Ausnahmezustandes jeder
sozialdemokratischen Agitation, jeder Organisation ein jähes Ende
bereitet. Unsere Presse war dein Tode geweiht. Es war die
schlimmste Zeit, die unsere Bewegung in Österreich durchzumachen
hatte. Um so größere Bedeutung hatten damals alle Beziehungen
zur deutschen Bewegung. Der Züricher „Sozialdemokrat" fand in
Österreich seit seinem Bestehen geschickte, Verbreiter und vor
allem fleißige Leser; und wenn er auch nicht in die breiten Massen
dringen konnte, so hatte er doch deutlichen und wertvollen Einfluß
auf die führenden Genossen. Kr war ein starkes Gegengewicht gegen
die „radikale" Strömung, in deren Kreisen die Mostsche „Freiheit"
kolportiert wurde. Wenn etwas dazu geholfen hat, in Österreich
der Verführung der zügellosen Demagogie entgegenzuwirken und
später, nach dem Zusammenbruch, den katzenjämmerlichen Klein-
mut zu überwinden, so war es mit in erster Reihe das Beispiel des
ebenso unvergleichlich heroischen wie bewundernswert geordneten
Kampfes, den unsere deutschen Genossen gegen das Sozialisten-
gesetz führten. Die heute auf der Höhe ihres Wirkens stehende
Generation — Arbeitergenerationen zählen beträchtlich weniger als
dreißig Jahre — kann sich schwer mehr davon eine Vorstellung-
machen, welche Glut, welcher Trotz, welche Hingebung die Be-
wegung von damals erfüllte, hüben in Österreich, wie drüben in
Deutschland.
Damit soll nichts gegen die Methode der heute im Kampfe stehen-
den Jahrgänge gesagt sein, so wenig das Feuer der Jugend ein
Vorwurf ist für die besonnene Kraft des Mannes. Und doch weckt
in uns der Gedanke, den wir in jene bitterste und schönste Zeit
zurücksenden, sehnsüchtiges Erinnern.
Als das „Berliner Volksblatt" gegründet wurde, in dem Berlin
des kleinen Belagerungszustandes, zur Zeit, da die Puttkamerei eine
ihrer wütendsten Orgien feierte, wurde das kühne Unternehmen
auch in Österreich mit Spannung verfolgt, und daß es so glänzend
gelang, war eines der Momente, die uns den Mut gaben, wenige
Jahre später auch in Österreich von neuem die Parteipresse auf-
zurichten trotz Ausnahmezustand, trotz blindwütiger Sozialisten-
hatz. Freilich waren wir in völlig anderer Lage. In Deutschland war
es der Partei gelungen, ihre Organisation trotz des Sozialisten-
gesetzes aufrechtzuerhalten oder vielmehr sie völlig umzubilden
und neu zu schaffen, straffer, elastischer, widerstandsfähiger zu
machen, als sie je war. Sie vermochte das, und das ist einer der
merkwürdigsten Züge, ohne Presse. Denn der Züricher „Sozial-
demokrat", so Großes er für die Gesamtorganisation leistete, den
lokalen Unterbau, den nur die lokale Presse fördern kann, ver-
mochte er nicht zu begründen. Daß trotzdem diese lokale Organi-
sation in allen Arbeiterzentren so bis ins Kleinste und Feinste aus-
gebaut werden konnte, dal.» die sozialdemokratischen Arbeiter-
in*
340 Der Kampf um die Preßfreiheit.
massen auch ohne Presse aktionsfähig waren und täglich mehr
wurden, ist ein Wunder für sich. Das „Berliner Volksblatt" war eine
Notwendigkeit für die Politik der Partei; die Organisation der Ber-
liner Genossen hat es fertig vorgefunden, als es gegründet wurde.
In Österreich war das anders. Von jeher sind hier die Redaktionen
der Parteiblätter die eigentlichen Zentren der Organisation gewesen.
Die Brutalität der Reaktion hatte Presse und Organisation nieder-
getrampelt, und als von Ende 1886 an die Parteipresse wieder auf-
gerichtet wurde, mußte sie zugleich auch die Organisation von
(irund aufbauen. Es würde zu weit führen, hier ausführlich zu be-
richten, wie auch die Presseverfolgungen in Österreich ganz andere
Formen haben als in Deutschland. Es genügt festzustellen, daß, wenn
wir es zuwege gebracht haben, mit den Staatsanwälten und ihren
Konfiskationen fertig zu werden, und wenn wir heute annähernd
aussprechen können, was die Arbeiterschaft will, das Verdienst und
der Erfolg ist nicht allein der Geschicklichkeit und Konsequenz
unserer Presse, sondern vor allem unserer Organisation, der Aus-
dauer und des Mutes unserer Genossen, die in jahrelangen Kämpfen
verstanden haben, den Bütteln der Preßpolizei klar zu machen, daß
jede Konfiskation ein Schlag ins Wasser ist.
Und noch eins fehlte uns und vielleicht das Wichtigste, was die
deutschen Genossen besaßen; das allgemeine Wahlrecht. Wir muß-
ten erst die Waffe erobern, die die deutsche Sozialdemokratie so
glänzend zu gebrauchen wußte. Der glorreiche Wahltag des 20. Fe-
bruar 1890 hat dem Sozialistengesetz ein Ende gemacht. Für uns
Rechtlose in Österreich hat die Maifeier denselben Wert, das gleiche
Werk geleistet. Der unvergeßliche Tag des 1. Mai 1890 brachte uns
die Entscheidung, erwies alle Ausnahmezustände und alle Polizei-
knüppelei als ebenso nutzlose wie schändliche Behelligungen der
großen, unaufhaltsamen Bewegung . . .
Genug der Erinnerungen. Seitdem ist aus dem kleinen „Berliner
Volksblatt", das vorsichtig tastend sich seinen Weg suchen mußte,
der große „Vorwärts" geworden, der nicht nur der deutschen Partei
dient, sondern ein Weltblatt ist, wie es kein zweites gibt, der in
gewissem Sinne die Funktion eines Zentralorgans der sozialistischen
Internationale ausübt. Möge er an seinem Jubeltag den Dank emp-
fangen für das, was er an uns allen geleistet, möge er blühen,
wachsen und gedeihen, zum Nutzen des deutschen Proletariats, zum
Heile des kämpfenden Proletariats aller Länder.
iitid im sei l ro
Gewerkschaften und Genossen-
schaften*
Sie sind unser Trost!
V e r b a n d s t a g der Metallarbeiter, 1 ü. Juli 1 9 0 4*).
Wenn man in Österreich Politik treiben muß, da müßte man
verzweifeln, wenn man nicht seilen würde, wie trotz unseres Elends
unsere Gewerkschaften aufblühen. Sie sind in diesem Niederrang
unser T r o s t und unsere ranze H o f f n u n g ist, daß in der
österreichischen Arbeiterschaft ein Kern von Tüchtigkeit, Intelligenz
und Kraft steckt, der nicht zu vernichten ist, und wenn dieses Reich
noch so blödsinnig und noch so verbrecherisch regiert wird. (Leb-
hafter Beifall.) In politisch wie wirtschaftlich schwerster Zeit haben
Sie ungeheure Arbeit geleistet und sämtlichen Arbeitern ein Vor-
bild gegeben. Der Schweizer Genosse hat uns gesagt, daß die poli-
tische Freiheit für die Arbeiter noch nicht wirtschaftliche Freiheit
bedeutet. Aber wenn es schon schwer ist, in einem freien Lande
zu kämpfen, unser Schweizer Freund hat keine Vorstellung, wie
schwer es ist in einem Lande, wo man die Lebensluft für die Orga-
nisation erst schaffen muß. Allerdings hat das für uns wieder den
Vorteil, daß diese harte Arbeit uns lebendiger und energischer ge-
macht hat. Wir haben harte Lehrjahre hinter uns, wir Deutschen
und Österreicher. Fin Jahr Schweizer Luft möchten wir haben und
wir würden euch zeigen, was wir aus diesem Lande machen.
(Heiterkeit und Beifall.) Daß jeder Sozialdemokrat Ihren Arbeiten
mit größter Aufmerksamkeit folgen muß, halte ich für selbstver-
ständlich, ebenso auch, daß wir alle uns als Ihr Organ betrachten,
wir sind Fleisch vom selben Fleisch, Blut vom selben Blut. Des-
halb freuen wir uns Ihrer Erfolge und wünschen, daß Ihr Verband,
was er so gut angefangen hat, auch zu Ende führe, zum Besten
der österreichischen Arbeiter. (Lebhafter Beifall.)
) Auf dem siebenten Verbandstag der Metallarbeiter, der am 10. Juli
JV04 im Favoritner Arbeiterheim zusammentrat, erschien auch Adler als
Vertreter der Parteivertretung. Fr hielt nur eine kurze Ansprache, aber
;>ie ist für seine Schätzung der Gewerkschaften bezeichnend.
342 Gewerkschaften und Genossenschaften.
Partei und Gewerkschaft.
Ein Nachwort zum Kölner Gewerkschaftskongreß.
„A r b e i t e r - Z e i t u n g" vom 11. Juni 1905*).
Die Wichtigkeit des Kölner Gewerkschaftskongresses wird man
katim hoch genug einschätzen können. Er hat mit einem Schlage
der Öffentlichkeit die ihr fast unbekannte Tatsache zum deut-
lichsten Bewußtsein gebracht, daß die gewerkschaftliche Organi-
sation der deutschen Arbeiter in einem Aufschwung von unerhörter
Kraft und Rapidität begriffen ist, daß diese Organisation dank
ihrer in keinem anderen Lande — auch in England nicht — er-
reichten Zentralisation eine ganz außerordentliche Schlagfertigkeit
besitzt und daß ihre Führung auf einer Höhe des geistigen Niveaus
steht, wie sie eben nur von deutschen Sozialdemokraten erreicht
werden kann. Aber fast mehr noch als diese mächtige und folgen-
reiche Entwicklung beschäftigt die Öffentlichkeit und insbesondere
die Parteipresse das Verhältnis der Gewerkschaft zur Sozialdemo-
kratie, wie es auf diesem Kongreß in Erscheinung getreten, und
es verlohnt sich, dieser Sache einige Betrachtungen zu widmen.
Was viele sanguinische Gegner hofften, was manche pessi-
mistische Parteigenossen fürchteten, es werde ein Gegensatz
zwischen Gewerkschaft und Partei in Erscheinung treten, hat sich
natürlich als Hirngespinst erwiesen. Das erste und das letzte
Wort des Kongresses wrar : Gewerkschaft und Sozial-
demokratie sind eins. Es wäre auch geradezu wider die
Natur der Dinge, wenn dem anders wäre. Die deutsche Gewerk-
schaftsbewegung hat sich nicht neben, sondern i n der Sozial-
demokratie entwickelt. Die fünf Viertelmillionen deutscher Gewerk-
schafter sind der beste Kern der drei Millionen sozialdemo-
kratischer Wähler, wie sich umgekehrt der Mitgliederzuwachs um
rund eine halbe Million, den die Gewerkschaft seit drei Jahren
erfahren, fast ausschließlich aus den sozialdemokratischen Massen
rekrutiert. Der jetzt in Lob und Tadel so vielbeliebte Vergleich
der deutschen mit den englischen Gewerkschaften scheint uns
darum durchaus falsch. Es gibt einen durchschlagenden Unter-
*) Der Kongreß der freien Gewerkschaften Deutschlands fand vorn
22. bis 27. Mai 1905 in Köln statt. Vertreten waren lK Millionen organi-
sierte Arbeiter und Arbeiterinnen durch 213 Delegierte. Dabei kam es zu
lebhaften Debatten über die Frage der Maifeier, doch wurden schließ-
lich alle Resolutionen zurückgezogen mit der Begründung, daß die Frage
vom Internationalen Kongreß in Amsterdam schon geklärt sei. Auch über
den Massenstreik wurde dort verhandelt, worüber Bömelburg
das Referat erstattete. (Siehe auch Adlers Artikel „Die Generalstreik-
diskussion" vom 11. September 1905, besonders den Schluß, wo er über
den Kölner Gewerkschaftskongreß einige Worte sagt. Bd. VII, Seite 126.)
Die „Arbeiter-Zeitung" hatte außer kurzen laufenden Berichten auch eine
Berliner Korrespondenz über die Ergebnisse des Kongresses veröffentlicht.
Nun kam Adler neuerlich darauf zurück, zumal da auch aus Österreich
nicht weniger als sieben Gewerkschaftsvertreter in Köln gewesen waren.
Partei inicl Gewerkschaft. 343
schied: der deutsche Gewerkschafter Ist Sozialdemokrat und wat
es meist lange bevor er Gewerkschafter geworden. Die Personal-
union zwischen Partei und Gewerkschaft besteht nicht nur bei
den Führern der Gewerkschaft, die fast durchweg sozialdemo-
kratische Abgeordnete sind, sondern umfaßt jedes ein/eine Mit-
glied, das zugleich Gewerkschafter und Sozialdemokrat ist. Wenn
also von Konflikten die Rede ist, SO nur in dem Sinne, wie es
eben Konflikte zwischen den sich kreuzenden Abstellten und
Funktionen eines und desselben Individuums gibt. Auch der
einzelne kann durch den Widerstreit seiner eigenen Interessen und
Funktionen in innere Kämpfe geraten; aber es sind eben innere
Kämpfe, die nie zum Auseinanderfallen führen können.
Damit soll gar nicht geleugnet werden, daß solche innere
Kämpfe bedenklich und hemmend für die Bewegung werden
können. Eine gewisse Rolle spielt dabei die durchaus notwendige
Teilung der Arbeit. Partei wie Gewerkschaft bedürfen eines
Systems von Vertrauensmännern, Funktionären, Beamten, das der
Gefahr unterliegt, zu einer Bürokratie auszuarten und damit in
gewissem Grade den bürokratischen Lastern anheimzufallen: der
Einseitigkeit, der Selbstüberschätzung, der Routine und der Ver-
knöcherung. Diese Gefahr besteht nicht nur in Deutschland, sie
besteht überall, und es sind keineswegs die schlechtesten Genossen,
die ihr am meisten ausgesetzt sind. Ohne fanatischen Fleiß und rest-
lose Hingebung an die besondere, ihm zugeteilte Aufgabe kann
keiner unserer Funktionäre seine Pflicht ganz tun, und es ist kein
Wunder, wenn er hie und da den Blick für das Ganze verliert,
wenn ihm der richtige Standpunkt verlorengeht für die Ab-
schätzung des Verhältnisses seines Tätigkeitskreises zur Gesamt-
bewegung. Jeder einzelne von uns, mag er politischer oder gewerk-
schaftlicher Funktionär sein, hat alle Mühe, sich vor diesen Ge-
fahren zu bewahren, die die notwendige Folge des Wachsens und
der Differenzierung der proletarischen Bewegung sind. Nun haben
in Deutschland einige Umstände dazu beigetragen, die Träger der
gewerkschaftlichen Organisation als eine gesonderte Gruppe von
Parteigenossen herauszuheben. Man braucht nur daran zu denken,
wie die Gewerkschaft durch die rückständigen Vereinsgesetze zur
Absonderung gezwungen wurde, und wie, was kaum zu leugnen
ist, die ältere Generation der Sozialdemokraten, die unter dem
Sozialistengesetz groß geworden, dem Erstehen der Gewerk-
schaften mit einer gewissen Reserve, um nicht zu sagen Kälte,
gegenüberstand. Die bekannte Rede Bebeis (Gewerkschafts-
bewegung und die politischen Parteien 1900), die auf weite Partei-
kreise überraschend genug wirkte und weit aus- und übergreifend
für Neutralität der Gewerkschaften eintrat, hat da das Eis erst
gebrochen. Das sind nun freilich längst überwundene Dinge und
längst ist das Bewußtsein des Verhältnisses der Gewerkschaft zur
Gesamtbewegung den deutschen Sozialdemokraten in Fleisch und
Blut übergegangen. Aber die Spuren davon, daß die Gewerkschaft
eine Zeitlang Mühe hatte, sich innerhalb der deutschen Sozial-
344 Gewerkschaften und Genossenschaften.
demokratie geltend zu machen, zeigen sich noch heute in gewissen
Stimmungen, die in Köln deutlich zu merken waren. Man darf
wohl hoffen, daß diese Stimmungen im Abklingen begriffen sind
und daß sie nicht durch überhitzte Heftigkeit der Diskussion zu
ernsten Verstimmungen hinaufgetrieben werden.
Nun hat es allerdings in Köln Momente gegeben, die recht un-
erquicklich waren. Besonders uns Österreicher hat die Art, wie
die Maifeierdebatte geführt wurde, geradezu peinlich berührt. Die
Nüchternheit ist eine schöne Tugend, wenn sie aber zur platten
Trivialität wird, ist sie ein Laster, und so lobenswert der Sinn
für das Nächstliegende, praktisch Nützliche ist, so schädlich ist die
Kurzsichtigkeit, die blind ist für alles, was nicht vor der Nase liegt.
Ja, nichts ist unpraktischer als der allzu praktische Sinn, der nicht
mehr schätzen kann, was sich nicht unmittelbar wägen und zählen
läßt. Die Genossen, die — mit Genugtuung sei es festgestellt —
nicht ohne Widerspruch in recht geringschätziger Weise von der
Maifeier sprachen, haben als Sozialdemokraten unrecht und fast
noch mehr Unrecht als Gewerkschafter, Die Gewerkschaft ist
keine bloße Versicherungsgesellschaft, sie ist vor allem auch
Kampfgenossenschaft; sie kann der Begeisterung, sie kann der
Symbole nicht entbehren. Je mehr sie in der Gegenwart zu wirken
berufen ist, desto weniger kann sie des Ausblicks auf zukünftige
Ziele entraten, und je mehr ihre Tätigkeit sich fachgemäß ab-
schließen muß, desto weniger kann sie des Bewußtseins des Zu-
sammenhanges mit der gesamten proletarischen Bewegung ent-
behren, der proletarischen Gesamtbewegung, von der Gewerk-
schaft und Partei nur der zur vollen Helligkeit des Bewußtseins
erweckte Teil ist. Wenn ein Redner*) in Köln renommierend ver-
langte, man möge ihm den Gewerkschafter auf den Tisch des
Hauses legen, der durch die Maifeier gewonnen worden sei, so
hat er sehr töricht und gar nicht praktisch geredet. Jeder, der
wirklich mit den Massen Fühlung hat, kann ihm sagen, wie der
gewaltige Schwung der Maifeier in jenen stumpfen und dumpfen
Schichten des Proletariats gewirkt hat, die bis dahin jeder auf-
klärenden und organisierenden Arbeit verschlossen blieben, wie
durch die Maifeier proletarisches Urland aufgebrochen und dadurch
erst der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Saat zu-
gänglich gemacht wurde. Hunderttausenden hat erst die Maifeier
die erste Ahnung gebracht, daß sie nicht einsame Opfer unab-
wendbarer Knechtung, sondern Glieder einer um die Befreiung
ringenden gewaltigen Gemeinschaft sind. Solche Dinge können
freilich kein Gegenstand der jetzt mit Recht so beliebten Statistik
sein; aber Tatsachen, die sich nicht ziffermäßig erfassen lassen,
sind darum nicht weniger Tatsachen, und oft die wichtigsten dazu.
Aber diese Strömungen und Gegenströmungen sind unseres Er-
achtens keineswegs dem deutschen Gewerkschafter eigentümlich,
sondern sie sind und waren stets auch in der deutschen Partei zu
r) Der Vertreter der Zimmerer, Bringmann.
Partei mul Gewerkschaft.
merken, wenn sie auch weniger unangenehme Formen hatten. Die
Frage der Arbeitsruhe am 1. Mai ist in Deutschland mit ans diesem
Grunde und nielit ganz ohne Schuld der Partei seihst in ein un-
richtiges Fahrwasser geraten. Wir wissen sehr gut, daß dort
manches schwieriger durchzusetzen ist als in Österreich, aber hei
einer von Anfang an zielbewußten und konsequenten laktik
wäre den Genossen, die noch ganz andere Hindernisse über-
w nnden haben, auch in bezug auf die Maifeier manches besser
gelungen. Auch wir sind weit entfernt davon, der Durchsetzung
der Arbeitsruhe ungemessene Opfer zu bringen, und unsere Organi-
sationen wissen ganz genau, daß ihre Taktik auch in diesem
Punkte den Verhältnissen und der Konjunktur angepaßt werden
muß. Aber so sehr lebt das Recht auf die Maifeier in dem Bewußt-
sein jedes österreichischen Arbeiters, daß nicht leicht ein Lohn-
kampf zum Abschluß kommt, in dessen Friedensbedingungen die
Freigabe des 1. Mai nicht ihren Platz fände. Wir haben eine
Maifeier, und nicht nur in Wien, wie Genosse Robert Schmidt in
Köln sehr fälschlich behauptete, wenn sie auch in Wien — und
das wesentlich dank der Organisation der Zeitungssetzer, Ehre,
wem Ehre gebührt - für die gesamte Öffentlichkeit am fühlbarsten
zum Ausdruck kommt. In Deutschland hat man leider schon 1890
die Weste beim falschen Knopfloch zuzuknöpfen angefangen und
kann nur schwer damit zurecht kommen. Man hat an einigen
Steilen große, geradezu heroische Kämpfe geführt, aber sie blieben
vielleicht mit auch darum ohne rechte Frucht, weil der richtige
Schwung nicht auf der ganzen Linie zur Wirkung kam. Mag aber
dem sein wie immer, gerade in den letzten Jahren ist die Maifeier
in Deutschland lebendiger als je geworden, die alten Fehler sind
gutgemacht und die Gewerkschaft würde sich sehr ins eigene
Fleisch schneiden, wenn sie sich einem Gedanken ernstlich wider-
setzen wollte, der Eigentum und Heiligtum des proletarischen Be-
wußtseins geworden ist.
Ein wenig anders steht es mit der Diskussion über den General-
streik oder politischen Massenstreik, die man in Köln ab-
führte. Der allgemeine Satz, daß der Massenstreik ein brauchbares
Kampfmittel des Proletariats sei, wird heute wohl ebensowenig
mehr bestritten als über seine Anwendung im besonderen Falle
theoretische Einmütigkeit herrscht. Die Utopie des Generalstreiks
als letztes Mittel des letzten Kampfes ist abgetan, war übrigens
außer in romanischen Ländern nirgends lebendig; aber der Massen-
streik zu bestimmt abgegrenztem Zwecke ist nach den guten und
schlimmen Erfahrungen in Belgien, Holland und Italien nicht mehr
von vornherein als Unmöglichkeit abzuweisen. Nach unserer Mei-
nung ist für seine Anwendbarkeit entscheidend gewesen, daß der
Massenstreik in Belgien 1902, in Italien 1904 in voller Ordnung und
durchgängiger Disziplin beendet werden konnte, wie man auch
sonst die Erfolge dieser beiden Aktionen bewerten mag. Daß der
Massenstreik aber gerade in Deutschland und so außerordentlich
rasch so sehr begeisterte Anhänger gewinnen konnte, wie sich in
34t> Gewerkschaften und Genossenschaften.
den letzten Monaten zeigte, muß einigermaßen überraschen. Es
war schon ein Schritt in dieser Richtung, als Genossin Klara
Zetkin auf dem letzten deutschen Parteitag') sagte: „Geschichtliche
Umstände können uns zwingen, den politischen Massenstreik
nicht a priori aus der Reihe der möglichen, viel-
leicht absolut notwendigen Kampf- und Aktionsmittel
auszuscheiden." Aber nur ein paar Monate später, am Vorabend
des Kölner Tages, schrieb Karl Kautsky: „Das Bekenntnis
zum politischen Massenstreik, die Erklärung, in ent-
scheidenden Momenten zu dieser letzten und äußersten Krait-
anstrengung des kämpfenden Proletariats entschlossen zu sein, ist
heute die notwendige Voraussetzung jeder wirk-
lichen proletarischen, gewerkschaftlichen wie
sozialdemokratischen Realpoliti k." Dabei ist es be-
zeichnend, daß ganz ähnlich nich nur Genossen reden, die man
zeichnend, daß ganz ähnlich nicht nur Genossen reden, die man
stein so spricht, den man, so schief diese Bezeichnungen sein
mögen, als „gemäßigt" einschätzt. Vielleicht ist die Stellung zum
Massenstreik die einzige Sache, über die Kautsky und Bernstein
gegenwärtig mindestens praktisch einig sind. Ein Teil der Partei-
presse bringt in verschiedenen Graden der Schärfe ähnliche An-
schauungen zum Ausdruck und auch in Versammlungen lassen sich
Stimmen in gleichem Sinne vernehmen. Diese rasche Bekehrung
zur Idee des politischen Massenstreiks auf das Gutdünken einiger
sozialdemokratischer Schriftsteller zurückführen zu wollen, wäre
flach bis zur Dummheit. Überdies ist es ganz klar, daß die steigende
Zuspitzung der politischen Gegensätze in Deutschland, die Schande
des Hamburger Wahlrechtsraubes**), die, wie es scheint, immer
drohender werdende Gefährdung des Reichstagswahlrechtes, die
täglich brennender empfundene Justizschande und vor allem der
Betrug an den Bergarbeitern geradezu dazu zwingen, sich nach
Abwehrmitteln gegen entscheidende Angriffe der Reaktion umzu-
sehen. Dazu kommt, daß die russische Revolution, deren Folgen
für ganz Europa noch nicht abzusehen sind, die Empfindung weckt,
daß wir vor kritischen Zeiten stehen. Trotz alledem mußte es
überraschen, daß so sehr plötzlich das „Bekenntnis zum Massen-
streik" als gewissermaßen obligatorisch für jeden ernsten Genossen
proklamiert wurde.
Jedenfalls ist der bei weitem größte Teil der in Köln ver-
*) Auf dem Parteitag in Bremen 1904, wo Karl Liebknecht beantragt
hatte, die Frage des Generalstreiks auf die Tagesordnung des nächsten
Parteitages zu setzen. (Siehe Bd. VII, Seite 114, zu den Ausführungen
Kautskys, Seite 124.)
**) Am 5. Juni 1908 hatte die Hamburger „Bürgerschaft" (das Parlament)
die vom Senat vorgeschlagene Vorlage genehmigt, die die Wahlberech-
tigten in drei Gruppen, je nach der Höhe des Eigentums, teilte. In der Be-
gründung der Vorlage war ausdrücklich gesagt worden, es solle verhindert
werden, daß in kurzer Zeit die niedrig besteuerten, unselbständigen Ele-
mente fast alle Mandate an sich reißen.
Partei und Gewerkschaft. 341
sammelten Gewerkschafter noch lange nicht so weit, heim Genosse
Bömeiburg konnte, ohne Widerspruch zu finden, aussprechen,
daß er die wohlerwogene und keineswegs Irgendwie utopistische
Resolution über den Massenstreik als „bedauerliche Konzession
an den Generalstreik" ansehe, was sie allerdings in keiner Weise
ist. Vielmehr hat der von den Anarchisten propagierte absolute
Generalstreik in dieser Resolution die schärfste Ablehnung ge-
funden, während vom Massenstreik gesagt wird, daß er „ein
äußerstes Mittel sein kann, um bedeutende gesellschaftliche
Veränderungen herbeizuführen oder sich reaktionären Anschlägen
auf die Rechte der Arbeiter zu widersetzen". Man kann sich kaum
vorsichtiger ausdrücken, und da Bömeiburg selbst erklärt, er wolle
nicht sagen, daß der Massenstreik nie angewendet werden wird,
so ist seine Polemik gegen die Amsterdamer Resolution durchaus
hinfällig. Schlimmer aber noch als diese Unklarheit ist, daß der
Kölner Beschluß die Propagierung des politischen Massenstreiks
als „verwerflich" bezeichnet. Wer immer das Anathema
durch das Wort „verwerflich" ausspricht, hat gewöhnlich schon
darum unrecht, weil er es unternimmt, den in diesem Punkt Anders-
denkenden zu brandmarken. Wir gestehen offen, daß wir, obwohl
wir den politischen Massenstreik für eine nicht allzu fern liegende
Möglichkeit in jedem industriell entwickelten Staate halten und
seine Anwendung unter Umständen für eine Notwendigkeit an-
sehen, trotzdem die Propaganda für ihn gegenwärtig weder für
notwendig noch auch für nützlich halten. Wir wollen uns be-
scheiden und diesen Satz auf Österreich beschränken. In Österreich
wird es auch ohne vorhergehende Propaganda, wenn die Zeit dazu
kommt, schwerer sein, den Ausbruch des Massenstreiks auf den
entscheidenden und richtigen Moment aufzuschieben, als ihn mit
ganzer Wucht in Anwendung zu bringen. Wir geben zu, daß die
Psychologie der Massen in Deutschland eine andere sein mag. Aber
auch dort wird die psychologische Möglichkeit des Massenstreiks
nicht von der vorhergehenden Agitation, sondern von der sich dem
Bewußtsein der Massen unwiderstehlich aufzwingenden politischen
Notwendigkeit erzeugt werden. Wir begreifen auch, daß eine be-
sondere Propaganda des Massenstreiks den Gewerkschaften als
eine gefährliche Ablenkung erscheinen mag, wie sie auch unter
den heutigen Verhältnissen in der Partei selbst auf vielfachen
Widerspruch stoßen wird. Auch hierin unterscheidet sich nämlich
die Stimmung der Gewerkschafter keineswegs von der Stimmung
der Sozialdemokraten überhaupt. So wenig uns also die Nützlich-
keit einer solchen Propaganda sicher scheint, so sehr halten wir
es für einen Fehler, sie für „verwerflich" zu erklären; eine Ver-
dammung, die notwendig das Gegenteil von dem hervorrufen muß,
was sie bezwecken will und die überdies die Diskussion zu ver-
bittern und zu vergiften geeignet ist.
Das Unbehagen, das Schwanken, das die Gewerkschafter
gegenüber der Frage des Massenstreiks bekundeten, scheint uns
wesentlich andere Gründe zu haben als den Mangel an Ent-
«i48 Gewerkschaften und Genossenschaften.
sehlossenhcit und den Überfluß an Ruhebedürfnis, der ihnen zu-
geschrieben wird. Wenn Bömelburg sagte: .,Auch wenn man uns
das Wahlrecht nimmt, werden wir nicht am Ende
unseres Lateins sei n", so war das nicht, wie ihm vorge-
worfen wird, eine leere Redensart, so wenig es eine leere Redens-
art war, als die Sozialdemokraten im deutschen Reichstag sagten:
..Wir pfeifen auf das Sozialistengesetz*)", obwohl
auch in diesem Satze der Weg nicht konkret angegeben war, auf
dem das Proletariat das Schandgesetz vereiteln werde Auch ist
es begreiflich, wenn die Gewerkschaft nach Ruhe verlangt, nicht
um zu versumpfen, sondern um den grandiosen Bau weiter-
zuführen, den sie so vielverheißend begonnen. Das Diskutieren
des Massenstreiks ist ihnen so unbequem, daß sie in recht un-
vernünftiger und deutscher Proletarier wenig würdiger Weise
gegen die „Literaten" losgehen, die von ihm jetzt soviel sprechen,
die ihn aber wahrhaftig nicht erfunden haben. Alles das scheint
uns mit der schiefen Stellung zusammenzuhängen, die der Gewerk-
schaftskongreß von vornherein zu der Frage genommen hat. Der
Massenstreik ist nämlich, meinen wir, in keiner Weise Sache der
Gewerkschaften und wird es nie sein können. Er ist seiner Natur
nach unabhängig vom Streikregulativ, unabhängig vom Kassen-
stand, er liegt gar nicht in der gewerkschaftlichen Sphäre. Sein
Eintreten kann da oder dort den Vorwand geben, einen Tarif-
vertrag für erloschen zu erklären; aber das wird nur dort ge-
schehen, wo er ohnehin demnächst zum Teufel gehen müßte. Ein
Tarifvertrag ist eben kein Schutz gegen Erdbeben. Der Massen-
streik ist eine vis major**), wenn es je eine gibt. Er ist nicht der
Gipfel der Gewerkschaftsbewegung, sondern ihre Ausschaltung.
Der Gegenstand gewerkschaftlicher Kämpfe ist im Wesen der
Lohnvertrag; mit ihm aber hat der politische Massenstreik nichts
zu tun. Hier tritt nicht mehr eine noch so große Zahl von einzelnen
Arbeitern einer behebigen Zahl einzelner Unternehmer gegenüber,
um von ihnen Zugeständnisse zu verlangen, sondern die Arbeiter-
klasse als Klasse stellt Forderungen an die herrschenden
Klassen. Es ist der unmittelbare Klassenkampf, der an
Stelle des durch die parlamentarischen Vertreter vermittelten
Kampfes tritt.
Was kann die Gewerkschaft als Organisation mit diesem
politischen Massenstreik zu tun haben? Die gewerkschaftliche
Durchdringung des Proletariats wie die politische ist die Vor-
bedingung seiner Möglichkeit, seines Gelingens. Aber in dem
Moment, wo diese durchaus politische und in keiner Weise gewerk-
schaftliche Aktion beginnt, kann die Gewerkschaftsorganisation nur
zur Seite treten und erklären, daß ihr Amt hier zu Ende. Oder
glaubt man, daß ein Massenstreik durch Aussicht auf Streik-
unterstützung zu gewinnen sei? Aber allerdings, zur Seite zu treten,
*) Ausspruch Wilhelm Brackes bei der Beratung des Sozialisten-
gesetzes. (Siehe Bd. VI, Seite 46.)
**) Höhere Gewalt.
|)< r Qewerkschafts:
das ist in jenem Moment die Pflicht sozialdemokratischer Gewerk-
schaften Die Q e w e r k s c h a f t w i r d Kein I i i n d e r n i s
f ü r d e n M a s s e ns t r e i k s e i 11, wenn er notwendig u erden
sollte, das war das einzige Wort, (Jas unseres Erachtens in Köln
zu SAxen war. Denn wenn es je dazu kommt, werden die Arbeiter
in den politischen Massenstreik eintreten, nicht weil, sondern
obwohl sie in gewerkschaftlichen Verbänden organisiert sind,
die zum Zwecke ganz anders gearteter Kämpfe geschlossen wur-
den. Daß ein Massenstreik, insbesondere wenn er erfolglos endet,
für einzelne Gewerkschaften empfindliche Folgen nach sich ziehen
kann, wenn etwa der Übermut der siegenden Gegner d'e Gelegen-
heit zu einem Vorstoß gegen schwächere Verbände ausnützt, das
ist eine ganz andere Sache, und solche Kalamität kann auch durch
andere Ursachen über eine Gewerkschaft kommen. Das ändert
aber nichts an der Tatsache, daß der Träger des Kampfes im
Massenstreik nicht die Gewerkschaft sein kann.
Wenn über diesen Punkt erst volle Klarheit geschaffen ist, dann
wird man vielleicht in der Gewerkschaft gegen die Idee des
Massenstreiks und deren Propagierung nicht mehr Widerstand
finden als in der politischen Organisation eben auch. So wenig
aber der Gedanke grundsätzlich abzuweisen ist, so wenig kann es
nützen, seine Propagierung mit einer gewissen aufdringlichen Ge-
waltsamkeit zu betreiben. Der Gedanke des einzelnen kann und
soll den Ereignissen vorauseilen, die Stimmung und die Tatenlust
der Massen jedoch sollten nicht abgebraucht werden, bevor die
Ereignisse sie mit zwingender Notwendigkeit auslösen. Man kann
auch zu zeitlich kommen und doch erst recht nicht bereit sein,
wenn es am nötigsten wäre.
Man darf zum sozialdemokratischen Proletariat Deutschlands,
weit über die Gewerkschaft hinaus, aber die Gewerkschaft mit in-
begriffen, das feste Zutrauen haben, daß es im rechten Augenblick
für seine höchsten Güter auch seinen höchsten Einsatz zu wagen
wissen wird, ob das nun in der Form des Massenstreiks geschehen
sollte oder mit anderen Mitteln, die von den Umständen geboten
werden. Darum darf man sich auch durch die mancherlei unlieb-
samen Erscheinungen, die der Kölner Kongreß geboten hat wie
andere Versammlungen und nicht nur in Deutschland, die Freude
nicht vergällen lassen an dem gesunden und kräftigen Empor-
wachsen der deutschen Gewerkschaftsorganisation. V. A.
Der Gewerksdhaftsstreit,
Deut s c h b ö li ii: i s eher Parteitag in B o d e n b a c h,
2 5. März 1 9 1 1*).
Ich begrüße den Kongreß namens der deutschen Parteivertretung
auf das herzlichste. Wir sind wieder in einem Zeitpunkt der Krise des
) Am 25. März 1911 trat in Bodenbach der Lahdesparteitag der
deutschen Sozialdemokratie Böhmens zusammen. Er beschäftigte sich vor-
350 Gewerkschaften und Genossenschaften.
Parlaments zusammengetreten, und das bedeutet — man mag das
Parlament so hoch oder so niedrig einschätzen wie man will — eine
Krise für Österreich. Wir sind weit entfernt, den Schwerpunkt
unserer Partei ausschließlich in das Parlament zu verlegen. Wir sind
uns vollständig dessen bewußt, daß im Parlament nur verhältnis-
mäßig wenig von dem geleistet werden kann, was wir brauchen.
Aber wir verkennen nicht, daß die Entwicklung des Proletariats nicht
nur von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängig ist, sondern auch
von der Schaffung günstiger, erträglicher Bedingungen für diese Ent-
wicklung, und Sie wissen alle, wie diese Entwicklung fortwährend
gestört wird durch die hysterische Verrücktheit unserer Gegner. Wir
stehen einer Regierung gegenüber, die in der kalten Ablehnung jeder
eigenen Initiative ihre eigene Kraft sieht, die dem Parlament gegen-
über immer darauf sich stützt, daß ihre Existenz nicht von ihm ab-
hängt, sondern von der Krone. Man sollte meinen, daß eine Regie-
rung, die durch Jahre bewiesen hat, daß sie Österreich und seinen
Problemen ratlos, tatlos und ideenlos gegenübersteht, selbst zu
gehen hat und nicht zu verlangen, daß das Parlament gehe. Aber
im gegenwärtigen Moment handelt es sich gar nicht um einen prin-
zipiellen Kampf, sondern nur um die sehr bescheidene Frage, ob es
einer Gruppe von Abgeordneten belieben wird, am Montag im
Budgetausschuß längere oder kürzere Reden zu halten. Und wenn
wir genauer zusehen, so kämpft diese Opposition nicht gegen die
wahnwitzigen Forderungen des Militarismus, die das Volk ausbeuten,
sondern sie kämpft im Grunde nur darum, daß man ihnen selbst er-
mögliche, diese Forderungen zu bewilligen. Gestern wurde gemeldet,
daß das Subkomitee für die Sozialversicherung sein Werk so weit
beendet hat, daß in vier Wochen dieses Werk im Hause zur Beratung
gezogen und noch in diesem Jahre nicht nur im Abgeordnetenhaus,
sondern auch im Herrenhaus zu Ende beraten sein kann. Ich kann es
bis jetzt noch nicht glauben, daß es den Herren Tschechischradikalen
und tschechischen Agrariern völlig Ernst ist, bis ans Ende zu gehen,
und vielleicht wird ihnen mit ein paar Stunden längerem Aufenthalt
im Budgetsaal gedient sein. Aber wo sieht man bei unseren Gegnern
noch Ernst und Vernunft oder gar ein Programm? Da unterscheiden
sich die deutschen Parteien in nichts von den tschechischen Parteien.
Und wenn Wahlen in die Nähe kommen, da haben sie ja nur einen
programmatischen Wahlspruch: Rette sich, wer kann! Und das heißt
bei unseren Freiheitlichen in der Praxis: Rettet euch zu den Kleri-
kalen! Ob wir jetzt Neuwahlen bekommen, hängt nicht von uns ab,
sondern davon, ob die Regierung und ihre Parteien gewissenlos
genug sind, das große Werk, das nun vollendet werden soll, auf das
Spiel zu setzen. Aber wenn aufgelöst wird, werden wir die Verant-
wortung dafür schon vor den Wählern feststellen. Und darum werden
nehmlich mit dem durch den Separatismus hervorgerufenen Gewerkschafts-
streit. Schon in seiner Begrüßungsrede kam Adler darauf zu sprechen.
Zu der Frage des Gewerkschaftsstreites siehe das Kapitel „Der Separa-
tismus" im achten Band dieser Schriften; sowie auch das Kapitel von
der Gesamtpartei.
I )im ( icw erkschaftsstreit.
wir auch mit voller Zuversicht in die Wahlen gehen. (Lebhafter Bei-
fall.)
Aber dieser Kongreß tritt nicht nur in einer Zeil der parlamen-
tarischen Krise zusammen. Was uns mehr berührt w\)<.\ worauf auch
schon der Delegierte der tschechischen Partei hier hingewiesen hat,
das sind die Schwierigkeiten, die in die Partei gebracht wurden
durch den Streit innerhalb der tschechischen Partei. Diesen Streit.
der nicht nur für die tschechische, sondern für die ganze Arbeiter-
schaft gleich unheilvoll ist. Wir wollen hier keine Rekriiuinationen
erheben, aber wir müssen den Tatsachen klar in das Auge sehen.
Wir stehen unentwegt und unbeirrt auf dem Boden des Kopen-
hagener Beschlusses. Für uns besteht darüber kein Zweifel, daß, SO
notwendig in der politischen Organisation die Autonomie ist, so
grundsätzlich notwendig auf gewerkschaftlichem Boden die Ver-
einigung, die Zentralisation ist. Wir sind selbstverständlich ohn-
mächtig, eine Entwicklung aufzuhalten, die nicht auf dem Boden
unserer Organisation entstanden ist, die in ihren Folgen zwar auch
uns schwer trifft, in die einzugreifen uns aber versagt ist. So wie
das, was man Separatismus nennt, politische Wurzeln hat, so hat es
auch politische Folgen, und darum ist es notwendig, daß wir auch
darüber sprechen. Wenn in der tschechischen Partei jemand ge-
glaubt hat, daß der Separatismus ihr nützen werde, so wird er jetzt
wohl schon anderer Ansicht sein. Wir stehen vor der Tatsache der
größten Wirren in der tschechischen Partei. Das ist auch für uns
ein schweres Unglück, denn wir sind mit dieser tschechischen
Sozialdemokratie aufgewachsen und groß geworden und jeden
Schaden, der ihr erwächst, empfinden wir als unseren eigenen
Schaden, und doch stehen wir diesem Prozeß ganz machtlos gegen-
über. Es trifft uns vor allem deshalb, weil auch in unserer Arbeiter-
schaft nun Zweifel darüber entstehen, ob die Internationale der
Arbeiterschaft ein bloßes Wort oder auch Blut und Leben und
Wirklichkeit ist. (Lebhafte Zustimmung.) Aber wir können das nicht
beseitigen und müssen warten, was drüben geschieht. Aber was
wir müssen und können, ist, unsere Anstrengungen verdoppeln, um
zu vermeiden, daß der Kampf, wo er ausbricht, widerwärtige
Formen annehme. Der Gewerkschaftsstreit ist ja nicht die einzige
Wurzel der Differenzen zwischen uns, sondern sie haben auch
politische Ursachen und alle diese Fragen drehen sich um das natio-
nale Problem in Österreich. Vor etwa anderthalb Jahren haben die
tschechischen Genossen in Prag und wir in Reichenberg be-
schlossen, den Versuch zu machen, zu einem gemeinsamen detail-
lierten nationalen Programm zu kommen. Nie war eine Zeit un-
günstiger dafür als die jetzige. Ich will nicht untersuchen, wer mehr
schuld daran ist, aber da es so ist und da ein solches gemeinsames
Programm für die Einzelfragen zunächst unmöglich ist, werden wir
wohl dazu gelangen müssen, daß die deutsche Sozialdemokratie für
sich allein die praktischen Konsequenzen aus dem Brünner Natio-
nalitätenprogramm ziehen muß — es ist selbstverständlich, daß wir
das im proletarischen und im internationalen Geiste tun werden.
Aber es ist ebenso selbstverständlich, daß, so wie wir uns unserer
352 Gewerkschaften und Genossenschaften.
internationalen Pflichten voll bewußt sind, wir uns auch unserer
Pflichten gegen das deutsche Proletariat bewußt sind. Wenn der
Brand im Hause des Nachbarn wütet, müssen w i r
zunächst unser eigenes Haus bestellen, wenn wir
auch alle bereit sind, dem anderen Hilfe zu leisten - der von uns
freilich keine Hilfe haben will.
Der Parteitag wird reiche Arbeit haben. Wir stehen jetzt wieder
vor der aufsteigenden Linie auch der wirtschaftlichen Konjunktur.
Wir stehen politisch in einem sehr günstigen Moment. Sie sollen nur
auflösen! Die Rechnung wird ihnen präsentiert werden! Aus den
Sünden unserer Gegner muß für uns reiche Frucht erwachsen und
wann immer es zum Wahlkampf kommt — sei es heute oder in
sechs Monaten oder noch später — , so treten wir ein in den Kampf
mit dem Bewußtsein, daß wir nicht nur die letzten Wochen, sondern
die ganzen Jahre vorher auf dem Posten gestanden haben. (Leb-
hafter Beifall.)
Bericht der Landesparteivertretung.
Die Genossen, die wünschen, daß sich die Partei in den Streit
innerhalb der tschechischen Partei einmenge*), verfallen nur in einen
ähnlichen Fehler wie die tschechischen Genossen, deren Grundübel
es ist, daß sie dem Aberglauben huldigen, die gewerkschaftliche Or-
ganisation müsse den Bedürfnissen der politischen Partei unter-
geordnet sein. Was wird denn besser, wenn wir uns einmischend
Glauben Sie, daß die Kämpfe dann rascher zu Fnde sein werden?
Glauben Sie, daß wir den tschechischen Zentralisten damit auch nur
nützen? Daß fremdes Dazutun hier etwas entscheiden kann? Glauben
Sie mir, wir können nichts anderes tun als den Brand ausbrennen
lassen, der bei den tschechischen Genossen ausgebrochen ist. Wir
können in den Kampf innerhalb der tschechischen Partei nicht ein-
greifen, ohne diesen Kampf länger dauern zu machen als er natur-
gemäß dauern wird. Man wirft uns mit Unrecht vor, daß wir etwas
verschleiern. Die „Arbeiter-Zeitung" hat nichts verschleiert, sie hat
alle Tatsachen festgestellt; allerdings hat sie nicht wie das „Prävo
Lidu" jede Tatsache, die Aufregung schaffen kann, noch aufgebauscht
*) Den Bericht der Landesparteivertretung erstattete Josef Seliger.
Er beantragte eine Resolution, die alle Absplitterungsbestrebungen verurteilte,
aber erklärte, daß die deutschen Sozialdemokraten doch im Kampfe gegen
Unternehmertum und Klassenstaat die treuen Verbündeten und Helfer wie
der Arbeiter aller anderen Nationen so auch des tschechischen Proletariats
bleiben. — Kreibich (Reichenberg, der nachmalige Kommunist) beantragte
eine Resolution, der Landesparteitag verurteile den Separatis-
mus auf das entschiedenste und forderte die Parteigenossen auf, ihn überall
auf das energischeste zu bekämpfen und die tschechischen Zen-
tralisten in jeder Weise zu unterstützen. Dazu sprach Adler und nach
ihm Bauer, worauf Kreibich seiner Resolution noch, um ihren Bedenken
entgegenzukommen, anfügte, daß die Parteigenossen auch aufgefordert
werden sollen, „alles daranzusetzen, um die tschechische Arbeiterschaft
über die Schädlichkeit des Separatismus aufzuklären". Darauf wurde sowohl
die Resolution des Referenten als auch der Antrag Kreibieh a n g e-
11 o m m e u.
Genossen und Genossenschafter.
und die Diskussion vergiftet. So haben wir dem Frieden -cdicut.
gut wir konnten. Nim sind die Verhandlungen abgebrochen, weil die
Separatisten unentwegt, ohne jede Konzession, auf ihrem Standpunkt
beharren. Nim werden gewiß Folgen innerhalb der tschechischen
Partei eintreten und damit auch Folgen für uns. Die Resolution, die
hier vorliegt, schließt mit der Frklärung der Solidarität mit dein
tschechischen Proletariat. Nicht, daß wir die Verbündeten der tsche-
chischen Separatisten sein wollen steht hier, wie es behauptet
wurde. Aber dal] wir das tschechische Proletariat als unsere Brüder
ansehen, das müssen wir hier klar und deutlich erklaren. Mögen also
die anderen freveln, wir werden gewiß darunter leiden, aber wir
werden trachten, unsere eigene Partei möglichst davor zu schützen.
Wir werden aber trotz allem, was an uns gefrevelt wird, nicht ver-
gessen, daß wir solidarisch sind mit den Proletariern aller Zungen,
insbesondere auch mit den tschechischen Proletariern. Es wurde
von der Fraktion gesprochen und davon, daß wir dort beisammen
sitzen. Die Fraktion ist kein Gerichtshof und mit wem ich dort bei-
sammen sitze, hängt nicht von mir ab. Glauben Sie, daß wir den
Verband sprengen sollen und dürfen? Glauben Sie, daß es gleich-
gültig ist für die wichtigen Arbeiterfragen, die im Parlament ver-
handelt werden, ob wir ein einheitlicher Verband*) sind oder kleine
nationale Verbände? Ich begreife Ihren Unmut, auch Ihre Leiden-
schaft. Emil Zola sagte einmal, wenn er die Morgenblätter lese, habe
er das Gefühl, jeden Tag eine Kröte schlucken zu müssen. Auch
wir haben, wenn wir gewisse Preßstimmen lesen, oft das Gefühl,
eine Kröte zu schlucken. Aber wir können auf unsere persönlichen
Empfindungen keine Rücksicht nehmen, wenn es sich um große
Interessen handelt, und ich bitte auch Sie, Selbstbeherrschung zu
üben und Ihrer wenn auch noch so begreiflichen Erregung nicht die
Zügel schießen zu lassen. (Lebhafter Beifall.)
Genossen und Genossenschafter*
Genossen schafts tag am 3. September 1904**).
Wenn ich Sie im Namen der sozialdemokratischen Partei-
vertretung begrüße, bin ich mir bewußt, daß ich damit über den
gewohnten Rahmen Ihrer Tätigkeit hinausgehe. Aber ich bin mir
zugleich bewußt, daß ich Sie hier begrüßen kann als Genossen-
schafter; und wenn Sie Genossenschafter sind, sind Sie in
jedem Sinne auch Genossen. Sie haben in dieser Ihrer Funktion
nichts mit der Politik zu tun und was der Gast aus Deutschland
) Nach den Juniwahlen 1911 ist dann aber doch der einheitliche Verband
nicht mehr geschaffen worden.
) Den Verbandstag der Arbeiter-Hrwerbs- und Wirtschaftsgenossen-
schaften, der am 3. September 1904 im Favoritner Arbeiterheim zusammen-
trat, begrüßte Adler als Vertreter der Parteivertretung. Der deutsche
Vertreter, dessen Worte Adler zitiert, war Kaufmann (Hamburg), der
Vertreter des Verbandes der deutschen Konsumvereine.
Adler, Briefe. XI. Bd. 23
354 Gewerkschaften und Genossenschaften.
von Ihrer unbedingten Neutralität gesagt hat, dem braucht mau
nicht zu widersprechen. Bleiben Sie in den Konsumvereinen so „un-
bedingt neutral" wie Sie wollen. Aber wenn Sie Ihrer Aufgabe
nachkommen und Sie kommen ihr nach --, die Lebens-
haltung der Arbeiterklasse zu lieben, wenn Sie der Aufgabe
nachkommen, jeden einzelnen Arbeiter und die Arbeiterklasse in
ihrer Gesamtheit tüchtiger und stärker zu machen, so machen Sie
sie dadurch auch kampffähiger und befördern so, ob Sie wollen
oder nicht, bei der unbedingtesten Neutralität einen der Faktorei?
zur Durchführung unseres Programms. (Beifall.) Denn unser eigent-
liches Programm ist die Hebung, die Kampffähigmachung des Prole-
tariats. Wir wissen sehr genau, daß Ihre Organisation, die Organi-
sation des konsumierenden Proletariats, heute formell und sachlich
nichts zu tun hat mit der Organisation des produzierenden Prole-
tariats und mit der Organisation des kämpfenden Proletariats.
Aber wie Sie heute bei der striktesten Neutralität für dasselbe Ziel
arbeiten, dem auch unsere Arbeit gewidmet ist, so müssen Sie
auch in Ihrem Endziel zusammenkommen mit dem
Endziel, das wir uns gestellt haben: Genossen-
schaftliche Produktion und genossenschaftliche
Regelung der Konsumtion! (Lebhafter Beifall.)
So können wir bei der vernünftigen und sachlichen Beurteilung
unseres gegenseitigen Verhältnisses und bei dem ehrlichen Willen,
einander nicht zu schädigen, sondern zu fördern, sehr gut mit-
einander auskommen. W'ir Sozialdemokraten kommen hieher, nicht
um von Ihnen irgend etwas zu verlangen. Wir verlangen von Ihnen
nicht die Förderung unserer politischen Ziele, aber Sie werden uns
gestatten, daß wir glauben, als Sozialdemokraten unsere Pflicht zu
tun, wenn wir den Arbeitern Österreichs sagen: Hier liegt eine
Pflicht, hier liegt eine Aufgabe für euch, eine Aufgabe, die ihr er-
füllen müßt in eurem eigenen Interesse und im Interesse eurer Zu-
kunft. Diese Konsumvereine bilden einen Kern jener sozialen Ent-
wicklung, der wir alle dienen, sie sind mit, wie der englische Dele-
gierte gesagt hat, ein wichtiges Moment jener demokratischen, alles
Antisoziale bekämpfenden, also sozialen Organisation, die inter-
national sein muß und in der wir alle stehen. In diesem Sinne be-
grüße ich Sie, überzeugt, daß Sie wie wir und wir wie Sie der
gemeinsamen Sache der Arbeiterklasse dienen. (Lebhafter Beifall.)
i I er der W eil
Verschiedenes.
Einige Laster der Weiber.
Vortrag, 2 3. Jim i 1 *9 6*).
Als erstes, aber noch nicht schlimmstes Laster nannte Doktor
A d 1 e r den „Fleiß der F r a u e nu. Die Geschlechtsgenossinnen
der Anwesenden würden es zum Beispiel als Frevel bezeichnen,
daß die Frauen hier mit müßigen Händen sitzen. Die Frauen seien
ja wohl heute gezwungen, jene häuslichen Arbeiten zu
verrichten, die die Männer nicht machen können, und in denen sich
ein so großer Teil des Fleißes der Frauen verzehrt. Der Fleiß der
Frau sei ein einseitiger, ein falscher und zumeist überflüssiger. Be-
sonders das Stricken der Strümpfe, das Nähen der Wäsche, über-
haupt die weiblichen Handarbeiten, die heute alle in
Fabriken billiger, das heißt mit einem weit geringeren Aufwand an
Arbeitskraft hergestellt werden, erklärt Dr. Adler für überflüssig.
Die Klatschsucht der Frauen sei die gewöhnliche Folge dieser
Beschäftigungen. Genosse Adler führt diesen Gedanken auch in
launiger Weise aus und kommt sodann auf ein anderes Laster der
Frauen, den Idealisinus zu sprechen. Aus ihm heraus erklärt Adler
die Liebe der Weiber für die Literatur. Sie lieben mehr die Per-
sonen als die Dinge, mehr die Erscheinung als die Idee. Ein Ein-
gehen auf technische Fragen und die Beschäftigung mit Natur-
wissenschaft wäre nützlicher. Die Weiber wissen eher die feinsten
Unterschiede zwischen dem französischen und dem russischen
Realismus, als wie eine Maschine in Bewegung gesetzt wird oder
bei welchem Grad das Wasser gefriert. Genosse Adler erteilt den
Russinnen und den Engländerinnen, die hierin eine Ausnahme
machen, ein Lob und empfiehlt, ihnen nachzuahmen. Zum Schluß
nennt Genosse Dr. Adler als letztes und schlimmstes Laster der
Weiber die Sparsamkeit. Was sparen sie und wozu führt ihr
Sparen? Sie sparen — und es handelt sich hier um das Sparen der
Arbeiter und Kleinbürger — von dem, was sie brauchen müßten und
sollten, wenn sie mehr hätten. Ja, wenn sie sparen könnten wie
die Rothschilds, wie die Unternehmer sparen! Wenn die Weiber den
Hunger ihrer Kinder betrügen und ihnen den Brei verdünnen, „weü's
dann mehr ausschaut", wenn sie um zwei Kreuzer weniger Fett
•) I)er Lese- und Diskutierklub für Frauen und Mädchen ,.L i b e r t a s"
hielt am 23. Juni 1896 seine Generalversammlung ab.
35b Verschiedenes.
brauchen oder ein paar Deka Fleisch „ersparen", glauben sie weiß
Gott was geleistet und gespart zu haben. Das einzige, was die
Arbeiter haben, ist ihre Muskel- und Nervenkraft. Die müssen sie
sparen. Sie sollen sparen wie die Unternehmer, wie der Staat: mir
ihrer Arbeitskraft. Der Unternehmer spart die Arbeitskraft seiner
Arbeiter auf und sperrt sie ein. Der Staat spart kreuzerweise an
den Löhnen der Tabakarbeiterinnen; er entzieht ihnen die paar.
Gulden Pension und kauft sich Kanonen und Gewehre zur Be-
wachung seiner Ersparnisse. In Bier und Petroleum und Salz spart
er und baut sich aus den Ersparnissen Arsenale und kauft sich
Soldaten! So müßten die Arbeiter ihre Ersparnisse in die Kampf-
organisationen, in die Gewerkschaften tragen, damit auch sie gleich
dem Staate und den Unternehmern eine Wehr, ein Arsenal und
Soldaten haben, um die Arbeitskraft ihrer Kinder zu beschützen.
Der einzelne kann nicht sparen. Das muß die Gesamtheit tun. Ge-
nosse Dr. Adler schließt seinen mit vielem Beifall aufgenommenen
Vortrag, weil ihm weiter keine Laster der Weiber einfallen. Es
seien nicht viele, die er aufgezählt, aber um sie zu beseitigen,
hätten die Frauen genug zu tun. Wegen vorgerückter Stunde konnte
^ine Diskussion nicht mehr stattfinden.
Die Studenten und die soziale Bewegung.
Vortrag in der „Freien Verein igun g'\
16. Oktober 189 6*).
Ich habe sicherlich nicht ohne Bedenken Ihrer Einladung Folge
geleistet, denn ich fürchte, daß das, was ich zu sagen habe, Ihnen
nicht besonders angenehm sein wird. Aber schließlich war es doch
gerade dieser Umstand, der mich bewog, Ihren Wunsch zu erfüllen,
um einmal ganz nüchtern darzulegen, was der kämpfende Sozia-
lismus von der Studentenschaft erwartet. Die soziale Bewegung ist
eine Klassenbewegung, die Studenten aber sind Leute, die zunächst
kein Klasseninteresse haben, weil ihre Lebensstellung ein Über-
gangsstadium und ihr Anschauungskreis noch kein geschlossener
*) Die „Freie Vereinigun g", eine Verbindung Wiener Hoch-
schüler zum Zwecke sozialwissenschaftlicher Studien und Diskussionen,
hatte eine große öffentliche Studentenversammlung einberufen, in der die
Stellung der Studentenschaft zur sozialistischen Bewegung diskutiert
werden sollte. Dr. Adler, der vom Ausschuß des Vereines ersucht
worden war, einen Vortrag über diesen Gegenstand zu halten, sagte zu,
in der Erwägung, daß es vielleicht nützlich sei, den Studenten zu sagen,
was die Arbeiterschaft von der jungen „Intelligenz" erwarte. Die Ver-
sammlung war sehr gut besucht. Christlichsoziale waren trotz der hoch-
trabenden Ankündigung der „Reichspost" nicht gekommen. Von den
Deutschnationalen waren einige Dutzend anwesend. Dagegen waren die
jüdischnationalen Studenten in hellen Haufen erschienen, allerdings nur um
Krawall zu machen. Sie belästigten diese Versammlung, indem sie nach
Adlers Vortrag, statt zum Thema zu sprechen, Reden über den Zionismus
hielten.
I lie Studenten und die soziale Bev
ist. Auf die Hochschule kommen die Studenten, den Kopi voll mii
Idealen. Bei vielen verbirgt sieh dahinter bloß der Wunsch nach
Ehre, Einfluß und Geld, andere aber Sind von wirklichem edlen
Drang nach Wahrheit beseelt. Alle aber sind voll von Unkennti
der wirklichen Welt. Ein großes Stück des sogenannten Idealismus
ist nichts anderes als Unwissenheit über die Dinge um uns. I
gelingt den herrschenden Faktoren, einen Teil von ihnen in voller
Unwissenheit der gesellschaftlichen Zustände zu erhalten, und das
werden die gefügigen, naiven Werkzeuge der herrschenden
Klassen, so sehr sie selbst auch Proletarier bleiben mögen. I)ie
Unwissenheit dieser Leute bildet förmlich ein Machtmittel des
Klassenstaates. Obwohl aber die Erziehung zum Nichtwissen eine
stematische ist, ist es nicht möglich, daß nicht die besseren
Elemente unter den Studenten sich erfüllen mit dem Wunsche,
etwas zu tun gegenüber dem Weltbrand. Es ist ja fast unmöglich,
da kalt, teilnahmslos zu bleiben. Der Student sieht bald, daß das
treibende Element der sozialen Bewegung die Arbeiterschaft ist,
aber nur schwer kann er zum Verständnis der Klassenbewegung
gelangen. In der Bewegung zieht ihn zunächst das Pathetische, die
Poesie an, aber die Prosa, die harte Wirklichkeit, stößt ihn ab. Wie
sollen Sie sie nun kennenlernen, wie soll sich der Student in der
sozialen Wirklichkeit betätigen? Ich werde Sie nicht in
die politische Betätigung hineinhetzen. Im Gegen-
teil, Sie haben als Studenten ein großes Mittel, der Arbeiterschaft
zu nützen, Sie müssen — studieren. Studieren in jedem
Sinne. Das Herunterblicken auf das Berufsstudium als bloßes
Brotstudium ist eine traurige Eigentümlichkeit des Studenten,
während der Arbeiter, der von der Arbeit erdrückt wird, sie
respektiert als den heiligen Hebel aller Kultur. Der Student glaubt
immer, zu höheren Dingen geboren zu sein. Nun gibt es aber nichts
Höheres, als ein tüchtiger Arbeiter in seinem Beruf zu werden.
Sind Sie das, dann erst können Sie einen Teil des Dankes, den Sie
der Arbeiterschaft schuldig geworden sind, dadurch abtragen, daß
Sie auf Kosten der Arbeiterklasse sich bilden dürfen, daß Sie
genießen, was die Arbeiterklasse entbehrt, daß Sie Nutznießer des
Monopols auf Wissen sind. Als Ärzte, als Beamte mit wahrhaft
sozialpolitischer Schulung könnten Sie einen Teil Ihrer Dankes-
schuld abtragen, und es ist daher vor allem nötig, daß Sie sich mit
Eifer auf Ihren Beruf vorbereiten. Einige von Ihnen, die erklären,
daß sie Sozialisten seien, werden aber sagen: Wir können nicht
warten, wir wollen uns jetzt schon als Sozialdemokraten betätigen.
Sie sind aber noch jung, jünger als Arbeiter in Ihrem
A 1 1 e r, denn Ihre Erziehung hat Sie hermetisch von allem Kon-
kreten, Lebendigen abgeschlossen. Die Arbeiterklasse im
Westen Europas ist auf die Mithilfe der Stu-
denten auch nicht mehr angewiesen. Aber doch soll
jeder einzelne von Ihnen in unseren Reihen willkommen sein, wenn
er dort nichts anderes sein will als ein Soldat, der alle Selbst-
überschätzung von sich tut, wenn er entschlossen ist, in der Be-
igung v.w arbeiten, prosaisch, nüchtern zu arbeiten. Es fragt
358 ' hiedenes.
sich nur, mit welcher Vorbereitung diese Arbeit eine gedeihliche
sein kann. Wer von Ihnen zu uns kommen wird, nachdem er
etwas gelernt hat, wird willkommen sein; wer zu uns kommen
will, anstatt etwas zu lernen, den können die Arbeiter nicht
brauchen.
Zwei Zukunftsbilder.
„Arbeit er -Zeitung", 31. März 19 0 3*).
Vor Jahresfrist etwa veröffentlichte Karl K a u t s k y eine kleine
Schrift, die den deutlichen Titel trägt: „Die soziale Revo-
1 u t i o n." In ihrem ersten Teile untersucht er die Frage, ob die
Gesellschaft auf ihrem Wege zum Sozialismus eine revolutionäre
Phase zu durchschreiten haben werde oder ob diejenigen recht
haben, die meinen, die Gesellschaft wachse allmählich in den Sozia-
lismus hinein, die fortschreitende Sozialreform habe Triebkraft
genug, um die notwendige Umwälzung bis zu ihrem Ende zu führen.
Was ist soziale Reform, was ist soziale Revolution?
Das Gemeinsame der beiden Prozesse ist, daß langsam oder
rascher die politischen und juristischen Einrichtungen den Verände-
rungen der ökonomischen Grundlagen angepaßt werden. Das Unter-
scheidende ist weder das Tempo noch das Temperament dieser Um-
wälzung, sondern liegt darin, wer ihr Träger, wer ihr Exekutor ist.
Wenn die herrschenden Klassen selbst, gleichgültig ob ganz frei-
willig oder halb genötigt, jedenfalls aber noch im Besitz der poli-
tischen Macht, den Übergang vollziehen, so ist das soziale Reform,
mag der Vorgang sich auch noch so akut und dramatisch gestalten.
Wenn die bisher unterdrückten Klassen die politische Macht er-
ringen und nun als Sieger die ökonomischen und politischen Not-
wendigkeiten in Gesetze und Einrichtungen umsetzen, so ist das
soziale Revolution, mag dieser Prozeß sich noch so friedlich und
noch so weitläufig abspielen.
Man mag den Wert von solchen Definitionen nicht allzu hoch
veranschlagen, und es ist in der Tat ein wenig dankbares Geschäft,
das Lebendige in Abstraktionen zu zwängen, von denen wir uns
wieder mühsam befreien müssen, wenn wir über ihre starren
Grenzen hinwegsehen wollen. Aber hinter dem scheinbaren Wort-
streit steckt eine ernste, sachliche und praktische Frage, die
Kautsky mit seiner unübertrefflichen Schärfe der Analyse gestellt
und beantwortet hat: Lassen die heute sichtbaren Tendenzen zur
Sozialreform vermuten, daß die heute Herrschenden auch bis ans
notwendige Ende gehen werden oder muß das Proletariat sich
rüsten, nicht nur täglich und im einzelnen auf die Machthaber Druck
*) Dieser Artikel ist nicht direkt im Zuge der Debatten über den
Revisionismus geschrieben, aber doch wohl im Hinblick auf sie, wobei
daran erinnert werden soll, daß der Dresdner Parteitag, auf dem diese
Fragen zum Austrag kamen, im September 1903 stattfand. Den äußeren
Anlaß gab aber das Erscheinen der Schrift von Anton Menger über die
neue Staatslehre.
Zwei Zukunftsbilder.
auszuüben, sondern auch die Macht an sich zu reißen, um zu voll-
enden, was jene nicht lim wollen, nicht (im werden? Es wird den
Optimisten schwer sein, kantsky ZU widerlegen, wenn er nnchweisi.
dal.» (rot/, aller Encdensschahneicn die Klassengegensätze sicll nicht
mildern, sondern verschärfen, daß allerdings die Macht und (\^v Ein-
fluß des organisierten Proletariats Schritt um Schritt wachsen, dal;
aber mindestens in gleichem, auf den meisten Gebieten aber in ver-
stärktem Maße die Machtmittel des vom Kapitalismus beherrschten
Staates wachsen. Mit Recht warnt er davor, ans der Arbeiterfreund-
lichkeit und den sozialistischen Neigungen der bürgerlichen Intelli-
genz optimistische und voreilige Schlüsse zu ziehen. Denn sie bildet
nur jenen Teil der Bourgeoisie, der in ihrem Namen schreibt und
spricht, nicht aber jenen, der ihr Handeln bestimmt; Menschen und
Klassen aber muß man nicht an ihren Worten, sondern an ihren
Taten messen. Die Demokratie aber, das Eindringen von Sozialisten
ins Parlament, in die ( jemeindestube, in einzelne Zweite der Ver-
waltung, was hat sie bewirkt, was kann sie bewirken? Sie bringt
täglich den größten, unentbehrlichsten Nutzen, sie kann helfen.
Schritt für Schritt die Lebenshaltung des Proletariats zu heben, sie
kann seine Einsicht, seine Fähigkeit, zu verwalten und zu herrschen,
wecken und steigern, aber den Einfluß des Proletariats ent-
scheidend machen kann sie nicht, wo irgendwie eine Lebens-
frage, das ist eine Herrschaftsfrage der heutigen Machthaber be-
rührt wird. Ja, der nachgerade unabsehbare und seiner Natur nach
endlose Streit im sozialistischen Lager entspringt im Grunde ge-
nommen aus der Antinomie, daß die fortschreitende Demokratie
allerdings einzelne Funktionen der staatlichen oder gemeindlichen
Verwaltung in die Hände von Sozialisten bringt, daß aber diese
sozialistischen Funktionäre, so nützlich sie wirken mögen, mit Not-
wendigkeit Teile der Herrschaftsmaschine werden, der sie sich in
allen entscheidenden Dingen ein- und unterordnen müssen.
Mit einem Worte: Sozialreform und Organisation können das
Proletariat allerdings zum Kampfe um die Macht f ä h i g m a c h e n,
aber sie können ihm diesen Kampf nicht ersparen.
Wann, unter welchen Umständen, in welchen Formen dieser Kampf
kommen wird, das wissen wir nicht; aber daß all unser Tun, all
unsere tägliche Arbeit nur Rüstung ist zu diesem Entscheidungs-
kampf, das wissen wir, das muß unser Bewußtsein erfüllen.
Der zweite Teil von Kautskys Schrift*) trägt den Untertitel: „Am
Tage nach der Revolution", und er hat Verwunderung erregt. Ist
Karl Kautsky unter die Utopisten gegangen? Er selbst verwahrt
sich natürlich dagegen, aber er hält es für „eine gute Denkübung
und für ein Mittel, politische Klarheit und Beständigkeit zu fördern,
wenn wir versuchen, die Konsequenzen unseres Strebens zu ziehen
und die Probleme zu erforschen, die uns aus der Eroberung der poli-
tischen Macht erwachsen dürften". Nun muß icli allerdings gestehen,
i Die soziale R e v o i u t i o n. Von Karl K a u t s k y. Zwei Hefte.
56 und 48 Seiten. 40 Pfennige und 30 Pfennige. Berlin 1902. Verlan der
hhandlung „Vorwärts".
360 Verschiedenes.
daß es mir vorläufig zur Denkgymnastik ausreichend erscheint, dar-
über nachzusinnen, wie wir überhaupt zu dieser Eroberung der poli-
tischen Macht gelangen können, aber ohne Zweifel ist es im
höchsten Grade interessant, gerade Kautsky in jene transzenden-
talen Gedankengänge zu folgen, dem nüchternen Forscher, dessen
einziges Laster gelegentlich ein Exzeß von Klarheit ist. In der Tat
ist es überaus reizvoll zu sehen, wie bei dem Entwerfen dieser Zu-
kunftspläne überall mit der Leidenschaft seines revolutionären
Willens die Vorsicht seines historisch und ökonomisch geschulten
Intellekts ringt. Kautsky hat es sich keineswegs leicht gemacht, sich
nirgends mit leeren Worten genügen lassen und ist überall bemüht,
konkret zu denken. Man mag gegen manche seiner Vorstellungen
- Vorschläge wäre in seinem Sinne schon zuviel gesagt — Ein-
wände erheben, undurchführbar und unmöglich wird keine einzige
erscheinen, denn überall steht er auf dem festen Boden der heutigen
Produktionsmöglichkeiten, des gegenwärtigen geistigen und kultu-
rellen Zustandes des Volkes. Man kann zweifeln, ob seine Konstruk-
tion den kürzesten, gangbarsten Weg anzeigt; daß es einer der
möglichen Wege ist, weiß er mit überzeugender Kraft darzulegen.
Schade, daß Kautskys Schrift nicht um ein Jahr früher erschienen
ist oder Anton Mengers Buch*) um ein Jahr später**). Nicht
als ob erwartet werden könnte, Menger hätte an seiner „Neuen
Staatslehre" deshalb auch nur ein Komma geändert, aber vielleicht
hätte er sich doch genötigt gesehen, sich mit dem Standpunkt
Kautskys auseinanderzusetzen, zu dem er in schroffstem Wider-
spruch steht. Wenn man jede Konstruktion eines zukünftigen Gesell-
schaftsbaues eine Utopie nennen will, so hat uns Kautsky eine öko-
nomisch-politische, Anton Menger eine juristische Utopie gegeben.
Und darin liegt schon das Wesentliche alles dessen, was man über
Mengers Werk kritisch sagen kann. Die Frage nach der sozia-
listischen Zukunft juristisch beantworten, das ist eine Utopie in der
Utopie.
Es ist begreiflich, daß das Mengersche Buch das größte Auf-
sehen hervorruft. Der berühmte Professor des Privatrechtes hat
vor einigen Jahren sein Lehramt an der Wiener Universität völlig
freiwillig niedergelegt, um seine ganze Kraft dem Werke widmen
zu können, das er soeben veröffentlicht hat. Und dieses Werk ist
ein mutiges, rückhaltloses und rücksichtsloses
Bekenntnis zum Sozialismus. Es legt die Grundlinien
eines sozialistischen Rechtssystems dar, durch dessen Annahme er
den heutigen „individualistischen Machtstaat" in den „v o 1 k s t ü m-
liehen Arbeitsstaat" hinüberführen will, dessen erste und
wichtigste Grundlage das Gemeineigentum an sämtlichen Produk-
tionsmitteln sein wird. An revolutionärer Entschlossenheit läßt das
Buch so wenig zu wünschen übrig wie an unbarmherziger Kritik
*) Neue Staatslehre. Von Anton Menger. Jena. Verlag von
Gustav Fischer, 1903. 335 Seiten; 6 Kronen.
**) Das bezieht sich darauf, daß die „Neue Staatslehre", wie aus dem
Vorwort ersichtlich ist, im Juli 1902 abgeschlossen war.
/w ei /iikimiishilii» i *'»'
der heutigen Zustände, deren Barbarei und Heuchelei es mit feinei
Ironie, hinter ^Wv man die leidenschaftliche Entrüstung empfindet,
brandmarkt. Man sieht, es ist eine merkwürdige Spezies von Hol
rar, die wir da vor uns haben.
Das Buch ist nach dieser Richtung eine Überraschung, trotzdem
man wußte, was von Anton Me n ge r zu erwarten sei. Hat er doch
ein Stück Gegenwartsarbeit geleistet, die wir ihm hei aller An-
erkennung seiner tapferen Gesinnung hoher anrechnen als den sozia-
listischen Radikalismus seiner Endziele. Als linde der achtziger
Jahre der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche
Reich vorlag, übte er daran eine schneidende Kritik in jenem be-
rühmten Buche : „1 ) a s b ü r g e r 1 i c h e Recht und die b e-
sitzlosen Volksklassen", eine Kritik, in der er darlegte,
daß es kein zweites Gesetzwerk gebe, „das die besitzenden Klassen
so einseitig begünstigt und diese Begünstigung so unumwunden zu
erkennen gibt". Diese Schrift hat eine Bedeutung gewonnen weit
über ihren Anlaß hinaus, und wenn Menger den Erfolg erlebte, daß
wenigstens einzelne seiner Anregungen in dem definitiven Gesetzes-
werk Beachtung fanden, so ist es noch viel wichtiger, daß seine
Darstellung des heutigen Privatrechtes als eines Klassenrechtes,
dessen Handhabung ein Stück Klassenjustiz ist, eine dauernde Wir-
kung übte und übt. Es war in diesem Sinne eine Tat, durch die sich
Anton Menger die Anerkennung und den Dank der Arbeiterklasse
erworben hat.
In der Tat ist Anton Menger ein zünftiger Jurist ganz eigener
Art. Wie seine Kollegen ist er eifrig beflissen, die Macht zu stützen
und Stützen der Macht zu erziehen. Nur ist die Macht, der er dient,
nicht die, die heute in Amt und Würden thront, sondern er hat ein
Ohr für die kommende Macht, der die Zukunft gehört, und ihr dient
er mit seinem ehrlichen Herzen und seinem rastlosen Fleiße! Ihr
will er die Wege ebnen und er ist überzeugt, daß dazu nichts not-
wendiger und dringender sei als „die künftigen Rechtsgestaltungen
vorzubereiten", wie er es in seiner Rektoratsrede ausdrückte. Denn
es sei die Aufgabe der Juristen, die „Kongruenz zwischen Recht und
Macht zu erhalten", dann würde ihnen „bis zu einem gewissen Grade
das Schiedsrichteramt zwischen den verschiedenen Klassen der Ge-
sellschaft zufallen". In der Tat, wenn der Klassenkampf friedlich
schiedlich zu schlichten wäre, keinen unbefangeneren, gerechteren und
gewissenhafteren Schiedsrichter könnten wir uns wählen als diesen
k. k. Hofrat. Vorläufig muß er sich freilich damit begnügen, für die
arbeitenden Klassen, die auf dem Wege zur Macht sind, ein „ganzes
System von neuen Rechtsgestaltungen" zu schaffen, und dieses
System liegt uns nun vor. Seine Grundlage ist die politische, vor
allem aber die wirtschaftliche Freiheit des Individuums, die ver-
wirklicht ist durch das „R echt au f E x i s t e n z" und die ein-
geschränkt ist durch die allgemeine Arbeitspflicht. Jedes
individuelle Eigentum an Produktionsmitteln, Grund und Boden
natürlich eingeschlossen, fällt weg, wodurch das Erbrecht praktisch
entfällt. Das Obligationenrecht verschwindet fast restlos, soweit es
Verpflichtungen zwischen den einzelnen Staatsbürgern betrifft. Das
362 schiedenes.
Eherecht wird nur insofern berührt, als es von Vermögensrechten
handelt. Dagegen wird das Straf recht natürlich gründlich geändert:
der Schutz des Eigentums, der heute strengere Strafen zur 'Ver-
fügung hat als der Schutz von Leib und Leben, wird auf ein Mini-
mum reduziert, hingegen wird die Arbeitspflicht mit Strafsanktionen
zu umgeben sein. Der wesentlichste Zug des neuen Rechtes ist, daß
das „Privatrecht sich in öffentliches Recht verwandelt", daß „alle
privatrechtlichen Unterwerfungsverhältnisse verstaatlicht" sind. Das
Ziel des Staates ist nicht mehr Macht und Glanz der Machthaber,
sondern die Verwirklichung der wichtigsten und allgemeinen
Lebenszwecke aller, die heute jeder einzelne innerhalb der Schran-
ken des Privatrechts regelmäßig mit eigener Kraft und auf eigene
Gefahr zu besorgen hat. Die Verwaltung wird immer mehr einen
technisch-ökonomischen Charakter annehmen, und wenn auch die
meisten Funktionäre durch Wahl bestellt werden, so wäre doch,
insbesondere während der Übergangszeit, eine straffe Zusammen-
fassung der Staatsgewalt, eine starke Regierung unerläßlich. Nicht
sehr viel erfahren wir darüber, auf welchem Wege der volkstüm-
liche Arbeitsstaat herbeizuführen sei. Vom Wege der revolutionären
Gewalt wird abgeraten, aber nicht etwa wegen der Heiligkeit der
bestehenden Rechtsordnung. „Denn die herrschenden Familien und
Parteien haben niemals gezögert, in entscheidenden Momenten
selbst die besterworbenen Rechte zu zerstören, wenn es galt, ihre
Herrschaft zu begründen oder dauernd zu befestigen . . . Oft genug
wurden auch Privatrechte in ungeheurem Umfang zugunsten der
politischen Interessen der herrschenden Familien und Parteien auf
gewaltsame Weise vernichtet. Und doch handelte es sich bei diesen
großen Umwälzungen nur um das Interesse enger Lebenskreise,
während die Einführung des volkstümlichen Arbeitsstaates das Wohl
des gesamten Volkes, ja der ganzen Menschheit berührt." Von der
gewaltsamen Revolution ist also nicht etwa darum abzuraten, weil
sie ungerecht wäre, sondern weil sie unzweckmäßig, ja unmöglich
ist. Wie also sollen wir zum Ziele kommen? Darauf antwortet
Menger mit wenig mehr als einer ziemlich dunklen Analogie mit der
Einführung des Christentums und einem nicht minder dunklen Hin-
weis auf „das Element der Auflösung", das jeder militärische Miß-
erfolg für den Militärstaat wrerden müsse. Gerade aber weil die Ge-
walt unmöglich ist, meint Menger, ist die Möglichkeit eröffnet, daß
die Einführung der neuen sozialen Ordnung in engem Anschluß an
die überlieferten Begriffe von Recht und Staat erfolge . . .
Alles in allem: ein durchaus revolutionär gedachtes Buch eines
Juristen. Allerdings nur eines Juristen. Und damit berühren wir die
Schwäche des gedankenreichen und anregenden Werkes. Anton
Menger ermangelt nicht nur jeder ökonomischen Schulung, sondern
er lehnt jede ökonomische Betrachtungsweise mit einer Abneigung
ab, die bis zur Idiosynkrasie geht. Schon in seinem „Recht auf den
vollen Arbeitsertrag", 1886 erschienen, hat er über die „national-
ökonomische Verbrämung, die namentlich bei den deutschen Sozia-
listen einen so breiten Raum einnimmt", gespottet, und in seinem
neuen Buche kehrt das alte Wort wieder und die „nationalökono-
Zwei Zukunftsbilder, *
mische Verbrämung des Sozialismus" wird als „verfehlt und &we<
los" erklärt. Mit dieser Einseitigkeit hängt der starke Widerwille
Mengers gegen }l\\l- geschichtliche Auffassung de ilen Pro-
blems zusammen. Nur nebenbei erwähnen wir seine echt pro-
fessorenhafte Schrulle, die Ökonomischen und. historischen Theorien
von Marx-Engels bei jeder Gelegenheit erstens als Plagiat und
zweitens als grundfalsch zu vermöbeln. Der moderne Sozialismus
kann diese freundnachbarliche Feindseligkeit aushalten. Aber um
Menger ganz ZU verstehen, muß man wissen, daß er der beneidens-
werte Besitzer der größten sozialistischen Bibliothek*) ist. Diese
Bibliothek hat nun die seltene Eigenschaft, daß ihr Besitzer sie nicht
nur mit vieler Mülie und Liebe gesammelt, sondern sie sogar benutzt
hat. Zuviel benutzt sogar. Denn die vielen toten Bände kann er nicht
lebendig machen, sondern schlagt sich mit ihnen herum, gleichwie
mit Gespenstern. Fr kann lesen wie kaum ein zweiter, und seine
Fußnoten weisen mit unergründlicher Gelehrsamkeit darauf hin, wo.
wann und. von wem jedes Wort zuerst ausgesprochen wurde. Doktor
Menger ist ein ungemein gründlicher Kenner der sozialistischen
ßücher, aber er weiß wenig von der sozialistischen Bewegung, von
ihren Wurzeln, ihren Triebfedern, ihrem innersten Leben. Auf dem
Druckpapier ist alles gleich, was darauf zu lesen ist, aber die ge-
schichtliche Bedeutung, das lebendige Gewicht jedes Gedankens
läßt sich nicht durch noch so sorgfältige Textvergleichung erkunden.
So ist die profunde Gelehrtheit Mengers ihm fast zum Hindernis
geworden, die Dinge richtig zu sehen, an denen sein ganzes Herz
hängt.
Kautsky sagt in seiner Utopie: „Die Schwierigkeiten für das
proletarische Regime liegen nicht auf dem Gebiet des
Eigentums, sondern auf dem der Produktion." Für
Menger, und das ist für den schroffen Gegensatz der beiden Ge-
dankengänge bezeichnend, gibt es nur Probleme des Eigentums, das
will sagen, der Rechtsordnung; das wirtschaftliche Problem sieht
er nicht, kaum daß er gelegentlich das Wort von der Organisation
der Produktion in den Mund nimmt. So fragt er auch nicht, wie das
eigentlich kommt, daß die arbeitenden Klassen nun aufsteigen und
auf dem Wege zur Macht sind. Freilich: Allgemeine Schulpflicht,
allgemeines Wahlrecht und allgemeine Wehrpflicht haben sie er-
weckt, auch, merkt er, daß das Entstehen der großen Städte ein
wichtiger Faktor sei — aber diese Dinge mit der Entwicklung der
Wirtschaft überhaupt und mit der der Produktion insbesondere Zu-
sammenhang haben, das gehört bereits zur „nationalökonomischen
Verbrämung". Rechtseinrichtungen wechseln mit dem Machtver-
hältnis; woher kommt aber die Änderung der Machtverhältnisse?
Darauf hat Menger keine Antwort. So stellt sein glänzendes Zu-
kunftsgebäude in der Luft.
) Diese sozialistische Bibliothek ist durch die Wiener Universität dann
in die Sozialwissenschaftliche Studienbibliothe k bei der
Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte gelangt.
3i>4 \ erschiedenes.
Trotzdem wird auch Mengers Werk seine fruchte tragen, wenn
auch nicht in dem Sinne, wie sein Optimismus ihn hoffen läßt. Nicht
nur beim Endziel kommt er in sehr vielen Punkten mit dem von ihm
so wenig geschätzten Marxisten Kautsky zusammen, sondern auch
die Motive für die beiden Werke sind merkwürdigerweise ähnliche.
Kautsky erklärt, er habe seine Zukunftkonstruktion versucht, weil
nicht nur unsere Gegner behaupten, wir würden durch unseren Sieg
vor unlösbare Aufgaben gestellt werden, sondern weil auch in
unseren eigenen Reihen sich Leute erhoben haben, die die Folgen
des Sieges nicht schwarz genug malen können. Darum sei solche
Konstruktion von Nutzen für die Propaganda. Menger, auch hier
wieder potenzierter Utopist, hat schon in seinem ersten Buche ge-
meint, „die Völker werden sich nie zu einem eingreifenden sozialen
Experiment entschließen, wenn nicht zuvor eine sozialistische
Staatslehre geschaffen ist", und in diesem Sinne soll sein neues
Werk den sozialistischen Gedankenkreis den herrschenden und ge-
bildeten Klassen näherbringen. Wir fürchten, nicht einmal Kautsky
wird sein bescheidenes Ziel erreichen. So interessant und belehrend
sein Büchlein ist, die Widerstrebenden wird er nicht überzeugen und
die Schwachmütigen nicht stark machen. Wenn aber gar Menger
vermeint, die mächtigen Macher der Gesetze zu seinem Staatsrecht
verlocken zu können, so gibt er sich einer beneidenswert kindlichen
Illusion hin. Nicht weil ihnen die Zukunft unsicher ist, sträuben sie
sich, sondern weil sie die Gegenwart sicher und fest in rauhen
Händen haben oder zu haben glauben. Gegen ihre Macht sind alle
Argumente vergebens und wirksam allein ist die wachsende Gegen-
macht. Die Verstärkung der Erkenntnis und der Energie des Prole-
tariats, nicht die Erleuchtung seiner Gegner kann allein unsere Hoff-
nung sein. Nur insofern Konstruktionen des Endziels den Zweck er-
füllen, unsere Sache in neuem Lichte zu sehen, insofern wir das
Heute besser verstehen lernen können, wenn wir die Gedanken-
gänge bis in das Morgen verfolgen, insofern sind solche Konstruk-
tionen nützlich. Die Ahnungen der Zukunft sind so viel wert, als sie
uns Kraft geben für den Kampf der Gegenwart. V. A.
Anhang*).
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*) Dieses Faksimile ist der Anfang des Manuskripts des Artikels
„Hoffnungsschimmer", den die „Arbeiter-Zeitung" am 14. Februar
1915 veröffentlicht hat. Der Artikel ist auf den Seiten 263 bis 268 dieses
Bandes abgedruckt. Alles nähere ist in der Note bei diesem Artikel
angeführt. Der Name Adlers auf dem Manuskript ist vom Chefredakteur
Ansterlitz dazugeschrieben.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Vorwort 5
Zur Parteigeschichte.
Gedenktag des Ausnahmszustandes (Versammlung 29. Jänner 1904) . 7
Vor zwanzig Jahren (Landesparteitag, liainfeld (31. Jänner 1904) . . 9
Das „Anarchistengesetz" verlängert („GL", 14. April 1888) 10
Zehn Jahre nach Hainfeld („A.-Z.", 25. Dezember 1898) 13
Das Jubiläum des Arbciterbildungsvereines (6. Dezember 1902) . . 21
Vierzig Jahre Arbeiterbildungsverein (8. Dezember 1907) 22
Das „Lied der Arbeit" (Versammlung, 30. Oktober 1898) 25
Am Sarge Josef Scheus (14. Oktober 1904) 27
Das Grabdenkmal für Josef Scheu (1. April 1907) 28
Zu Ehren Andreas Scheus (22. Juni 1901) 30
Am Sarge Julius Popps (21. Dezember 1902) 31
Am Grabdenkmal für Julius Popp (10. November 1903) 33
Mein erster Mai (Alaifcstschrift 1909) 33
Zu Kronawetters sechzigstem Geburtstag (27. Februar 1898) .... 38
Abschied von Friedrich Engels (19. August 1895) 39
Liebknecht und Österreich. („Vorw.", 12. August 1900) 46
Pernerstorfers letzte Fahrt (9. Jänner 1918) 49
Die Eröffnung des Arbeiterheims in Favoriten (7. September 1907) . 51
Eröffnung des Ottakringcr Arbeiterheims (16. Juni 1907) 54
Am Grabe der Märzgefallenen (10. März 1901) .55
Die Erinnerung an den 13. März 1848 (12. März 1902) 56
Enthüllung des Hugo-Schmidt-Denkmals 5S
K 1 e r i k a 1 i s m u s und Schule.
Der Liechtensteinsche Schulantrag (4. Februar 1888) 62
Die Los-von-Rom-Bewegung (11. April 1899) 66
Die Maßregelung der Gewerboschullehrer (12. Oktober 1902) ... 68
Der Landtag und die Wissenschaft (4. November 1903) 70
Gegen die klerikalen Schulverderber (7. November 1904) 72
Der Fall Wahrmund (3. Juni 1908) 78
Terror und Qewissenszwan g.
Die Subvention des Volksbildungsvereines (Musikvereinssaal, 6. Juli
1896) 83
Die Maßregelung des Abgeordneten Seitz (2/. März 1901) 86
Die Sozialdemokratie und die arbeitende Jugend (26. März 1902) . . 87
Der Gewaltstreich gegen die Straßenbahner (12. März 1912) . . . '. 91
Kampier gegen^den Geistesdruck.
Giordano Bruno (14. Juni 1889) 99
Ludwig Anzengruber (13. Dezember 1889) 101
Die Hinrichtung in Chikago (12. November 1887) 104
ii me n te dei Christiichs o / i b I e n.
Christliche und jüdische Ausbeutung (28. Februar 1897) I0f>
Sozialdemokratische Wahlkosten (28. Februar 1897) 107
Die Jüdischen Führer" (2. März is(>7) los
\ ii ii B ;i c! e ii i bi s T li ii ii.
Kampf gegen Badeni {22. September 1897) Mi
Badenis Bankerottpolitik (18. Oktober 1897) 113
Nach Badenis Sturz (29. November 1897) 114
Die Schließung des Parlaments (28. Juli 1898) 115
Absolutismus und Parlamentarismus (6. Februar 1899) 117
\ d 1 e r i m L a n d t et g.
Die Verschleppung der Landtagswahl (14. Mai 1901) 120
Der christlichsoziale Wahlreehtsraub (12. Juni 1901) 124
Die Arbeiter gegen die Zeitungsstrolche (5. Juli 1901) 126
An die Kinder (7. Juli 1901) 130
Christlichsoziale Schulverwaltung (6. Juli 1901) 130
Die Spitalsnot in Wien (9. Juli 1901) 136
Kommunalsozialismus und Kommunalkapitalismus (7. Jänner 1902) . 144
Die Landtagswahlen (31. März 1902) 151
Die Eingemeindung von Floridsdorf (16. Juli 1902) 155
Dienstbotenordnung auf dem Lande (24. Juli 1902) 164
Kandidatenrede für den Landtag (1. Oktober 1902) 170
Am Vorabend der Wahl (4. November 1902) 175
Nach der Stichwahl (7. November 1902) 176
Das Denkmal des Polizeieinbruchs (12. Februar 1905) 178
Die Antwort der Favoritner (12. November 1902) 181
Das System Bienerth.
Reichenberg (19. September 1909) 185
Die neue Regierung Bienerth (24. Jänner 1911) 188
Fin Attentat auf das Vereinsrecht (8. März 1911) 202
Die Regierung im Bunde mit der Obstruktion (3. April 1911) . . . . 209
Hunde der Regierung Bienerth (16. Mai 1911) 216
Siegesfeier in Wien (28. Juni 1911) 225
Ohne Bienerth (18. Juli 1911) 235
Militarismus und Krieg.
Der Deutschmeisterrummel (7. September 1896) 242
Haubitzen und Volksvertretung (13. Mai 1902) 246
Militarismus und Geschäft (24. Mai 1904) 250
Die Triester Konferenz (21. Mai 1905) 253
Die neuen Dreadnoughts (7. Februar 1911) 255
Der Gedenktag der Internationale (27. September 1914) 260
Hoffnungsschimmer (14. Februar 1915) 263
Die Sozialdemokratie und die Friedensvorschläge (28. Dez. 1916) . 268
Die russische Revolution und die Wiener Arbeiter (27. März 1917) .274
Für Demokratie und Frieden! (26. September 1917) 279
Die Vertagung des Reichsrates (3. Mai 1918) . 286
Nationalismus und 1 n t e r n a t i o n a 1 i s m u s.
Das Verbot tschechischer Versammlungen (28. Jänner 1894) .... 288
National und international (28. Februar 1897) 290
Die Kandidatur in Favoriten II (10. Februar und 10. März 1897) . . 291
Internationale Verbrüderung (9. Juli 1905) 301
Seite
Der Kampf um die Preßfreiheit.
Der § 23 des österreichischen Preßgesetzes (Broschüre, 189D . . . 303
Der Zeitungssteinpel und das Parlament (25. Jänner 1899) 327
Das Herrenhaus und der ZeitUHgsstempel (20. Dezember 1899) . . . 330
Zehn Jahre („A.-Z.", 1. Jänner 1905) 331
Dem „Volksfreund" zu seinem Feste („Volksfreund", 1891) 336
Das Jubiläum des „Vorwärts" („Vorwärts", 31. März 1909) 538
Qewerkschaften und Genossenschafte n.
Sie sind unser Trost! (10. Juli 1904) 341
Partei und Gewerkschaft (11. Juni 1905) 342
Der Gewerkschaftsstreit (25. März 1911) 349
Genossen und Genossenschafter (3. September 1904) 353
Verschiedenes.
Einige Laster der Weiber (23. Juni 1896) 355
Die Studenten und die soziale Bewegung (16. Oktober 1896) .... 356
Zwei Zukunftsbilder (31. März 1903) 358
A n h a n g.
Faksimile 365
Richtigstellungen.
Ich benütze die Gelegenheit, um einige Irrtümer der letzten Bände
richtigzustellen, Irrtümer, die zum Teil auf Druckfehlern beruhen, und auf
die mich mein Freund Ludwig B r ü g e 1, der Autor der Geschichte der
österreichischen Sozialdemokratie, aufmerksam macht. G. P.
Im Bd. VI, S. 228, soll das Datum der Ermordung von Rosa Luxemburg
richtig mit 16. Jänner 1919 angegeben werden.
In Bd. VIII, S. 180, soll es richtig heißen Josef Maria Baernreither,
nicht Franz B.
Zu Bd. VIII, S. 256, ist zu bemerken, daß die Verletzung am Auge
durch den Kaiser Franz Josef nicht Gautsch, sondern Wittek zugefügt
wurde.
Bd. IX, S. 14. Heinrich Beer wurde nicht 1897, sondern erst 1907 zum
Abgeordneten gewählt und war es bis 1911.
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PLEASE DO NOT REMOVE
CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET
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